Jürgen Ziegler Satzform, Wortform, Gegenständlichkeit. Zum Begriff des finiten Verbs Series A: General & Theoretical Papers ISSN 1435-6473 Essen: LAUD 2000 (2., unveränderte Auflage 2006) Paper No. 512 Universität Duisburg-Essen Jürgen Ziegler Fukushima-University (Japan) Satzform, Wortform, Gegenständlichkeit. Zum Begriff des finiten Verbs Copyright by the author 2000 (2., unveränderte Auflage 2006) Series A General and Theoretical Paper No. 512 Reproduced by LAUD Linguistic Agency University of Duisburg-Essen FB Geisteswissenschaften Universitätsstr. 12 D- 45117 Essen Order LAUD-papers online: http://www.linse.uni-due.de/linse/laud/index.html Or contact: [email protected] Jürgen Ziegler Satzform, Wortform, Gegenständlichkeit. Zum Begriff des finiten Verbs 1. Das finite Verb ist, so lehren die Grammatiken des Deutschen, das konjugierte Verb; das konjugierte Verb ist das gemäß den Verbalkategorien flektierte Verb; letztere sind im Deutschen die Kategorien der Person, des Numerus, des Tempus, des Modus und des Genus verbi; sie strukturieren das verbale Paradigma dergestalt, daß genau 144 verschiedene Positionen grammatisch unterschieden werden können.1 Jedem konjugierten Verb kann eine Stelle im verbalen Paradigma zugewiesen werden. In dieser Charakterisierung des konjugierten Verbs sind einige Voraussetzungen enthalten. Zunächst wird vorausgesetzt, daß zwei verschiedene Wortbegriffe zu unterscheiden sind: auf der einen Seite das Wort als (abstrakte) Einheit des Lexikons - "Lexem" 2 , "lexikalischgrammatisches Wort" 3 oder, etwas unscharf, "Paradigma" 4 genannt, auf der anderen Seite das Wort als (freie) Zeicheneinheit des Satzes - allgemein "Wortform" genannt. machst, machte, machten sind Formen eines Lexems, das im Lexikon unter dem Namen machen firmiert. Das konjugierte Verb ist Wort im zweiten Sinne. Es ist Wortform, Form eines Lexems, das der Wortklasse der Verben angehört. Es ist näherhin Verbform. Ja, man kann sagen: die Formen des Verbs werden in der Konjugation erzeugt; außerhalb des Paradigmas gibt es keine Verbformen. Als Wortform gehört das konjugierte Verb zum Gegenstandsbereich der Morphologie; der Begriff des konjugierten Verbs ist morphologischer Begriff. Der Begriff des konjugierten Verbs ist darüber hinaus auch systemischer Begriff, da das verbale Paradigma eine systematisch geordnete Formenvielfalt darstellt. Die Gleichsetzung von konjugiertem Verb und finitem Verb entstammt - wie die Begriffe der Konjugation und der Finitheit selbst - der antiken Grammatik. Sie ist berechtigt für die dort beschriebenen Sprachen. Im Lateinischen beispielsweise werden die konjugierten Formen fast ausschließlich nach dem morphologischen Grundmuster Stamm + Endung bzw. Stamm + Flexem gebildet, wobei ich unter Flexem die Gesamtheit aller Flexive oder Flexionsmorpheme verstehe. Diese Verbformen sind tatsächlich durchweg finit, aber nicht nur deshalb, weil sie 1 2 3 4 Eisenberg, P.(1989), 108. Lyons, J. (1973), 201. Weber, H. (1973), 165. Eisenberg, P. (1989), 35. 1 konjugiert sind, sondern auch weil es sich um synthetische Verbformen handelt. Im Deutschen liegen die Verhältnisse anders, die Gleichsetzung von konjugiertem und finitem Verb ist nicht aufrechtzuerhalten. 120 der 144 Positionen des Paradigmas werden durch analytische Formen dargestellt, und analytische Formen wie beispielsweise hat gemacht oder wird gemacht haben entsprechen nicht dem, was man gemeinhin unter einer finiten Verbform versteht. Zwar steht es jedem frei, solche Formen als finit zu bezeichnen mit der Begründung, daß sie die finite Form eines Hilfsverbs enthalten; ganz ähnlich wird ja in englischen Grammatiken von "finite VP" oder "finite clause" gesprochen. Die Spezifik des finiten Verbs, nämlich synthetische Verbform zu sein, wird dabei freilich aus den Augen verloren. - Die analytischen Formen bestehen ihrerseits aus Formen, zu deren Kennzeichnung es aber zusätzlicher Begriffe bedarf. Es sind dies der Begriff des Hilfsverbs und der Begriff der infiniten Verbform. Bezogen auf das Paradigma sind die Formen der Hilfsverben, seien diese finit oder infinit, und die infiniten Formen des Hauptverbs Formen zweiten Grades. Diese Differenzierung ist erforderlich, wenn der systemische Charakter des Verbformbegriffs erhalten bleiben soll, wenn man m.a.W. daran festhält, daß alle Formen des Verbs im Konjugationsparadigma eine Systemstelle einnehmen müssen. Das finite Verb ist danach bestimmt als die synthetische konjugierte Form eines Verbs oder Hilfsverbs. 2. Welche Bedeutung hat das finite Verb? Die Frage ist nicht eindeutig, da der Begriff der Bedeutung nicht eindeutig ist: Wir können bei einem Wort nach dessen gegenständlichsemantischer Bedeutung fragen, wir können aber auch nach seiner syntaktischen Bedeutung fragen. Die semantische Bedeutung eines bestimmten finiten Verbs kann - wenn es sich um ein Vollverb handelt - in nichts anderem bestehen als in der semantischen Kernbedeutung, die diesem bestimmten Verb als Lexem zukommt; es ist diejenige gegenständlich-semantische Bedeutung, die durch alle Formen des Lexems hindurch konstant bleibt. Hinzu kommt die in der Form spezifizierte kategoriale Bedeutung, also die Spezifikation von Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus verbi; es ist diejenige gegenständlich-semantische Bedeutung, die von Form zu Form des Lexems systematisch variiert. Über das Verhältnis dieser beiden Komponenten gegenständlicher Bedeutung zueinander ist damit noch nichts ausgesagt. Nur so viel ist gesagt, daß damit die Semantik des finiten Verbs erschöpft ist. - Die syntaktische Bedeutung eines finiten Verbs ist nicht Bedeutung im gegenständlich-semantischen Sinn; sie ist funktionale Bedeutung, und ebenso gut kann man von der syntaktischen Funktion eines finiten Verbs sprechen. Diese Funktion ist einigermaßen klar und allen finiten Formen gemeinsam: das finite Verb kann "nichts anderes sein als Prädikat" 5 , seine Finitheit ist Merkmal der "äußeren Form", 5 Porzig, W. (1982), 138. 2 das "der prädikativen Fügung allein und ausschließlich" zukommt 6 . Die syntaktische Funktion des finiten Verbs steht so sehr außerhalb jeglichen Zweifels, daß sie von Fall zu Fall auch synkretistische Formen - morphologisch nicht eindeutig gekennzeichnete Formen wie z.B. machen - als finit oder infinit zu qualifizieren vermag. 3. Ich möchte im folgenden versuchen, dieser syntaktischen Funktion der finiten Verbform auf den Grund zu gehen. Dabei greife ich auf einen Ansatz zurück, der in der bekannten und oft verkannten Grammatik von Port-Royal von 1660, der Grammaire générale et raisonnée, von Antoine Arnauld und Claude Lancelot zum ersten Mal konsequent und bündig entwickelt worden ist. 7 Ausgangspunkt aller Überlegungen ist ein fundamentaler, gleichwohl komplexer semiotischer Sachverhalt, der in der Präambel der Grammaire in einem Satz zusammengefaßt ist: "Parler, est expliquer ses pensées par des signes, que les hommes ont inventez à ce dessein."(5) - "Sprechen heißt, seine Gedanken durch Zeichen explizieren, die die Menschen eigens dafür erfunden haben." Die Sprachlaute sind somit Zeichen, sie stellen etwas dar; das, was durch die Sprachzeichen dargestellt wird, sind die Gedanken; hinsichtlich des Dargestellten sind die Sprachzeichen erfunden und also arbiträr, d.h. die Darstellungsrelation ist nicht natürlich-kausal determiniert. Die Arbitrarität der Zeichenrelation wird nicht dadurch aufgehoben, daß das Sprachzeichen einmal erfunden ist; Sprechen ist und bleibt seiner Möglichkeit nach "Explikation" der Gedanken, ist und bleibt also reflektierte Darstellung des Gedankens durch das sprachliche Zeichen. M.a.W.: Zum Sprechen gehört ganz ursprünglich die Reflexion auf das Sprechen. Diese dem Sprechen ursprünglich eigentümliche Reflexion ist - und das ist die Pointe im Ansatz der Grammaire - ihrer Natur nach bereits grammatische Reflexion. Das Problem, das in dieser Reflexion bewältigt werden soll, ist die Frage: Wie ist die adäquate Darstellung des Darzustellenden unter der Bedingung der Arbitrarität der Zeichenrelation möglich? Es versteht sich, daß man sich bei dieser Arbeit zuerst Klarheit darüber verschaffen muß, wie das Darzustellende, der Gedanke, beschaffen ist: Man muß verstanden haben, so die Grammaire, "ce qui se passe dans nostre esprit" (27) - "was in unserem Geist vor sich geht". Was geht in unserem Geist vor sich? Die Tätigkeiten oder Operationen des Geistes sind: "concevoir" - Vorstellen, "juger" - Urteilen, "raisonner" - Schließen. "Vorstellen ist allein der einfache Blick unseres Geistes auf die Dinge (...). Urteilen, das ist bejahen, daß ein Ding, das wir uns vorstellen, so oder so beschaffen ist. Wenn ich mir z.B. die Erde als solche und Rundheit als solche 6 7 Porzig, W. (1982), 137. Grammaire générale et raisonnée ou La Grammaire de Port-Royal. Ed. critique présentée par Herbert E. Brekle. Nouvelle impression en facsimilé de la troisième édition de 1676 (Paris). Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. 3 vorgestellt habe, bejahe (behaupte) ich von der Erde, daß sie rund ist. Beim Schließen bedient man sich zweier Urteile, um daraus ein Drittes zu machen." 8 Da das Schließen aber nur eine Erweiterung des Urteilens sei, könne man auf seine Erörterung verzichten. Damit rückt das Urteil ins Zentrum der Überlegung. Ein Urteil wie die Erde ist rund enthalte "notwendigerweise zwei Termini: der eine wird Subjekt genannt und ist der Terminus, von dem man bejaht, wie Erde; der andere wird Attribut genannt und ist das, was bejaht wird, wie rund; und schließlich (enthält das Urteil) die Verbindung zwischen den beiden Termini, ist. Man sieht leicht, daß die beiden Termini der ersten Operation des Geistes eigentümlich sind, weil es das ist, was wir uns vorstellen und was der Gegenstand unseres Denkens ist; und daß die Verbindung zur zweiten (Operation) gehört, von der man sagen kann, daß sie die eigentliche Tätigkeit unseres Geistes ist und die Art und Weise, wie wir denken." 9 Diese Analyse des logischen Urteils ist aus heutiger Sicht keineswegs zufriedenstellend, aber die einzelnen Elemente der Urteilsstruktur sind doch klar herausgearbeitet. Es ist nämlich herausgearbeitet, daß das Urteil eine synthetische Einheit darstellt, in der zwei Begriffe aufeinander bezogen sind, die durch diesen Bezug und in diesem Bezug unterschiedlich funktionieren; es ist m.a.W. herausgearbeitet, daß das Urteil drei Strukturglieder aufweist, nämlich das Urteilssubjekt, das Urteilsprädikat und die Urteilsrelation. Zwar ist die logische Auszeichnung der Urteilsrelation durch den Begriff der Bejahung oder Affirmation nur unzulänglich erfaßt; dennoch ist erkannt, daß die Urteilsrelation eine operative Größe ist und als Funktor mit zwei Argumentstellen konzipiert werden muß. Die Kopula, die "Verbindung zwischen den beiden Termini", ist Urteilsfunktor; entsprechend sind die "Termini", Urteilssubjekt und Urteilsprädikat, die Argumente des Urteilsfunktors. Zusammen mit den Argumenten bildet der Funktor "ein vollständiges Ganzes" 10 , nämlich die synthetische Einheit des Urteils. Aus dieser Sachlage folgert die Grammaire: "Also ist die grundlegende Unterscheidung, die man hinsichtlich dessen zu treffen hat, was in unserem Geist vor sich geht, dergestalt, daß man 8 "Concevoir, n'est autre chose qu'vn simple regard de nostre esprit sur les choses (...). Ivger, c'est affirmer qu'vne chose que nous concevons, est telle, ou n'est pas telle. Comme lors qu'ayant conceu ce que c'est que la terre, & ce que c'est que rondeur, j'affirme de la terre qu'elle est ronde. Raisonner, est se servir de deux jugemens pour en faire vn troisiéme." (27 f.) 9 "(...) enferme necessairement deux termes: l'vn appelé sujet, qui est ce dont on affirme, comme terre; et l'autre appellé attribut, qui est ce qu'on affirme, comme ronde: & de plus la liaison entre ce deux termes, est. Or il aisé de voir que les deux termes appartiennent proprement à la premiere operation de l'esprit, parce que c'est ce que nous concevons, & ce qui est l'objet de nostre pensée; & que la liaison appartient à la seconde, qu'on peut dire estre proprement l'action de nostre esprit, & la maniere dont nous pensons." (29) 10 Frege, G. (1990), 128. 4 (einerseits) den Gegenstand unseres Denkens betrachten kann und (andererseits) die Form (...) unseres Denkens, deren wichtigste das Urteil ist." 11 Da in der sprachlichen Darstellung sowohl die Gegenstände des Denkens als auch die Form des Denkens durch Zeichen repräsentiert sein müssen, folgt daraus weiter, "daß der grundlegende Unterschied der Wörter darin besteht, daß die einen die Gegenstände des Denkens und die anderen die Form des Denkens bezeichnen (...)" 12 Die Wörter können damit in zwei Gruppen aufgeteilt werden: Auf der einen Seite gibt es "Gegenstandswörter", auf der anderen Seite "Formwörter". Zu den "Gegenstandswörtern" rechnet die Grammaire die Substantive, Adjektive, Pronomina, Adverbien u.a.; "Formwörter" aber sind neben den Konjunktionen die Verben. Das Verb ist nämlich "vn mot dont le principal vsage est de signifier l'affirmation" (95); es ist der zeichenhafte Ausdruck des Urteilsfunktors und damit das "Formwort" par excellence. Ganz wie die traditionelle Grammatik seit der Antike begreift die Grammaire es als ihre Hauptaufgabe, die verschiedenen partes orationis zu bestimmen. Als allgemeine Grammatik als grammaire générale - aber erhebt die Grammaire den Anspruch, daß diese Bestimmung allgemeingültig ist; sie muß deshalb gleichzeitig Begründung - grammaire raisonnée – sein und muß als Explikation der Zeichenrelation erfolgen. Hier schließt die Grammaire nahtlos an die scholastischen Traktate an, die unter dem Titel De modis significandi bekannt sind. 13 Hier wie dort geht es darum, den Signifikationsmodus oder "modus significandi" oder, wie die Grammaire übersetzt, die "manière pour signifier" (5) der Wortarten zu ergründen, die allgemeine Bedeutung sozusagen, die allen Wörtern einer Wortart gemeinsam ist. Diese allgemeine Bedeutung einer Wortart ist ihre Form oder, wie wir besser sagen, ihre Formbestimmtheit. Die scholastischen Traktate versuchten, diese Formbestimmtheit aus der gegenständlichen Bedeutung der Wörter zu abstrahieren; sie führten die Wortarten auf höchste Begriffe zurück und landeten dabei meist bei den Kategorien der aristotelischen Logik. Die Schwierigkeiten, die dabei auftauchen, sind bekannt. - Im Gegensatz dazu rekurrieren die Grammatiker von PortRoyal bei der Explikation der Zeichenrelation auf das Urteil und seine Struktur und eröffnen damit eine ganz neue Möglichkeit, das Problem der Formbestimmtheit der Wortarten in Angriff zu nehmen. Das Urteil ist synthetische Einheit; in der Urteilsrelation sind die Glieder des Urteils, Subjekt und Attribut (Prädikat), funktional aufeinander bezogen. Entsprechend ist auch 11 "Et ainsi la plus grande distinction de ce qui se passe dans noste esprit, est de dire qu'on y peut considerer l'objet de nostre pensée; et la forme ou maniere de nostre pensée, dont la principale est le jugement." (29) 12 "(...) que la plus generale distinction des mots, soit que les vnes signifient les objets des pensées, & les autres la forme & la maniere de nos pensées (...)". (29 f.) 13 Vgl. hierzu Pinborg, J. (1964) und Roos, H. (1948). 5 der sprachliche Ausdruck des Urteils, der Satz, synthetische Einheit: auch die Bestandteile des Satzes, die Wortzeichen, sind funktional aufeinander bezogen, und dieser funktionale Bezug macht ihre Formbestimmtheit aus. Die Formbestimmtheit der Wörter bzw. Wortarten ist syntaktische Formbestimmheit. Für das Verb bedeutet dies nach dem bisher Gesagten: qua Formbestimmtheit signifiziert das Verb den Satzfunktor, oder schlichter: das Verb ist Prädikatswort. 4. Indes: So wegweisend der Rekurs auf das Urteil ist, so unzuglänglich ist er in der Grammaire durchgeführt. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich Widersprüche. Die Entgegensetzung von "Gegenstandswörtern" und "Formwörtern" wirft nämlich sofort die Frage auf, worin die Formbestimmtheit der "Gegenstandswörter" bestehen soll. Die Antwort, die die Grammaire hier nur anbieten kann, ist: die Formbestimmtheit der "Gegenstandswörter" ist eben ihr Gegenstandsbezug, der in der Operation des "concevoir", des Vorstellens, seinen Grund hat. Diese Operation ist der Grammaire zufolge ursprünglicher als das Urteil, sie geht ihm logisch voraus. Das Ergebnis dieser Operation ist der Begriff; er wird als "Terminus" in das Urteil eingebracht, bezieht seine Formbestimmtheit aber nicht aus der Funktionalität des Urteils. D.h.: Gegenstandsbezug und Begriff und somit die bestimmte gegenständliche Bedeutung etablieren sich vor und außerhalb des Urteils. Da der Gegenstand im Begriff begriffen ist, da, wie Kant sagt, Denken "das Erkenntniß durch Begriffe" ist, 14 kann nicht mehr eingesehen werden, wozu es noch des Urteils bedarf, warum das Urteil gar die "wichtigste" Operation des Denkens sein soll. - Darüber hinaus, und das wiegt in unserem Zusammenhang noch schwerer, kann die Grammaire nicht wirklich erklären, wie dem Verb neben seiner funktionalen Bedeutung auch noch gegenständliche Bedeutung zukommen soll. Als reines "Formwort" ist das Verb Kopula und nur Kopula, bar jeglicher gegenständlichen Bedeutung; die Wortklasse Verb dürfte von ihrer Konstitution her nur ein einziges Element enthalten: "on n'auroit eu besoin dans chaque Langue que d'vn seul Verbe" (97). Warum es sich in Wirklichkeit dennoch ganz anders verhält, warum Verben Wörter sind, die sehr wohl gegenständliche Bedeutung aufweisen, und warum es in jeder Sprache eine Vielzahl von Verben gibt, - dafür haben die Autoren der Grammaire nur eine pragmatische Erklärung: all diese Verben seien Verkürzungen, Zusammenziehungen der Kopula mit "quelque attribut" (96), mit einem "Gegenstandswort" also. Der Mangel, der sich in diesen Ungereimtheiten offenbart, ist kein Mangel des semiotischen Ansatzes; es ist ein Mangel des Urteilskonzepts. Es ist freilich ein Mangel, mit dem jedes Urteilskonzept der Zeit behaftet war. Erst Kant konnte hier Abhilfe schaffen. Kant und der an Kant anschließenden Urteilslehre 15 verdanken wir die Erkenntnis, daß das Urteil nicht bloß die 14 KdrV, B 94. 15 Vgl. Flach, W. (1974a). 6 Verbindung zweier Begriffe zum Zweck der Affirmation oder Behauptung darstellt, sondern daß das Urteil in seiner Wahrheitsdifferenz Bestimmungsstruktur ist, in der der Gegenstand bestimmt und erkannt ist; entsprechend vermag sich das Denken nur qua Urteil auf den Gegenstand zu beziehen. Gegenständlichen Sinn gibt es nur im Urteil und durch das Urteil, nicht aber in einem urteilsunabhängigen "concevoir" oder Vorstellen. Die zu ziehende semiotische Konsequenz aus dieser Einsicht ist, daß alle "Gegenstandswörter" als Zeichen bestimmter gegenständlicher Bedeutung von vornherein, von ihrer Konstitution her Referenz zur Urteilsstruktur aufweisen müssen, daß m.a.W. ihre syntaktische Formbestimmtheit die Möglichkeitsbedingung ihrer Gegenständlichkeit darstellt. Nur wenn dies in Rechnung gestellt wird, ist ein angemessener Begriff der syntaktischen Formbestimmtheit zu gewinnen. Daraus ergibt sich aber sofort die weitere semiotische Konsequenz, daß nämlich die syntaktische Formbestimmtheit der Wörter nicht eigentlich signifiziert, sondern konsignifiziert wird. Genau dieses Merkmal der Konsignifikation ist im Begriff des Signifikationsmodus mitgedacht, und so wurde er im übrigen auch in den mittelalterlichen Traktaten verwendet. 16 Als Konsignifikat läßt sich der Signifikationsmodus zwar vom Signifikat unterscheiden, nicht aber vom Signifikanten isolieren, d.h. er ist in Reinheit der morphologischen Analyse nicht zugänglich. Dieser semiotische Befund ist grundsätzlicher Natur und ist kennzeichnend für die gesamte Semiose der Sprache. 17 Wir waren von der Beobachtung ausgegangen, daß die syntaktische Bedeutung der finiten Verbform darin besteht, die Prädikation anzuzeigen; die Überlegungen, die ich im Anschluß an die Grammatik von Port-Royal angestellt habe, sollten dazu führen, den Grund für diese syntaktische Bedeutung offenzulegen. Es stellte sich heraus, daß die finite Verbform die Prädikation nur deshalb anzuzeigen vermag, weil der Signifikationsmodus des Verbs als Wortart der Ausdruck der Prädikation ist. Damit ist gesagt, daß die finite Verbform ihre syntaktische Funktion nicht dem Umstand ihrer Finitheit verdankt, sondern dem Umstand, Form eines Lexems zu sein, das als Element der Wortklasse der Verben den Satzfunktor konsignifiziert. 18 16 Vgl. Roos, H. (1948), 213. 17 In der linguistischen Forschung wird dies in der Regel nicht zur Kenntnis genommen. Eine Ausnahme macht Tesnière. Tesnière baut die gesamte Syntax auf dem Begriff der Konnexion auf, hält aber mit aller Deutlichkeit fest: "La connexion n´a pas de marquant (...)." (Tesnière, L. (1976), 36.) Die Konnexion ist der Inbegriff der syntaktischen Formbestimmtheit der Wörter, ist Inbegriff der formalen Bezogenheit der Wörter auf die Einheit des Satzes, also letztlich das, was wir als Satzfunktor bezeichnen. – Vgl. dazu Ziegler, J. (1999). 18 Dies steht nicht im Einklang mit den üblichen Vorstellungen vom finiten Verb. Meist wird die Finitheit für die syntaktische Funktion des finiten Verbs verantwortlich gemacht. Aus der richtigen Beobachtung, daß die finite Verbform die Prädikation anzeigt, die infinite aber nicht, läßt sich indes nicht schließen, daß die Finitheit der Form auch der Grund für ihre syntaktische Funktion ist. 7 5. Wir sind nun in der Lage, eine Bewertung der analytischen Verbformen vorzunehmen und damit das Verhältnis von finiter und infiniter Verbform aufzuklären. Dabei ist anzuknüpfen an den eingangs erwähnten Befund, daß die finite Form schon aus konjugationssystematischen Gründen die primäre Form ist: die finite Form ist die notwendige Bedingung der analytischen Verbform und damit auch der infiniten Form. Es ist also nicht so, daß die Opposition von finit und infinit auch Korrelation wäre, wie dies doch unterstellt wird, wenn man diese Opposition aus dem Gegensatz von konjugiert-nicht konjugiert zu erklären sucht. 19 - Als nächstes ist festzuhalten, daß in der analytischen Form die gegenständliche Kernbedeutung des Verbs und die kategoriale(n) Bedeutung(en) des Flexems getrennt werden: die Kernbedeutung ist in der infiniten Teilform, die kategoriale Bedeutung in der finiten Teilform repräsentiert. Zusammen mit dem konjugationssystematischen Befund bedeutet das, daß diese Trennung näherhin Auslagerung ist: die gegenständliche Kernbedeutung ist aus der synthetischen Form ausgelagert. Darin liegt weiter, daß das Prinzip der Synthetizität in der Konjugation als morphologisches Formprinzip nicht aufgegeben wird: das Flexem emanzipiert sich nicht zur freien Form, es erscheint vielmehr im Paradigma eines anderen Verbs, das deshalb zurecht "Hilfsverb" genannt wird. 20 Schließlich ist zu konstatieren, daß der Satzfunktor bei der synthetischen Form verbleibt. Da das finite Hilfsverb, wenn überhaupt, so doch nur noch einen minimalen Rest an gegenständlicher Kernbedeutung aufweist, ist es gleichzeitig auch Kopulaverb und scheint sich tatsächlich dem Idealbild des Verbs anzunähern, wie es die Grammatik von Port-Royal entworfen hat. Aber der Schein trügt. Als Ausdruck der reinen "gegenstandsfreien" Kopula dürfte das Hilfsverb gerade das nicht sein, was es doch ist, nämlich finite Verbform, da im Flexem der finiten Verbform jederzeit die gegenständliche Bedeutung der modifizierten Verbalkategorien signifiziert ist. Wie bei allen Verben ist auch beim Hilfsverb der Satzfunktor nur konsignifiziert. 6. Wir können uns nun der Frage zuwenden, wie das Verhältnis von Wortform und Lexem beschaffen ist, wie das Lexem selbst zu konzipieren ist. Soweit es dabei um die syntaktische Formbestimmheit geht, haben wir diese Frage schon beantwortet: Die finite Verbform empfängt ihre syntaktische Formbestimmtheit vom Lexem, das ja durch eben diese Formbestimmt- 19 Vgl. etwa Helbig, G., Buscha, J. (1986). "Im Unterschied zu den infiniten Verbformen sind die finiten Verbformen personengebunden und konjugiert." (34) "Die infiniten Verbformen sind nicht personengebunden und nicht konjugiert." (35) 20 Dieser Vorgang ist prinzipiell iterierbar, wie Formen wie wird gekommen sein oder - im Dialekt - war gekommen gewesen zeigen. Er führt aber nie zur Auflösung der synthetischen Form. 8 heit Element der Klasse der Verben ist; diese Formbestimmtheit liegt näherhin darin, den Satzfunktor zu konsignifizieren. Der Satzfunktor ist der Funktor der synthetischen Einheit des Satzes als Sprachzeichen. - Funktoren sind im technischen Sinn die konstanten Elemente synthetischer Einheiten, die durch sie definiert sind. Der Satzfunktor garantiert - so können wir auch sagen - die Formkonstanz des Satzes. - Betrachten wir nun die finite Verbform, so sehen wir, daß auch sie das Resultat einer Synthetisierung darstellt; auch das finite Verb ist synthetische Zeicheneinheit. Und es ist nicht zu übersehen, daß dem Flexem in dieser Zeicheneinheit die Rolle des Funktors zukommt: Die Formkonstanz jeder einzelnen Verbform wird durch das jeweilige Flexem garantiert. Das Flexem ist der Funktor der Verbform, ist, was dasselbe ist, Funktor der Verbformbildung. Es ist deshalb morphologischer Funktor. - Nun liegt es im Begriff der Wortform, ein pluralistischer Begriff zu sein: wenn es zu einem Lexem nur eine einzige Wortform gibt, ist die Differenz zwischen Lexem und Wortform methodisch witzlos. Wenn es also zu einem Lexem mehrere Wortformen gibt, dann ist jede dieser verschiedenen Wortformen durch einen anderen Funktor definiert. Die Formkonstanz aller Verbformen ist unter diesen Bedingungen nur dann gewährleistet, wenn die Vielheit der zu einem Lexem gehörenden Verbformen systematisch konstruktive Vielheit ist, wenn m.a.W. die Vielheit der Funktoren in einem systematisch konstruktiven Einheitsbezug geordnet ist. Dies ist tatsächlich der Fall. Anders könnten wir nicht vom verbalen Paradigma reden. Dieser konstruktive Einheitsbezug ist selbst wieder Funktor; er definiert das Paradigma und stiftet die Einheit des Paradigmas. Er ist freilich Funktor anderer Art als das Flexem oder als der Satzfunktor, denn er stiftet keine syntagmatische, sondern eine paradigmatische Einheit. Und es kann kein Zweifel bestehen, daß dieser paradigmatische Funktor dem Lexem zuzurechnen ist. Qua Funktor des paradigmatischen Einheitsbezugs ist das Lexem der Inbegriff seiner Formen. Behält man dies im Auge, dann kann man nicht mehr der Versuchung erliegen, das Lexem mit dem Verbalstamm bzw. der Kernbedeutung oder gar mit dem Infinitiv gleichzusetzen: man gelangt deshalb auch nicht zum Lexem, wenn man von der finiten Form das Flexem Ersatzlos wegnimmt. Im Lexem sind vielmehr zwei Funktoren präsent, und die Konstellation dieser Funktoren definiert die Wortklasse der Verben in syntaktischer und morphologischer Hinsicht. Indem der Funktor des paradigmatischen Einheitsbezugs das Paradigma stiftet und definiert, etabliert er die sog. Kategorien des Verbs. Er etabliert sie als obligate Kategorien der Verbform: die Kategorien sind grammatikalisiert. Ihr kategorialer Gehalt ist deshalb obligater Bestandteil der gegenständlichen Bedeutung des Verbs und vermittelt über den Satzfunktor auch des gegenständlichen Satzsinns. Bemerkenswert dabei ist, daß diese Etablierung der Kategorien nur unter der Bedingung ihrer internen Differenzierung möglich ist, die näherhin vollständig disjunktive, oft auch limitative Differenzierung ist. D.h. die Unterkategorien einer 9 Kategorie schöpfen diese vollständig aus, erhalten ihre jeweilige Bestimmtheit vor allem durch das, was sie nicht sind. 7. Zwei Fragen sind abschließend zu klären. Erstens: Gibt es eine Kohärenz der verschiedenen Kategorien? Gibt es so etwas wie einen gemeinsamen Nenner? Wenn ja, zweitens: Gibt es eine plausible Erklärung dafür, daß die kohärenten Kategorien obligate Kategorien des gegenständlichen Satzsinns sind? Oder, in einer Frage zusammengefaßt: Ist die Konstellation der Funktoren im Verblexem rein zufällig, oder hat sie einen sachlichen, in den Bedingungen der Konstitution gegenständlicher Bedeutung liegenden Grund? Die allgemeine Frage nach der Kohärenz der Verbalkategorien wird in der Literatur oft zu der besonderen Frage verengt, welcher Status dem Kategorienpaar Person und Numerus zukommt. Manche halten insbesondere die Kategorie der Person für notwendig, da diese Kategorie in der Sprache überhaupt notwendig sei; 21 manche halten Person und Numerus für redundant, weil sie keine Information geben, die nicht schon im Satzsubjekt enthalten wäre; 22 manche schließen sie aus dem Kreis der "eigentlichen" Verbkategorien aus. 23 Ich kann hier die einzelnen Positionen nicht diskutieren. Nur soviel ist zu sagen: Keine Kategorie ist notwendig, es gibt Sprachen, die die Verbflexion nicht kennen; keine Kategorie ist nicht redundant insofern, als sich das in ihr Ausgedrückte nicht auch mit anderen Mittel ausdrücken ließe; die Scheidung in "eigentliche" und "weniger eigentliche" Verbkategorien zeigt wenig Respekt vor der Empirie und muß außerdem den Nachweis erbringen, worin die Eigentlichkeit der eigentlichen Verbkategorien besteht. Die Überprüfung der Kohärenz der Verbkategorien setzt an bei der Beobachtung, daß sowohl Person als auch Tempus deiktische Kategorien sind. Deixis ist eine unhintergehbare Bedingung der sprachlichen Darstellung. Sie wurzelt in der von Bühler so genannten origo 24 , dem ich, hier und jetzt. Die origo ist der Ursprung des Zeigfelds der Sprache. Zeigen im ursprünglichen Sinn kann man nur auf Gegenstände, die dem Subjekt durch die Sinne gegeben sind. Mit der Deixis ist also das Thema der Anschauung aufgerufen, und hier spielt die Zeit eine prominente Rolle. 21 Benveniste, E. (1966), 227: "On peut donc conclure que la catégorie de la personne appartient bien aux notions fondamentales et nécessaires du verbe." 22 Eisenberg, P. (1989), 113: "Die Personalendungen stehen deshalb zur Disposition." 23 Vgl. Leiss, E. (1992), 22. Person und Numerus werden von Leiss nicht zu den "Verbalkategorien im engen Sinn" gerechnet, da sie "in erster Linie die Kongruenz mit dem Subjekt anzeigen". 24 Bühler, K. (1978), 102. 10 Zeit ist, wie Kant lehrt, ebenso wie der Raum nicht Objekt der Anschauung, sondern Form der Anschauung; Zeit ist die reine Form der Sinnlichkeit, "die allen Anschauungen zum Grunde liegt". 25 "Und da unsere Anschauung jederzeit sinnlich ist, so kann uns in der Erfahrung niemals ein Gegenstand gegeben werden, der nicht unter die Bedingung der Zeit gehörte." 26 Oder: "In ihr (= der Zeit) allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen" - i.e. der durch die Sinne gegebenen Gegenstände - "möglich". 27 Und: Alle Anschauungen "sind in der Zeit und stehen nothwendigerweise in Verhältnissen der Zeit." 28 - Die Anschauung ist "unbegriffene, begriffsfreie" Mannigfaltigkeit 29 ; sie wird im Denken im logischen Einheitsbezug erfaßt, begriffen. Insofern ist die Anschauung die Materie oder der Inhalt empirischer Begriffe. Darin liegt, daß das Sprachzeichen die Anschauung nur mittelbar repräsentiert. Das Sprachzeichen repräsentiert den Begriff, d.h. die bestimmte gegenständliche Bedeutung; nur vermittelt durch den Begriff ist das Sprachzeichen auf Anschauungen und damit auf den Gegenstand der Erfahrung bezogen. Die Anschauung steht "nothwendigerweise in den Verhältnissen der Zeit". Wenn das Mannigfaltige der Anschauung im Begriff begriffen ist, dann müssen auch die "Verhältnisse der Zeit", in denen die Anschauung steht, begriffen werden (können). Der empirische Begriff muß mit einem Zeitindex ausgestattet werden können, und diese zeitliche Indizierung muß sprachlich zur Darstellung gelangen. Dies kann auf verschiedene Weisen geschehen. Eine Möglichkeit ist die Etablierung des Tempus als Verbalkategorie. Mit der origo ist auch das anschauende Subjekt angesprochen, ja, man kann sagen, daß die origo der Deixis das mit Sinnlichkeit und Bewußtsein ausgestattete Subjekt selbst ist. 30 ich ist der sprachliche Ausdruck der origo, du ist das andere ich, die sog. dritte Person ist das nicht-ich und das nicht-du, ist die der Person gegenüberstehende Nicht-Person. 31 - Das Verhältnis von Person und Nicht-Person wird sprachlich in der von Bühler so genannten to-Deixis 32 bewältigt: 25 26 27 28 29 30 31 32 KdrV, B 46. KdrV, B 52. KdrV, B 46. KdrV, B 51. Flach, W. (1973), 107. Vgl. Ziegler, J. (1989), 201. Benveniste, E. (1966), 228. Bühler, K. (1978), 105. 11 es ist die Bezugnahme auf den anschaulich gegebenen Gegenstand durch das Demonstrativum. Diese Bezugnahme unterliegt komplexen Bedingungen. 33 Eine dieser Bedingungen ist, daß der gegebene Gegenstand schon als vereinzelter (singulärer) Gegenstand gegeben ist, ein durch die Deixis herausgehobener Gegenstand unter vielen Gegenständen. Das Zeigfeld der Sprache wird durch die origo zwar begründet, aber ins Zeigfeld gehören korrelativ zur origo die durch das Zeigen herausgehobenen Gegenstände. Singularität und Vielheit sind somit grundlegend im Verhältnis der Anschauung, der damit auch die Kategorie des Numerus verpflichtet ist. Sie führen zwar noch nicht zum Begriff der Zahl, gehören aber zu dessen Voraussetzungen: Insofern ist die Bezeichnung "Numerus" für die grammatische Kategorie berechtigt. Genus verbi fügt sich problemlos in das origo-Modell der Anschauungssituation ein. Es faßt das Verhältnis von origo und Gegenstand, aber auch das von Gegenstand zu Gegenstand als ein wirkliches Verhältnis wirklicher Gegenstände, als das Verhältnis von Ursache und Wirkung. Die Interpretation von Genus verbi als Aktionsform widerspricht dem nicht, denn das origoSubjekt begreift sich selbstverständlich auch als handelndes Subjekt; sie engt die Bedeutung von Genus verbi aber unnötig ein. Damit wird greifbar, worin die Kohärenz der Verbkategorien besteht. Sie beziehen sich durchweg auf Strukturmomente der origo bzw. der Verhältnisse, in denen die origo als deren Ursprung steht. Es sind so durchweg Momente, die an der Organisation von Erfahrung und somit an der Organisation zu bestimmender konkreter gegenständlichen Bedeutung beteiligt sind. An der Kategorie des Modus zeigt sich dies am deutlichsten. Diese Kategorie etabliert sich im Hinblick auf die Wirklichkeit; der Ausgangspunkt für ihre Ausdifferenzierung ist die Wirklichkeit. Der Indikativ ist in seiner Grundfunktion Realis, Modus der Wirklichkeit, und der Konjunktiv ist vor allem anderen Irrealis, Modus der Nicht-Wirklichkeit. 8. Lediglich die Beantwortung der zweiten Frage ist noch offen. Diese Frage kann jetzt so formuliert werden: Gibt es eine plausible Erklärung dafür, daß die Organisation gegenständlicher Bedeutung qua Funktor des paradigmatischen Einheitsbezugs systematisch am Verb erfolgt? Ich denke, es gibt eine solche Erklärung. - Gegenständlicher Sinn ist - davon sind wir ausgegangen - immer "urteilsstrukturierter Sinn" 34 ; das Urteil ist Gegenstandsbestimmung und Gegenstandsermöglichung in einem. Das Urteil ist die Möglichkeitsbedingung von Gegenständlichkeit überhaupt. Gerade deshalb aber ist dieser Sinn seinem Gehalt nach durch die 33 Eine Analyse dieser Bedingungen gibt Ziegler, J. (1984), 81 ff. 34 Flach, W. (1974b), 97. 12 Struktur des Urteils nicht festgelegt, er ist logisch kontingent, ist in der Anschauung gegeben. Die Bedingung der logischen Kontingenz ist das Subjekt. 35 Das Subjekt ist die Bedingung konkreter Gegenständlichkeit. - Die Darstellung des Gedankens im sprachlichen Zeichen muß diesen beiden ganz unterschiedlichen Bedingungen - der logischen Struktur des Urteils einerseits und der Subjektsgebundenheit konkreter Gegenständlichkeit andererseits - gerecht werden. Sie wird der ersten Bedingung gerecht dadurch, daß die Zeicheneinheit, in der das Urteil dargestellt wird, der Satz ist. Dieser ist wie das Urteil synthetische Einheit, Einheit seiner funktionalen Glieder. Die funktionalen Glieder des Satzes sind zunächst die Satzglieder, in letzter Konsequenz aber die Wörter. Was dies für die Wörter im allgemeinen und insbesondere für das Verb bedeutet, sollte klar geworden sein. - Die Darstellung des Gedankens im sprachlichen Zeichen wird der zweiten Bedingung - der Subjektsgebundenheit konkreter Gegenständlichkeit - gerecht, indem sie es dem Subjekt erlaubt, sich als Subjekt zu artikulieren. Das Subjekt artikuliert sich als origo und entwirft so das Zeigfeld der Sprache, das über die Anschauungsrelation seine Struktur erhält. Die Bestimmung des konkreten Gegenstands ist möglich, weil sie in Rückbindung des Gegenstands an dieses Zeigfeld, und d.h. letztlich an die origo erfolgt. Im Verb ist diese Rückbindung grammatikalisiert. Das Verb repräsentiert damit nicht nur qua Satzfunktor den bestimmenden Begriff in der Struktur der Gegenstandsbestimmung; qua Finitheit bringt es zum Ausdruck, daß diese Bestimmung vor allem anderen Bestimmung konkreter Gegenständlichkeit ist. Im Verb sind die beiden Möglichkeitsbedingungen konkreter Gegenständlichkeit formal repräsentiert und zusammengefaßt. Im Verb sind, wenn man so will, die objektiven und die subjektiven Bedingungen konkreter Gegenständlichkeit grammatisch bewältigt. 35 Der Anschauung kommt "die Bedingungsfunktion der logischen Kontingenz" zu. (Flach, W. (1973), 106.) Zum hier vertretenen Subjektsbegriff vgl. Flach, W. (1973), 107 f., und Flach, W. (1974b), 98 ff. 13 Literatur Benveniste, E. (1966): Structure des relations de personne dans le verbe. In: Benveniste, E.: Problème de linguistique générale. Bd. I. Paris. 225-236. Bühler, K. (1978): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Ungek. Ausgabe. Frankfurt/M./Berlin/Wien. Eisenberg, P. 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