Normale Reaktion auf eine Katastrophe? i - Dr. Hans

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Medizin
Medical Tribune • 46. Jahrgang • Nr. 5 • 29. Jänner 2014
Belastungsabhängige psychische Erkrankungen
Normale Reaktion auf eine Katastrophe?
zeitig Zeugen sind, muss respek­
tiert werden“, betonte Prof. Wenzel.
„Ärzte sollten ihre Patienten da­
rauf hinweisen, dass sie beim Bun­
dessozialamt u.a. um Prozessbeglei­
tung ansuchen können.“1,2 Neben
der einfühlsamen und fachge­
rechten medizinischen Versorgung
gilt es für Ärzte, die Verletzungen
und Beschwerden gerichtstaug­
lich zu dokumentieren und Spu­
ren zu sichern. Wertvolle Unter­
stützung dabei bietet ein wichtiges,
aber nicht ausreichend bekanntes,
Handbuch der Vereinten Nationen, Unbehandelt können belastungsabhängige psychische Erkrankungen einen über viele Jahre chronischen Verlauf nehmen.
das „Istanbul-Protokoll“.3
Wichtig wäre, dass Traumatisier­ von Krankheitshypothesen auf “, er­ rung zu verhindern. Prof. Wenzel:
Traumatisierendes
te keinen Kontakt mehr zum trau­ klärt er. Psychosomatische Explo­ „Betroffenen kann man als Arzt
Umfeld
matisierenden Umfeld haben, dass rationsgespräche, klinisch-physi­ vermitteln, dass die Erinnerungen,
Für Ärzte ebenfalls wichtig zu eine positive Umgebung für sie ge­ kalische Krankenuntersuchungen die sie quälen, wie Flashbacks und
wissen: Die Erklärungsmodelle für schaffen wird, die ihnen Klarheit sowie fachärztliche und apparative Albträume, ein normaler Schutz­
Krankheiten sind kulturell sehr un­ gibt und ihre Würde respektiert. Diagnostik: All das diene schließ­ mechanismus nach traumatischen
terschiedlich und prägen dement­ Andernfalls kommt es zu Retrau­ lich der Abklärung der ärztlichen Erfahrungen sind. Wenn man ih­
sprechend die ärztliche Interaktion matisierungen. Speziell bei Flücht­ Krankheitshypothesen. Kann z.B. nen diese Kampf-Flucht-Reaktion,
mit Betroffenen. So haben z.B. Pa­ lingen ist zu bedenken, dass sie oft eine posttraumatische Belastungs­ die Hyperaktivierung, gut erklärt,
tienten aus Schwarzafrika oft Ver­ schon ihre erlittenen psychischen störung vorliegen? Gibt es körper­ so trägt das oft schon zu einer ge­
wissen Entspannung bei.“
hexungs- und Verzauberungs­ideen. und physischen Traumen mitbrin­ liche Verletzungsfolgen?
Von besonderer Bedeutung sei
Bleiben jedoch noch mehre­
Prof. Wenzel: „Im Zuge von Feld­ gen. Die Ablehnung durch das
studien im Kosovo merkten wir, Gast- bzw. Aufnahmeland und un­ das Networking – führt der en­ re Monate nach dem Trauma ver­
dass auch dort die Leute nicht glau­ durchschaubare Bürokratie fördern gagierte Kollege weiter aus: „Bei schiedene Symptome der akuten
ben, dass sie belastungsabhängige solche Retraumatisierungen ebenso Flüchtlingen z.B. arbeiten wir Belastungsreaktion bestehen oder
Symptome wegen des Krieges ha­ wie die ständig im Raum stehende praktischen Ärzte mit Psychia­ kommen neue hinzu, so ist eine
ben, sondern weil sie von den Nach­ Gefahr, dass sie wieder abgescho­ tern und anderen Fachärzten, Ju­ Behandlung mittels Psychothe­
ben werden könnten. Experten und risten, Psychologen/Psychothera­ rapie indiziert. Unterstützend ist
barn verhext wurden …“
Bedacht muss auch werden, dass Hilfsorganisationen fordern daher peuten, Vertretern sozialer Berufe, meist eine medikamentöse Thera­
von Menschen aus anderen Kultur­ u.a. eine bessere Ausbildung für … zusammen und übernehmen das pie sinnvoll. Unbehandelt hinge­
kreisen oft die jeweilige traditio­ Personen, die mit den Asylwerbern Case-Management.“ Ärztliche Gut­ gen nehmen belastungsabhängige
achten seien für die Betroffenen psychische Erkrankungen oftmals
nelle Medizin zusätzlich zur ärztlich zu tun haben.
wichtig: „Die Kollegenschaft sollte über viele Jahre einen chronischen
verordneten Therapie angewandt
Klarheit und Würde
sich bewusst sein, dass diese einer Verlauf.
KaM
wird: „Hier muss man also beson­
ders aufpassen, dass es zu keinen
Als Voraussetzungen für die all­ sehr strengen Wahrheitspflicht un­ Symposium „Folgen von Stress, Trauma und
Interaktionen kommt!“
gemeinärztliche Betreuung von terliegen. Dafür werden sie erfah­ Belastungen – das Spektrum der belastungsab­
Gewalt und Folter betroffenen Pa­ rungsgemäß aber auch sehr ernst hängigen Erfahrungen“ der World Psychiatric
Association Section und des Zentrums für Pu­
tienten nannte Univ.-Lektor Dr. genommen, z.B. von Juristen!“
blic Health, Abteilung für Allgemein- und Fa­
4
milienmedizin; MedUni Wien, Jänner 2014
Hans-Joachim Fuchs , Allge­
Auswege suchen
Gute Daten für vaginale Entbindung
meinmediziner in Wien, abgese­
hen von gut entwickelten ärztlichen
Ob Unfall, Naturkatastrophe, Ge­
Kenntnissen und Fähigkeiten: In­ walt oder Krankheit: Fast alle Men­
1
Leistungen des Bunteresse, Empathie, Loyalität, Neu­ schen, die ein traumatisches Ereig­
dessozialamts nach dem
tralität sowie ein Setting, das für nis erlebt haben, zeigen eine starke
Verbrechensopfergesetz:
offene Gespräche geeignet ist. akute Belastungsreaktion. Wird da­
www.bundessozialamt.gv.at/basb/
„Schon die Körperhaltung, Mimik rauf rasch reagiert, so hilft das oft­
Renten_&_Entschaedigungen/
und verbale Äußerungen des Pati­ mals, Spätfolgen wie eine spätere
Verbrechensopfer
Der primäre Endpunkt – Tod enten rufen im Arzt eine Kaskade Posttraumatische Belastungsstö­
TORONTO – Präsentiert sich
2
Bundesministerium für Justiz:
bei einer Zwillingsentbindung des Kindes/schwere neonatale
Prozessbegleitung – Opfer ovn
Morbidität
–
betraf
2,2 Prozent
der
das erste Baby in SchädellaStraftaten haben ein Recht auf
ge, so bringt ein Kaiserschnitt Kaiserschnitt- und 1,9 Prozent der
Belastungsabhängige
Vaginalentbindungs-Gruppe. Auch
Beistand: www.bmi.gv.at/cms/BK/
keine Vorteile.
im Outcome der Mütter ergab sich
praevention_neu/opferhilfe/files/
psychische Erkrankungen
kein Unterschied, teilt Jon F. R.
BMJ_Prozessbegleitung_Folder.pdf
(Komorbiditäten sind häufig)
3
Dies ergab eine Studie an Barrett vom Sunnybrook Health
Istanbul-Protokoll:
u akute Belastungsreaktionen, Anpassungsstörungen,
Schwangeren zwischen der 32. Sciences Centre in Toronto mit.
www.istanbulprotocol.info/index.
Posttraumatische Belastungsstörungen
und 38. Schwangerschaftswoche. Wie in anderen Studien fand sich
php/de/short-summary
4
Bei 1398 Frauen wurde eine Sec­ ein erhöhtes Risiko für den zwei­
u affektive Störungen: Depressionen
MR Dr. Hans Joachim Fuchs: Dokutio und bei 1406 eine Vaginalge­ ten Zwilling. Die geplante Entbin­
u Angststörungen
mentation von Folter und Gewalt
burt geplant. In der ersten Gruppe dungsmethode hatte darauf aber
– die Rolle des praktischen Arztes
u dissoziative Störungen, Konversion
SK
erfolgte bei 90,7 Prozent der Fälle keinen Einfluss. (Folien): www.familienmedizin.net/
u somatoforme Störungen
ein Kaiserschnitt, im zweiten Kol­ Jon F.R. Barrett et al., NEJM 2013; 369(14):
files/FolterundGewalt.pdf
u Persönlichkeitsveränderungen
lektiv bei 43,8 Prozent.
1295–1305
Ob nach einer schwerwiegen­
den Belastung reaktive Erkran­
kungen wie Angststörungen und
Depressionen entstehen, ist von
vielen Faktoren abhängig. Abgese­
hen von der Art und Schwere der
Belastung selbst spielen auch die
Ereignisse nach der Belastung, die
Reaktionen des Umfelds, eine oft
unterschätzte Rolle.
Univ.-Prof. Dr. Thomas Wen­
zel von der Klinischen Abteilung
für Sozialpsychiatrie an der Med­
Uni Wien brachte am Symposium
„Folgen von Stress, Trauma und Be­
lastungen“ das Beispiel einer jun­
gen Frau, die nachts auf der Straße
überfallen und sexuell angegriffen
wurde. Kommt sie nach dem Er­
eignis nach Hause, so wird sie stark
verwirrt und belastet, jedoch noch
nicht vom Zustand eines Traumas
betroffen sein. Es macht jetzt einen
großen Unterschied, ob die Mutter
sagt: „Gott sei Dank, dass du dem
Täter entkommen konntest, du hast
das gut gemacht. Das nächste Mal
müssen wir besser aufpassen“ oder
ob sie ausdrückt: „Du bist ja ver­
rückt, allein im Dunkeln auf die
Straße zu gehen!“ Letzteres wäre ein
„negativer Social Support“, der un­
vorteilhaft ist und zur Entstehung
eines Traumas mitbeitragen kann.
Auch wie das System als Ganzes,
die Gesellschaft, reagiert, ist von
Bedeutung. „Ein EU-Rahmenbe­
schluss, der Mindeststandards für
den Schutz von Opfern von Verbre­
chen vorsieht, war in diesem Zu­
sammenhang einschneidend. Die
Würde der Opfer, die ja oft gleich­
Zwillings-Geburt auf
dem ganz normalen Weg
i
Foto: bramgino / Fotolia.com
WIEN – Belastungsstörungen sind vor allem bekannt als Folgen
von extremen Erlebnissen wie Gewalt, Naturkatastrophen oder
Unfällen. Auch schwere Erkrankungen, verbunden mit der bedrohlichen Diagnose und kräftezehrenden Therapien, können sich
anhaltend auf die Psyche auswirken. Früherkennung und Therapie erfordern in jedem Fall einen interdisziplinären Ansatz, der
soziale, kulturelle und biologische Aspekte mitberücksichtigt –
betonten Experten bei einem Symposium an der MedUni Wien.
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