„Wie bitte?“ Schwerhörigkeit – nicht nur bei älteren Menschen

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„Wie bitte?“
Schwerhörigkeit – nicht nur bei älteren Menschen
MP3-Player gehören heutzutage insbesondere bei Kindern und
Jugendlichen im wahrsten Sinne des Worte zum „guten Ton“. Und
das obwohl immer wieder vor den „musikgeladenen Ohrstöpseln“
gewarnt wird, denn die Nähe der Lautsprecher zum Trommelfell
kann zu Hörschädigungen führen. Doch nicht nur MP3-Player,
sondern auch Böller, Silvesterknaller, Schreckschusspistolen,
häufige Konzertbesuche oder beruflicher Dauerlärm können
jugendliche Schwerhörigkeit verursachen.
Dr. Georg Hollenstein ist Facharzt für Hals-, Nasen- und
Ohrenheilkunde sowie für Kopf- und Halschirurgie. Neben seiner
Praxis in Bregenz ist Dr. Hollenstein auch als Konsiliarfacharzt am
LKH Bregenz tätig, auch im operativen Bereich. Im ausführlichen
Interview erklärt er unter anderem die verschiedenen Arten und
Behandlungen von Schwerhörigkeit bei Kindern und Jugendlichen.
Weiters spricht er über Studien über Rock- und Jazzmusiker, die Sinnhaftigkeit von
Reglementierungen der Lärmpegel bei Diskotheken und welche Symptome auf eine
Hörschädigung hinweisen können.
Herr Dr. Hollenstein, haben Sie oft mit schwerhörigen Kindern oder Jugendlichen zu tun?
Hörstörungen im Kindes und Jugendalter sind häufig zu diagnostizieren. Es muss jedoch zwischen
angeborener und erworbener Hörstörung unterschieden werden, ebenso zwischen
Mittelohrhörstörung, sogenannter Schalleitungschwerhörigkeit (SLS), und Innenohrhörstörung,
sogenannter Schallempfindungsschwerhörigkeit (SES). Weiters zwischen passagerer, das heißt
vorübergehender, und permanenter Hörstörung.
Bei Kleinkinder und Kinder im Volksschulalter treten überwiegend vorübergehende
Mittelohrschwerhörigkeiten (SLS) auf. Diese werden meist durch immer wiederkehrende Infekte der
oberen Atemwege mit begleitenden Tubenbelüftungstörungen und Mittelohrentzündungen verursacht.
Schallempfindungsschwerhörigkeiten (SES) sind, abgesehen von seltenen Hörstürzen im Kindesalter,
in der Regel permanent vorhanden und müssen mit zum Teil größerem apparativen Aufwand vom
HNO-Facharzt herausgefiltert werden. Bei diesen SES muss zwischen genetischen bzw.
angeborenen und solchen Hörstörungen unterschieden werden, die erst nach der Geburt auftreten.
Die bei der Geburt vorhandenen Hörstörungen werden in Österreich durch das flächendeckende
Hörscreening unmittelbar nach der Geburt bereits früh erkannt und sogleich mit Hörhilfen versorgt.
Dadurch kann zum einen der Spracherwerb sichergestellt werden, zum anderen können
Folgeschäden der Gesamtentwicklung des Kindes, etwa im seelischen, sozialen und intellektuellen
Bereich, vermieden oder zuminderst reduziert werden.
Ab dem Jugendalter, teils sogar schon früher, treten zunehmend Lärm und sogenannte Umweltnoxen
auf. Bei Letzterem handelt es sich um Umwelteinflüsse, die eine schädigende Wirkung auf
Organismus oder ein Körperorgan, wie eben das Ohr, haben können. Jugendliche treffen sowohl im
Freizeitbereich als auch im beruflichen Alltag – etwa wenn sie eine Lehre durchlaufen, bei der sie
starkem Lärm ausgesetzt sind – auf hörschädigende Umwelteinflüsse. Hier können erhebliche
Impulslärmbelastungen im Sinne eines Knalltraumas auftreten. Allerdings bestehen im Arbeitsbereich
klare Lärmschutzbestimmungen mit Pegelbegrenzungen und Gehörschutzvorschriften. Im privaten
Bereich gibt es jedoch keine adäquaten Regelungen, Präventionsmaßnahmen obliegen daher dem
Einzelnen, den Eltern, der Schule usw.
Meinen Sie mit hörschädigenden Umwelteinflüssen im privaten Bereich zu laute Musik?
Neu auftretende Schwerhörigkeiten im Jugendalter, die keinen genetischen Hintergrund vermuten
lassen, sind meist auf Lärmschädigungen zurückzuführen, am schädlichsten sind Knalltraumen durch
plötzlichen Schallpegelanstieg auf 100 Dezibel (db) und darüber, zum Beispiel durch Böller,
Silvesterknaller, Schreckschusspistolen etc. Musikevents erreichen je nach Abstand zu den Boxen
120 db, mit Spitzen von 140 db, und führen praktisch immer zu einem Innenohrschaden. Anfänglich ist
dieser noch reversibel, also heilbar. Häufige Konzertbesuche ziehen jedoch mit größter
Wahrscheinlichkeit einen messbaren Hörschaden und Tinnitus (Ohrensausen) nach sich. Tragbare
Musikgeräte, etwa MP3-Player, mit Earbud-Hörern – das sind Kopfhörer, die in das Ohr eingeführt
werden – können aufgrund der Nähe des Lautsprechers zum Trommelfell und der dadurch bedingten,
ausgeprägten Erhöhung der Lautstärke vermehrt zu Innenohrschäden führen.
Es gibt aber auch einen Statistiker, die unter anderem behauptet: Discobesuche sind
Fitnesstraining für die Gehörzellen, Orchestermusiker erleiden keine Hörschäden und Musik ist
kein Lärm.
Mir sind die Aussagen dieses Statistikers bekannt. Es wäre meiner Ansicht nach jedoch das
vollkommen falsche Signal an Jugendliche, wenn man aufgrund der Meinung eines Statistikers laute
Musik, Discolärm und so weiter als Fitnesstraining der Innenohrzellen propagieren würde – selbst
wenn dieser Statistiker möglicherweise zum Teil Recht haben könnte.
Die zuständige EU-Kommission für Verbraucherschutz teilt die Meinung vieler renommierter Experten
und gibt Richtlinien vor, die plausibel und nachvollziehbar sind. Namhafte Kapazitäten und auch die
einschlägige Literatur sind sich einig über die Schädlichkeit von Lärm am Innenohr. Aktuell spricht die
Schullehre vom gesundheitsgefährdendem Potential jeglicher Lärmexposition, abhängig von Dauer,
Schallpegel und Erholungsphasen. Unterschieden werden muss zwischen Knalltraumen mit
Impulsbelastung (0,3 Millisekunden Belastung), Explosionstraumen (länger als 0,3 Millisekunden) und
Dauerlärm, zum Beispiel bei einer beruflichen Exponierung mit sechs bis acht Stunden Spinnereilärm
über 30 oder 40 Jahre. Jede dieser Lärmarten hat unterschiedliche Auswirkungen und Schädlichkeit.
Musik ist keine Dauerbelastung, hat stille und laute Passagen, klassische Musik bis Musik mit
E-Gitarre und Schlagzeug unterscheiden sich stark in Punkto Schädlichkeit. Daher kann man hier
auch keine allgemeine Aussage machen. Eine amerikanische Studie untersuchte 134 Rock- und
Jazzmusiker. Dabei stellte sich heraus, dass 74 Prozent ein schlechtes Gehör hatten und
beispielsweise unter Schwerhörigkeit, Ohrensausen und Lärmüberempfindlichkeit (med.: Hyperakusis)
litten.
Auch die EU hat eine aktuelle Studie bezüglich tragbaren Musikgeräten und Gehör beauftragt, die
2008 veröffentlicht wurde. Diese kann unter http://ec.europa.eu/health/opinions/de/gehoerverlust-mp3player/index.htm nachgelesen werden. Der wissenschaftliche Ausschuss „Neu auftretende und neu
identifizierte Gesundheitsrisiken“ warnt darin deutlich, dass tragbare Abspielgeräte das Gehör
nachhaltig schädigen können. Die EU plant nun ihre Sicherheitsnormen für solche Geräte zu
überarbeiten.
Was „passiert“ eigentlich im Ohr, wenn man an permanenter Innenohrschwerhörigkeit leidet?
Anders gefragt: In welcher Art und Weise wird das Ohr geschädigt?
Durch Noxen entstehen Schäden an den diversen Zellen im Innenohr, meist den Haarzellen –
unabhängig ob es sich dabei um Lärm oder toxische Substanzen handelt, denn auch
Krebstherapeutika oder gewisse Medikamente können das Ohr schädigen. Je nach Lokalisierung der
gestörten Haarzellen in der Gehörschnecke werden verschiedene Frequenzbereiche beeinträchtigt.
Plötzlicher Lärm, wie Knall- und Explosionstraumen, sind für das Ohr viel schädlicher als Dauerlärm.
Bei plötzlichem Lärm wird nämlich ein Schallpegel von 100 bis 120 db, wodurch weitreichendere
Schäden in der Innenohrschnecke verursacht werden.
Kann Schwerhörigkeit von „Heute auf Morgen“ auftreten?
„Heute auf Morgen“-Ereignisse sind ein Knalltrauma oder ein Hörsturz. Alle anderen
Schwerhörigkeiten sind in der Regel schleichend, so etwa wie die Altersschwerhörigkeit.
Können neben dem verminderten Hörvermögen auch andere Beschwerden auftreten?
Tinnitus ist das häufigste ohrbezogene Begleitsymptom. Bei bestimmten Erkrankungen, die nicht auf
das Jugendalter beschränkt sind, kann auch Schwindel auftreten. Sekundäre Begleiterscheinungen
von Schwerhörigkeiten spielen sich auf seelischer und emotionaler Ebene ab. Außerdem stört ein
Gehörschaden nicht nur im privaten, täglichen Leben, viele Berufe sind für Gehörgeschädigte nicht
erlernbar bzw. können diese Menschen gewisse Berufe schlichtweg nicht ausführen.
Wie werden Schwerhörigkeit und/oder damit zusammenhängende Beschwerden behandelt?
Schwerhörigkeiten können je nach Lokalisierung der Hörstörung operativ oder mittels Hörgeräten
behandelt werden. Bei Hörgeräten gibt es grundsätzlich vier Gruppen: „Im Ohr“-Geräte (IO), Geräte im
Gehörgang, „Hinter dem Ohr“-Geräte (HDO) und seit wenigen Jahren gibt es auch implantierte
Hörgeräte, allerdings werden diese nur in Spezialfällen angewendet. Diese Implantate übertragen die
Schallenergie mittels eines Kopplers direkt auf die Gehörknöchelchenkette – dies hat diverse Voraber auch Nachteile (http://www.vibrant-medel.com/Lang/ger/faq/index.asp?m=9).
Bei Taubheit und an Taubheit gehende Hörstörungen werden auch bei Kindern, mittlerweile schon vor
dem ersten Lebensjahr und zwar im Rahmen des erwähnten Hörscreenings nach der Geburt,
sogenannte CI Implantate (Cochlea Implant) eingesetzt. Dabei werden die Haarzellen in der Schnecke
mittels einer eingeschobenen Sonde unmittelbar stimuliert. Zusätzlich erfolgt bei diesen Kindern in
Vorarlberg die pädagogische Förderung mit dem Ziel der Integration der Kinder in den normalen
Schulbetrieb durch das Landeszentrum für Hörgeschädigte.
Was können Eltern tun?
Eltern und Personen mit häufigem Kontakt zu Jugendlichen, wie Lehrer oder Jugendarbeiter,
bemerken meist als erste Hörauffälligkeiten. Geringe Hörverluste fallen zwar in vielen Fällen kaum
auf, es gibt aber dennoch bestimmte Symptome, die auf Hörschwierigkeiten hinweisen und bei denen
ein fachärztlicher Hörtest erfolgen sollte. Dazu gehört etwa eine verzögerte Sprachentwicklung, das
heißt, wenn ein Kind weniger Worte als der Großteil der gleichaltrigen Kinder kennt und spricht.
Weitere Auffälligkeiten: Ein Kind erschrickt nicht bei lauten Geräuschen oder reagiert nicht auf
Umweltgeräusche. Ebenso, wenn ein Kind introvertiert ist, oft vor sich hinträumt, nicht gerne mit
anderen Kindern spielt oder wenn es immer Sichtkontakt benötigt, das könnte nämlich darauf
hindeuten, dass es zum Verstehen der Sprache von den Lippen ablesen muss. Weiters sollte man mit
Kindern, die oft an Ohrenschmerzen und Mittelohrentzündung leiden, zum HNO-Arzt gehen. Bei
älteren Kindern und Jugendlichen können etwa Schwierigkeiten, Gesprächen in lauter Umgebung zu
folgen, auf Schwerhörigkeit hindeuten.
Wie kann man vorbeugen?
Vorbeugen kann man nur bei exogenen Faktoren, wie Lärmbelastungen durch Böller, MP3-Player, in
Diskotheken usw. Hier ist, wie bei Vielem, Vernunft das „Maß allen Gehörs“. Manche Studienautoren
empfehlen zeitliche Beschränkungen und Schallpegelobergrenzen, zum Beispiel die „60-60-Regel“ bei
MP3-Playern: 60 Prozent Lautstärke – 60 Minuten am Tag. Bei Konzerten sollte man nicht unmittelbar
vor den Boxen stehen, auch wenn dort am meisten Platz ist. Bei Silvesterfeuerwerken empfiehlt es
sich je nach Umfeld einen Gehörschutzstöpsel zu tragen.
Wäre es sinnvoll, beispielsweise die Lautstärke in Diskotheken gesetzlich vorzuschreiben?
In Italien, Schweden und der Schweiz bestehen gesetzliche Regelungen, in Deutschland wird eine
Regelung gefordert. In Berlin wurde bereits ein Qualitätssiegel mit freiwillig begrenzter Lautstärke
erfolgreich etabliert (siehe Download „Laermpegel_Diskotheken_Berlin.pdf“). In Österreich besteht
keine Reglementierung. Über die Sinnhaftigkeit kann man diskutieren. Es mag vielleicht ein wenig
überspitzt klingen, aber Lärm hat noch keine Todesopfer erzeugt, Alkohol im Straßenverkehr
hingegen momentan wöchentlich. Ein Wirt wird auch nicht bestraft, wenn er zu viel Alkohol
ausschenkt. Meiner Meinung nach ist Vernunft auf beiden Seiten – also sowohl bei Discobetreibern
als auch bei den Besuchern – besser als jede neue Reglementierung. Sinnvoll wäre die
Kennzeichnung der Diskotheken mittels Schallpegeloberbegrenzung an der Eingangstüre analog der
Berliner Lösung.
Sind „junge Ohren“ besonders gefährdet bzw. gefährdeter als die eines Erwachsenen?
Es bestehen keine gültigen Daten bezüglich einer erhöhten Verwundbarkeit des kindlichen oder
jugendlichen Gehörs. Jedoch wird speziell in dieser Altergruppe, zum Teil noch wegen geistiger
Unreife einerseits und Unachtsamkeit und Unvernunft andererseits, weniger Aufmerksamkeit auf
Gehör oder gehörschädigende Einflüsse gelegt. Schreckschusspistolen, Schlagzeuge, Böller, Knaller,
Diskotheken, MP3-Player und vieles andere führen gehäuft gegenüber dem Erwachsenalter zu
kleinste Schäden im Innenohr. Dadurch kann das Ohr anfälliger und verwundbarer werden.
Bei der „Techniker Krankenkasse Berlin“ haben sich Hörgeräteverordnungen bei den
15- bis 30-Jährigen von 2006 auf 2007 fast verdreifacht. Ist das auch hierzulande der Fall?
In Vorarlberg und auch österreichweit findet man nur selten Jugendliche mit Hörgeräten. Bezug
nehmend auf den zuständigen Sachbearbeiter der Vorarlberger Gebietskrankenkasse, kann jedenfalls
keine Steigerung der Hörgeräteverordnungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen festgestellt
werden. Auch ich kann keinen derartigen Trend in meiner Ordination bestätigen. Ebenso wenig zwei
mir bekannte Hörgeräteinstitute.
Wie viele Jugendliche schneiden beim Hörtest schlecht ab?
Das kann man nicht so einfach sagen, denn die Studien dazu sind sehr unterschiedlich. Vor allem,
was die Grundfrage angeht: Was versteht man unter „schlecht hören“? Das heißt: Wann spricht man
von einem schlechten Abschneiden bei einem Hörtest – das ist eben von Studie zu Studie
verschieden. Die Literatur berichtet von Prävalenzen bzw. Krankheitshäufigkeiten zwischen zehn und
40 Prozent. Aber nochmals: Die verschiedenen Autoren setzen vollkommen unterschiedliche
Grenzwerte an.
Im Hörtest mit sogenannten Reintönen wird ein Idealgehör definiert. Beim Kind oder Jugendlichen ist
ein Abweichen von dieser normierten Kurve als abnormal und „als schlecht“ zu bezeichnen. Unter
diesen Kriterien zeigt sich messtechnisch oft eine Hörstörung, wenngleich diese vom Patienten noch
nicht oder kaum wahrgenommen wird. Jedoch spielt bei jüngeren Patienten die Konzentration eine
große Rolle. Etwa bis fünften Lebensjahr sind Reinton-Hörtests mit Bestimmung der subjektiven
Schwelle oft unsicher. Viel häufiger kommen Jugendliche wegen eines begleitenden Tinnitus zu mir in
die Ordination. Dieser offenbart dann eine zusätzliche Hörstörung.
Wird bei der jährlichen Schuluntersuchung auch ein Hörtest durchgeführt?
In Vorarlberg wird in der 1. Klasse Volksschule – vom AKS beauftragt – ein orientierender Hörtest bei
25 bis 30 db Hörschwelle durchgeführt, welcher den Großteil der kindlichen Hörstörungen nicht filtert.
Dadurch können mittel- und hochgradige Schwerhörigkeiten erkannt werden. Diese sind aber selten,
da angeborene Hörstörungen bereits durch erwähntes Hörscreening nach der Geburt erkannt werden.
Bei der jährlichen Schuluntersuchung wird lediglich eine Sprachabstandsprüfung mit Flüstern und
Umgangssprache durchgeführt. Apparative Hörprüfungen werden meines Wissens nicht angewandt.
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