Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft ZAW e.V. Lebensmittel Die seit Jahren weltweit geführte Debatte über Lebensmittelwerbung und ihren vermeintlich schädigenden Einfluss auf das Ernährungsverhalten der Menschen geht unvermindert weiter. Besonders aktiv auf diesem Feld ist die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die das Problem des Übergewichts in einigen Regionen der Welt mit Hilfe von Werberestriktionen und -verboten bekämpfen will. Die EU-Mitgliedstaaten folgen der WHO mit einem „Action Plan on Childhood Obesity 2014–2020“, mit dem massive Einschränkungen des Marketings und der Werbung gegenüber „Kindern“ vorbereitet werden. Auch in der Bundesregierung mehren sich die Stimmen für ein Verbot der an Kinder gerichteten Werbung für „problematische Produkte“. Viele Eltern sehen das Problem ganz anders: Sie glauben nicht, dass Werbung einen wesentlichen Einfluss auf das Übergewicht ihrer Kinder hat, wie 2013 eine repräsentative Umfrage im Auftrag des ZAW ergab.1 Die Rolle der WHO und der UNO Die WHO treibt die „Bekämpfung von nichtübertragbaren Krankheiten (NCD)2“ mit Nachdruck voran und hat dabei die Lebensmittelwerbung im Fokus ihrer Aktivitäten. Im Mai 2013 beschloss sie einen „Globalen Aktionsplan zur Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten (2013–2020)“3. Auch in diesem Dokument wird erneut die Werbung der Lebensmittelunternehmen für das Problem des Übergewichts in der Bevölkerung verantwortlich gemacht. Als Basis dienen die im Jahr 2010 verabschiedeten WHO-Empfehlungen zur Vermarktung von Lebensmitteln gegenüber Kindern.4 Darin formuliert sie das Ziel, den Einfluss auf Kinder durch sämtliche Formen der kommerziellen Kommunikation für „ungesunde Lebensmittel“ (die aus Sicht der WHO zu kalorien-, fett-, zucker- oder salzreich sind) deutlich zu reduzieren oder möglichst zu unterbinden. Die Organisation nennt dafür zwei Ansatzpunkte: Die Kontakthäufigkeit bzw. -intensität der Werbung (exposure to) soll verringert oder gar 1 Vgl. ZAW-Nachrichten vom 28.8.2013. NCD steht für „Non-Communicable Diseases“, zu denen unter anderem Krebs, Herzkrankheiten und Schlaganfälle, chronische Atemwegserkrankungen und Diabetes zählen. 3 „Global Action Plan for the Prevention and Control of non-communicable Diseases 2013–2020“, WHO 2013. 4 Set of Recommendations on the Marketing of Foods and non-alcoholic Beverages to Children, WHO 2010. 2 2 verhindert werden und die Form der kreativen Ansprache von Kindern (power of) soll verändert werden.5 Auch die Vereinten Nationen beschäftigen sich nach wie vor intensiv mit dem Thema. Zum zweiten Mal in 3 Jahren trafen sich die UN-Mitgliedstaaten im Juli 2014 in New York, um die weltweite Strategie voranzutreiben. Der Wirtschafts- und Sozialrat der UNO hat im Juli 2013 die Gründung einer Arbeitsgruppe zur Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten beschlossen, die von der WHO geführt wird. Die Arbeitsgruppe soll die Aktivitäten aller UN-Organisationen koordinieren, um den WHOAktionsplan zur Prävention und Kontrolle von nichtübertragbaren Krankheiten 2013– 2020 umzusetzen. Die Standards der WHO sind völkerrechtlich nicht verbindlich, aber ein wichtiges politisches Signal. Um sicherzustellen, dass die auf globaler Ebene beschlossenen Maßnahmen auch umgesetzt werden, finden zahlreiche Treffen und Konsultationen mit den Mitgliedstaaten statt. Es wird an Indikatoren gearbeitet, mit denen Fortschritte bei der Umsetzung des Aktionsplans gemessen werden können.6 Darüber hinaus wird ein globales System zur Koordinierung der Maßnahmen erarbeitet, das die Vernetzung und den Austausch der Aktionspartner beschleunigen und letztlich den Druck auf die nationalen Regierungen zur Umsetzung erhöhen soll.7 Parallel dazu entwickelt die WHO globale Nährwertprofile zur Orientierung für den Gesetzgeber, um die Werbung für diese „ungesunden Lebensmittel“ zu beschränken oder sie höher zu besteuern. Die Nährwertprofile sollen die Grundlage bilden, um das Verbraucherverhalten entsprechend der politisch gewollten Lebensweise der Bevölkerung zu steuern. Innerhalb der WHO ist besonders das Regionalbüro Europa aktiv. Es forciert seit Jahren den Kampf gegen Übergewicht. Im Dezember 2013 hat die Europäische Ministerkonferenz der WHO die „Erklärung von Aschgabat“ unterzeichnet.8 Darin bekräftigten die Mitgliedstaaten ihre Entschlossenheit, der Bekämpfung von nichtübertragbaren Krankheiten einen höheren Stellenwert auf der Agenda der maßgeblichen Akteure auf der globalen und nationalen Ebene zu verschaffen. Mit Nachdruck verfolgt das WHO-Regionalbüro Europa dabei weitere Werbebeschränkungen und -verbote. 5 Resolution WHA 63.14; vgl. ZAW-Jahrbuch „Werbung in Deutschland 2011“, S. 146 ff. Global Monitoring Framework including indicators, and a set of global voluntary targets for the prevention and control of non-communicable diseases, WHO. 7 Terms of reference for a global coordination mechanism for the prevention and control of non-communicable diseases, WHO. 8 Erklärung von Aschgabat über die Prävention und Bekämpfung 6 3 EU Aktionsplan gegen Fettleibigkeit bei Kindern Wie groß der Einfluss der WHO auf die europäische und nationale Gesetzgebung inzwischen ist, belegt der im Juni 2014 von den EU-Mitgliedstaaten beschlossene Europäische Aktionsplan gegen Fettleibigkeit bei Kindern.9 Um das Übergewicht bei Kindern zu stoppen, werden acht Aktionsfelder vorgeschlagen, in denen die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen sollen. Unter anderem sind massive Einschränkungen des Marketings und der Werbung gegenüber „Kindern“ vorgesehen. Als Kinder definiert der Aktionsplan Personen unter 18 Jahren.10 Begründet wird die Notwendigkeit weiterer Werbeverbote auch mit den Aktionsplänen der WHO. Im Einzelnen haben sich die Mitgliedstaaten gemeinsam mit der EU-Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz (GD SANCO) geeinigt auf:11 „Schutzräume für Kinder“ vor Werbung für Lebensmittel mit hohem Fett-, Zucker- oder Salzgehalt (sogenannte HFSS-Lebensmittel12) an Vorschulen, Schulen oder anderen Plätzen, an denen sich „Kinder“ aufhalten, zum Beispiel Sportplätze oder Freizeitzentren; Entwicklung von Nährwertkriterien, an denen die Werbeverbote ausgerichtet werden sollen; weitere Beschränkungen der Markt-Kommunikation für HFSS-Lebensmittel für „TV, Internet, Sportveranstaltungen etc.“ – mit dem Fokus auf Kinder unter zwölf Jahren; Bestärkung der Anbieter von Mediendiensten entsprechend der EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie)13, strengere Verhaltensregeln der Wirtschaft zu verabschieden sowie sicherzustellen, dass die freiwilligen Regeln der Wirtschaft auch eingehalten werden. Unter Bezugnahme auf WHO-Aktionspläne und Empfehlungen sowie den EUAktionsplan hat der EU-Ministerrat im Juni 2014 von der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten weitere Aktionen gefordert, damit Kinder weniger Werbung für Produkte mit einem zu hohen Anteil an Fett, Zucker und Salz „ausgesetzt sind“. nichtübertragbarer Krankheiten im Kontext von Gesundheit 2020, 4.12.2013, WHO-Regionalbüro für Europa. 9 Der „EU Action Plan on Childhood Obesity 2014–2020“ wurde im Rahmen der von der griechischen Ratspräsidentschaft im Februar 2014 in Athen veranstalteten Konferenz zum Thema Ernährung und Bewegung veröffentlicht. Das Dokument ist abrufbar unter www.ec.europa.eu/health/nutrition_physical_activity/docs/childhoodobesity_actionplan_2014_2020_en.pdf. 10 Aktionsplan, S. 8. 11 Aktionsplan, S. 38 f. 12 HFSS steht für „high in fat, salt and sugar“. 4 Evaluierung der EU-Ernährungsstrategie Die EU-Kommission ist bislang die Antwort schuldig geblieben, warum sie nicht zunächst die vollständige Umsetzung der bereits europaweit geltenden gesetzlichen Regelungen vorantreibt und stattdessen neue Vorschriften auf den Weg bringt. Im Auftrag der Behörde wurde die EU-Ernährungsstrategie aus dem Jahr 200714 von externen Gutachtern evaluiert. Der im Frühjahr 2013 veröffentlichte Evaluierungsbericht stellt in den Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede bei der Umsetzung von Artikel 9 Absatz 2 der AVMD-Richtlinie fest und empfiehlt, die dort aufgegebene Entwicklung von Verhaltensregeln der Wirtschaft zunächst weiter zu beobachten.15 Diskussionen im Europaparlament Auch die Abgeordneten des Europaparlaments haben 2013 ein klares Bekenntnis zu Selbstregulierungs-Initiativen der Wirtschaft abgegeben. In ihrem Initiativbericht über die Umsetzung der AVMD-Richtlinie wird Selbstregulierung im Vergleich zu gesetzlichen Vorschriften als ein Mittel angesehen, das geeignet ist „schneller auf die Entwicklungen in der sich rasch verändernden Welt der Medien zu reagieren". An die EU-Kommission appellierten die Parlamentarier, der Selbstregulierung prominentere regulatorische Rolle als in der Vergangenheit zu geben. 16 eine Mit dem Aktionsplan setzen sich die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten über das Votum des Europaparlaments hinweg. Ursachen von Übergewicht im Kindesalter Eltern wissen, dass sie den größten Einfluss auf die Ernährung ihrer Kinder haben – und nicht die Hersteller oder die Medien. Das geht aus der repräsentativen Untersuchung „Kinder und Ernährung“ des Meinungsforschungsinstituts TNS Infratest hervor, die der ZAW im August 2013 veröffentlicht hat.17 Danach sind 91 Prozent der Mütter und Väter in Deutschland davon überzeugt, dass sie selbst am stärksten beeinflussen, was und wie viel ihre Kinder essen. Nur vier Prozent aller Befragten weisen der Gesellschaft eine Führungsrolle bei diesem Thema zu, drei Prozent den Herstellern von Lebensmitteln, ein Prozent den Schulen sowie ebenfalls ein Prozent 13 Richtlinie 2010/13/EU, ABl. EU L 95/1 vom 15.4.2010. Weißbuch Ernährung, Übergewicht, Adipositas: Eine Strategie für Europa vom 30.5.2007, KOM(2007) 279 endg. Evaluierungsbericht vom 29.4.2013, S. 90 f., abrufbar unter www.ec.europa.eu/health/nutrition_physical_activity/docs/pheiac_nutrition_strategy_evaluation_en.pdf.; vgl. ausführlich Abschn. Werbepolitische Entwicklungen in Deutschland und der EU, Kap. Audiovisuelle Medien. 16 Entschließung des EU-Parlaments vom 22.5. 2013 zur Anwendung der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste, (2012/2132(INI)). 17 Repräsentative Online-Befragung „Kinder und Ernährung“ im TNS Online-Panel bei haushaltsführenden (d.h. für den Einkauf des Haushaltes) verantwortlichen Personen in Privathaushalten in Deutschland mit Internet-Anschluss und Kind oder Kindern unter 16 Jahren. Erhebungszeitraum: 5.2 bis 18.2. 2013, Fallzahl: 1.000, Auftraggeber: ZAW. 14 15 5 der Politik. Selbst 85 Prozent der Eltern mit übergewichtigen Kindern stehen zu ihrer Hauptverantwortung. Lediglich sechs Prozent von ihnen delegieren diese an die Lebensmittelproduzenten, fünf Prozent an die Gesellschaft, drei Prozent an die Schulen sowie ein Prozent an die Politik. Realistisch und alltagsnah bewerten die Mütter und Väter gleichfalls die Ursachen für Übergewicht von Kindern. Dazu konnten die Befragten in der Studie aus einem Katalog von Gründen die für sie drei wichtigsten Faktoren auswählen. An der Spitze der Nennungen rangiert mit 66 Prozent das Vorbildverhalten der Eltern/der Umgang mit Ernährung im Elternhaus. Dies und die weiteren Studien-Ergebnisse belegen, wie sehr die Sichtweise der Eltern abweicht vom Tenor der öffentlichen Debatte zu Übergewicht von Kindern und den Ursachen.18 Auch bei der Vorbeugung gegen Übergewicht im Kindesalter sind sich die meisten Befragten einig: 94 Prozent von ihnen erwarten mehr Informationen über gesunde Ernährung für die Kinder durch die Schule und 90 Prozent durch die Eltern. 89 Prozent fordern mehr Sportmöglichkeiten und ebenso viele ein ausgewogenes Essen in der Schule und in der Kita. Drei Viertel der Befragten halten ein Verbot von Lebensmittelwerbung für wenig sinnvoll. SPD-Verbraucherforum Die Aktionspläne der WHO und der EU zur Bekämpfung des Übergewichts werden auch von der Bundesregierung mitgetragen. Auf nationaler Ebene wird vor allem die SPD auf die Umsetzung der politisch vereinbarten Maßnahmen drängen. Das SPDVerbraucherforum hat im Februar 2014 die Linie vorgegeben: „Kein an Kinder gerichtetes Marketing für problematische Produkte: Werbung für Produkte wie Süßigkeiten, Softdrinks, Fastfood muss sich an Erwachsene richten, das verführt Kinder weniger zu Kauf und Konsum und stärkt die Autorität der Eltern.“19 Der Beschluss des SPD-Verbraucherforums blendet dabei die Tatsache aus, dass Werbung keine entscheidende Ursache für das Übergewicht von Kindern ist. Umgekehrt führen Werbeverbote nicht zu einem gesünderen Lebensstil der Bevölkerung. Stattdessen wird der Wettbewerb zwischen den Unternehmen behindert. 18 Vgl. ZAW-Nachrichten vom 28.8.2013. 6 Sinkende Werbeeinnahmen der Medien erschweren zudem die Verbreitung redaktioneller Verbraucherinformation. Es gibt eine Vielzahl von Studien, die sich mit dem Einfluss von Werbung auf das Verhalten von Kindern befasst. Die Untersuchungsergebnisse weichen zum Teil voneinander ab. Es dominieren aber zwei Erkenntnisse: Vor allem der Lebensstil der Familie und des weiteren Umfelds, des Freundeskreises usw. prägen die Sozialisation von Kindern. Übergewicht ist in erster Linie auf mangelnde Bewegung bzw. eine positive Kalorienbilanz zurückzuführen. Werbung spielt nach Meinung der Wissenschaft – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle für das Verhalten von Kindern. Auch der Ernährungsbericht der Bundesregierung stellt fest: Kinder, die fernsehen und Lebensmittelwerbung sehen, essen von den beworbenen Produkten nicht mehr als Kinder, die keine Werbung sehen.20 Feststellungen aus dem Ausland bestätigen die genannten Effekte der Lebensmittelwerbung: In der kanadischen Region Quebec ist Lebensmittelwerbung gegenüber Kindern seit 25 Jahren verboten. Der Anteil der übergewichtigen Kinder ist jedoch genauso hoch wie in anderen Teilen Kanadas, in denen diese Werbung erlaubt ist. Dänemark hat vor einigen Jahren ein Werbeverbot gegenüber Kindern unter zwölf Jahren wieder aufgehoben sowie kürzlich die sogenannte „Fettsteuer“. Werbeverbot wie „Fettsteuer“ hatten keine gesundheits- oder verbraucherpolitischen Effekte gezeigt. Wenn die SPD davon ausgeht, dass pro Jahr 20.000 Werbespots auf ein Kind einströmen und es „manipulieren“, dann verkennt sie die tatsächlichen Sehgewohnheiten: Kein Kind sieht sämtliche TV-Programme und damit alle gesendeten Fernsehspots auf einmal, und die wenigsten Eltern belassen ihre Kinder ständig vor dem Bildschirm. Das Kausalitätsprinzip wird auf ein simples ReizReaktionsschema heruntergebrochen: Hier die Werbung, dort die dicken Kinder. Ein solcher Ansatz ignoriert die Komplexität des Alltags und der Lebenswirklichkeit von Kleinkindern, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Der ZAW wird sich auch weiterhin für eine sachliche Debatte dieses Themas engagieren. Werbung und andere Formen der kommerziellen Kommunikation sind Teil unserer Gesellschaft und spielen eine unverzichtbare Rolle für einen fairen und lauteren Wettbewerb – dieser Aspekt wird in der politischen Debatte häufig vernachlässigt. (Stand: Juli 2014) 19 Beschluss des SPD-Forums Verbraucherpolitik vom 14.2.2014 „Kinder schützen – Werbung beschränken“; vgl. auch Abschn. Werbepolitische Entwicklungen in Deutschland und der EU, Kap. Kinder. 20 Vgl. Ernährungsbericht der Bundesregierung 2000, herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, S. 144 f. 7 ZENTRALVERBAND DER DEUTSCHEN WERBEWIRTSCHAFT ZAW E.V. Am Weidendamm 1A, 10117 Berlin Tel.: 030/ 59 00 99-700 / Fax: 030/ 59 00 99-722 E-Mail: [email protected] / Internet: www.zaw.de