PDF-Download - Zentrum für Medizinische Ethik

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HIPPOKRATISCHES ETHOS UND NACHHIPPOKRATISCHE ETHIK
Hans-Martin Sass
AUF WIEDERSEHEN, HIPPOKRATES
Die Bioethik gehört so untrennbar zur Biomedizin wie der Kopf des Zentauren Chiron zu seinem
vierbeinigen Körper. Im Abendland steht für die Ethik in der Medizin fast synonym der Name
des Hippokrates. Aber unsere heutigen ethischen Herausforderungen sind nicht mehr die des
Hippokrates. Die Gründe für die Unaktualität mancher hippokratischer Prinzipien liegen teils in
den technischen Fortschritten von Intervention und Prädiktion der biomedizinischen
Wissenschaften, teils in den Prozessen von Wertwandel und Organisationswandel der neueren
Zeit. Nicht überholt allerdings ist das Ethos der hippokratischen Ethik, Wissen und Können nur
zu einem Ziel einzusetzen: dem Wohl des Patienten. Sagen wir also Goodbye zu den Details des
hippokratischen Corpus, aber verabschieden wir uns nicht vom Ethos des Chiron und seines
Schülers Hippokrates.
Wissensfortschritte der biomedizinischen Wissenschaften haben die Möglichkeiten der
klinischen Intervention in der Akut- und Intensivmedizin in einem solchen Maße gesteigert, daß
sich in neuen Szenarien der Intervention neue Fragen nach dem Sinn, den Notwendigkeiten und
den Grenzen medizinischen Handelns stellen. Hans Jonas hat darauf aufmerksam gemacht, daß
in den uns zugewachsenen technischen Möglichkeiten des Handelns die klassische ethische und
prominent von Kant formulierte Problemstellung der Freiheit des moralischen Willens 'Du
kannst, denn Du sollst' in vielen Situationen durch die in den Vordergrund tretende
Problemstellung der Bindung des moralischen Willens 'soll ich tun, was ich kann?' ergänzt
werden muß [7]. In klinischen Szenarien betrifft das vor allem die Frage nach den ethischen
Grenzen des Einsatzes des technisch Möglichen.
Der enorme Zuwachs biomedizinischer Diagnostik und Prädiktion stellt, verstärkt durch
den gerade erst einsetzenden und sich beschleunigenden Zug der humangenetischen Diagnostik,
erstmals seit der Aufklärung die Frage nach einem möglichen 'Recht auf Nichtwissen' und seiner
Abwägung mit dem 'Recht auf Wissen' oder noch schärfer mit einer 'Pflicht zum Wissen', zum
Wissen um meine individuellen Risikofaktoren und einer sich daraus ergebenden individuellen
Verantwortung für Gesundheitsvorsorge. Angesichts einer sich erst heute in ihren künftigen
Konturen abzeichnenden Risikofaktorenmedizin wird Medizinethik in einem umfassenderen
Sinne zur Gesundheitsethik und es zeichnet sich die individuelle wie kulturelle und medizinische
Aufgabe der Entwicklung einer Kultur und eines Ethos des Umgangs mit Risikofaktoren ab. Die
klassische Medizinethik, die unausgesprochen weitgehend mit Arztethik identifiziert wurde,
weitet den Kreis der Träger von Gesundheitsverantwortung aus; neben die Arztethik und
Pflegeethik tritt als neues Konglomerat von Verantwortungen die Patientenethik oder besser
ausgedrückt: die Ethik des mündigen Bürgers im Umgang mit den Risikofaktoren für
Gesundheit, die nach der Ausbildung eines individuellen Gesundheitsethos verlangt; diese
Forderung läßt sich sowohl aus dem neuzeitlich säkularen Konzept der individuellen
Selbstbestimmung wie auch aus dem der christlichen Verantwortungsethik ableiten [2; 8; 14; 16;
28].
Organisationswandelprozesse haben das selbstverständliche berufliche Ethos, das sich in
überlieferten und früher wenig veränderten Szenarien der Interaktionen von Anbietern und
Nachfragern, von Ärzten und Patienten ausgeprägt hatte, zusätzlich zu den erwähnten durch
technischen Fortschritt bedingten Veränderungen der Rolle von Ärzten und Patienten beeinflußt.
Medizinische Versorgung, darauf hat Wolfgang Wieland [35] hingewiesen, stellt sich in neuen
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Versorgungs- und Finanzierungsformen dar, die nicht ohne Einfluß auf den Arzt, den Patienten
und das Verhältnis beider zueinander und zu den Institutionen der Versorgung und Finanzierung
geblieben sind. Teile der ethischen Probleme im Umgang mit Kranken und mit Krankheit und
Gesundheit sind deshalb eher im Bereich der Institutionsethik und der Wirtschafts- und
Versicherungsethik abzuhandeln als unter den klassischen Parametern der medizinischen Ethik
als der Lehre von den wertbezogenen Interaktionen zwischen individuellem Arzt und
individuellem Patienten [1; 7; 8].
Einen ebenfalls entscheidenden Einfluß auf die Aktualität der medizinischen Ethik haben
jedoch die Wertwandelprozesse, denen das Abendland und die Welt seit einigen Jahrhunderten
schon und jetzt verschärft ausgesetzt sind. Zusammen mit der nachaufklärerischen Reduktion des
selbstverständlichen Anspruchs von überlieferter Werthaltung und Handlungsethos, teils im
Prozeß von Analyse und Destruktion durch kritische Theorie, teils in einer christlichen
Neuentdeckung des individuell-personalistischen Prinzips von Verantwortung, teils durch
Emanzipation des selbstbestimmten Individuums aus uniformen Orientierungs- und
Handlungsmodellen in eine pluralistisch oder multikulturell genannte postmoderne Gesellschaft,
haben sich auch Berufsbilder und Anforderungen an Dienstleistungsberufe geändert [7; 8].
Der aufklärerischen und nachaufklärerischen Kritik an überkommenen Orientierungsund Handlungsmodellen sind einige überkommene Verhaltensmuster zu Recht und andere zu
Unrecht zum Opfer gefallen; das früher selbstverständliche und nicht hinterfragte Ethos wurde
und ist in Frage gestellt. Hans Blumenberg hat in bezug auf die neuzeitliche Destruktion des
Mythos durch die Ratio unterschieden zwischen Grundbeständen und Restbeständen des Mythos
[4]. Restbestände des Mythos sind solche, die im Interesse einer rationalen Auflösung durchaus
noch weggearbeitet werden können, Grundbestände aber solche, die bei der Gefahr der
Auflösung der essentiellen Information, die aus dem Mythos kommt, nicht aufgelöst werden
dürfen. Ich möchte ähnlich zwischen Grundbeständen und Restbeständen des beruflichen Ethos
unterscheiden, also zwischen solchen Inhalten des Ethos, die unverändert bleiben müssen, wenn
sich nicht das Ethos selbst hinwegheben will, und solchen, die nicht mehr in die Zeit der
Emanzipation von Verantwortung und Selbstbestimmung passen. In bezug auf solche
Grundbestände und Restbestände des hippokratischen Ethos hat Hanns Peter Wolff von der
Notwendigkeit gesprochen, 'jenseits von Hippokrates' sich des ärztlichen Ethos neu zu
vergewissern. Er betont als Grundbestände dieses Ethos 'die zeitlose Gültigkeit der in der
Eidesformel enthaltenen Verpflichtung zu Hilfeleistung, Verschwiegenheit und Achtung
menschlichen Lebens', unterstreicht aber andererseits, 'daß tragende Elemente des heutigen ArztPatient Verhältnisses, wie Wahrhaftigkeit und Verantwortlichkeit des Arztes und
Selbstbestimmung des Patienten fehlen' [37: 191].
Der medizinische Experte kann und darf im Regelfall nicht mehr heteronom entscheiden,
was dem 'Heil des Patienten' dienlich ist; solche Entscheidungen können nur vom
selbstbestimmungsberechtigten und -verpflichteten Individuum in Autonomie selbst formuliert
werden. Die generelle Anwendung des aufgeklärten Modells von Mündigkeit und
Selbstverantwortung auf die Interaktion zwischen Arzt und Patient verschärft vor allem vier
unterschiedliche Szenarien von Entscheidungskonflikten bei der ethischen Ausmessung
medizinischen Handelns: (a) eine sich abzeichnende Transformation der Medizin weg vom
Schwerpunkt der Akutintervention und hin zu einer nichtakuten prädiktiven und präventiven
Beratung und Begleitung,(b) eine notwendig werdende Neuformulierung von individueller
Verantwortung für Gesundheit bei lebensstilrelevanten Gesundheitsrisiken, (c) technische und
ethische Probleme bei der Definition des 'marginalen Nutzens' nicht nur bei solidarisch
finanzierten sehr teuren Interventionen, (d) Einsatz der Intensivmedizin am Lebensende.
1
Die biomedizinische technische Möglichkeit darf nicht das bioethische Ziel einer Ethik
des Ethos bestimmen. Die Orientierung am biomedizinisch Machbaren bleibt blind in bezug auf
den Hilfs- und Heilauftrag und das Schadensverbot der Medizin, wenn sie das technisch
Machbare nicht zurückbindet in den konkreten situativen Heilauftrag für den individuellen
Patienten. Salus aegroti suprema lex. Das Heil des Patienten wird nicht von der Maschine
vorgegeben, sondern muß jeweils patientenorientiert neu festgestellt werden. In diesen
Situationen ist eine Orientierung an der voluntas aegroti, dem 'Interesse' des individuellen
Patienten als einer entweder personenzentrierten paternalistischen Indikationsstellung oder als
das Eingehen auf einen in Selbstbestimmung geäußerten Wunsch eines Klienten, empfohlen
worden. Wenn die Ausrichtung der Intervention am technisch Möglichen als dem technokratisch
und unärztlich interpretierten 'Heil' des Patienten gegen die Orientierung an den 'Interessen' des
Patienten auf diese Weise gegeneinander ausgespielt werden, dann streitet sich instrumentelle
und technische Rationalität mit utilitaristischer und momentaner Interessenrationalität; diese
Kontroverse ist unter Gesichtspunkten ärztlicher Ethik nicht lösbar und daher für die Praxis nicht
hilfreich. Vielmehr muß das Konzept des salus aegroti als des Maßstabes für Indikation und
Intervention beibehalten, aber verbreitert werden. Die Rationalität der medizinischen
Intervention bestimmt sich weder aus der instrumentellen noch aus der Interessenrationalität,
sondern aus einer von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule nicht zur Kenntnis
genommenen Wertrationalität im Heilen und Lindern, im Beraten und Begleiten bei Prädiktion,
Prävention, Akutintervention und Sterbebetreuung. Diese Wertrationalität bei Vorbereitung,
Durchführung und Kontrolle der medizinischen Intervention verlangt nach einer
Neuformulierung von Differentialdiagnostik, welche technische und ethische Aspekte integriert,
nach einer Aufnahme von differentialethischen Überlegungen in Diagnostik und Intervention.
Neben das 'Blutbild' und das 'Röntgenbild' muß das 'Wertbild' des Patienten in die diagnostischen
und prognostischen Überlegungen einbezogen werden. Die individuelle Wertrationalität, nicht
uniforme Kriterien für den Hirntod [25] oder den Schwangerschaftsabbruch beispielsweise,
werden ausschlaggebend für die individuelle und gesellschaftliche Akzeptanz von uniformen
Regelungen ohne Gewissensklauseln in einer pluralistischen Gesellschaft.
Natürlich setzen neue nachhippokratische Parameter für eine Ethik des Ethos klassische
Szenarien der Vitalindikation nicht außer Kraft. Für den chirurgischen Eingriff bei einem
polytraumatisierten Patienten nach Verkehrs- oder Arbeitsunfall oder bei einem hochbetagten
multimorbiden Patienten mit akuter Appendizitis besteht vor und außerhalb des Modells der
partnerschaftlichen Erstellung von Interventionskriterien eine vitale ethische und medizinische
Indikation zum Eingriff. Ob aber bei malignen Tumoren im Endstadium auf eine weitere kausale
Therapie oder auf invasive diagnostische Interventionen wie Echokardiographie, Gastroskopie
oder Arteriographie verzichtet wird oder nicht, oder auf Interventionen bei komplizierten
Begleiterkrankungen wie Herzrhythmusstörungen (Herzschrittmacher) oder Urämie
(Hämodialyse), Leberversagen (Plasmaseparation), dazu sind Bewertungskriterien nötig, die
nicht mehr ausschließlich und garnicht optimal in der klassischen paternalistischen Arztethik
allein abgewogen werden sollten. Diese und all die anderen leichteren Entscheidungskonflikte
heteronom und paternalistisch im Rückgriff auf traditionelle Arztethik lösen zu wollen, würde
dem Heilauftrag der Medizin und dem Respekt vor der Person und den Werten des Patienten
widersprechen.
Neben die klassische Güterabwägung zwischen dem Schadensverbot und dem Hilfsgebot
tritt aber in der nachhippokratischen Medizin als eine neue Abwägung innerhalb der Arztethik
diejenige zwischen der Expertenverantwortung des heilberuflich Tätigen und der
Selbstverantwortung des Patienten oder potentiellen Patienten hinzu. Deshalb lassen sich
1
innerhalb der Grenzen von Arztethik allein viele Entscheidungskonflikte beim Ausmessen
ethischer Bewertungskriterien für Interventionen nicht mehr lösen. Neben die Arztethik muß die
Patientenethik treten. Die informierte Zustimmung war und ist Voraussetzung für die
Ausbildung verantwortlicher Selbstbestimmung des Patienten [28] auch in Fragen von
Gesundheit, Krankheit und in der Nähe des Todes; diese Fähigkeit zur Selbstverantwortung
wiederum ist Voraussetzung für die Entwicklung einer Vertrauenspartnerschaft zwischen Arzt
und Patient, die sich zu einer Verantwortungspartnerschaft weiterentwickeln kann. Erst im
Modell dieser situativen asymmetrischen Verantwortungspartnerschaft zwischen dem Experten
und dem Laien läßt sich das 'salus aegroti' sicher und wirksam 'jenseits von Hippokrates'
bestimmen.
2. ZEITLOSIGKEIT UND ZEITGEBUNDENHEIT EINER ETHIK DES ETHOS
Herausforderung und Aufgabe von medizinischer Ethik und medizinischem Ethos sind
zeitlos, auch wenn Diskussionen um Medizinethik derzeit aktuell sind. In der Medizinethik geht
es nicht um den Entwurf einer neuen Ethik, sondern um die Transformation der Grundbestände
des tradierten Arzt- und Pflegeethos in neue Szenarien der Gesundheitsvorsorge und
Krankenversorgung. Es handelt sich im Regelfall also nicht um komplizierte philosophische
Letztbegründung oder Interpretation allgemeiner Prinzipien der praktischen Ethik wie Freiheit,
Gerechtigkeit, Menschenwürde, sondern um Differenzierung und Abwägung einiger weniger
sogenannter mittlerer ethischer Prinzipien im Umgang mit Gesundheit, Krankheit, Schmerz,
Helfen und Heilen, Leben und Sterben. Je konkreter die ethischen Szenarien und damit die
ethischen Herausforderungen sind, 'quanto magis ad particularia descenditur' [ThAq, SumTh I-II
94 Art 4], umso weniger geht es im Regelfall um generalia, sondern um particularia der Ethik,
weniger um absolute und letzte Werte, als vielmehr um differenzierte und angewandte Werte.
Ethische Kunstfehler in konkreten Situationen entstehen nicht in der fehlenden oder falschen
Begründung absoluter Werte, sondern in der falschen oder unpräzisen Differenzierung mittlerer
ethischer Prinzipien oder in der Anwendung des falschen oder ungeeigneten Prinzips in einer
bestimmten Situation.
Wenn irgendwo, dann gelten angesichts der natura humana als einer endlichen und
körperlichen und leidenden leges naturales, welche Ethik und Ethos leiten müssen. Deshalb darf
in der Medizin Ethik und Ethos grundsätzlich nicht unbegrenzt beliebig sein, wie jeder erfahrene
und verantwortungsbewußte Arzt weiß, wie die arztethischen Tugendkataloge seit Hippokrates
und Sun Simiao im Abend- und im Morgenland dokumentieren und wie es kürzlich die
Enzyklika 'Veritatis Splendor' moraltheologisch wieder unterstrichen hat [17]. Strittig in nichtuniformen Gesellschaften und entscheidungsproblematisch für das individuelle Gewissen ist
allein, inwieweit die Tradition streng verbindlich direktiv oder regulativ, wie die Enzyklika
fordert, oder weniger streng und eher hilfsweise exhortativ oder adjuvantiv, wie
Konsensbildungsregeln der offenen Gesellschaft und Formierungsregeln des individuellen
Gewissens es wünschbar erscheinen lassen, als Autorität für die aktuelle und individuelle
Güterabwägung gelten soll. Je mehr die Autorität des Gewissens bei beruflicher und privater
Verantwortung betont wird, umso mehr wird die Autorität der Tradition zunächst adjuvantiven
und nicht direktiven Charakter haben [8; 17; 24].
Ethik als konsensfähiger Inhalt rationaler Güterabwägung und verbal vermittelbar und
diskutierbar und Ethos als Vorbild, vorgelebt und nicht verbal vermittelbar, sind in der heutigen
Welt [3; 8; 9] und Medizin [18; 19] nicht selbstverständlich. Deshalb sind die Sorge um das
medizinische Ethos und die konsensorientierte rationale Arbeit an Prinzipien, Methoden und
Zielen medizinischer Ethik nicht nur zufällig aktuell, sondern sachbedingt aktuell. Fortschritte in
1
medizinischer Prädiktion, Intervention und Versorgung sowie gesellschaftlicher Wertpluralismus
und individuelle Selbstbestimmung verlangen deshalb eine Erneuerung und Bestätigung des
Ethos von Helfen, Heilen und Pflegen und der Entwicklung eines individuellen
Gesundheitsethos; die Entwicklung einer transdisziplinären Wissenschaft biomedizinischer Ethik
in Forschung und Lehre ist deshalb unverzichtbar [29; 30]. Eine Befragung der ethischen
Traditionen wird sowohl in der Orientierung des gläubigen Gewissens am Gottesbild [6] oder am
Lehramt [17], oder des säkularen Humanisten an natürlichen und kulturellen Parametern der
conditio humana und der Tradition erfolgen [29; 30; 37; 38].
Die meisten medizinethischen Prinzipien sind im übrigen auf einer mittleren Ebene
lebensweltlicher Normen angesiedelt, die weitgehend letztbegründungsneutral sind und den
Streit um absolute Werte und Prinzipien unterlassen können. Jesus hat die Neutralität
lebensweltlicher Moral in dem Gleichnis des Samariters [Luk 10] in einer Fallstudie vorgestellt.
Ähnliche moral case studies ließen sich für die Orientierung von Verantwortung in Situationen
medizinischen Helfens und Heilens, Forschens und Entscheidens anstellen mit dem Ergebnis,
daß weltanschauungsübergreifend die grundlegenden Prinzipien medizinischer Ethik unter
Gläubigen verschiedener Richtung und säkularen Humanisten, unter Sozialisten, Liberalen und
Christen, unter Asiaten und Europäern, unter Ärzten und Patienten im wesentlichen konsensfähig
sind. Es zählt die szenarienangemessene Handlung des differenzierten und abgewogenen
Einsatzes der richtigen ethischen und technischen Instrumente; eine Abwägung wird im
Regelfall sich nicht durch unterschiedliche Letztbegründungen von Werten der
Handlungsverantwortlichen unterscheiden, seien diese Samariter, Juden, Christen, Sozialisten
oder Utilitaristen.
Zur Ausmessung und Präzisierung von Relevanz und Interaktion der particularia der
technisch-medizinischen und ethisch-medizinischen Parameter in unterschiedlichen
medizinischen Szenarien habe ich die Methode der Differentialethik vorgeschlagen [30] und
mich dabei an dem Begriff der Differentialdiagnose und der Forderung von Rudolf Groß [29: 93107] nach einer engen und differenzierten Begrifflichkeit und der Abwägung und Integration
verschiedener und unterschiedlicher Daten und Informationen orientiert. Natürlich gibt es
Grundsatzprobleme in der medizinischen Ethik, vor allem dort wo es unterschiedliche und
unvereinbare weltanschauliche Gegensätze in bezug auf Kriterien des Lebensanfangs und
Lebensendes gibt. Aber das ist eine eigene Kategorie von Szenarien und Fällen, mit deren
Problematik jede klinisch-ethische Entscheidung zu belasten sicher ein ethischer Kunstfehler
wäre.
Was sind das für 'particularia' oder mittlere Prinzipien, die beim Ausmessen der
ethischen Dimensionen medizinischer Fälle oder Szenarien und bei der Entwicklung und
Stabilisierung eines ärztlichen Ethos eine Rolle spielen. Da sind zunächst die vier ethischen
Prinzipien des Belmont Report, der in den 70er Jahren in den USA auf der Basis der HelsinkiTokyo Deklaration das Feld der Versuche am Menschen vermaß: adequate research design,
favorable risk benefit ratio, equitable selection of subjects, reasonably free and adequately
informed consent of the subjects [34]. Diese vier Prinzipien wurden zusammengehalten durch
das von dem protestantischen Theologen Paul Ramsey [19] in seinem einflußreichen Buch 'The
Patient as Person' formulierte Prinzip 'respect for persons' und das formale Procedere der
Abwägung bioethischer Prinzipien durch ein Ethics Review Board. Walters unterstreicht die
Nähe des utilitaristischen Argumentierens an der biomedizinischen Forschungsfront [34] zur
kontinentaleuropäischen Abwägung eines gerechtfertigten Krieges bei Thomas von Aquin in der
Forderung nach Verantwortungsautorität, ethisch akzeptierbarem Ziel und ethisch akzeptierbarer
Intention [ThAqu STh 2-2, quest 40, art 1]. In der utilitaristisch geprägten Prinzipienethik haben
1
sich daraus die vier 'Principles of Biomedical Ethics' entwickelt, die von Beauchamp und
Childress [2] als 'Respect for Autonomy, Nonmaleficence, Beneficence, Justice' bezeichnet
werden. Respect for Autonomy ist die über den Forschungsbereich hinaus erweiterte Fassung
des Belmont Paper Konzepts des Respect for Persons, aber hier vom früheren weiter gefaßten
anthropologischen Verständnis her radikal und revolutionär konzentriert auf Autonomie und
Selbstbestimmung. Im Prinzip der Nonmaleficence findet sich das hippokratische primum nil
nocere wieder. Unter Beneficence werden mögliche Konflikte zwischen ärztlichem
Paternalismus und der Selbstbestimmung des Patienten sowie technische Risikoabwägungen
diskutiert. Unter dem Prinzip Justice werden Allokationsfragen und solche ethischen Prinzipien
abgehandelt, die bei uns unter Solidarität im Gesundheitswesen fallen. Insgesamt unterscheidet
sich der utilitaristische Ansatz durch die rationale Aufarbeitung und Stärkung der Prinzipien von
Autonomie und Gerechtigkeit von der früheren hippokratischen Schwerpunktsetzung; innerhalb
der amerikanischen Diskussion ist dieser Ansatz vor allem von Edmund Pellegrino [18], einem
Vertreter der Gesinnungsethik und Tugendlehre kritisiert worden. Die Herausarbeitung der
Unterschiede in der Argumentation zwischen principle based ethics und virtue based ethics spielt
in den case studies des akademischen Unterricht in Bioethik eine wichtige Rolle.
Hanns-Peter Wolff [37] unterscheidet demgegenüber drei handlungsleitende ärztliche
Pflichten Verantwortungsbereitschaft, Verschwiegenheit, Wahrhaftigkeit, handlungsleitende
ärztliche Tugenden wie Geduld, Einfühlungsvermögen, Mitempfinden und Hilfsbereitschaft
sowie drei entscheidungsleitende ethische Prinzipien, 'Fürsorge, Selbstbestimmung,
Gerechtigkeit und soziale Verträglichkeit', insgesamt also eine weniger theoretische und
praxisgesättigte Position mit großer klinischer Nähe und einer Betonung auf der Tugend, die
Wolff wie folgt begründet: 'die Gesellschaft erwartet von dem Arzt nicht nur Sachkompetenz,
sondern auch menschliche Zuwendung' [37:196]. Utilitaristische Prinzipien der Bioethik tragen
zwar zur Analyse ethischer Konflikte bei, helfen aber nur wenig bei Fragen des ärztlichen Ethos,
das personengebunden und nicht prinzipiengebunden ist.
Mein eigener Ansatz ist der einer klassischen Güterabwägung nach technischen und
ethischen Prinzipien im Sinne der erwähnten differentialethischen Methodik mit engen sowohl
technischen wie ethischen Begriffen wie Szenarien [30; 29:121ff]. Ich sehe grundsätzlich die
beiden Prinzipien des primum nil nocere und des bonum facere in Spannung, die nur im
Einzelfall aufzulösen und für spezielle Szenarien vorzuentscheiden ist, ebenso die Spannung
zwischen paternalistischer Verantwortung des Arztes und selbstbestimmender Autonomie des
Patienten, die nur selten in idealen Formen der Partnerschaft, viel häufiger in asymmetrischen
Formen der Interaktion zwischen Arzt und Patient sich ausdrückt; dies ist ein
handlungstheoretischer oder risikotheoretischer Ansatz, der ethische Risiken, Unsicherheiten,
Vorteile und Nachteile in die medizinischen Risikoüberlegungen einbezieht. Ich betone, daß die
vier miteinander verschränkten Prinzipien des nil nocere, des bonum facere, der responsibilitas
und der libertas niemals je allein, sondern stets in ihrer Interaktion bewertet werden und in
differentialethische Entscheidung einfließen müssen. Quasi als Generalprobe wie als Mittel und
Ziel der Arzt-Patient Interaktion sehe ich das Vertrauen sowohl in seinem an die Person
gebundenen Ethos wie auch als ethisches Prinzip, ohne dessen Erhaltung und Stärkung
überhaupt keine zwischenmenschliche und auf Werten basierende Interaktion möglich ist, erst
recht nicht, wenn es um Krankheit, Schmerz, Leid und Tod geht. Als zusätzliche, aber für das
einzelne Szenarium oder den Einzelfall noch zuzuschneidende Prinzipen sehe ich die Wahrheit
am Krankenbett, die Schweigepflicht und die Zustimmung nach Aufklärung an; sie sind den vier
genannten Gütern und auch dem Vertrauensprinzip nachgeordnet und finden von dort ihre
differenziertere Ausprägung. Insgesamt ist das Prinzip der Verantwortungspartnerschaft
1
zwischen dem Experten und dem Laien handlungsleitend für die medizinische Intervention und/
oder den Verzicht auf sie.
Entscheidend bei diesem Modell einer differentialethischen wie partnerschaftlichen
Gesundheitsfürsorge ist die Integration und Interaktion von Arztethik und Laienethik, von Arzt
und Patient, welche insgesamt erst das Szenarium künftiger Gesundheitsethik und der für sie
konstitutiven Kriterien für Intervention und Interaktion abgibt.
Auf der einen Seite steht die Arztethik mit der klassischen Abwägung zwischen dem nil
nocere und dem bonum facere und der neuen Abwägung zwischen ärztlicher Verantwortung und
Selbstbestimmung des Patienten, beide Abwägungen zusammengehalten im Modell der
Verantwortungspartnerschaft und unterstützt durch ärzteethische Zusatzprinzipien wie der
Pflicht zum Einholen der Zustimmung nach Aufklärung, der Wahrheit am Krankenbett, der
Schweigepflicht und der Solidarität. Auf der anderen Seite steht die Patientenethik mit den
Abwägungen zwischen Lebensqualität und Gesundheitsrisiko, und zwischen Compliance und
Selbstverantwortung, beides wiederum zusammengehalten in einer Partnerschaft von
Verantwortung und unterstützt durch Zusatzprinzipien wie Informationsrecht und -pflicht,
Präventionsrecht und -pflicht, Recht zu Verfügungen für den Betreuungsfall und Pflicht zur
Solidarität. Diese Partnerschaft in der Verantwortung modifiziert die medizinisch-technische
Indikation und die Statistik der Prognosesicherheit. Eine nicht in Vertrauenspartnerschaft
durchgeführte Zytostatikabehandlung mit relativ guter Prognose ist medizinisch-ethisch weniger
indiziert als eine vertrauensgestützte Behandlung mit einer statistisch viel schlechteren Aussicht
auf Remission. Bei einer medizinisch-technisch und damit arztethisch sehr starken Indikation für
eine bestimmte Intervention wird in einer asymmetrischen Partnerschaft das directive
counselling und das Bemühen um die Einwilligung zur Behandlung im Vordergrund ethischer
Überlegungen stehen. Bei technisch weniger zwingenden oder nichtvitalen
Indikationsstellungen, bei Vorhandensein von Interventionsalternativen mit durchaus
unterschiedlicher Wirksamkeit, bei Interventionsverzicht oder Interventionsreduktion, vor allem
in Fällen von infauster Prognose oder Multimorbidität, auch in der Nähe des Todes, werden
wichtige entscheidungsleitende Bewertungskriterien asymmetrisch durch Selbstverantwortung
und -bestimmung von Patienten, auch durch Betreuungsverfügungen oder benannte Betreuer,
vorgegeben und sollten in ärztlicher Beratung, Begleitung und Betreuung entsprechend
umgesetzt werden; auch für die moderne Arztethik läßt sich ein Prinzip der Compliance mit dem
wertrational
vom
Patienten
formulierten
'Heilauftrag',
'Beratungsauftrag'
oder
'Begleitungsauftrag' des Experten formulieren.
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß es für das differentialethische Ausmessen der
meisten Szenarien der Interaktion von Arzt und Patient genügt, eine kleine Liste von
konsensfähigen mittleren ethischen Prinzipien abzuwägen, zu denen der Respekt vor der Würde
des anderen als Person sowie saubere technische wie ethische Risikobilanzen gehören. Ethische
Prinzipien werden in Büchern diskutiert, Ethos lernt man nicht aus Büchern, sondern im Leben.
Über Ethik kann man diskutieren und räsonnieren, Ethos wird gelebt.
Daß im Zeitalter einer vorwiegend naturwissenschaftlich und biomedizinisch orientierten
akademischen Lehre in der Medizin der 'Bezug zur ärztlichen Praxis' zu kurz gekommen ist und
daß das Medizinstudium einer dringenden Korrektur durch die 'Einbeziehung primarärztlicher
Wissens- und Erfahrungsbereiche', d. h. Nähe zur Krankheit, zum lehrenden Arzt und zum
Patienten, bedürftig ist, darauf hat auch der Wissenschaftsrat aufmerksam gemacht [36]. In den
USA gehört seit Jahren der Unterricht in Medizinethik zum Kernbereich der Ausbildung und
spielt eine wichtige Rolle in der Fortbildung [21; 28]. In der Bundesrepublik und in der Schweiz
wird die Einführung von medizinethischen Kursen diskutiert. Eine Umfrage [20] unter jungen
1
Medizinern in den USA, die zum Zeitpunkt der Umfrage schon einige Jahre in der Praxis waren,
nach dem Einfluß des Unterrichts in Medizinethik ergab folgende Antworten: bessere
Identifikation von Wertkonflikten (81%), bessere Fähigkeit im Umgang mit Patienten (79%),
bessere Fähigkeit in der Verbalisierung ethischer Probleme (73%). Nur vier Prozent gaben an,
durch den Unterricht in ihrem Wertsystem geprägt worden zu sein; hierfür wurden vielmehr als
entscheidend angegeben: Elternhaus und Familientradition (58%), Rollenvorbild von Lehrern
(63%) und Kommunikation unter Kollegen (53%). Das sind eindrucksvolle Informationen zu
den Leistungen und Grenzen des Unterrichts in Medizinethik. Ethos entfaltet sich in der Nähe
des Vorbildes und in der konkreten Handlungssituation; verbale Fähigkeiten und ethische
Argumentationen lernt man im Hörsaal. Als Konsequenz aus diesen Zahlen ergibt sich die
doppelte Aufgabe für den medizinischen Lehrer, sich einerseits der Rolle als Vorbild und
andererseits der Pflicht zur Integration ethischer Information und Argumentation in den
klinischen Unterricht bewußt zu werden. Der Ansatz eines ganzheitlich orientierten
medizinethischen Unterrichts gründet sich, säkular-humanistisch ausgedrückt in dem Prinzip der
Mitmenschlichkeit und dem der Hoffnung in und aus mitmenschlichem Vertrauen,
moraltheologisch ausgedrückt in der naturrechtlich zu begründenden Solidarität und der
heilsgeschichtlich zu begründenden christlichen Gnadenhoffnung [8]. Bed-side teaching dürfte
die beste Voraussetzung sowohl für die Entwicklung von beruflichem Ethos wie für die
Ausbildung der Kompetenz zur ethischen Analyse und Abwägung und sprachlichen Begründung
medizinischer Interventionen sein. Medizinethik ist ein untaugliches Instrument für ideologische
Uniformierung; sie kann auch nicht zur 'Domäne eines einzelnen vorwiegend theoretischen
Fachgebiets' werden. Sie entwickelt sich, woran Josef Zander kürzlich aus ärztlicher Autorität
und klinischer Erfahrung erinnert hat, 'zunächst aus unmittelbaren ärztlichen Erfahrungen und
aus Mitempfinden für Leiden von Mitmenschen. Medizinethik betrifft uns alle, die wir jederzeit
vom gesunden zum kranken und vom noch lebenden zum sterbenden Menschen werden können'
[38: 23]. Die optimale Methode ist die der Fallstudie, welche der Student schon aus der
technischen Medizin kennt. Hier lernt er das Analysieren und Abwägen einzelner bioethischer
Prinzipien gegeneinander und in der Interaktion mit technischen und medizinischen
Rahmenbedingungen. Auch für die Forschungssituation und für neue Szenarien eignet sich die
vergleichende Diskussion von Fällen, auch zur Vorbereitung auf noch nicht aktuelle
Herausforderungen.
Das Plädoyer für die Integration medizinisch-ethischer Aspekte in die Lehre der
medizinisch-technischen Aspekte wendet sich nicht gegen die Entwicklung der Medizinethik als
eigener Disziplin, als Hilfswissenschaft für die anderen medizinischen und philosophischen
Disziplinen und als eine Wissenschaft mit eigenen Methoden und Forschungsgegenständen, wie
es sich in den angloamerikanischen Ländern abzuzeichnen zeigt. Als Wissenschaft im
Bezugsgefüge mit anderen Wissenschaften hat die Bioethik eigene Forschungsprojekte auf dem
Gebiet der Wissenschaften vom Leben und der Wissenschaften vom Menschen, in der
Risikoforschung zur Forschung und zur Gesundheitsvorsorge, schließlich im prospektiven
Ausmessen ethischer Parameter neuer durch technische oder kulturelle Veränderungen sich
ergebenden Szenarien von Abschätzungen von Technikfolgen und Wertfolgen [30]. Die
Autorität des Arztes und das individuelle und kulturelle Vertrauen in die Leistungen der Medizin
dürften in den nächsten 100 Jahren in eben dem Maße von ihrem Bündnis mit den Wert- und
Geisteswissenschaften abhängen, wie das für die letzten 100 Jahre für das Bündnis mit den
Natur- und Biowissenschaften galt. Diese Voraussage gilt sicherlich für die klassischen
Szenarien der Interaktion zwischen Patienten und den Ärzten, aber noch mehr für neue
Szenarien, mit deren Skizzierung wir einen zweiten Durchgang durch das Thema von Ethik und
1
Ethos in der Medizin machen wollen.
In den bisherigen Überlegungen wurden eher unsensationelle Notwendigkeiten für die
Integration von Differentialethik in den klinischen Alltag diskutiert und die in der öffentlichen
Diskussion bevorzugten sensationellen Themen moderner Bioethik vermieden. Die ethische
Begründung der Betonung des 'Normalfalles' vor dem 'Sensationsfall' liegt in dem Praxisprimat
ärztlichen Handelns, bei dem responsibilitas vor curiositas geht, Verantwortung am Krankenbett
vor Forschungsneugier und Argumentationsneugier. Aber es gibt sensationelle biomedizinische
Themen, die neu sind und die in der Tat eine intensive ethische Diskussion notwendig machen.
Diese ethische Diskussion wird nach anderen Regeln ablaufen müssen als denen der
differentialethischen Integration von 'Wertbild' und 'Blutbild', weil jetzt Grundsätze und
Letztbegründungen diskutiert werden müssen. Ich skizziere im folgenden drei Themenkreise,
welche wegen der Radikalität, mit der sie die Landschaft von Medizin, Gesundheit und
Krankheit sowohl für Arzt und Bürger wie für Kultur und Gesellschaft verändern, eine
prospektive und präventive ethische Diskussion erfordern: (a) die Implosion klassischer
Konzepte von Gesundheit und Krankheit im Zeitalter einer sich abzeichnenden
Risikofaktorenmedizin, (b) die ethisch notwendige Re-definition des Anfangs und Endes des
ethisch und rechtlich zu respektierenden menschlichen Lebens, (c) individuelle, professionelle,
kulturelle und gesellschaftliche Herausforderungen für berufliches Handeln und individuelle
Selbstbestimmung in einer wertpluralen Kultur, Gesellschaft und Welt. Alle drei
Themenkomplexe verlangen nach dem Rückgriff auf klassische Methoden philosophischer und
theologischer Wertbegründung und Konsensbildung [6; 7; 8;30].
3. MEDIZINETHIK ALS ETHOS IM UMGANG MIT DEM GESUNDHEITSRISIKO
Die sich abzeichnenden neuen Szenarien der prädiktiven und präventiven Medizin mit
den Möglichkeiten asymptomatischer und präsymptomatischer Früherkennung von
Gesundheitsrisiken werden die klassischen Szenarien der hippokratischen Medizin und der
modernen Epidemiologie revolutionieren [26; 33]. Freizeitverhalten, Arbeitsplatz oder
genetische Prädisposition oder ein Gemenge von allen diesen drei Faktoren bestimmen die
jeweils individuellen Risiken für Gesundheit. Bluthochdruck und erhöhte Blutfette, veränderter
Zuckerstoffwechsel, auch kardiovaskulare oder onkologische Prädispositionen und andere
Risikofaktoren sind erkennbare und manipulierbare individuelle Risiken für die Gesundheit.
Einige können ausgeschaltet werden, andere reduziert oder das Stadium ihres Akutwerdens
verzögert werden. Der Patient wird zum Partner von Verhinderung oder Verzögerung des
Eintritts von schwereren Gesundheitsrisiken. Neben die fürsorgliche und heteronome
hippokratische Ärzteethik tritt die selbstverantwortliche und autonome Patienten- oder
Bürgerethik in der Gesundheitspflege. Medizinethik bleibt nicht mehr begrenzt auf Arztethik
oder Pflegeethik. Patientenethik, d.h. Gesundheitsethik oder Verantwortungsethik für
Gesundheit, wird in das Zentrum medizinethischer Analysen, Abwägungen und
Auseinandersetzungen treten [27; 28]. Innerhalb der medizinethischen Forschung und Lehre
wird zwischen Arztethik, Pflegeethik, Patientenethik und Institutionenethik zu differenzieren
sein. Und damit müssen auch die Kriterien einer ärztlichen Ethik fast ein Jahrhundert nach dem
grundlegenden Werk von Albert Moll (1902) neu vermessen werden [22; 27; 38].
Die Klinische Ethik wird in der nicht allzu fernen Zukunft eine ebenso radikale
kopernikanische Wende erfahren im Gefolge der Transformation der Medizin durch die
langfristig erkennbaren Risikofaktoren wie die Klinische Medizin sie schon erfahren hat. Die
molekulargenetischen Entwicklungen in der langfristigen Prädiktion werden diesen Prozeß nur
noch beschleunigen und unumkehrbar machen mit den sich daraus ergebenden
1
medizinethischen, kulturellen, gesellschaftlichen und medizinischen Konsequenzen [33]. Nicht
nur das Arzt-Patient Verhältnis wird sich ändern; der Bürger als noch prä- oder
asymptomatischer Träger von Risikofaktoren wird risikokompetenter und gesundheitsmündiger
werden müssen. Der Arzt wird neben seiner Rolle als Krisenmanager mehr und mehr die Rolle
des Beraters und Begleiters in der selbstverantworteten Gesundheitspflege des Patienten
übernehmen. Diagnostische und epidemiologische Kenntnisse von Risikofaktoren für
Gesundheit machen diese kopernikanische Wende erst möglich. Und damit ändert sich auch das
Konglomerat und die Prioritäten der bisherigen bioethischen Prinzipien aus hippokratischer
Tradition. Die klassische Abwägung der Interventionsmaximen des nil nocere und des bonum
facere wird erweitert oder ersetzt durch die Sequenz: Erkennung individueller oder
gruppenspezifischer Risikofaktoren, Entwicklung von Strategien zur Verringerung oder
Vermeidung individueller Gesundheitsrisiken und der Erreichung individueller und
gesellschaftlicher Gesundheitsziele.
Gesellschaftspolitisch und auch arztethisch wird die Verbesserung der
Rahmenbedingungen für Gesundheitsmündigkeit und Gesundheitsverantwortung Priorität
bekommen. Damit ändern sich auch die Subjekte der Verantwortung in der traditionellen ArztPatient Interaktion. Wenn es um Vermeidung von lebensstil- oder arbeitsplatzbedingten Risiken
und solchen aus dem genetischen Erbe geht, dann wird der Mediziner zum Berater und der
Patient (besser: der Bürger als potentieller Patient) zum primären Handlungs- und
Verantwortungssubjekt. Nicht mehr Compliance mit paternalistischen ärztlichen Entscheidungen
und solidarische Finanzierung der Krankheitskosten, sondern Selbstbestimmung nach
Information und Beratung durch den Mediziner und eine differenziert nach den drei Kriterien
von Verantwortung, Solidarität und Subsidiarität finanzierte Gesundheitsvorsorge sind primäre
bioethische Tugenden des Bürgers und die ordnungsethischen Parameter im Szenarium der
Gesundheitsvorsorge [26; 27].
Wie das Szenarium der Krankenversorgung kommt aber auch das der
Gesundheitsvorsorge nicht ohne das die einzelnen Abwägungen umfassende und stabilisierende
Vertrauensverhältnis zwischen Informationsvermittlern und Informationsempfängern aus.
Sekundäre bioethische Prinzipien, die außerhalb der engeren Parameter hippokratischer
Krankenversorgung lagen, aber natürlich auch in der Vergangenheit entscheidend zur
Verbesserung von Lebensqualität und Lebenserwartung beigetragen haben, treten nunmehr in
den engeren Kreis des Vorsorgeszenariums: gesunde Umwelt, gesunde Arbeitswelt, gesunde
Lebensweise. Dabei kommt es zu ähnlichen Spannungen zwischen den technisch ermittelten
Risiken und individuellen Konzeptionen von Lebensqualität und Risikokompetenz, zwischen
objektiven Zwängen von Prävention und individuellen Prioritäten von Lebensqualität,
Lebensstil, Arbeitsstil und Freizeitverhalten. Diesmal ist aber der Bürger, nicht der Arzt,
derjenige, der abwägen und entscheiden muß. Ein paternalistisches Szenarium von verbindlichen
und gesellschaftlich angeordneten Gesundheitszielen wäre für eine offene Gesellschaft und einen
mündigen Bürger unerträglich, letztlich auch gesundheitsschädlich.
Vor allem zwei bioethische Prinzipien, Aufklärung und Schweigepflicht, erscheinen im
Szenarium der prädiktiven Medizin in einem anderen Licht als in dem der Krankenversorgung.
Konnte man bei der Krankenversorgung im Sonderfall mit Gründen das Prinzip der Aufklärung
vernachlässigen oder gar außer Kraft setzen, so sind im Szenarium des technischen und
ethischen Umgangs mit Risikofaktoren Information und Beratung die Bedingung der
Möglichkeit eines Modells von Gesundheitsvorsorge im Umgang mit Risikofaktoren, das auf
Verantwortung und Information basiert. Traditionell gehört die Schweigepflicht zu den ehernen
Prinzipien ärztlicher Ethik, jetzt muß sie neu bekräftigt und ausgemessen werden angesichts des
1
Mißbrauchs, der mit Informationen aus der prädiktiven Medizin getrieben werden kann,
andererseits muß sie ethisch akzeptabel modifiziert werden angesichts der gesundheitsfördernden
Fortschritte Medizinstatistik, Epidemiologie und Sozialmedizin [26].
Ein drittes bioethisches Prinzip stellt sich aber unübersehbar in den Vordergrund: Pflicht
zum Wissen. Gibt es eine Pflicht zum Wissen oder vielmehr ein Bürgerrecht auf Nichtwissen in
bezug auf meine eigenen Risikofaktoren für Gesundheit? Das ist die neue bioethische
Fragestellung, die sich unsere Generation zum erstenmal in aller Radikalität stellen muß. Ich
denke, es gibt eine Verantwortung zum Wissen um Risikofaktoren dort, wo ich durch
verantwortungsvollen Umgang mit diesem Wissen etwas ändern kann. Wo Wissen allerdings
nicht in Verantwortung übersetzbar ist, dort kann Recht oder Pflicht zum Wissen nicht
angemahnt, aber auch nicht verweigert werden. Wissen ist Macht und aus der Macht ergibt sich
Verantwortung. Verantwortlich mit Informationen umzugehen, das bin ich primär mir selbst
schuldig. Das bin ich aber auch der Solidargemeinschaft schuldig, welche Kosten für
Gesundheitspflege übernimmt. Das Thema der Interaktion von individueller
Selbstverantwortung und gesellschaftlicher Solidarität in der Gesundheitspflege und in der
Gesundheitsfinanzierung ist in der Diskussion um die Ordnungsethik der Struktur des
Gesundheitswesens noch kaum aufgegriffen worden [23; 27]. Aus der neuen Situation ergeben
sich neue Verteilungen von Verantwortungskompetenzen für Ärzte und Laien.
Angesichts der neuen Szenarien vernetzter Verantwortungen von Ärzten und Patienten
im Zeitalter einer auf dem Management von Risikofaktoren basierenden Gesundheitspflege sind
die Restbestände hippokratischer Ethik unter Wahrung des Grundbestandes des hippokratischen
Ethos zu ersetzen durch neue vernetzte Tugendkataloge. Die folgenden zwei aufeinander
bezogenen Tugendkataloge für die nachhippokratische Situation, einen für Ärzte und einen für
Laien, sollen die neuen Herausforderungen an eine Verantwortungspartnerschaft deutlich
machen.
Die beiden ersten Regeln sprechen vom Recht und der Pflicht zur
Verantwortungspartnerschaft und zur differentialethischen Bewertung von Intervention und
Interaktion. Die zweiten und dritten Maxime thematisieren Prädiktion und Prävention als
Herausforderung an die durch die Unterschiede zwischen Experten und Laien, zwischen
Hilfsbedürftigen und Hilfeleistenden bestimmte asymmetrische Partnerschaft. Die vierte Regel
erinnert beide Seiten an die Grenzen des technisch Machbaren, während die fünfte Regel Rechte
und Pflichten in Beratung, Begleitung und Betreuung zusammenstellt. Die sechste Maxime
erinnert den Laien an Recht und Pflicht zur selbstverantwortlichen Entwicklung der Kriterien
individueller Lebensqualität und den Arzt an die Pflicht zur Erhaltung und Verbesserung
professioneller Expertise in ärztlicher Technik und ärztlicher Ethik. Die siebte Maxime versucht,
Laien und Ärzten an besonders schwierige Entscheidungskonflikte bei der Intervention im Falle
von Koma, Demenz und Multimorbidität zu erinnern und macht auf den
1
Regeln für den medizinischen Laien
1. Suche Dir einen Arzt Deines Vertrauens.
2. Sei verantwortlich und mündig im Umgang mit Deiner Gesundheit und in der
Bestimmung der Kriterien Deiner Lebensqualität.
3. Vermeide Gesundheitsrisiken und nutze die Möglichkeiten der prädiktiven und
präventiven Medizin.
4. Erwarte von der Medizin Heilung oder Milderung, aber sei Dir der Grenzen und
Risiken medizinischer Intervention bewußt.
5. Verlange Information und Rat von Ärzten und Mitarbeitern und sei Ihnen ein
verantwortlicher und zuverlässiger Partner.
6. Erkenne die in den verschiedenen Lebensaltern, auch in Krankheit und Behinderung
liegenden Möglichkeiten und Herausforderungen individueller Lebensqualität.
7. Benenne einen Betreuer und lege nach Rücksprache mit Deinem Arzt diejenigen Werte
und Prinzipien fest, an denen sie sich orientieren sollen, wenn Du einmal nicht mehr selbst
entscheiden kannst.
8. Trage Deinen Teil bei zum verantwortlichen und solidarischen Umgang mit den
Leistungen und Kosten des Gesundheitswesens.
Regeln für den Arzt
1. Behandle Deinen Patienten als Mitmenschen, nicht nur ihre oder seine Symptome.
2. Hilf Deinem Patienten zu Gesundheitsverantwortung und Gesundheitsmündigkeit.
3. Integriere die Befunde von 'Blutbild' und 'Wertbild' des Patienten in Diagnose,
Intervention und Interventionsüberprüfung.
4. Sei Dir der Leistungen und Grenzen des technisch Machbaren bewußt und diskutiere sie
mit Deinem Patienten.
5. Sei Deinem Patienten in Beratung und Behandlung ein guter Experte, respektiere
Werte, Wünsche und Schwächen.
6. Nutze die Möglichkeiten biomedizinischer und bioethischer
Ausbildung und
Fortbildung zur Erhaltung und Verbesserung Deines Dienstes für den Patienten und die
Gesundheitspflege.
7. Hilf Deinem Patienten beim Aufstellen von Betreuungsverfügungen und nutze sie in
Absprache mit einem Betreuer adjuvantiv oder regulativ bei Therapieentscheidungen und
in der Sterbebegleitung.
8. Trage Deinen Teil bei zum verantwortlichen und solidarischen Umgang mit den
Leistungen und Kosten des Gesundheitswesens.
1
einzig gangbaren Weg [11] aufmerksam, die Partnerschaft in Kommunikation und Intervention
auch in die Betreuungssituation hineinzuholen; sie beschreibt eine arztethische Indikation zur
Beratung beim Aufstellen von Betreuungsverfügungen und zur Berücksichtigung in der
Betreuungssituation, auch Rechte und Pflichten des medizinischen Laien zu Selbstverantwortung
und -bestimmung in der Nähe des Todes und prospektiv für Szenarien von Koma und Demenz.
Die letzte Maxime schließlich erinnert beide Seiten an den verantwortlichen Umgang mit den
Kosten eines ethisch nicht hoch genug einzuschätzenden Systems solidarischer
Gesundheitsfürsorge und -finanzierung.
Wenn neuerdings bei der Übergabe der Promotionsurkunden an junge Mediziner
zugleich auch der Hippokratische Eid überreicht wird, so kann in solchen Zeremonien nicht
deutlich genug zwischen dem zeitlosen hippokratischen Ethos des Hilfsgebots und des
Schadensverbots und Tötungsverbots und der im Zeitalter der Risikofaktorenmedizin und einer
vom Bürger einforderbaren Gesundheitsmündigkeit und Selbstverantwortung nicht mehr
zeitgemäßen hippokratischen Ethik unterschieden werden. Die sich aus dem Fortschritt der
Prädiktionsmedizin und der Transformation der Zuständigkeiten für Verantwortung ergebende
Problematik ist letztlich aber keine der akademischen Medizinethik oder der öffentlichen
Gesundheitspflege im engeren Sinne mehr, sondern die Herausforderung nach einem neuen
Ethos der Gesundheitspflege und damit nach einem neuen kulturellen Verständnis von
Gesundheit unter Laien wie auch unter heilberuflich Tätigen.
4. ETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN AM ANFANG UND ENDE DES LEBENS
Der Anfang und das Ende des menschlichen Lebens, auch Zeugung und Geburt, sind
nicht mehr nur natürliche Ereignisse, sondern sie sind dem Manipulationshandeln des modernen
Menschen ausgesetzt. Anfang und Ende des Lebens können sich dem helfenden, heilenden, oft
aber auch verletzenden und schmerzenden, häufig wohl auch unethischen Eingriff moderner
Technik nicht entziehen. Das Leben kann über den Tod des Herzens oder Hirns hinaus
intensivmedizinisch verlängert werden; explantierte Organe können den Leib, dem sie
entnommen wurden, als Teil eines anderen Leibes und Menschen um viele Jahre überleben.
Leben kann außerhalb des Mutterleibes gezeugt oder auf verschiedene Weise innerhalb des
Mutterleibes an Befruchtung oder Einnistung gehindert werden. Die genannten und andere uns
durch medizinische Fortschritte zugewachsenen Handlungsoptionen transponieren die Frage
nach dem Anfang und Ende des Lebens aus dem Raum der curiositas, der theoretischen
Neugierde, in den der responsibilitas, der Verantwortung für die Ziele und Grenzen des technisch
möglichen Interventionshandelns.
Sie verlangen auch nach einer ethischen und kulturellen Neubewertung des Verhältnisses
von cultura und natura, Kultur und Natur, und den Aufgaben und Grenzen des kulturellen
Manipulierens von Natur. Wie erwähnt, wäre es ein naturalistischer Fehlschluß, wenn man zu
Zwecken der ethischen Argumentation wissenschaftliche Daten in die Diskussion einführt ohne
sich der jeweils vorgängigen religiösen oder säkularen Interpretation dieser Daten vergewissert
zu haben. Eine solche vorgängige Interpretation von 'Natur' aus wertneutralen Daten kann sich
am Lehramt einer Kirche [8; 14; 17] oder an einer von individueller Verantwortung vor dem
Gottesbild [6], der kulturellen oder beruflichen Tradition oder aktueller ethischer Argumentation
geprägten Güterabwägung orientieren [22; 24]. Diese neuen lebensweltlichen, ethischen wie
kulturellen Probleme gehen weit über den Raum der ärztlichen Ethik und das Arzt-Patient
Verhältnis hinaus, bleiben aber nicht ohne Einfluß auf beide. Bei diesen Fragen wird besonders
deutlich, daß neue lebensweltliche Probleme keine neue Ethik, sondern eine neue Bewertung
tradierter und in Kultur und Religion überlieferter Werte und Prinzipien verlangen, daß also
1
'Ethik in der Medizin' eingebettet in die 'Ethik in der Gesellschaft' ist, in eine Ethik des Ethos im
Umgang mit neuen technischen Möglichkeiten, an deren Entwicklung sich nicht nur das
Schicksal der medizinischen Ethik, sondern das einer wertverpflichteten Gesellschaft überhaupt
entscheiden wird.
Die Autorität der Tradition bei der Ausmessung individueller Verantwortung wird
jeweils unterschiedlich gewertet werden müssen: für das sich unbedingt und widerspruchslos am
Lehramt der Kirche orientierende Gewissen ist die Tradition in der jeweils vom Lehramt
vertretenen Version von direktiver Autorität, für den kritischen Gläubigen eher von regulativer
oder exhortativer Autorität, für den Nichtgläubigen und säkularen Humanisten aber immer noch
von adjuvantiver Autorität, an der Abwägungen des eigenen Gewissens geprüft und überprüft
werden können.
Was die ethischen Probleme des Umgangs mit dem Ende des menschlichen Lebens
betrifft, so scheint uns ein vorläufiger Konsens gelungen zu sein, der sich in der
'Hirntoddefinition' manifestiert. 1968 machte eine ad hoc Kommission der Harvard Medical
School diesen Vorschlag, den personalen Tod eines Menschen mit dem Ende der Funktion des
'Hirnorgans', gleichzusetzen. Die neue Formel fand weite Verbreitung, weil sie im
abendländischen Kulturkreis kulturgeschichtlich gut begründen werden kann. Die wichtigsten
Traditionen waren sich der Bedeutung der kommunikativen und selbstkommunikativen
Fähigkeiten des Menschen für sein Menschsein bewußt. Es bedurfte nur der Erinnerung an die
latente Kraft dieser Identifizierung von kommunikativem und personalem Sein des Menschen:
Die griechisch-römische Tradition des Humanismus spricht vom 'zoon logon echon', dem
vernunftbegabten Lebewesen; hier wird die Fähigkeit zum Dialog, zur Selbstreflexion und zum
Selbstverständnis als die differentia specifica des Menschen innerhalb der Natur und im
Gegensatz zu anderen Spezies bezeichnet. Altes wie Neues Testament sprechen von der 'imago
Dei', dem Menschen als Ebenbild Gottes, einem Ebenbild, dem Gott nach der Gestaltung des
Leibes 'seinen Atem', den ruach adonai, einblies. Damit ist im jüdisch-christlichen Verständnis
der Mensch als Gottes Ebenbild die einzige Kreatur, die von Gott weiß, sich vor ihm
verantwortlich fühlen, aber auch von ihm geborgen wissen darf; menschliches Leben ist daher
nicht biologisch, sondern im Licht dieses Personseins zu verstehen und zu bewerten. Es war die
latente Kraft dieser Theorie, die direktiv und regulativ den Konsens über die klinische
Feststellung des irreversiblen Ausfalls der Funktionen des Hirns als identisch mit dem
persönlichen Tod erlaubte [22].
Dieser Wechsel von der traditionellen Herz-Kreislauf Definition zur Hirntoddefinition
hatte bemerkenswerte ethische und medizinische Vorzüge: (1) Menschliches Leben, das nicht
länger Schmerzen empfinden oder kommunikativ sich mitteilen kann, muß nicht länger
verlängert werden; emotionale, ethische, kulturelle, medizinische und ökonomische Kosten
brauchen nicht mehr übernommen werden. (2) Organe und Gewebe stehen für Mitmenschen zur
Verfügung, die anderweitig leiden oder eher sterben würden; medizinisches Ethos und
mitmenschliche Solidarität erhalten neue Möglichkeiten beruflicher und menschlicher
Hilfeleistung. (3) Eine kleine Liste biomedizinischer Kriterien von bioethischer Relevanz ersetzt
Entscheidungen im Einzelfall; damit ist ein undiskutierbares Kriterium vorhanden, das von der
ethischen Tradition abgedeckt ist und das vor seinem Eintritt den vollen medizinischen und
rechtlichen Schutz und die ungeteilte ethische Solidarität mit dem Mitmenschen fordert, nach
seinem Eintritt aber einen solchen Schutz und eine solche ethische Respektierung nicht mehr
begründet. Aber die neue Formel ist nicht ohne Probleme und kann in einer Reihe von
besonderen Szenarien, zu denen die Behandlung von Anencephalen, hirntoten Schwangeren,
permanent vegetabilen Patienten und Angehörigen anderer Kulturkreise gehört, nicht pauschal
1
angewandt werden [22]. Wichtig an der Geschichte der Entwicklung und Akzeptanz der
Konzeption des Hirntodes ist aber die Methode des konsensorientierten Argumentierens mit in
der Tradition schlummernden Werten und Prinzipien.
Für die ethische Bewertung und den rechtlichen Schutz des Anfangs des menschlichen
Lebens gibt es einen der Hirntoddefinition vergleichbaren allgemein akzeptierten Konsens nicht.
An anderer Stelle habe ich unter regulativer und adjuvantiver Benutzung der klassischen
aristotelischen und thomistischen Animationstheorie, nach der Gott individuell von einem
bestimmten Zeitpunkt der Gestation ab die unsterbliche Seele in den sterblichen Leib gibt,
versucht, ein Modell der ethischen Respektierung und des rechtlichen Schutzes des ungeborenen
Lebens nach Kriterien der embryonalen Neuromaturation als Kriterien des Hirnlebens etwa von
der 10. Schwangerschaftswoche ab und als Beginn des personalen Lebens, ein Gegenstück also
zum Kriterium des Hirntodes, zu entwickeln [22]. Die gleichen Orientierungsinstrumente aus der
Tradition, die regulativ und adjuvantiv die ethische Definition des Hirntodes erlaubten, waren
jedoch bei diesem Problem weniger konsensfähig, obwohl katholische Moraltheologie und
römisch-katholisches Kirchenrecht noch bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts einen
Unterschied zwischen 'animierten' und 'nichtanimierten' Feten machten. Das Faktum ist: es gibt
heute keinen Konsens in der ethischen Antwort auf die Frage nach dem Beginn des frühen
menschlichen NeuLebens [37:21]. Vielmehr benutzen wir eine Vielzahl unterschiedlicher
Parameter, deren Gleichzeitigkeit große ethische, medizinische, kulturelle und rechtliche
Probleme mit sich bringt. Die Kontroversen der beiden Lager von 'pro choice' und 'pro life', von
Selbstbestimmungsrecht und Lebensrecht um die ethische Problematik von Kontrazeptiva und
Kontranidativa, vor allem aber um den Abbruch der Schwangerschaft, sind eindrückliche
Beispiele für ethische Herausforderungen an die Gesellschaft und die sie tragende Kultur, die
weit über den Raum der Medizinethik hinausgehen und auf die in diesem Zusammenhang nicht
eingegangen werden kann.
Beides aber, die ethische Diskussion um den Anfang wie um das Ende des moralisch zu
respektierenden und rechtlich zu schützenden menschlichen Lebens werden nicht durch
uniforme Rechtsregelungen lösbar sein, sondern nur in einer Respektierung und Stärkung der
Würde des individuellen Gewissens und der Integration von Gewissensklauseln in
Verordnungen und Gesetze, welche dem Verantwortungskonzept der christlichen Anthropologie
ebenso wie dem neuzeitlich säkularen Prinzip der Achtung vor der individuellen
Selbstverantwortung und -bestimmung gerecht wird. Es würde zu weit führen, diesen Gedanken
hier genauer zu entfalten. Statt dessen sollen abschließend die methodischen Probleme
skizzieren, die sich für eine Ethik des Ethos der Verantwortungsgemeinschaft aus der
Konfliktsituation des gesellschaftlichen Dissens ergeben, in der Gewissensentscheidung gegen
Gewissensentscheidung steht und in der auf der Grundlage solcher unterschiedlicher
Güterabwägungen gehandelt wird und gehandelt werden muß.
5. KONSENS, GEWISSEN UND ETHISCHE SUBSIDIARITÄT
Wie soll eine nachaufklärerische Gesellschaft, welche bei der Entscheidung von
Wertfragen dem individuellen Gewissen eine primäre und entscheidende Funktion zuspricht, bei
weltanschaulich und theologisch kontroversen Positionen sich kulturell, ordnungsethisch und
rechtlich verhalten? Die totale Anarchie des Wertpluralismus nach dem Feyerabend'schen Motto
'everything goes' ist keine Lösung, wenn nicht die Gesellschaft selbst und mit ihr das Konzept
der individuellen Mündigkeit und Verantwortung desintegrieren will. Der weltanschauliche
Fundamentalismus ist aber ebenfalls keine Antwort auf die uns von der modernen Technik und
der Freigabe des Gewissens in der offenen Gesellschaft sich eröffnende neue Landschaft
1
ethischer Entscheidungen und Verantwortungen. Darauf hat Papst Johannes Paul II. in seiner
Neujahrsansprache 1991 hingewiesen, in der er zum Verhältnis von staatlicher oder rechtlicher
Vorschrift und der individuellen Gewissensentscheidung, d.h. 'dem unveräußerbaren Recht,
seinem eigenen Gewissen zu folgen und seinen eigenen Glauben zu praktizieren und zu
bekennen' ausführt: 'Die Leute sollen nicht versuchen, ihre eigene 'Wahrheit' anderen
aufzuzwingen'; wenn das religiöse Gesetz identisch wird mit dem bürgerlichen Gesetz , dann
'erstickt es die Freiheit der Religion, engt andere Menschenrechte ein oder verweigert sie...
Intoleranz kann das Resultat aufkeimender Versuchungen des Fundamentalismus sein, der leicht
zu ernsthaftem Mißbrauch, zum Beispiel der radikalen Unterdrückung aller öffentlichen
Manifestationen von Pluralität, führt' [15]. Der Papst hat diese Befürchtungen im Hinblick auf
den sich entwickelnden islamischen Fundamentalismus formuliert. Ich glaube aber, die Warnung
kann auch auf Diskussionen innerhalb pluralistischer Gesellschaften des Abendlandes eingeführt
werden.
Nach Höffner gibt es für den Gläubigen zwei Wurzeln für das ethische Handeln, die
natürliche Sozialität des Menschen und die christliche Heilsbotschaft [8:21]. Dieses christliche
Konzept der doppelten Wurzel von Ethos und Ethik findet sich im säkularen humanistischen und
menschenrechtlichen Konzept in der doppelten Begründung von Menschen- und Bürgerrechten
in der 'Natur' des Menschen (Menschenrechtskataloge der UNO beispielsweise) einerseits und in
den Prinzipien 'Hoffnung' [3] und 'Verantwortung' [9] andererseits.
Wie können angesichts eines Dissenses unter den Bürgern dennoch Regeln des ethischen
Umgangs miteinander gefunden werden? Für den Bereich der Sozialethik hat die katholische
Tradition das Modell der Subsidiarität entwickelt zum Zweck einer positiven Interaktion
zwischen dem Recht und der Pflicht zu individueller Gewissensentscheidung und
Verantwortungskompetenz auf der einen Seite und der Entlastung der Obrigkeit von
überflüssigen und dominierenden Regelungen auf der anderen Seite [14; 16]. Subsidiarität als
klassischer Begriff der Moraltheologie besagt, daß in Fragen der sozialen Ethik übergeordnete
Stellen erst dann verantwortlich werden sollen, wenn direkt oder direkter betroffene Gruppen
oder Individuen nicht selbst die Verantwortung für in Not gekommene Mitmenschen
übernehmen können. Die Enzyklika 'Quadrogesimo Anno' (1931) hatte gegen die Forderungen
einer totalitären und zentralistischen marxistisch-leninistischen Gesellschaftsethik das Primat der
Verantwortung der kleineren ethischen Einheit vor der größeren begründet und gefordert. Was
der Einzelne, die Familie und die kleineren 'Primärgruppen' ethisch und sozialethisch leisten
können, soll nicht durch größere 'Sekundärgruppen' wie Institutionen, Gemeinden oder
Berufsverbände zentralistisch gesteuert werden. Wohl aber sollen und dürfen staatliche und
kirchliche Institutionen dafür sorgen, daß die ordnungsethischen, organisatorischen und
gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorhanden sind, daß die primären Verantwortungsträger
verantwortungsmündig werden und daß das gesellschaftliche Gefüge funktionsfähig bleibt.
Man hat bei der Interpretation des Subsidiaritätsprinzips eine positive und negative These
[14; 16; vgl. 8; 31] unterschieden: die positive Prämisse erkennt, daß 'das Gelingen des
menschlichen Lebens von der Bereitschaft und der Fähigkeit zu eigener Aktivität abhängt', und
die negative 'setzt dem Staat Grenzen; er hat erst dann in die Gesellschaft zu intervenieren und
Hilfen anzubieten, wenn die Leistungsfähigkeit der Bürger und der gesellschaftlichen
Subsysteme überfordert ist' [31;124], mit den Worten der Enzyklika 'Quadrogesimo Anno': 'Wie
dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten
kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es
gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und
zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu
1
nehmen' [14: zif.79].
Das Subsidiaritätsprinzip hat für die wertplurale und nicht uniforme Gesellschaft und für
Entscheidungskonflikte bei Gewissensentscheidungen Vorzüge, die selbst von nichtchristlicher
und sozialistischer Seite anerkannt wurden [32]. Das Prinzip der Subsidiarität entlastet nicht nur
die größere Gemeinschaft von finanziellen Opfern, sondern auch den allgemeinen ethischen
Diskurs von dem Zwang zum Konsens für oder gegen die Argumente der Intervention. Es stärkt
vor allem die Verantwortungskompetenz der zunächst Betroffenen und macht, ebenso wie die
Enzyklika 'Veritatis Splendor' [17] das individuelle Gewissen zum Subjekt moralischer
Entscheidungen.
Dieses Modell der Subsidiarität von Verantwortung läßt sich vom Gebiet der Sozialethik
in das der Medizinethik übertragen und dürfte sowohl dem ideologischen Indoktrinationsmodell
wie dem regulativen Verbotsmodell überlegen sein, weil es überhaupt erst gewissensbasierte
Entscheidungen in der Verantwortungsethik zuläßt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die
Kontroverse innerhalb der katholischen Moraltheologie, ob nur 'der inhaltliche Überschuß des
Evangeliums' nur den Christen und nicht den atheistischen Biomediziner auf die 'barmherzige
Betreuung und Pflege auch des biologisch und kulturell minderwertigen Menschenlebens'
verpflichte [12; 13]. Es ist die These des Moraltheologen Messner [12], daß die christliche
Heilsbotschaft keine neuen sittlichen Erkenntnisse bringe, wohl aber 'neue Kräfte', welche die
naturrechtlichen Einsichten stärken, leiten und befördern können, daß also das Hilfsgebot dem
Schwachen und Leidenden gegenüber ein menschliches und nicht nur ein christliches ist. Diese
Diskussion kann auch mutatis mutandis in den ethischen Diskurs der wertpluralen Gesellschaft
übertragen und verlängert werden. Utilitaristische Vorschläge, gegebenenfalls Hilfe und
Solidarität bei Schwerstbehinderten zu reduzieren, greifen demgegenüber viel zu kurz und
verlassen den Boden eines von den christlichen wie säkularen Prinzipien der Solidarität und
Subsidiarität ausgehenden Konsensmodells.
In allen Berufen und im persönlichen Leben ist ein bewährtes Prinzip zur Stärkung der
Verantwortung der zunächst Betroffenen und zur Entlastung des Zwanges zum Konsens bei
kontroversen Problemen. Das Modell der ethischen Subsidiarität könnte immer dann eine ethisch
akzeptable und konfliktreduzierende Funktion bekommen, wenn Theologen, Ethiker, Juristen
und Politiker verschiedener Couleur sich streiten, wie im Fall des moralischen Status des
ungeborenen Lebens. Die Schwangere oder der Sterbende als Nächstbetroffene, danach Familie
und Freunde, die Glaubens- oder Kulturgemeinschaft wären sukzessiv ethische Subjekte bei
Fragen, die primär den einzelnen angehen und über die sich darüber hinaus kein
gesellschaftlicher Konsens hat finden können. Je weniger Konsens sich unter den 'Experten' und
in der Gesellschaft findet, umso mehr wird der lebensweltlich betroffene 'Laie' zum Experten,
denn in seiner oder ihrer Lebenswelt sind die Probleme entstanden, hier müssen sie gelöst
werden.
Entsprechend dem hippokratischen Ethos haben in der Medizin traditionell nicht die
Ärzteschaft als Institution, sondern der individuelle Arzt als Person im konkreten Fall
Verantwortung getragen und den einzelnen Patienten nicht uniform, sondern individuell
behandelt, nichts anderes besagt das Konzept der Subsidiarität als eines differentialethischen
Instruments für die Verantwortungsethik. In den USA ist inzwischen die Theorie und die Praxis
der Bioethik über die eingangs skizzierte Prinzipien- und Tugendethik hinausgegangen und
vertritt, beispielsweise in Form der 'klinischen Ethik' wie sie von Albert Jonsen vertreten wird,
eine subsidiär sich an Wünschen und Präferenzen des Patienten orientierende Arztethik [10].
Auch die neueren Konzeptionen des Entwurfes und der Akzeptanz von Betreuungsverfügungen,
die neuerdings auch vom Betreuungsgesetz [BetrG] in die Diskussion gebracht wurden, gehen
1
über das Prinzip des 'informed consent' hinaus, ersetzen also eine mildere Form des
Paternalismus durch Subsidiarität entsprechend den Präferenzen der 'am nächsten beteiligten'
Person, des Patienten [11].
In einer für den bioethischen Dialog und die Entlastung der Gesellschaft von
konfliktpotenzierenden Wertediskussionen brauchbaren Form ließe sich das Subsidiaritätsprinzip
wie folgt formulieren: Wenn immer Theologen, Ethiker, Juristen und Politiker keinen
inhaltlichen Konsens finden können, sollten die primär betroffenen und nächststehenden
Individuen nicht in ihrer Verantwortung eingeschränkt werden; weltanschauliche und religiöse
Gruppen sollen vielmehr dazu beitragen, die individuelle Kompetenz von Güterabwägung und
Verantwortung zu stärken.
Es gibt Grenzen der individuellen Entscheidungsfreiheit, die dort liegen, wo die
Kohärenz von Kultur und Gesellschaft und der innere Frieden tangiert sind. Aber die generelle
Befürchtung, daß mit der Freigabe des Denkens und des Gewissens die öffentliche Ordnung und
die Moral zusammenbrechen würde, ist sicher nicht gerechtfertigt. Diese Befürchtung ist
übrigens so alt wie der kalte und heiße Krieg zwischen Wertanarchie, Fundamentalismus und
Aufklärung, zwischen Bindungslosigkeit, Gesetz und Gewissen. Spinoza schrieb im
'Theologisch-Politischen Traktat' (1670), in dem er eindringlich für die Freiheit des religiösen
und philosophischen Gewissens plädierte, daß mit dem Wegfall des Gewissenszwanges nicht
etwa auch öffentliche Ordnung und staatliche Sicherheiten hinwegfallen würden, sondern daß im
Gegenteil durch die Vernichtung der Freiheit des Gewissens sich auch die öffentliche Ordnung
und die staatliche Gemeinschaft selbst vernichten würde. In kleinerem Rahmen kann diese
Einsicht auch auf die inhaltlichen wie methodischen Diskussionen um diejenigen bioethischen
Fragen angewandt, zu denen sich nicht oder noch nicht ein inhaltlicher Konsens finden läßt. Wie
sollen wir das menschliche Leben respektieren, wenn nicht zunächst und primär in der Würde
seines Gewissens und der Entscheidung nach Werten und Prinzipien und in der Verantwortung
vor dem Mitmenschen. Die oben skizzierte Transformation von Ethos und Ethik in der Medizin
weg von parternalistischen Modellen und hin zu partnerschaftlichen Interaktionen zwischen
Laien und Experten wird nicht ohne die beiden Prinzipien der Subsidiarität und Solidarität
auskommen können, weil beide notwendige und unverzichtbare Ausprägungen des Prinzips der
Verantwortung im Gesundheitswesen sowohl in christlicher wie in nichtchristlicher Perspektive
sind.
SCHLUSSBEMERKUNG
Ethos und Ethik in der Medizin sind, wie wir diskutiert haben, eingebettet in die Kultur
von Ethos und Ethik der sie umgebenden Gesellschaft. Aber das ist nur die eine Seite der Münze.
Wie die Geschichte der Arztethik und des Arztethos seit Hippokrates und Paracelsus im
Abendland und seit Sun Simiao und Gong Tingxian im Morgenland zeigt, gibt es auch zeitlose,
nichtmodische und umgebungskulturneutrale Traditionen von Ethos und Ethik in der Medizin.
Sie orientieren sich an Ethos und Vorbild des Meisters, auch an esoterisch tradierten Werten, die
oft den berufsexternen Moden der jeweiligen Kultur oder Gesellschaft entgegenlaufen. Für
diesen Aspekt von Arztethik und Arztethos gilt, was Jacob Burckhardt vom Fortschritt in der
Geschichte gesagt hat, daß nämlich Werte und Menschen eher gegen die Moden als durch die
Moden von Kultur und Geschichte geschützt und gerettet wurden [4:24ff].
Ähnliches ließe sich für die vergessene Tradition und das verlorengegangene Ethos einer
Diätetik des Maßes der Goldenen Mitte in Lebensweise und privater wie beruflicher
Lebenskunst sagen, die uns beide in den neueren Zeitaltern der Maßlosigkeit und Rastlosigkeit
abhanden gekommen sind und an die ich versucht habe, wie ein 'Neuerer' zu erinnern. Ethos und
1
Ethik des Arztes und Ethik und Ethos des Maßes der Goldenen Mitte in der Ausgestaltung der
wenigen Jahrzehnte, die wir Menschen zu leben haben sind in ihrem wesentlichen Gehalt
unabhängig von der sie umgebenden Kultur, weil sie sich orientieren müssen an den ebenfalls
kulturneutralen Fakten der conditio humana, am Menschlich-Allzumenschlichen und an unserer
Finalität, an Krankheit und Lebensqualität, an Schmerz und Tod, an Lebensleid und Lebenslust.
Wer die Ethik des Ethos in der Medizin und die Herausforderungen eines modernen Ethos der
Gesundheitsethik verstehen will, muß beide Dimensionen bedenken.
1
LITERATUR
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1
HIPPOKRATISCHES ETHOS UND NACHHIPPOKRATISCHE ETHIK
Hans-Martin Sass
SUMMARY: New technical capabilites and new moral challenges in clinical medicine call for
new parameters and principles in post-Hippocratic health care ethics. The Hippocratic ethos of
serving exclusively 'for the patient's good' still is valid. But new scenarios of expert-lay
interaction in prediction, prevention, and intervention, mark a Copernican turn away from
beneficient physician's ethics towards intertwined maxims, principles, and virtues of expert and
lay health care ethics of communication-in-trust and cooperation-in-trust.
ZUSAMMENFASSUNG: Neue technische Möglichkeiten und neue ethische
Herausforderungen der klinischen Medizin verlangen nach dem Ausmessen neuer Parameter der
klinischen Ethik jenseits von Hippokrates. Gleichzeitig behält das hippokratische Ethos, nur 'im
besten Interesse des Patienten' zu handeln, nach wie vor seine Gültigkeit. Die neuen Szenarien
von Prädiktion, Prävention und Intensivintervention verlangen aber eine kopernikanische Wende
weg von der paternalistischen Arztethik hin zu vernetzten Katalogen von Maximen, Prinzipien
und Tugenden einer Gesundheitsethik für Laien und heilberuflich Tätige in
Verantwortungspartnerschaft.
Hans-Martin Sass, Professor für Philosophie, ist Mitglied des Zentrums für Medizinische Ethik
an der Ruhr Universität Bochum und Senior Research Fellow und Direktor des European
Professional Ethics Program am Kennedy Institute of Ethics der Georgetown University in
Washington, DC.
ISBN 3-927855-70-7
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Heft 92
HIPPOKRATISCHES ETHOS UND NACHHIPPOKRATISCHE ETHIK
Hans-Martin Sass
Juni 1994
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Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass, Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum und
Zentrum für Medizinische Ethik an der Ruhr-Universität, ist Senior Research Scholar und
Direktor des European Professional Ethics Program am Kennedy Institute of Ethics an der
Georgetown University, DC.
Herausgeber:
Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass
Prof. Dr. med. Herbert Viefhues
Prof. Dr. med. Michael Zenz
Zentrum für Medizinische Ethik Bochum
Ruhr-Universität
Gebäude GA 3/53
44780 Bochum
TEL (0234) 32-22750/49
FAX +49 234 3214 – 598 / 088
Email: [email protected]
Internet: http://www.ruhr-uni-bochum.de/zme/
Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des
ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren
verantwortet.
Schutzgebühr: DM 10,Bankverbindung:
Sparkasse Bochum
Kto.Nr. 133.189.035
BLZ: 430 500 01
ISBN 3-927855-70-7
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