Blaue Juwelen Stängelloser Enzian (Gentiana acaulis) Garten NATUR Enziane sind nicht nur ausgesprochene Bergblumen, sondern vor allem echte Weltenbürger. Sie wachsen auf allen Kontinenten. Als Heilpflanzen sind sie ebenso beliebt wie als Schnaps. Text und Fotos: Wolfgang Langer, Herbert Sauerbier E s sind vor allem die azurblauen Blütenbecher der Enziane, die Wanderer faszinieren. Neben den vielen abgestuften Blautönen blühen aber auch Arten in lebendig leuchtenden gelben und roten Farben. Enzianblüten öffnen sich nur, wenn die Sonne scheint. Sobald Wolken die Sonne verdecken und es kühler wird, schliessen sich die Blüten. Wegen ihrer prächtigen Blüten, aber auch wegen der als Heilmittel geschätzten Wurzeln, sind die Enziane stark gefährdet. Die meisten Arten wurden darum in den Alpenländern unter Schutz gestellt. Ein königlicher Name derAlpen Die Enziane haben im 18. Jahrhundert vom berühmten schwedischen Botaniker Linné den lateinischen Gattungsnamen Gentiana erhalten. Dieser Name findet sich bereits im 1. Jahrhundert beim römischen Schriftsteller und Gelehrten Plinius dem Älteren und beim griechischen Arzt Dioskurides, der mit den römischen Kriegsheeren viele Länder bereiste. Dabei erwarb er grosses Wissen auf dem Gebiet der Kräuterkunde. In seinem Werk «De materia medica» schrieb er die damals gebräuchlichen Arzneimittel auf. Bis Anfang des 18. Jahrhunderts galt er als angesehene Kapazität auf dem Gebiet der Botanik und der Arzneimittelkunde. Beide Gelehrte geben an, den Namen Gentiana nicht selbst geprägt zu haben. Sie verweisen auf den Illyrerkönig Gentius, der den Gelben Enzian im 2. Jahrhundert vor Christus entdeckt und medizinisch angewendet haben soll. Ihm zu Ehren erfolgte die Namensgebung. Natürlich | 5-2006 17 Triglav- oder Schleicher-Enzian (Gentiana terglouensis) Schwalbenwurz-Enzian (Gentiana asclepiadea) Ein Schnaps – und eine Magenarznei In der Volksheilkunde wurde vor allem der Gelbe Enzian zum Lindern und Heilen vieler Gebrechen des Alltages benutzt. Er zählt zu den ältesten bekannten Heilpflanzen und wird bis auf den heutigen Tag geschätzt. Im Kräuterbuch aus dem Jahr 1731 von D. Jakobi Theodori Tabernaemontani ist das Wissen über Arzneipflanzen aus den letzten 2000 Jahren zusammengetragen und in deutscher Sprache niedergeschrieben worden. Hier werden auch Plinius und Dioskurides betreffend ihr Wissen um die Kraft der Gelben Enzianwurzel zitiert: «Plinius schreibet, sie seye dem Magen und der Leber gut», heisst es da. Und: «Dioskurides schreibet, sie seye gut wider der Schlangen Biss. Sie ziehe auch etwas zusammen.» Heute verwendet man die Wurzel aufgrund des Gehalts an Bitterstoffen als Magentonikum bei Appetitlosigkeit und mangelnder Magensaftsekretion. Ausserdem stellt man aus der Wurzel des Gelben Enzians den berühmten Enzianschnaps her. Beim Sammeln der rübenartigen, bis ein Meter langen Wurzel vor der Blütezeit 18 Natürlich | 5-2006 Karawanken-Enzian (Gentiana froelichii) ist jedoch Vorsicht geboten. Der Gelbe Enzian darf nicht mit dem giftigen, Alkaloide enthaltenden Weissen Germer (Veratrum album) verwechselt werden, da es sonst zu lebensgefährlichen Vergiftungen kommen kann. Beide Arten sind gut zu unterscheiden: Der Weisse Germer besitzt wechselständige Blätter, die auf der Unterseite behaart sind, der Gelbe Enzian trägt wie alle Enziane gegenständige Blätter. Vielfältige Blütenformen Zur leichteren Unterscheidung werden die Enziane in Gruppen nach ihrem Wuchs und der Form der Blüte eingeteilt. • Grosse, blaue Blütenglocken: Am bekanntesten sind die azurblauen Blütenglocken des Stängellosen Enzians (Gentiana acaulis). Sein Verbreitungsgebiet erstreckt sich von den Pyrenäen über die Alpen bis zu den Karpaten. Die lateinische Bezeichnung Gentiana acaulis geht auf den schwedischen Botaniker Carl von Linné zurück, der Ende des 18. Jahrhunderts alle Pflanzen in ein System einzuordnen versuchte. Die Artbezeichnung leitet sich vom griechischen «acaulon» ab, was «stängellos» bedeutet. Lange Zeit behielt der Name seine Gültigkeit, bis man feine Unterschiede zwischen den grossglockigen Enzianen erkannte. Man stellte fest, dass die Kronröhren der Pflanzen, die auf silikathaltigen Böden wachsen, auf der Innenseite dunkelviolettblaue Punktreihen aufweisen. Pflanzen ohne diese Punkte kommen nur auf Kalkböden vor. Dies ist der seltenere Clusius-Enzian (Gentiana clusii), der auch schmalere und spitzere Laubblätter besitzt. Heute kennen wir in den Alpen sechs Enzianarten, die sehr nahe verwandt sind mit dem Stängellosen Enzian. Nur in den Westalpen, den Pyrenäen und in den Cevennen tritt der Schmalblättrige Enzian (Gentiana angustifolia) auf, der AlpenEnzian (Gentiana alpina) besitzt sein Hauptverbreitungsgebiet in der Sierra Nevada, in den Pyrenäen und in den Penninischen und in den Tessiner Alpen. Der Ligurische Enzian (Gentiana ligustica) kommt nur in den Seealpen und in den Ligurischen Alpen vor. Der KarawankenEnzian (Gentiana froelichii) ist in den Südostalpen heimisch. Mit seinen hellblauen Blütenkronen besiedelt er steinige Matten und Geröllhalden der Karawanken, der Julischen und der Steiner Alpen. Garten NATUR Frühlings-Enzian (Gentiana verna) Ligurischer Enzian (Gentiana ligustica) • Kleine, blaue Blüten: In den Alpen weit verbreitet ist der Frühlings-Enzian (Gentiana verna), auch Schusternägele genannt. Er wächst vor allem in der subalpinen Stufe. Bereits im Herbst legt der Frühlings-Enzian seine Blütenknospen an. Sobald der Bergfrühling einsetzt und der Schnee schmilzt, entfaltet der Frühlings-Enzian seine azurblauen Blütensterne. Die Blütenkrone besteht aus fünf sternförmig ausgebreiteten, tiefblauen Blütenblättern, die an der Basis eine schmale Röhre bilden und von fünf geflügelten Kelchblättern umhüllt werden. Zahlreiche ähnliche, mit dem Frühlings-Enzian nahe verwandte Arten kommen in den Alpen vor. Sie haben sich wahrscheinlich aus einer Urform entwickelt. Der Kurzblättrige Enzian (Gentiana brachyphylla) besitzt breitovale Laubblätter, eine sehr schmale Kronröhre und einen ungeflügelten Kelch. Er besiedelt überwiegend kalkarme Böden in Höhen von über 2000 Metern. Der Schleicher-Enzian (Gentiana schleicheri) und der Triglav-Enzian (Gentiana terglouensis) sehen sich so ähnlich, dass sie in manchen früheren Floren als Unterarten geführt wurden. Gelber Enzian (Gentiana lutea) Beide Arten bilden Polster aus blühenden und nicht blühenden Trieben. Die Blätter sind dachziegelartig übereinander angeordnet. Kalkhaltiges Gestein ist der bevorzugte Untergrund beider Arten. Eine ganz besondere Rarität unter den blau blühenden Enzianen ist der Niederliegende Enzian (Gentiana prostrata). Er findet sich nur bei strahlendem Sonnenschein, denn die äusserst kleinen Pflanzen – sie werden nur zwei bis fünf Zentimeter hoch – sind nur bei geöffneten Blüten zu entdecken. Seine Hauptverbreitung in den Alpen liegt im Gebiet der Hohen Tauern. Im Averstal im Kanton Graubünden hat die Art ihre Westgrenze. • Niedriger Wuchs und mehrere Blüten: Zu dieser Gruppe von Enzianen zählen der Aufgeblasene Enzian (Gentiana utriculosa) und der Schnee-Enzian (Gentiana nivalis). Der Schnee-Enzian ist eine typische Hochgebirgspflanze, die bis auf 3000 Meter Höhe hinauklettert. Mit ihren ausserordentlich kleinen, strahlend blauen Blüten sieht sie wie ein kleiner Blumenstrauss aus. Diese Blüten Enziane sind Weltenbürger Nahezu 500 Enzian-Arten sind weltweit besiedeln sie bevorzugt Höhen zwischen 2000 bekannt. Sie haben sämtliche Kontinente be- bis 3500 Metern. Einige wenige sind auch in siedelt. Besonders gehäuft kommen sie in tieferen Lagen anzutreffen. So wachsen in der den Gebirgen Zentralasiens, den Anden Süd- Ebene bis zur subalpinen Stufe beispielsweise amerikas, im Süden Australiens, auf Neusee- der Lungen-Enzian (Gentiana pneumonanthe), land sowie in Europa vor. Über 30 verschie- und in feuchten und kalkreichen Wiesen, in dene Enzian-Arten wachsen in den Alpen. Flachmooren und an Waldrändern der Kreuz- Viele Enzian-Arten sind Hochgebirgspflanzen. Enzian (Gentiana cruciata). Der Deutsche Sie wachsen im Himalaja am Mount Everest in Enzian (Gentiana germanica) besiedelt Höhen von über 5000 Metern. In den Alpen sonnige Halbtrockenrasen. Natürlich | 5-2006 19 Büschel- oder Reichästiger Enzian (Gentianella ramosa) Getüpfelter Enzian (Gentiana punctata) Schnee-Enzian (Gentiana nivalis) reagieren sehr empfindlich auf Temperaturschwankungen. Ist es zu kalt und wird die wärmende Sonne durch eine Wolke verdeckt, schliesst der Schnee-Enzian innerhalb weniger Minuten seine Blüten. Dann ist er fast unsichtbar. Man sagt, der SchneeEnzian besitze die beweglichsten Blüten aller Alpenpflanzen. • Hoher Wuchs mit vielen Blüten: Neben den kleinen, blaurötlich oder violett blühenden Enzianarten finden wir auch hochwüchsige, bis ein Meter grosse Enziane in verschiedenen Farben. So bringen der Punktierte Enzian und der Gelbe Enzian gelbe Blüten hervor. Der PurpurEnzian und der Pannonische Enzian öffnen ihre Blüten in rötlicher Farbe und der Schwalbenwurz-Enzian erfreut uns mit seinen dunkelblau leuchtenden Blüten. Der Gelbe Enzian (Gentiana lutea) bildet in den ersten Jahren nur Grundblätter in einer Rosette aus. Die Blätter sind grau- bis blaugrün und elliptisch geformt. Auf der Unterseite treten die Nerven stark hervor. Hat sich mit den Jahren eine starke, dicke Pfahlwurzel mit reichlich Nährstoffen entwickelt, so treibt die Pflanze einen Blütenstängel, der über einen Meter hoch werden kann. An seinem kräftigen Stängel sind die breit elliptischen Blätter gegenständig angeordnet. In den oberen Blattachseln sitzen quirlig in Horsten angeordnet die zahlreichen goldgelben Blüten. Anders als bei den meisten Enzianarten sind die Kronblätter nur am Grund verwachsen. Der Punktierte Enzian (Gentiana punctata) ist in den Alpen weit verbreitet, kommt aber auch ausserhalb der Alpen in den Karpaten und auf dem Balkan vor. Die stattliche Pflanze wird über einen halben Meter hoch. Die hellgelben, schwarzbraun oder dunkelviolett getüpfelten Blütenglocken stehen aufrecht in Büscheln in den obersten Blattachseln des Stängels. Erst im Spätsommer entfaltet der Schwalbenwurz-Enzian (Gentiana asclepiadea) seine azurblauen Blütenglocken. Er wächst auf kalkreichen Böden der subalpinen Stufe. Seine Verbreitung ist Garten NATUR nicht auf die Alpen beschränkt. Er kommt in den meisten Gebirgszügen Europas vor. Der Schwalbenwurz-Enzian besitzt kräftige, bis 60 Zentimeter hohe, aufrechte und bisweilen überhängende Stängel, die dicht beblättert sind. Die gegenständigen Laubblätter sind zugespitzt und ganzrandig. In den oberen Blattachseln stehen zahlreiche blaue glockenförmige Blüten. Auffallend ist, dass die Blütenkronen sehr oft Bissspuren etwas oberhalb des Kelchs aufweisen. Diese stammen von Hummeln, die den Nektar stehlen, ohne die Blüten zu bestäuben. • Blüten mit bärtigem Schlund: Zu den Enzianen zählt auch die Gattung Gentianella mit meist violetten, selten blauen Blüten. Im Gegensatz zur Gattung Gentiana besitzt sie einen Kranz von Schlundfransen im Zentrum der Blütensterne. Stellvertretend für diese Gattung stellen wir den Büschel-Enzian (Gentianella ramosa) und den Zarten Enzian (Gentianella tenella) vor. Der meist buschig verzweigte BüschelEnzian (Gentianella ramosa) ist ein Alpenendemit, dessen Areal vom Piemont über die Walliser Alpen bis nach Südtirol reicht. Das Vorkommen ist auf Urgestein beschränkt. Die hellvioletten Blütenglocken sind verhältnismässig klein, sie werden selten bis zwei Zentimeter lang. Der Zarte Enzian (Gentianella tenella) ist ein kleines Pflänzchen, welches leicht übersehen wird. Es wächst auf kurzrasigen Weiden und in Krummholzgebüschen. Die Art kommt in vielen europäischen Gebirgen ebenso vor wie in Nordamerika, in Zentralasien und Sibirien. ■ Infobox Informationen über Enzian und Bezugsquellen von Saatgut und Jungpflanzen • Wyss Samen und Pflanzen, 4528 Zuchwil, Telefon 032 686 68 68, www.samen.ch • Gärtnerei Eschmann Jakob, Alpenpflanzen, 6032 Emmen, Telefon 041 260 64 73 Buchtipps • Aeschimann: «Flora alpina», Hauptverlag 2004, ISBN: 3-258-06600-0, Fr. 286.– • «Alpenblumen bestimmen leicht gemacht», Verlag Gräfe und Unzer 2003, ISBN: 3-7742-5691-8, Fr. 9.10 Internet • www.ardez.ch/pflanzen/ind_pflanzen.htm Natürlich | 5-2006 21