Roter Riese auf St. Pauli

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domus 08 Juli / August 2014
88 Projekte
Renner Hainke Wirth
Roter Riese auf St. Pauli
Wie ein großer Tanker mit erhöhtem Bug ist das Entertainmenthaus in Hamburgs Vergnügungsviertel gestrandet. Hinter der
roten Glasfassade des Neubaus von Renner Hainke Wirth werden
Bordshows für Kreuzfahrtschiffe produziert und ein Gründerzentrum
stellt günstige Flächen für Start-ups bereit. Fällt der Protest
gegen die Gentrifizierung des Viertels oftmals radikal aus, so blieb er
bei diesem Projekt aus. Till Briegleb erläutert die Gründe dafür.
Text Till Briegleb
Fotos Klaus Frahm, Jochen Stüber
Quartiersentwicklung auf dem Kiez
Karin Renner ist das selbst ein Rätsel. Die
projektleitende Architektin von Renner Hainke
Wirth kann zwar zahlreiche Aspekte nennen,
die zu dem friedlichen Ablauf beigetragen
haben mögen. Etwa die Kombination der
Show-Manufaktur mit einem Gründertrakt
auf der Rückseite, wo junge Start-ups aus
St. Pauli für 8 Euro Miete pro Quadratmeter
ausprobieren können, wie man mit Mode,
Film oder Musik Geld verdient. Oder die
Einbindung des Neubaus in eine Quartiersentwicklung auf dem Gelände einer – von
Gustav Oelsner entworfenen – ehemaligen
Schule, bei der Baugruppen und Anlieger
einbezogen wurden. Auch die perspektivische
Verkürzung könnte geholfen haben, jeden
Schrecken zu vermeiden, denn durch die
Längslage an einer engen Durchgangsstraße
wirken die enormen Dimensionen des
Gebäudes extrem gestaucht. Zudem mussten
für den roten Riesen keine Altbauten
abgerissen, sondern nur ein paar Bäume
gefällt werden – und das hat offensichtlich
niemand mitbekommen. Und schließlich, so
Renner, könnte es sehr dienlich gewesen sein,
dass Aida als Bauherr darauf verzichtet hat,
sein Logo auf das Dach zu setzen. Vermutlich
wissen die meisten Bewohner St. Paulis, die so
engagiert für den Erhalt billigen Wohnraums
und gegen den Ausverkauf des Stadtteils
an Touristen und Spekulanten protestieren,
überhaupt nicht, dass sie hier ein TourismusUnternehmen mit 16 Milliarden US-Dollar
Umsatz zum Nachbarn haben.
Nirgendwo sonst in
Deutschland wird mehr
gegen die Gentri­fizierung
demonstriert wie auf
St. Pauli in Hamburg.
Beim neuen Entertain­
menthaus jedoch blieb
der Protest gänzlich
aus. Der geschwungene
Riegel schirmt das
angren­zende Pesta­­
lozzi­­viertel vom Vergnü­
gungstrubel auf dem
Kiez ab.
Ein großer Gebäudekopf
kragt im Osten über
die Kreuzung zwischen
Großer Freiheit und
Simon-von-UtrechtStraße. Wie ein
Schaufenster zieht der
10 Meter hohe Probe­
raum für die Akrobaten
und Artisten des
Kreuzfahrt­unternehmens
Aida die Blicke der
Passanten auf sich.
Etappen der Gentrifizierung
Tatsächlich ist das alles reine Speku­
lation, und Karin Renner weiß keine
letztlich befriedigende Antwort, wie ein so
auffälliges Gebäude von den Zeichen der
Wut verschont bleiben kann – einer Wut,
die sich zuletzt mit jedem weiteren Neubau
rund um die Reeperbahn gesteigert hat.
Denn St. Pauli er­lebt seit den 1980er-Jahren
die klassischen Gen­trifizierungsstufen
vom Einfall der Hipster in ein marodes
Quartier bis zur Ausschlachtung der schick
gewordenen Adresse durch millionenschwere
Renditeprojekte. Abgerissen werden
hier im großen Stil billiger Wohnraum
und heruntergekommene NischenImmobilien für die kreative Szene vor Ort.
Gebaut werden dagegen Hochhäuser von
Stararchitekten wie David Chipperfield und
Hadi Teherani, edle Apartmentkomplexe
und neue Unterhaltungstheater, nicht
zuletzt für die Besucherströme, die von
den Kreuzfahrtschiffen der Aida und ihres
Mutterkonzerns in den einst verruchten
Bezirk geschwemmt werden.
Heimattauglicher Operettenflair
Vielleicht haben Renner Hainke Wirth Archi­
tekten, die ihr Büro um die Ecke in einem
dieser noch lauschigen Wohnstraßen St. Paulis
haben, aber auch einfach nur den Geist des
Foto Jochen Stüber
Nur eine Bierflasche, die durchs Fenster
flog, nur ein Graffiti auf der Rückseite, nur
ab und an mal ein paar schräge Gäste von
der gegenüberliegenden Großen Freiheit, die
den Namen Entertainmenthaus St. Pauli
missverstehen – es hätte schlimmer kommen
können für Aida. Denn der große Komplex
mit seinen gedeckten Rotlichtfarben, in dem
der deutsche Ableger des Weltmarktführers
für Kreuzfahrten seine Bordshows produziert,
steht in einem politisch hochsensiblen
Gebiet. Es gibt wohl kaum ein Stadtviertel
in Deutschland, in dem mehr gegen Gentri­
fizierung und Aufwertung demonstriert wird
wie in St. Pauli. Und trotzdem hat sich bis
jetzt eigentlich niemand an dem auffälligen
Gebäude und seinem Hauptmieter gestoßen.
Wie kann das sein?
domus 08 Juli / August 2014
Foto Klaus Frahm
Renner Hainke Wirth Architekten 91
Foto Klaus Frahm
Linke Seite: Die Rottöne
der Glasfassade nehmen
die Farben der um­
liegen­den historischen
Back­steinhäuser auf. Die
Flächen im Inneren des
Gebäudes werden von
Aida Enter­tainment und
einem Gründerzentrum
genutzt. Tanz, Kostüm­bild
und Musik sollten auch
in der Architektur ihren
Ausdruck finden.
Oben: Mit einer
räumlichen Schwingung
fügt sich der sechsge­schossige Baukörper
samt seinen auskragen­den oberen Etagen
gut ins Straßenbild.
Das Farbmuster
der Fassade lockert
das lang gestreckte
Gebäudevolumen auf.
Viertels gut erspürt. In einem Stadtteil, in
dem mittlerweile überwiegend Kreativberufler
leben, wird sich an einem originellen Gebäude
möglicherweise kein Streit mehr entzünden.
Und mit Extravaganzen wie dem gläsernen
Farbgewebe aus Rot, Rosa, Orange und Sand,
mit dem die Architekten die komplette Fassade
überzogen haben, wird man in Sichtweite
von Tabledance, Federboas, Separees und
bengalischem Licht sowieso nicht zum
Aufreger. Das Operettenhafte dieses Tankers
für Fließbandunterhaltung, das sich auch in
den verrenkten Auskragungen verschiedener
Bauteile zeigt, ist mitten an der Großen
Freiheit eindeutig heimattauglich.
Ahnlich wie viele dekorierte Schuppen des
Amüsierquartiers trägt das Entertain­menthaus
seine Seele auf der Haut. Die Webstruktur der
gläsernen Farbbänder zeigt eine künstlerische
Vergrößerung der Textilarbeit, die in der
riesigen Kostüm­abteilung im Inneren
geleistet wird. Das Tankerhafte, mit dem
sich das Gebäude durch seine Bugerhöhung
in den Stadtraum schiebt, wird in seiner
Schiffsmetaphorik zwar durch Knicke und
Verschiebungen irritiert. Gemeint ist damit
aber keinesfalls eine Havarie, sondern –
stadträumlich angelehnt an die geschwungene
Straßenführung an dieser Stelle – ein Abbild
von Tanz und Akrobatik, die drinnen inszeniert
werden. Und als ganz praktische Öffnung wird
diese Unterhaltungsarbeit mit dem riesigen
Schaufenster publik, durch das die zehn Meter
hohe Akrobatikbühne einsehbar ist.
Trotzdem führt dieser glamouröse Auftritt im
vierten Stock, für den eine große Gebäudebox
in den Straßenraum hinein verrückt wurde,
nicht dazu, dass sich hier Neugierige vor
dem Haus versammeln. Und das liegt
sicher nicht nur daran, dass an dieser Stelle
vornehmlich Autos und Betrunkene verkehren.
Tatsächlich sind vor allem abends, wenn das
Gebäude und seine Hauptbühne von innen
strahlen, die Vorhänge meist zugezogen.
Offensichtlich halten die Verantwortlichen
ihren Showroom an diesem Ort nicht wirklich
für showtauglich – oder sie fürchten, dass
so viel Präsentierteller dann doch ein
wenig politisches Geschirr zerschlägt, mit
unmittelbaren Folgen für die Glasscheiben im
Erdgeschoss, wo zwei weitere Probebühnen
(von außen nicht ersichtlich) untergebracht
sind.
Schallschutzwand im Erlebnistrubel
Dabei funktioniert die äußere Tarnung des
Ge­bäudes als Bestandteil eines Unterhal­
tungsstandorts doch, wie der Mangel an
ag­gressiven Reaktionen zeigt. Innen dagegen
ist das Entertainmenthaus eher nüchtern
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Renner Hainke Wirth Architekten 93
Foto Jochen Stüber
und unspektakulär organisiert. Längs eines
zentralen Flurs reihen sich die Arbeitsboxen.
Eine vierte Probebühne auf dem Dach besticht
immerhin durch das Stadtpanorama hinter
den Fensterwänden. Ansonsten besteht das
Labor für rund 100 Bordshows trotz einiger
ge­knickter Flurachsen vorrangig aus sauberen,
weißen Kisten von serieller Funktionalität.
Lediglich ein paar farbige Linoleumstreifen
auf den Fluren und gläserne Frontpaneele im
Eingangsbereich sind übrig von dem Wunsch
der Architekten, ihr Farbkonzept nach innen zu
verlängern. Aber wenn man die extrem bun­te
Vielfalt der Materialien sieht, die das Bild in
den Arbeitsräumen und Fluren bestimmen,
dann ist der kleine Kompromiss, den Renner
Hainke Wirth mit den Wünschen der Nutzer
nach Neutralität eingegangen sind, die definitv
richtige Entscheidung. Noch mehr Buntheit
wäre psychedelisch.
Als Gelenkstelle zwischen dem Halali in
St. Pauli Süd und dem kleinteiligen Wohn­
quartier im Rücken des Gebäudes erfüllt der
Rote Riegel noch eine wichtige stadtakustische
Funktion als Schallschutzwand. Das vormals
von Lärm geflutete Pestalozzi-Quartier, das
sich hinter dem Entertainmenthaus verbirgt,
ist plötzlich eine stille Oase im Erlebnistrubel – und wird nun als durchaus attraktive
Wohnlage mit unterschiedlichsten Formaten
von Reihenhaus bis Genossenschaftswohnung
nach einem städtebaulichen Entwurf von
Renner Hainke Wirth verdichtet. Vielleicht
ist es also einfach stille Dankbarkeit für diese
schützende Geste, weswegen St. Pauli das
Haus auf seine Art willkommen heißt: Nicht
beworfen ist wie gelobt.
Foto Klaus Frahm
Foto Renner Hainke Wirth Architekten
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Foto Jochen Stüber
Foto Jochen Stüber
trakt befindet sich ein
Gründerzentrum.
Oben: Die Glasfassade
entwickelten die Archi­
tekten als Textur aus
unterschiedlichen Rot-,
Pink- und Orangetönen.
Die Farben sollen einen
thematischen Bezug
zur Kostümwerkstatt
herstellen, die das Haus
ebenfalls beherbergt.
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Fassandendetail
Linke Seite: In den
Innenräumen proben
Artisten und Akrobaten.
Für die Produktion der
Unter­haltungsprogramme
der Aida stehen
unter anderem
drei Tanzprobesäle
und eine 10 Meter
hohe Artistenbühne
zur Verfügung. Im
rückwärtigen Gebäu­de­
8
1 Thermische Trennung
2Bautoleranzen
3Stahlblechzange
4 Folie dampfdicht
5Anschlusswinkel Aluminum geklebt
6 Weißes Vlies
7Aluminiumblech
0
8Flachstahl
9Hinterlüftung
10Trennlage
11Innen-Fensterbank
12 Zu- bzw. Abluftgerät
13 Zu- bzw. Abluftöffnung
14 Bezugsmaß Achse – Fuge
10 cm
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Oben links: Die Längsseite des Gebäudes
an der Simon-vonUtrecht-Straße wird
durch das Muster der
roten Glasfassade und
die Schwingung des
Volumens aufgelockert.
Oben rechts: Von
der Großen Freiheit
aus fügt sich das
Entertainmenthaus mit
seinem auskragenden
Schaufenster wie
eine operettenhafte
Attraktion ins Straßenbild des früher als
verrucht geltenden
Vergnügungsviertels.
Foto Klaus Frahm
Foto Klaus Frahm
Entertainmenthaus auf St. Pauli, Hamburg
Architektur
Renner Hainke Wirth Architekten
Projektleitung
Melanie Zirn
Mitarbeiter
Tim Lüneburg, Rachel Calladine, Christina Härtner,
Verena Grapatin
Bauherr
AUG. Prien, Immobilien PE Große Freiheit
Projektentwickler und Generalübernehmer
AUG. Prien Immobilien, Gesellschaft für
Projektentwicklung
Haustechnik
RMN Ingenieure
Fassadenplanung
Ingenieurbüro Lange
Tragwerksplanung
Wetzel & von Seht
Bauphysik
Taubert und Ruhe
Bauzeit
2. Quartal 2012 bis 4. Quartal 2013
Investitionsvolumen
ca. 20 Millionen Euro
Außenanlagen
Breimann & Bruun
Glasfassade/Fenster
Boetker
Fassadengläser
Flachglas Wernberg
WDVS Fassade
Alsecco
Stahlblechtüren
Hörmann
Sektionaltor
Teckentrup
Fliesen
Villeroy & Boch, Rak Ceramics, NordCeram
Teppich
Carpet Concept
Linoleum
Forbo Flooring
Aufzüge
Kone
Sauberlaufmatte
Emco
Lageplan
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Grundriss DRITTES obergeschoss
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7
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7
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Grundriss ERSTES Obergeschoss
Längsschnitt
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7
1
7
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1Costume Operation
2 Costume Production
3 Maske
4 Technik
5 Musik /Regie
6 Gründerzentrum
7 Proberäume /Umkleiden
Querschnitte
Grundriss ERdgeschoss
0
0
25 M
30 M
7
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