17. D E Z E M B E R 2 0 1 4 D I E Z E I T No 5 2 GLAUBEN & ZWEIFELN 58 Fotos von oben nach unten: EPA/dpa; Reuters (3); Stanislav Jenis/dpa (kleines Bild links) Thema Islamismus: Die Geiselnahme von Sydney DIE ZEIT: Herr Aslan, seit Montag Indonesien, Malaysia. Wir liberalen Theologen kennen wir alle das muslimische hatten auf die Türkei gehofft, aber dort gibt es Glaubensbekenntnis, weil ein Geisel- jetzt eine rasante »Salafisierung«, eine Rückwärtsnehmer in Australien seine Geiseln entwicklung im Verständnis des Islams. zwang, es den Kameras zu präsentie- ZEIT: Und in Westeuropa? Sie selber lehren in ren. In arabischer Schrift stand da: »Es gibt keinen Wien, ihr liberaler Kollege Khorchide lehrt in Gott außer Gott. Und Mohammed ist sein Gesand- Münster. Deutschland richtet wie Frankreich ter.« Die australischen Imame haben sich sofort von Lehrstühle ein. Sind die alle reaktionär? der Tat distanziert. War das nötig? Aslan: Nein, aber in Frankreich hat die MuslimEdnan Aslan: Es war nötig und trotzdem falsch. bruderschaft sofort ein Institut als Alternative zur Welcher Muslim würde sich nicht von einem sol- universitären Islamwissenschaft etabliert. Und in chen Gewaltakt distanzieren? Eigentlich müssten Großbritannien ist die Dschamaa al-Islamija in der wir uns von den religiösen Inhalten distanzieren, Lehre stark. Diese Kräfte versuchen, eine Theologie auf die gewaltbereite Muslime sich berufen. Wenn durchzusetzen, die Fragen an Gott quasi verbietet. wir ehrlich wären, würden wir zugeben, dass wir im Dadurch wird der Zugang zum Koran blockiert. Islam seit Jahrhunderten solche Inhalte lehren. ZEIT: Bitte ein Beispiel. ZEIT: Welche meinen Sie? Aslan: Der sunnitische Islam hat vier RechtsschuAslan: Dass Allah Gewalt nicht nur rechtfertigt, len. Drei sagen: Wer als Muslim nicht betet, muss sondern will. Nicht wenige Imame bringen unser getötet werden. Eine sagt: Auspeitschen genügt. Glaubensbekenntnis bewusst oder unbewusst mit ZEIT: Das ist für Muslime in Westeuropa doch Aggression in Verbindung, mit Folter, Vergewalti- nicht verbindlich. gung, Auspeitschen, Töten. Seit dem 15. Jahrhun- Aslan: Aber diese Gewalt wird gepredigt! Darauf dert hat sich eine Theologie der Gewalt durchge- kommt es an. Dass du in der Moschee hörst: Beten setzt, und seit dem 17. Jahrhundert ist sie zur Norm ist ganz wichtig, so wichtig, dass, wenn du es nicht erstarrt: Das Schwert wird als Teil unseres Glaubens tust, wir dich eigentlich töten müssten. – Entscheigesehen. Wir Muslime distanzieren uns heute vom dend ist nicht, ob diese Strafe tatsächlich verhängt »Islamischen Staat«, aber solange wir uns von der wird, sondern dass »ungehorsame« Muslime dendazugehörigen Theologie nicht distanzieren, ma- ken, sie müssten bestraft werden. Wir Theologen chen wir uns unglaubwürdig. Warum warten wir sollten solche Aussagen der Rechtsschulen als hisimmer erst auf eine Gewalttat, bevor wir unsere torisch überholt kategorisieren und sie durch ein Stimme erheben? aufgeklärtes Islamverständnis ersetzen. ZEIT: Aber die meisten Muslime würden doch die ZEIT: Viele Muslime leiden selber unter dem KonGewalttheologie, von der Sie sprechen, ablehnen. servatismus ihrer Prediger. Aslan: Die Mehrheit weiß gar nicht, dass es nötig Aslan: Das ist unsere Chance, etwas zu ändern. Aber ist, sich von dieser Lehre zu distanzieren. Sie wird es ist schwer. Denn die breite Mehrheit der Musliaber überall gelehrt, von Saudi-Arabien über den me, die sich mit ihrem Glauben identifiziert, muss Irak und Ägypten bis nach Europa. in der Moschee momentan Lehrsätze bejahen, die ZEIT: Ich möchte trotzdem fragen, ob etwa libera- sie seelisch gar nicht ertragen kann. Natürlich wolle christliche Theologen sich vom fundamentalis­ len wir friedlich leben. Aber wir sind aufgefordert zum Kampf für den Islam. So funktioniert die seetischen Christentum distanzieren müssen. Aslan: Natürlich. Das tun viele christliche Kollegen lische Gewalt innerhalb des heutigen Islams. ja auch, indem sie eben eine andere Theologie leh- ZEIT: Die Muslime geraten in Gewissenskonflikt? ren. Aber das ist für mich nicht die Frage. Ich bin Aslan: Sie entwickeln ein gespaltenes Bewusstsein. Islamwissenschaftler, also für Islam und Islamkritik Warum wird in Ländern wie Saudi-Arabien, wo die zuständig. Wir werden das Gewaltproblem nicht Gewalttheologie omnipräsent ist, zugleich so viel lösen, wenn wir dauernd aufrechnen, welche Religi- Porno und Prostitution konsumiert? Weil die Geon wie viele Tote zu verantworten hat. Es geht da- walttheologie den lebendigen Geist der Religiosität rum, was jetzt geschieht, innerhalb meiner eigenen tötet und Schizophrenie erzeugt. Religion. Die saudische Flagge zum ZEIT: Was kann man dagegen tun? Beispiel ist ein gutes Bild für das, Aslan: Ich weiß es nicht. Zunächst was sich in der Theologie durchgeeinmal zugeben, was an den Unisetzt hat: die Gottesbotschaft in versitäten gelehrt und in den MoKombination mit den gekreuzten scheen gepredigt wird. Dort wird Schwertern. die Unzufriedenheit mit der Moderne geschürt. Das Beste für eiZEIT: Seit dem 11. September nen Muslim sei eine muslimische 2001 erleben wir einen sinnlosen Umgebung. Viele Imame begeisStreit darüber, ob der Islam nun Ednan Aslan stammt aus tern junge Leute für eine rein musSchwertreligion oder Friedensreligi- der Türkei und lehrt limische Gesellschaft. Es ist ein Eron sei. Wir wissen seit Lessing: Es Religionspädagogik an lösungsversprechen für das Dieskommt immer darauf an, was man der Universität Wien seits. Wir sollen alle Menschen zum aus dem Glauben macht. Genauer gesagt: ob man mit der irrtumsimmunen Prämis- Islam einladen, aber wenn sie der Einladung nicht se, es gebe nur einen Gott, tolerant umgehen kann. folgen, müssen sie die Konsequenzen tragen. Die Der Geiselnehmer erweckt nun den Eindruck, Imame reden uns ein: Gott will, dass ihr seine sein Gott sei ein Gott der Gewalt. Was halten Sie Macht demonstriert! dagegen? ZEIT: Sie meinen also, Sydney ist kein MissverAslan: Der Geiselnehmer will sich zunächst mal ständnis eines einzelnen Verrückten? auf eine höhere Instanz berufen. Indem er sich auf Aslan: Er mag ein Einzeltäter sein. Und die Mehrdas Glaubensbekenntnis bezieht, behauptet er, er heit der Muslime ist friedlich. Aber jede Menge sei das Werkzeug Gottes. Seine Tat habe keine ir- Imame betrachten Religiösität ohne Machtansprüdischen Zwecke. Und er fordert symbolisch alle che als unvollständig, das verursacht Minderweranderen Muslime auf, es ihm gleichzutun. tigkeitskomplexe unter den jungen Menschen und ZEIT: Ist es nicht auch ein symbolischer Akt, wenn animiert sie dazu, Stärke zu beweisen, Macht zu der australische Großmufti darauf ablehnend rea- ergreifen, Menschen zu quälen. Das ist, psychologiert? Bis zum Montagabend protestierten Dut- gisch gesehen, der Ausbruch aus der vermeint­ lichen Unterdrückung und zugleich die Befreiung zende muslimische Organisationen. Aslan: Als ich den gestrengen Großmufti im Fern­ von einem religiösen Zwang, indem man ihm sehen gesehen habe und dazu die befreiten Geiseln, folgt. Sieh her, Gott, jetzt tue ich, was du dauernd dachte ich: typisch. Die Muslime erscheinen, ob sie von mir forderst. Ich opfere. Das gehört zur Verwollen oder nicht, als Gefahr für die Menschheit. geltungsmentalität. Auge um Auge. Aber darüber möchte ich gar nicht klagen, denn es ZEIT: Wie im Alten Testament. ist gefährlich für uns Muslime, wenn wir uns als Aslan: Ja, aber das ist mir egal, mir geht es um den Opfer der Medien sehen. Diese Opferrolle, wir sei- Islam. Männer wie der Geiselnehmer haben es nicht en vom Westen unterdrückt, wird auch in den Mo- auf bestimmte Feinde abgesehen, sondern es geht scheen vermittelt. Wir müssen uns davon befreien, ihnen um die Rache an sich. Das Opfer ist nur das um zu einer vernünftigen Analyse dessen zu kom- Zeichen ihrer Rache. Der Beweis: Wir sind stark! men, was im Namen des Islams derzeit geschieht. Auch wenn wir vielleicht eure Technologie nicht haben, euren Wohlstand. Wir beherrschen euch. ZEIT: Sie meinen die Untaten des IS? Aslan: Nicht nur. Muslime werden zu Tätern auch Wir zwingen den Präsidenten Amerikas, zu reagiedort, wo sie die geistigen Grundlagen der Gewalt ren, indem wir Amerikaner enthaupten. legen, also an den Universitäten in der arabischen ZEIT: Welchen Anteil hat der Westen an diesem Welt und in den Moscheen Europas. Feindbild? ZEIT: Die Theologen sind schuld? Aslan: Ich möchte niemanden beschuldigen. Aber Aslan: Aber natürlich. Ich will es nicht allein auf fatal war, dass Europa die Präsenz der Muslime die Theologie reduzieren. Aber es genügt nicht, immer nur als vorübergehend ansah. So haben wir den Fundamentalisten entgegenzuhalten, es gebe hier dem ideologischen Import aus dem Ausland verschiedene Auslegungsmöglichkeiten des Ko- Vorschub geleistet. Wenn wir den Islam beheimarans. Wenn meine liberale Auslegung richtig ist, ten wollen, müssen wir auch den aufgeklärten Isdann kann auch die von Abu Bakr al-Bagdadi, lam unterstützen – statt Geschäfte mit primitiven dem Kalifen des IS, richtig sein. Wir muslimischen Staaten wie Saudi-Arabien zu machen. Die dürfen Theologen müssen endlich den Mut haben, zu sa- im Gegenzug Stipendien für Theologie vergeben. gen, dass bestimmte Interpretationen des Islams ZEIT: Was sagen Sie einem jungen Muslim, der falsch sind. Inakzeptabel. Das tun wir aber nicht. gegen den Westen kämpfen will? ZEIT: Warum? Aslan: Dass der Islam auf drei Säulen steht: Einheit Aslan: Weil wir seit dem 17. Jahrhundert keine le- Gottes, Gerechtigkeit und Verantwortung. Das bendige Theologie mehr haben, sondern eine heißt: Tu das Gerechte. Und achte darauf, dass du Theologie des Krieges, die geistig rückständiger ist deine Taten vor dir selbst verantworten kannst. als die des 9. Jahrhunderts. Sie setzt das Land des ZEIT: Warum sind Islamisten heute so erfolgreich? Islams (Darul Harb) gleich mit dem Land des Aslan: Weil ihre Theologie zuerst in der CommuKrieges (Darul Harb). Und sie setzt den Islam in nity wirkt, dann in der Selbstradikalisierung der Kontrast zum Unglauben. Diese Dichotomie wird Jugendlichen und dann erst als Indoktrination. von den Dschihadisten weltweit benutzt. Wer kein Die These vom Pop-Dschihadismus halte ich für Kämpfer für den Islam sein will, ist kein richtiger völligen Quatsch, weil sie die Wurzeln der RadikaMuslim und bereits auf der Seite des Gegners. lisierung ignoriert. Es gibt keine starke GegentheoZEIT: Wenn Sie sagen, dies sei die beherrschende logie. Die Theologie der Gewalt ist derzeit die Religion. Damit muss Theologie: Wo wird sie genau gelehrt? Aslan: Natürlich an der berühmtesten muslimischen Schluss sein. Universität, Al-Azhar in Kairo, aber ebenso in Medina. Im Jemen, Libanon, Iran, Irak, in Pakistan, Das Gespräch führte EVELYN FINGER Terrorist oder nur verrückt? Man Haron Monis war ein Einzeltäter mit obskurer Vorgeschichte VON YASSIN MUSHARBASH E Der Geiselnehmer Man Haron Monis wurde am Montagabend erschossen Muslimisches Glaubensbekenntnis am Fenster des Café Lindt in Sydney »Diese Gewalt wird gepredigt« Die tiefere Ursache islamistischen Terrors ist eine erstarrte Theologie. Ein Gespräch mit dem türkischen Islamwissenschaftler Ednan Aslan Gewalt oder Gegengewalt? Schiitische Kämpfer im Irak marschieren gegen den sunnitischen IS Der wahre Islam? Milizen von Ansar Dine in Mali zerstörten Monumente des Sufismus, 2012 s gab einen Moment am vergangenen Montag, da sah es aus, als habe der Terror des »Islamischen Staates« (IS) Australien erreicht. Ein 50-jähriger Mann hatte in einem Café in Sydney Dutzende Geiseln genommen. Dann zwang er eine von ihnen, eine junge Frau, eine Botschaft zu übermitteln: Der Attentäter forderte, so berichtete sie zitternd, dass ihm eine Flagge des IS gebracht werde; und er verlange ein Telefonat mit dem australischen Premierminister. Außerdem lasse er ausrichten, dass an drei weiteren Orten in Sydney Bomben bereitstünden. Bei Nichterfüllen seiner Forderungen würden sie explodieren. »Dies ist ein Angriff des ›Islamischen Staates‹ auf Australien«, ließ der Geisel­nehmer sein Opfer mitteilen. Wenige Stunden später stürmte die Polizei das Café, der Attentäter, ein iranischer Asylant namens Man Haron Monis, wurde dabei erschossen, auch zwei Geiseln kamen ums Leben. Aber Bomben hatte es zumindest keine gegeben, Mittäter wohl ebenso wenig. Die Erleichterung war entsprechend groß: keine konzertierte Terroraktion einer IS-Zelle, kein zweiter Anschlag nach dem Muster von Mumbai, wo Dschihadisten im Jahr 2008 drei Tage lang eine Millionenstadt in Angst und Schrecken versetzt hatten. Doch bedeutet dieses verhältnismäßig glimpfliche Ende wirklich, dass der Terror des IS nicht in Australien angekommen ist? Der »Islamische Staat« hat schließlich alle Gesinnungsgenossen auf der Welt schon vor Monaten aufgefordert, Ungläubige zu töten – Australien wurde dabei explizit genannt. Die Freiwilligen sollten in Eigenregie zur Tat schreiten und niemanden konsultieren. Hat Monis nicht genau das umgesetzt? Betrachtet man nur die Tat, lautet die Antwort: Ja. Bezieht man das, was wir bisher über Monis wissen, mit ein, fällt sie weniger klar aus. Monis war auf Bewährung frei, wurde der Beihilfe an einem Mord verdächtigt, wurde Medienberichten zufolge in etlichen Fällen der sexuellen Belästigung beschuldigt. Das ist seine kriminelle Vorgeschichte. Die religiösextremistische Biografie ist obskurer. So hatte er einerseits beleidigende Briefe an Familien australischer Soldaten, die in Afghanistan getötet wurden, geschrieben. Andererseits bezeichnete er sich als Antiterrorund Friedensaktivist. Zum Islamgelehrten hatte er sich offenbar selbst ernannt. Der IS ermordet Schiiten, aber Monis trat erst in diesem Monat vom schiitischen zum sunnitischen Islam über. Aktenkundig ist überdies, dass er eine Zeit lang als Wunderheiler auftrat – etwas, das Dschihadisten zutiefst ablehnen. Womöglich war Monis nicht nur gefährlich, sondern auch verwirrt. Ließe das seine Tat in einem anderen Licht erscheinen? Man könnte einwenden, dass jeder Akt dieser Art mindestens einem verwirrten, wenn nicht einem kranken Hirn entspringen muss. Trotzdem ist es womöglich bedeutsam, dass sich Anschläge mit dschihadistischer Begründung häufen, bei denen die Grenze zwischen Terrorismus und Amoklauf oder sogar jene zwischen Original und Nachahmung zu verschwimmen scheint. So war es zum Beispiel bei den Bomben zweier Brüder auf den BostonMarathon 2013, deren persönliche Krise womöglich wichtiger war als die Dschihad-­ Propaganda, die sie konsumierten. Im Oktober 2014, als ein junger Kanadier mit dschihadistischer Begründung einen Soldaten erschoss, entspann sich eine ähnliche Debatte. Sind diese Taten IS-Terrorismus? Oder belegen sie eher seine Anziehungskraft? Für den IS ist es einerlei, für uns sollte es das nicht sein. Man könnte es so sagen: Es ist Terrorismus, wenn wir es so sehen. Erkennen wir aber (vornehmlich oder wenigstens teilweise) etwas anderes darin – eine nihilistische Gewalttat, einen kriminellen Akt, eine tragische Tat eines Verwirrten, einen Mord, ein Verbrechen –, dann hat das Auswirkungen auf unser Bild vom IS. Dann bleibt der IS eine Organisation mit soundso vielen zähl­ baren Kadern und soundso vielen benenn­ baren Ressourcen. Mal gelingt es dieser Organisation, einen Attentäter zu rekrutieren – meistens aber nicht. Wenn wir uns das klarmachen, dann wird der IS nicht, auch in unseren Köpfen nicht, zu jener geheimnisvollen Macht, als die er sich selber inszeniert und der wir scheinbar nichts entgegenzusetzen haben. Der Anschlag von Sydney war tragisch und brutal. Dem »Islamischen Staat« ist es anscheinend gelungen, einen weiteren Anfälligen aus der Ferne zu einer Gewalttat zu inspirieren. Ein »Angriff des ›Islamischen Staates‹ auf Australien« war es trotzdem nicht.