Zum Begriff des Geistes in der antiken chinesischen Philosophie Werner Gabriel Universidad de Viena, Austria Wenn man sich auf die Suche nach dem Begriff des Geistes begibt, stößt man auf eine verwirrende Fülle von Bezeichnungen (z.B. griech. pneuma, logos, nous, psyche, thymos; lat. mens, spiritus, animus, anima; hebr. ruah; arab. ruh; frz. esprit, génie; engl. mind, spirit; deutsch Bewußsein, Vernunft, Seele, Geist).1 Immerhin liegt genau darin eine Übereinstimmung mit der chinesischen Tradition (z.B. shén 神, lĭ 理, hún 魂, qíng 情, xīn 心,). Diese Vielfalt ist nicht zufällig. Handelt es sich doch um das umfassendste Problem der Philosophie, nämlich das Verhältnis von Mensch und Welt. Daher ist es besser, sich mit den Grundzügen der Auffassungen dieses Verhältnisses zu befassen, und sich nicht in Worterklärungen zu verirren. Karl Rosenkranz, ein Hegelianer des 19. Jahrhunderts, schreibt: Eine hervorragende umfassende Darstellung des Geistbegriffs in der europäischen Tradition findet sich bei Francesco Moiso unter dem Stichwort „Geist“ in: Enzyklopädie Philosophie, hrsg. Von Hans Jörg Sandkühler. CD-ROM Hamburg 1999 1 393 Der Geist ist das Für-sich-sein der Idee als Idee, die sich wissende und wollende Idee, das Prius der Natur wie der Vernunft.2 Der Geist ist nur, was er tut.3 Diese im Geiste Hegels verfasste Definition enthält wesentliche Bestimmungen, die für beide Traditionen gelten können. Sie bestimmt Geist als Einheit von „allem“, im Besonderen artikuliert als Einheit von Vernunft und Natur, als Einheit des Bestimmens und des Bestimmten. Weiters ist Geist das Wissen um diese Einheit, die über die Gegenständlichkeit dieses Wissens hinausgeht. Für die chinesische Tradition ist besonders wichtig, dass Geist außerdem als Handeln und damit als Freiheit bestimmt wird. Die Vernünftigkeit des Geistes erfordert nun offensichtlich die Möglichkeit der Darstellung und Artikulation dieser Einheit, die dem Geist diese Einheit anzeigt. Diese Zeichen müssen sich daher sowohl von der Objektivität des Sich-Zeigens (Gegenstände) als auch von der Subjektivität des Zeigens (Sprache, Schrift, Schriftzeichen) unterscheiden. Diese Einheit ergibt sich aus den Strichfolgen der Trigramme und Hexagramme des "Buchs der Wandlungen 易 經", die nach bestimmten Regeln gelesen werden können und dann auch als Handlungsanleitungen dienen. In den richtigen Handlungen wird die Einheit von Vernunft und Natur gesichert. 2 3 Karl Rosenkranz. System der Wissenschaft § 564 ff. 1850. Ebend. S. 367. 394 Nicht zu übersehen ist dabei, dass der "Offenbarungsbezug", der religiöse Kontext des Orakel-wesens, wesentlich zu dieser Konstruktion gehört. Damit werden nämlich die neuen Zeichen aus ihrer bloßen Zeichenhaftigkeit herausgehoben und ihre wahre Objektivität gesichert. Als in der Urzeit Bao Hi die Welt beherrschte, da blickte er empor und betrachtete die Bilder am Himmel, blickte nieder und betrachtete die Vorgänge auf Erden. Er betrachtete die Zeichnungen der Vögel und Tiere und die Anpassungen an die Orte. Zuerst ging er von sich aus [von seinem Leib, shēn 身], dann ging er von den Dingen aus. So erfand er die acht Zeichen, um mit der Kraft der Geister in Verbindung zu kommen und aller Wesen Verhältnisse zu ordnen.4 Es scheint, dass die westliche Wissenschaft der Neuzeit vor einem ähnlichen Problem steht und es auf ähnliche Weise löst. Die Mathematik ist jene Sprache, die die vernünftige Einheit von Vernunft und Welt zur Sprache bringt. Das Buch der Natur ist in mathematischer Sprache geschrieben, und seine Zeichen sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es unmöglich ist, ein einziges Wort zu verstehen, und ohne die man vergeblich suchend durch ein dunkles Labyrinth wandert.5 4 5 I Ging Great Appendix II 2 1. Galilei Galileo, Opera IV 171. 395 Diese Möglichkeit ist zweifellos durch die alte pythagoreischplatonischen Lehre von der alles begründenden Funktion der Zahl vorbereitet worden. Zu bemerken ist hier, dass der Fortschritt der neuzeitlichen Auffassung von Mathematik gerade darin besteht, dass sie sich von der überbordenden Zahlensymbolik der Antike löst, damit abstrakt und beweglich wird. Ebenso sind mathematische Formeln nicht dasselbe wie die Hexagramme, sie haben nur die gleiche Funktion und Aufgabe. In der Selbstreflexion des Geistes ergibt sich nun immer wieder das cartesianische Problem der Sicherheit, Gewissheit, der angebotenen Lösungen. Dies besonders zwingend dann, wenn die religiösen Garantien für diese Konstruktionen schwach werden. Dann taucht immer wieder die Frage auf, durch welche Instanz die Wahrheit der Methoden gesichert ist. Wenn die religiösen Garantien ausfallen, kann diese Sicherung nur die gerade ins Werk gesetzte Instanz der Vernunft geleistet werden. Während die europäische Tradition bei Parmenides mit dem Sein beginnt, vor dessen Richterstuhl alle Erkenntnis, auch die Wahrheit der Sätze, untergeht, und nur das Sein als kritische Instanz übrig bleibt, gehen Konfuzius und die Konfuzianer einen anderen Weg. 396 Cai Wo fragte um die dreijährige Trauerzeit für die Eltern und meinte, ein Jahr wäre genug. Wenn nämlich der Weise sich drei Jahre von den Riten fern hält, dann wird die Beziehung zu den Riten verlorengehen… Denn wenn einer drei Jahre sein Instrument nicht spielt, wird er nicht mehr spielen können… Der Meister sagte: Würdest du dich wohl fühlen, dann schon guten Reis zu essen und gestickte Kleider zu tragen? Das würde ich, antwortete Cai Wo. Der Meister sagte, wenn du dich wohl fühlst, dann tue es. Aber ein Weiser empfindet während der ganzen Trauerzeit keine Freude an gutem Essen und angenehmer Musik. Er fühlt sich auch nicht wohl, wenn er bequem wohnt. Daher wird er deinem Vorschlag nicht folgen. Aber du fühlst dich jetzt dabei wohl, daher halte es so.6 Der Schüler fällt zwingend in eine ontologische Einseitigkeit, die auch in der europäischen Tradition häufig zu finden ist. Er setzt für die ausgefallene religiöse Autorität ein Prinzip, dem im Alltag alle zustimmen müssen, nämlich das des ökonomischen Nutzens. Konfuzius weist nun aber auf die Beliebigkeit dieser vermittelnden Setzung hin. Wenn schon die göttliche Instanz als vermittelnde Instanz ausfällt, dann wohl erst recht die Beliebigkeit menschlicher Wünsche und Gesichtspunkte. In seiner Argumentation bleibt er nun möglichst nahe an der Argumentation des Schülers. Er verweist nicht auf eine göttliche Instanz, auch nicht auf eine politische 6 Konfuzius, Lun Yü 17/21. 397 oder naturgesetzliche, sondern anerkennt zunächst die Autorität des Beurteilenden. Wenn du ein Verhalten beharrlich für richtig findest, dann kann dich keine Macht der Welt davon abbringen. Warum ist aber der Weise weiser als der Schüler? Er ist weiser, weil er sich in gründlicherer und differenzierterer Weise auf jene Instanz bezieht, auf die sich der Schüler bezieht, nämlich auf sein Urteilsvermögen. Worin besteht aber die Überlegenheit des Urteilsvermögens des Lehrers? Es besteht darin, dass er weiß, wonach er sein Urteil zu richten hat, während der Schüler in diesem Horizont nichts vorzuweisen hat. Der Schüler übersieht die Frage: Was ist wahr und wirklich? Er gibt eine voreilige Antwort. Im Hintergrund der Argumentation des Konfuzius steht, wie noch zu zeigen sein wird, eine Antwort auf die Frage, welche der zahllosen Erscheinungen garantiert sichere Erkenntnis. Die Hintergrundargumentation des Konfuzius an dieser Stelle lässt sich folgendermaßezusammenfassen: Es steht fest, dass die richtige Antwort nur im Urteil des Urteilenden gefunden werden kann, weil diese Vorgangsweise gar keine andere Instanz zulässt. Nicht unwichtig ist wohl, dass er aber den Anderen als Instanz zulässt, weil er ihn fragt. Er ist daher auf eine gültige, wahre Antwort aus und zieht sich nicht auf ein reines Geschmacksurteil zurück, das jede Kritik ins Leere 398 laufen ließe. An dieser Stelle kommt nun der merkwürdige Gegenstand der Unterredung ins Spiel, nämlich die Trauer. Der Schüler stellt die Trauer unter die Kontrolle der Sparsamkeit, löst ihre Realität in der einzigen Realität des Ökonomischen auf. Die Argumentation übersieht die Frage, ob diese Reduktion zulässig ist und das Phänomen der Trauer erklärt. Immerhin war der Ausgangspunkt ja genau umgekehrt. Zuerst ist das Phänomen der Trauer gegeben, dann erst kann man diskutieren, was damit zu tun ist. Der Weise hält aber an der Realität der Trauer fest und sagt, dass die vorgenommene Aufhebung durch nichts begründet ist. Die Trauer hat einen eigenen Charakter, der nicht aufgehoben werden kann, sondern, auch im Ritual, angemessen dargestellt werden muss. Dies führt zur Frage, wie Trauer überhaupt möglich ist. Auch diese Frage lässt sich nicht ökonomisch auflösen. Was ist das für ein Ding, die Trauer? Sie ist eben kein Ding, sondern das was man, besonders auf Deutsch ein „Gefühl“ nennt. Was ist aber ein Gefühl? Das Gefühl ist genau der Punkt, an dem Ich und Welt aufeinander treffen. Damit ist, genau genommen, die Frage nach der Wahrheit schon beantwortet. Das „Gefühl“ ist die Realität dessen, das im Westen Geist und Materie genannt wird, weil darin die beiden Pole des Erkennens immer schon verbunden sind. Hier ist also die geforderte Einheit im Menschen, besser des 399 Menschen, wiederhergestellt. Diese Gefühle haben auch das Problem der Gewissheit gelöst. Ein Gefühl hat eine unabweisbare Existenz. Es ist so wie es ist und kann nicht angezweifelt werden. Der Zweifel kann sich auf das Objekt des Gefühls beziehen, etwa wenn ein Betrauerter gar nicht verstorben wäre. Das betrifft aber das Gefühl selbst nicht. Wie wir gleich bei Menzius sehen werden, ist es auch die Bedingung logischer Begründung und von Rationalität. Deswegen ist es auch schwierig, für den beschriebenen Sachverhalt das Wort "Gefühl" zu verwenden. Im Westen werden Gefühle in starker Spannung zu Vernunft, Verstand, Rationalität, vielleicht eben auch Geist, gesehen. In Neuzeit und Moderne führt dies zu einem radikalen Bruch zwischen wissenschaftlicher Rationalität und „subjektiver“, soll hier heißen nicht begründbarer Empfindung. Dies ist besonders in der Gegenbewegung zum Mainstream der Moderne, der Romantik, zu sehen. Nicht zuletzt hat der Begriff des Geistes von Kant bis Hegel die Aufgabe, diese Spannung aufzuheben. Das Gefühl leistet also die umfassende Verbindung zwischen Ich und Welt. Diese gestaltet sich vor allem in Ritus und Musik.7 Die grundlegende Fähigkeit des Gefühls schafft auch die Möglichkeit seiner Mitteilung. Siehe Werner Gabriel. Zur Rolle der Musik im konfuzianischen System der Philosophie. In: Oriental Studies No. XLIV. The Institute for Oriental Studies, Toyo University, Tokyo 2007. 7 400 Freude, Zorn, Trauer, Furcht, Liebe, Haß: diese sieben Dinge braucht der Mensch nicht erst zu lernen, um sie zu kennen.8 Diese Stelle zeigt deutlich, dass Gefühle von vornherein nicht durchwegs „gut“ (d.h. soziale Gefühle) sind. Menzius: Daher sage ich, daß alle Menschen ein Bewusstsein haben, das die Leiden anderer Menschen nicht ertragen kann. Denn sogar heutzutage zittern alle Menschen vor Mitleid, wenn sie sehen, dass ein Kind dabei ist, in einen Brunnen zu fallen. Und das empfinden sie nicht, weil sie sich bei den Eltern des Kindes einschmeicheln wollten, noch weil sie sich bei ihren Nachbarn und Freunden rühmen wollten, noch weil sie die üble Nachrede fürchteten, wenn sie so wären.9 Menzius führt den konfuzianischen Ansatz systematisch und mit größerer Genauigkeit weiter. Diesmal ist der Ausgangspunkt das Gefühl eines Beobachters. Wesentlich ist, dass das Erkennen des Beobachters an das Gefühl des Erschreckens gebunden ist. Wie die nachfolgenden Erörterungen zeigen, liegt die Bedingung der Möglichkeit des Erkennens darin, dass das Erkennen nicht sprachlich formuliert ist, sondern im Gegenteil dem sprachlichen Ausdruck vorhergeht. Das unformulierte, spontane Gefühl ist die Bedingung 8 9 Buch der Riten 3. Menzius II I VI. 401 sprachlicher Formu-lierung. Warum ermöglicht dieses Gefühl aber ein später sprachlich formuliertes Urteil? Es trägt das Wesen des Urteils schon in sich, nämlich die Differenz. Diese ursprüngliche Unterscheidung nennt Menzius Nicht-ertragenkönnen (bù rĕn 不 忍 ). Der Schrecken ist nicht bloß ein Erstarren, sondern unterscheidet gleichzeitig das, was nicht sein soll, von dem was sein soll. Daher gibt es eine unmittelbare nonverbale normative Anweisung, die, wie gleich erörtert wird, allen moralischen Diskussionen um die Geltung von Normen vorhergeht. Diese Argumen-tation zeigt auch an, dass Gefühle selbst als unterschiedliche gegeben sind. Die Einheit der Gefühle ist daher niemals die Einheit absoluter Identität wie sie in der Aussagweise eines Satzes gegeben ist. Diese Einheit in der Differenz meint der für die chinesische Kultur grundlegende Terminus der Harmonie (hé 和). Auf dieser Grundlage ist es dann möglich, Unterscheidungen von Erträglich und Unerträglich in verschiedenen Lebensbereichen zu finden, zu fordern und zu benennen. Daraus erkennen wir, dass es keinen Menschen ohne das Bewusstsein des Mitleids gibt, daß es keinen Menschen gibt ohne das Bewusstsein von Scham und Abscheu, daß es keinen Menschen gibt ohne das Bewusstsein von Respekt und Höflichkeit, daß es keinen Menschen gibt ohne das Bewusstsein von wahr und falsch.10 10 Menzius II VI IV. 402 Interessant ist, dass die theoretisch-logische Unterscheidung von wahr und falsch keinen ausgezeichneten Rang erhält. Diese wird schon gar nicht als höchste Instanz alles Beurteilens gesetzt, sondern erhält in der Aufzählung den letzten Platz. Sie ist nichts anderes als die Unterscheidung des logisch Erträglichen (wahr) von logisch Unerträglichen (falsch). Damit wird gleichzeitig eine Lösung der in der europäischen Tradition selten erörterten Fragen angeboten, wie Logik überhaupt möglich ist. An anderer Stelle bezeichnet Menzius die grundlegende Einheit des Menschen, die die Verbindung von Mensch, Mitmensch und Kosmos er ermöglicht, als Leib (shēn 身). Es gibt einen Slogan: das Reich, der Staat, die Familie. Die Wurzel des Reiches ist der Staat, die Wurzel des Staates ist die Familie, die Wurzel der Familie ist der Leib.11 Dieser Begriff des konkreten, lebendigen, umfassenden Geistes ist für Wang Yang Ming (1472-1529) von grundlegender Bedeutung ist, weil er ihm ermöglicht, die Trennung von Geist und Körper (lĭ und qì), wie sie im Neokonfuzianismus vorgenommen wurde, mit anderer Terminologie und in großer methodischer Gründlichkeit zu überwinden. 11 Menzius IV V. 403 Nicht in allen europäischen Sprachen ist die Unterscheidung von Leib und Körper möglich. „Leib“ bezeichnet den lebendigen, „beseelten“ Körper, Körper kann auch ein grundsätzlich lebloses Gebilde sein, auch geometrische Gebilde, wie die berühmten platonischen Körper. Daher sollte es erlaubt sein, an dieser Stelle shēn 身 mit „Geist“ zu übersetzen. Das Befremden, das diese Übersetzung auslösen mag, zeigt an, dass in der Unterscheidung von Geist und Körper, Leib und Seele, für die europäische Tradition ein Problem besteht, das die chinesische von vorneherein vermeidet, indem sie von der ursprünglichen Einheit beider im Gefühlsbegriff ausgeht. In der europäischen Tradition gibt es deutlich zwei Denker, die einen ähnlichen Ansatz für die Erörterung des Erkenntnisproblems wählen. Das sind George Berkeley (1685 – 1753) und Ernst Mach (1838 – 1916). Zusammengefasst werden Berkeleys Erörterungen in dem berühmten Grundsatz „esse est percipi“. Daher lehnt es Berkeley ab, den Begriff der Materie zu akzeptieren, weil damit eine vom Empfinden unabhängige Entität postuliert wird. Körperliche Dinge sind nicht Dinge an sich, aber auch nicht etwa Einbildungen; sie sind als Vorstellungen wirklich da, wo wir sie wahrnehmen, im Raum und in der Zeit, unter bestimmten Bedingungen für jeden, der normale Sinne hat, gegeben - aber eben nur in Beziehung zum Wahrnehmenden, als rein passive Wahrnehmung- 404 sinhalte, als Komplexe (wirklicher oder möglicher) Empfindungsqualitäten, als gesetzlich verknüpfte Bündel von Farben, Tönen, Drücken usw. Nicht bloß die „zweiten“ Qualitäten (wie Locke, Descartes u. a. meinten), auch die "ersten" Qualitäten (Ausdehnung, Dichte u. dgl.) existieren nur subjektiv, nur als Wahrnehmungsinhalte, denn sie sind ohne die zweiten Qualitäten (Farbe usw.) nicht denkbar („Ausdehnung, Gestalt und Bewegung, getrennt von allen anderen Qualitäten, sind unerkennbar“.12) Aus dem Gesagten geht hervor, dass dieser "chinesische" Ansatz in Europa eine deutliche Tendenz zur Skepsis hat, zur Leugnung der Möglichkeit des Erkennens überhaupt, wie sie sich bei David Hume zeigt. Zu den „materialistischen“ Sensualisten zählt Ernst Mach (1838–1916). Materialistisch eigentlich nur deswegen, weil er vor allem auch Physiker gewesen ist. Das Ding, der Körper, die Materie ist nichts außer dem Zusammenhang der Farben, Töne usw., außer den sogenannten Merkmalen.13 Das Gleiche gilt auf der anderen Seite auch für den hypostasierten Zusammenhang, den wir Ich nennen. Das George Berkeley. Abhandlungen uber die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. 13 Ernst Mach. Die Analyse der Empfindungen. 1886. 12 405 Ich ist nur eine denkökonomische, praktische Einheit, eine „stärker zusammenhängende Gruppe von Elementen, welche mit anderen Gruppen dieser Art schwächer zusammenhängt“.14 Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen). Die Elemente bilden das Ich. Ich empfinde Grün, will sagen, dass das Element ‚Grün' in einem gewissen Komplex von anderen Elementen (Empfindungen, Erinnerungen) vorkommt. „Aus den Empfindungen baut sich das Subjekt auf, welches dann allerdings wieder auf die Empfindungen reagiert“.15 Beide Positionen, die gewöhnlich unter „Sensualismus“ geführt werden, zeigen eine deutliche Tendenz zur physikalischen Analyse, was bei Mach, der ein Physiker ersten Ranges gewesen ist, weiter nicht verwundert. Sie haben als Hintergrund eine Auffassung von Materie, die Atomismus genannt wird. Meist wird der Atomismus mit Materialismus gleichgesetzt, eine Auffassung, die durchaus angezweifelt werden kann. Jedenfalls folgt daraus, dass auch die Empfindungen atomistisch und daher als elementare Sinnesdaten angelegt sind. Damit wird der Übergang zu ethischen und politischen Konzepten, der für die Konfuzianer von zentraler Bedeutung ist, abgeblockt. 14 15 Ebenda. Ebenda. 406 Eine Versöhnung des Sensualismus mit dem Materialismus versucht die „Neurophilosophie“, ebenso einige Vertreter der Hirnforschung. Dennoch wir damit der Begriff der Materie problematisiert. Z.B. bei Gaston Bachlard (1884–1962), der von einer „Entmaterialisierung der Materie“ spricht. Berühmt ist die Polemik von Lenin gegen Mach, um die Objektivität der Materie zu retten. Offensichtlich ebenfalls von den Atomisten beeinflusst ist Leibniz, der einzige der großen Denker der Neuzeit, der sich in angemessener Weise mit der chinesischen Philosophie auseinandergesetzt hat.16 Sein Versuch, das Problem der Subjektivität im Lichte des Atomismus zu lösen, führt zur Monadenlehre. In den Monaden sind Subjekt und Objekt, Materie und Geist, schon vereint, sonst könnten sie nie zusammen kommen. Das heißt, auch in der „toten“ Materie ist Bewusstsein. In der Auseinandersetzung um die chinesische Philosophie spielt der Begriff des Geistes (lĭ) eine zentrale Rolle. Im Brief an Remond geht es um die Frage, ob die Chinesen einen Gottesbegriff haben. Die Gegner dieser Auffassung meinen, dass das lĭ „bloß" Naturgesetzlichkeit meint, dass die konfuzianischen Philosophen also gottlose Materialisten sind. Leibniz 16 Lettre de Mons. Leibniz sur la Philosophie Chinoise à Mons. de Remond. 1716. 407 hält dagegen, dass das lĭ absoluter geistiger Ursprung ist, der dem christlichen Gottesbegriff entspricht. Hier prallen unbewusst zwei verschiedene philosophische Welten aufeinander, die in ihren Konzepten inkompatible Begrifflichkeiten entwickelt haben. Die Unterscheidung der Differenz von Geist und Materie kommt in der klassischen chinesischen Philosophie gar nicht vor, daher gibt es auch keine Schulen, die idealistisch oder materialistisch genannt werden könnten, auch wenn die Europäer diese Zuordnungen immer wieder verzweifelt suchen. Es ist recht interessant zu sehen, dass Leibniz allerdings durch die chinesische Tradition zu dieser Unterscheidung verführt wird, weil die Quellen, auf die er sich stützt.17 den Neokonfuzianismus, insbesondere Zhu Xi, im Blick haben und diese Schule für die ganze chinesische Philosophie nehmen. Man kann die lĭs 理 sicher als geistige, immaterielle Entitäten ansehen, beim Gegenbegriff des qì 氣 ist es schon schwieriger, ihn schlicht mit Materie zu übersetzen, schon weil der atomistische Hintergrund fehlt. Diese Spaltung wird in der chinesischen Tradition, gerade bei Wang Yang Ming, erkannt. Dieser versucht diese Differenz als überflüssig wieder aufzuheben. Leibniz, Gottfried Wilhelm .Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689-1714): französisch, lateinisch .. Hrsg. und mit einer Einleitung. versehen von Rita Widmaier. Hamburg 2006. 17 408 Schon gar nicht kommen die anderen Schulen in den Blick, die sich im Alten China mit den Konfuzianern kritisch auseinandersetzen. In dieser Auseinandersetzung spielt das von uns geortete Problem des Geistes eine zentrale Rolle. Im Laozi und Zhuangzi wird die methodische Benennung der Gefühle als Problem gesehen. Der bestimmte Name ist kein Name, der oft wiederholt wird, der lange in Geltung bleibt.18 Warum bezeichnen die Namen nichts? Sie können nichts benennen, weil sie das Wesen der Erscheinungen verfehlen. Die bei Menzius herabgestufte Bedeutung der sprachlichen Form des normativen Ausdrucks wird hier in noch radikalerer Form abgelehnt. Aufgrund des zeitlichen Charakters der Erscheinungen ist ein bestimmendes Festhalten der Erscheinungen in den Namen grundsätzlich nicht möglich. Sprechen ist nicht nur hie und da, sondern grundsätzlich Lüge. Wenn das Wissen erscheint, entsteht die große Heuchelei.19 Auf diese Weise kommt es zur Bestimmung von Wahrheit (daò 道) aus dem Nichts (wú 無). 18 19 Daodejing Kap. 1. Daodejing Kap. 18. 409 Der Gegensatz( 反 făn) ist die Kraft des daò. Die Schwäche ist das Mittel des daò. Die zehntausend Dinge unter dem Himmel entstehen aus dem Sein. Das Sein entsteht aus dem Nichts.20 In dieser Aufdeckung des Grundes aller Erscheinungen im Nichtsein ist gleichzeitig methodische Erkenntnis möglich. Indem der zivilisatorische Namensschutt hinweg geräumt wird, ergibt sich eine direkte Einheit von Erkennendem und Erkannten. Der Mensch überlässt sich dem daò, dem ewigen unaufhaltsamen Fluss der Zeit. Das entspricht den übrigen Naturwesen, die ihre Existenz ohne sprachliche Vermittlung in glücklicher Einheit mit der Natur führen. Damit gerät auch die konfuzianische Lehre von den Gefühlen in die Kritik. Die fünf Farben schwächen die Sehkraft, die fünf Töne machen das Gehör taub. … Daher sorgt der Weise für den Bauch, nicht für das Auge.21 Die unterschiedliche Kraft der Sinne (Sehen, Hören usw.) verführt zur Verfestigung dieser Sinneseindrücke und bildet die Voraussetzung logischer Begriffsbildung. Daher gilt es wieder, diese Verfestigung aufzuheben und nicht etwa in Form von ästhetischer Begrifflichkeit 20 21 Daodejing Kap. 40. Daodejing Kap. 12. 410 festhalten zu wollen. Deswegen die erstaunliche Bemerkung über den Bauch und das Auge. Die Sinnlichkeit wahrer Erfahrung besteht also darin, sich dem Strom der phänomenalen Wirklichkeit zu überlassen, und diese nicht in kategorialen Einteilungen zu fixieren. Der höchste Mensch gebraucht sein Herz wie einen Spiegel. Er geht den Dingen nicht nach und geht ihnen nicht entgegen. Er spiegelt sie wider, aber hält sie nicht fest…. Er beachtet das Kleinste und ist doch unerschöpflich und weilt jenseits des Ichs.22 Moti versucht die Einheit von Vernunft, Geist und Gesellschaft über das Logisch-Allgemeine herzustellen.23 Auch er geht in gewisser Weise von Gefühlen aus. Diese Gefühle sind aber grundsätzlich egoistisch. Der Mensch ist ein Wesen, das immer nach seinem Vorteil (lì 利), also nach Selbsterhaltung, strebt. Die Konfuzianer meinen, dass unter diesen Bedingungen keine Gesellschaft möglich ist. Daher kann eine soziale Ordnung nur durch diese egoistische Natur erreicht werden. Diese Ordnung ist nur dadurch möglich, dass es Bedürfnisse gibt, nach denen alle Menschen streben müssen. Das sind die Grundbedürfnisse Nahrung, Kleidung, Wohnung. Wie kommt der Mensch aber zu dieser Einsicht? Durch eine Zhuangzi 1 7 6. Werner Gabriel. Krieg, Frieden und die Erfindung der Logik im Alten China. In: Quadrivium, Toluca, Mexico 1998. 22 23 411 logische Überlegung, der genau diesen Sachverhalt aufdeckt, also durch die Entdeckung des Allgemeinen. Damit werden Aussagen, Sätze und ihre Beziehungen zur entscheidenden Qualität des Geistes. Im Gegensatz zum Konfuzianismus und insbesondere zum Taoismus leistet der sprachlich-logische Ausdruck sehr wohl die Verbindung von Erkennendem und Erkannten.24 Nicht zu verdrängen ist schließlich das Konzept des Legalismus, der mit den bisher besprochenen Bemühungen um den Geist aufräumt, und meint, dass in der Gesellschaft die Sorge um den Geist überhaupt keinen Platz haben soll. Als Gegenbegriff zum Geist wird der der Macht (shì 势) präsentiert. Die Macht gestaltet die Wirklichkeit und nicht die vernünftige, moralische Überlegung. Wir müssen zugeben, dass dieses Konzept das geschichtsmächtigste ist, weil der Geist wahrscheinlich immer wieder vor der Macht kapitulieren muss. Hegel sagt: „Die Vernunft ist Geist, indem die Gewissheit, alle Realität zu sein, zur Wahrheit erhoben, und sie sich selbst als ihrer Welt, und der Welt als ihrer selbst bewusst ist.“25 Siehe Joseph Needham. Science and Civilisation in China Vol 2. Cambridge 1977. S. 172 ff. 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Der philosophischen Bibliothek Band 114. Hamburg 1952. 24 412