Jenseits von Idealismus und Materialismus

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Zum Begriff des Geistes in der antiken
chinesischen Philosophie
Werner Gabriel
Universidad de Viena, Austria
Wenn man sich auf die Suche nach dem Begriff des
Geistes begibt, stößt man auf eine verwirrende Fülle
von Bezeichnungen
(z.B. griech. pneuma, logos, nous, psyche, thymos; lat.
mens, spiritus, animus, anima; hebr. ruah; arab. ruh; frz.
esprit, génie; engl. mind, spirit; deutsch Bewußsein,
Vernunft, Seele, Geist).1
Immerhin liegt genau darin eine Übereinstimmung
mit der chinesischen Tradition (z.B. shén 神, lĭ 理, hún
魂, qíng 情, xīn 心,).
Diese Vielfalt ist nicht zufällig. Handelt es sich doch um
das umfassendste Problem der Philosophie, nämlich
das Verhältnis von Mensch und Welt.
Daher ist es besser, sich mit den Grundzügen der
Auffassungen dieses Verhältnisses zu befassen, und
sich nicht in Worterklärungen zu verirren.
Karl Rosenkranz, ein Hegelianer des 19. Jahrhunderts,
schreibt:
Eine hervorragende umfassende Darstellung des Geistbegriffs in der
europäischen Tradition findet sich bei Francesco Moiso unter dem
Stichwort „Geist“ in: Enzyklopädie Philosophie, hrsg. Von Hans Jörg
Sandkühler. CD-ROM Hamburg 1999
1
393
Der Geist ist das Für-sich-sein der Idee als Idee, die sich
wissende und wollende Idee, das Prius der Natur wie
der Vernunft.2 Der Geist ist nur, was er tut.3
Diese im Geiste Hegels verfasste Definition enthält
wesentliche Bestimmungen, die für beide Traditionen
gelten können. Sie bestimmt Geist als Einheit von „allem“,
im Besonderen artikuliert als Einheit von Vernunft und
Natur, als Einheit des Bestimmens und des Bestimmten.
Weiters ist Geist das Wissen um diese Einheit, die über
die Gegenständlichkeit dieses Wissens hinausgeht. Für die
chinesische Tradition ist besonders wichtig, dass Geist
außerdem als Handeln und damit als Freiheit bestimmt
wird.
Die Vernünftigkeit des Geistes erfordert nun offensichtlich die Möglichkeit der Darstellung und Artikulation
dieser Einheit, die dem Geist diese Einheit anzeigt. Diese
Zeichen müssen sich daher sowohl von der Objektivität
des Sich-Zeigens (Gegenstände) als auch von der Subjektivität des Zeigens (Sprache, Schrift, Schriftzeichen)
unterscheiden. Diese Einheit ergibt sich aus den
Strichfolgen der Trigramme und Hexagramme des "Buchs
der Wandlungen 易 經", die nach bestimmten Regeln
gelesen werden können und dann auch als Handlungsanleitungen dienen. In den richtigen Handlungen
wird die Einheit von Vernunft und Natur gesichert.
2
3
Karl Rosenkranz. System der Wissenschaft § 564 ff. 1850.
Ebend. S. 367.
394
Nicht zu übersehen ist dabei, dass der "Offenbarungsbezug",
der religiöse Kontext des Orakel-wesens, wesentlich zu
dieser Konstruktion gehört. Damit werden nämlich die
neuen Zeichen aus ihrer bloßen Zeichenhaftigkeit
herausgehoben und ihre wahre Objektivität gesichert.
Als in der Urzeit Bao Hi die Welt beherrschte, da blickte
er empor und betrachtete die Bilder am Himmel, blickte
nieder und betrachtete die Vorgänge auf Erden. Er
betrachtete die Zeichnungen der Vögel und Tiere und
die Anpassungen an die Orte. Zuerst ging er von sich
aus [von seinem Leib, shēn 身], dann ging er von den
Dingen aus. So erfand er die acht Zeichen, um mit der
Kraft der Geister in Verbindung zu kommen und aller
Wesen Verhältnisse zu ordnen.4
Es scheint, dass die westliche Wissenschaft der Neuzeit
vor einem ähnlichen Problem steht und es auf ähnliche
Weise löst. Die Mathematik ist jene Sprache, die die vernünftige Einheit von Vernunft und Welt zur Sprache bringt.
Das Buch der Natur ist in mathematischer Sprache
geschrieben, und seine Zeichen sind Dreiecke, Kreise
und andere geometrische Figuren, ohne die es unmöglich
ist, ein einziges Wort zu verstehen, und ohne die man
vergeblich suchend durch ein dunkles Labyrinth
wandert.5
4
5
I Ging Great Appendix II 2 1.
Galilei Galileo, Opera IV 171.
395
Diese Möglichkeit ist zweifellos durch die alte pythagoreischplatonischen Lehre von der alles begründenden
Funktion der Zahl vorbereitet worden.
Zu bemerken ist hier, dass der Fortschritt der neuzeitlichen Auffassung von Mathematik gerade darin
besteht, dass sie sich von der überbordenden Zahlensymbolik der Antike löst, damit abstrakt und beweglich
wird. Ebenso sind mathematische Formeln nicht dasselbe
wie die Hexagramme, sie haben nur die gleiche Funktion
und Aufgabe.
In der Selbstreflexion des Geistes ergibt sich nun
immer wieder das cartesianische Problem der Sicherheit,
Gewissheit, der angebotenen Lösungen. Dies besonders
zwingend dann, wenn die religiösen Garantien für
diese Konstruktionen schwach werden. Dann taucht
immer wieder die Frage auf, durch welche Instanz die
Wahrheit der Methoden gesichert ist. Wenn die
religiösen Garantien ausfallen, kann diese Sicherung
nur die gerade ins Werk gesetzte Instanz der Vernunft
geleistet werden.
Während die europäische Tradition bei Parmenides
mit dem Sein beginnt, vor dessen Richterstuhl alle
Erkenntnis, auch die Wahrheit der Sätze, untergeht,
und nur das Sein als kritische Instanz übrig bleibt,
gehen Konfuzius und die Konfuzianer einen anderen
Weg.
396
Cai Wo fragte um die dreijährige Trauerzeit für die
Eltern und meinte, ein Jahr wäre genug. Wenn nämlich
der Weise sich drei Jahre von den Riten fern hält, dann
wird die Beziehung zu den Riten verlorengehen… Denn
wenn einer drei Jahre sein Instrument nicht spielt, wird
er nicht mehr spielen können…
Der Meister sagte: Würdest du dich wohl fühlen, dann
schon guten Reis zu essen und gestickte Kleider zu
tragen? Das würde ich, antwortete Cai Wo. Der Meister
sagte, wenn du dich wohl fühlst, dann tue es. Aber ein
Weiser empfindet während der ganzen Trauerzeit keine
Freude an gutem Essen und angenehmer Musik. Er
fühlt sich auch nicht wohl, wenn er bequem wohnt.
Daher wird er deinem Vorschlag nicht folgen. Aber du
fühlst dich jetzt dabei wohl, daher halte es so.6
Der Schüler fällt zwingend in eine ontologische
Einseitigkeit, die auch in der europäischen Tradition
häufig zu finden ist. Er setzt für die ausgefallene religiöse
Autorität ein Prinzip, dem im Alltag alle zustimmen
müssen, nämlich das des ökonomischen Nutzens. Konfuzius weist nun aber auf die Beliebigkeit dieser
vermittelnden Setzung hin. Wenn schon die göttliche
Instanz als vermittelnde Instanz ausfällt, dann wohl
erst recht die Beliebigkeit menschlicher Wünsche und
Gesichtspunkte.
In seiner Argumentation bleibt er nun möglichst nahe
an der Argumentation des Schülers. Er verweist nicht
auf eine göttliche Instanz, auch nicht auf eine politische
6
Konfuzius, Lun Yü 17/21.
397
oder naturgesetzliche, sondern anerkennt zunächst die
Autorität des Beurteilenden. Wenn du ein Verhalten
beharrlich für richtig findest, dann kann dich keine Macht
der Welt davon abbringen. Warum ist aber der Weise
weiser als der Schüler? Er ist weiser, weil er sich in
gründlicherer und differenzierterer Weise auf jene Instanz
bezieht, auf die sich der Schüler bezieht, nämlich auf
sein Urteilsvermögen. Worin besteht aber die Überlegenheit
des Urteilsvermögens des Lehrers? Es besteht darin, dass
er weiß, wonach er sein Urteil zu richten hat, während
der Schüler in diesem Horizont nichts vorzuweisen hat.
Der Schüler übersieht die Frage: Was ist wahr und
wirklich? Er gibt eine voreilige Antwort.
Im Hintergrund der Argumentation des Konfuzius
steht, wie noch zu zeigen sein wird, eine Antwort auf die
Frage, welche der zahllosen Erscheinungen garantiert
sichere Erkenntnis.
Die Hintergrundargumentation des Konfuzius an
dieser Stelle lässt sich folgendermaßezusammenfassen:
Es steht fest, dass die richtige Antwort nur im Urteil
des Urteilenden gefunden werden kann, weil diese
Vorgangsweise gar keine andere Instanz zulässt. Nicht
unwichtig ist wohl, dass er aber den Anderen als Instanz
zulässt, weil er ihn fragt. Er ist daher auf eine gültige,
wahre Antwort aus und zieht sich nicht auf ein reines
Geschmacksurteil zurück, das jede Kritik ins Leere
398
laufen ließe. An dieser Stelle kommt nun der merkwürdige
Gegenstand der Unterredung ins Spiel, nämlich die Trauer.
Der Schüler stellt die Trauer unter die Kontrolle
der Sparsamkeit, löst ihre Realität in der einzigen
Realität des Ökonomischen auf. Die Argumentation
übersieht die Frage, ob diese Reduktion zulässig ist
und das Phänomen der Trauer erklärt. Immerhin war
der Ausgangspunkt ja genau umgekehrt. Zuerst ist das
Phänomen der Trauer gegeben, dann erst kann man
diskutieren, was damit zu tun ist. Der Weise hält aber
an der Realität der Trauer fest und sagt, dass die
vorgenommene Aufhebung durch nichts begründet ist.
Die Trauer hat einen eigenen Charakter, der nicht
aufgehoben werden kann, sondern, auch im Ritual,
angemessen dargestellt werden muss.
Dies führt zur Frage, wie Trauer überhaupt möglich
ist. Auch diese Frage lässt sich nicht ökonomisch
auflösen. Was ist das für ein Ding, die Trauer? Sie ist
eben kein Ding, sondern das was man, besonders auf
Deutsch ein „Gefühl“ nennt. Was ist aber ein Gefühl?
Das Gefühl ist genau der Punkt, an dem Ich und Welt
aufeinander treffen. Damit ist, genau genommen, die
Frage nach der Wahrheit schon beantwortet.
Das „Gefühl“ ist die Realität dessen, das im Westen
Geist und Materie genannt wird, weil darin die beiden
Pole des Erkennens immer schon verbunden sind. Hier
ist also die geforderte Einheit im Menschen, besser des
399
Menschen, wiederhergestellt. Diese Gefühle haben
auch das Problem der Gewissheit gelöst. Ein Gefühl
hat eine unabweisbare Existenz. Es ist so wie es ist und
kann nicht angezweifelt werden. Der Zweifel kann sich
auf das Objekt des Gefühls beziehen, etwa wenn ein
Betrauerter gar nicht verstorben wäre. Das betrifft aber
das Gefühl selbst nicht. Wie wir gleich bei Menzius sehen
werden, ist es auch die Bedingung logischer Begründung
und von Rationalität. Deswegen ist es auch schwierig,
für den beschriebenen Sachverhalt das Wort "Gefühl"
zu verwenden. Im Westen werden Gefühle in starker
Spannung zu Vernunft, Verstand, Rationalität, vielleicht
eben auch Geist, gesehen. In Neuzeit und Moderne führt
dies zu einem radikalen Bruch zwischen wissenschaftlicher
Rationalität und „subjektiver“, soll hier heißen nicht
begründbarer Empfindung. Dies ist besonders in der
Gegenbewegung zum Mainstream der Moderne, der
Romantik, zu sehen. Nicht zuletzt hat der Begriff des
Geistes von Kant bis Hegel die Aufgabe, diese Spannung
aufzuheben. Das Gefühl leistet also die umfassende
Verbindung zwischen Ich und Welt. Diese gestaltet sich
vor allem in Ritus und Musik.7
Die grundlegende Fähigkeit des Gefühls schafft auch
die Möglichkeit seiner Mitteilung.
Siehe Werner Gabriel. Zur Rolle der Musik im konfuzianischen System
der Philosophie. In: Oriental Studies No. XLIV. The Institute for Oriental
Studies, Toyo University, Tokyo 2007.
7
400
Freude, Zorn, Trauer, Furcht, Liebe, Haß: diese sieben
Dinge braucht der Mensch nicht erst zu lernen, um sie
zu kennen.8
Diese Stelle zeigt deutlich, dass Gefühle von vornherein
nicht durchwegs „gut“ (d.h. soziale Gefühle) sind.
Menzius:
Daher sage ich, daß alle Menschen ein Bewusstsein
haben, das die Leiden anderer Menschen nicht ertragen
kann. Denn sogar heutzutage zittern alle Menschen vor
Mitleid, wenn sie sehen, dass ein Kind dabei ist, in
einen Brunnen zu fallen. Und das empfinden sie nicht,
weil sie sich bei den Eltern des Kindes einschmeicheln
wollten, noch weil sie sich bei ihren Nachbarn und
Freunden rühmen wollten, noch weil sie die üble
Nachrede fürchteten, wenn sie so wären.9
Menzius führt den konfuzianischen Ansatz systematisch und mit größerer Genauigkeit weiter.
Diesmal ist der Ausgangspunkt das Gefühl eines
Beobachters. Wesentlich ist, dass das Erkennen des
Beobachters an das Gefühl des Erschreckens gebunden
ist. Wie die nachfolgenden Erörterungen zeigen, liegt die
Bedingung der Möglichkeit des Erkennens darin, dass
das Erkennen nicht sprachlich formuliert ist, sondern im
Gegenteil dem sprachlichen Ausdruck vorhergeht. Das
unformulierte, spontane Gefühl ist die Bedingung
8
9
Buch der Riten 3.
Menzius II I VI.
401
sprachlicher Formu-lierung. Warum ermöglicht dieses
Gefühl aber ein später sprachlich formuliertes Urteil? Es
trägt das Wesen des Urteils schon in sich, nämlich die
Differenz. Diese ursprüngliche Unterscheidung nennt
Menzius Nicht-ertragenkönnen (bù rĕn 不 忍 ). Der
Schrecken ist nicht bloß ein Erstarren, sondern
unterscheidet gleichzeitig das, was nicht sein soll, von
dem was sein soll. Daher gibt es eine unmittelbare
nonverbale normative Anweisung, die, wie gleich
erörtert wird, allen moralischen Diskussionen um die
Geltung von Normen vorhergeht. Diese Argumen-tation
zeigt auch an, dass Gefühle selbst als unterschiedliche
gegeben sind. Die Einheit der Gefühle ist daher niemals die
Einheit absoluter Identität wie sie in der Aussagweise
eines Satzes gegeben ist. Diese Einheit in der Differenz
meint der für die chinesische Kultur grundlegende
Terminus der Harmonie (hé 和). Auf dieser Grundlage
ist es dann möglich, Unterscheidungen von Erträglich
und Unerträglich in verschiedenen Lebensbereichen zu
finden, zu fordern und zu benennen.
Daraus erkennen wir, dass es keinen Menschen ohne
das Bewusstsein des Mitleids gibt, daß es keinen Menschen
gibt ohne das Bewusstsein von Scham und Abscheu, daß
es keinen Menschen gibt ohne das Bewusstsein von
Respekt und Höflichkeit, daß es keinen Menschen gibt
ohne das Bewusstsein von wahr und falsch.10
10
Menzius II VI IV.
402
Interessant ist, dass die theoretisch-logische Unterscheidung von wahr und falsch keinen ausgezeichneten
Rang erhält. Diese wird schon gar nicht als höchste
Instanz alles Beurteilens gesetzt, sondern erhält in der
Aufzählung den letzten Platz. Sie ist nichts anderes als
die Unterscheidung des logisch Erträglichen (wahr) von
logisch Unerträglichen (falsch). Damit wird gleichzeitig
eine Lösung der in der europäischen Tradition selten
erörterten Fragen angeboten, wie Logik überhaupt
möglich ist.
An anderer Stelle bezeichnet Menzius die grundlegende Einheit des Menschen, die die Verbindung von
Mensch, Mitmensch und Kosmos er ermöglicht, als
Leib (shēn 身).
Es gibt einen Slogan: das Reich, der Staat, die Familie. Die
Wurzel des Reiches ist der Staat, die Wurzel des Staates
ist die Familie, die Wurzel der Familie ist der Leib.11
Dieser Begriff des konkreten, lebendigen, umfassenden
Geistes ist für Wang Yang Ming (1472-1529) von
grundlegender Bedeutung ist, weil er ihm ermöglicht,
die Trennung von Geist und Körper (lĭ und qì), wie sie
im Neokonfuzianismus vorgenommen wurde, mit anderer
Terminologie und in großer methodischer Gründlichkeit
zu überwinden.
11
Menzius IV V.
403
Nicht in allen europäischen Sprachen ist die Unterscheidung von Leib und Körper möglich. „Leib“ bezeichnet
den lebendigen, „beseelten“ Körper, Körper kann auch
ein grundsätzlich lebloses Gebilde sein, auch geometrische
Gebilde, wie die berühmten platonischen Körper. Daher
sollte es erlaubt sein, an dieser Stelle shēn 身 mit „Geist“ zu
übersetzen. Das Befremden, das diese Übersetzung
auslösen mag, zeigt an, dass in der Unterscheidung von
Geist und Körper, Leib und Seele, für die europäische
Tradition ein Problem besteht, das die chinesische von
vorneherein vermeidet, indem sie von der ursprünglichen Einheit beider im Gefühlsbegriff ausgeht.
In der europäischen Tradition gibt es deutlich zwei
Denker, die einen ähnlichen Ansatz für die Erörterung des
Erkenntnisproblems wählen. Das sind George Berkeley
(1685 – 1753) und Ernst Mach (1838 – 1916).
Zusammengefasst werden Berkeleys Erörterungen
in dem berühmten Grundsatz „esse est percipi“. Daher lehnt
es Berkeley ab, den Begriff der Materie zu akzeptieren,
weil damit eine vom Empfinden unabhängige Entität
postuliert wird.
Körperliche Dinge sind nicht Dinge an sich, aber auch
nicht etwa Einbildungen; sie sind als Vorstellungen
wirklich da, wo wir sie wahrnehmen, im Raum und in
der Zeit, unter bestimmten Bedingungen für jeden, der
normale Sinne hat, gegeben - aber eben nur in Beziehung
zum Wahrnehmenden, als rein passive Wahrnehmung-
404
sinhalte, als Komplexe (wirklicher oder möglicher)
Empfindungsqualitäten, als gesetzlich verknüpfte
Bündel von Farben, Tönen, Drücken usw. Nicht bloß
die „zweiten“ Qualitäten (wie Locke, Descartes u. a.
meinten), auch die "ersten" Qualitäten (Ausdehnung,
Dichte u. dgl.) existieren nur subjektiv, nur als
Wahrnehmungsinhalte, denn sie sind ohne die zweiten
Qualitäten (Farbe usw.) nicht denkbar
(„Ausdehnung, Gestalt und Bewegung, getrennt von
allen anderen Qualitäten, sind unerkennbar“.12)
Aus dem Gesagten geht hervor, dass dieser "chinesische" Ansatz in Europa eine deutliche Tendenz zur
Skepsis hat, zur Leugnung der Möglichkeit des Erkennens
überhaupt, wie sie sich bei David Hume zeigt.
Zu den „materialistischen“ Sensualisten zählt Ernst
Mach (1838–1916). Materialistisch eigentlich nur deswegen,
weil er vor allem auch Physiker gewesen ist.
Das Ding, der Körper, die Materie ist nichts außer dem
Zusammenhang der Farben, Töne usw., außer den
sogenannten Merkmalen.13
Das Gleiche gilt auf der anderen Seite auch für den
hypostasierten Zusammenhang, den wir Ich nennen. Das
George Berkeley. Abhandlungen uber die Prinzipien der menschlichen
Erkenntnis.
13 Ernst Mach. Die Analyse der Empfindungen. 1886.
12
405
Ich ist nur eine denkökonomische, praktische Einheit, eine
„stärker zusammenhängende Gruppe von Elementen,
welche mit anderen Gruppen dieser Art schwächer
zusammenhängt“.14
Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente
(Empfindungen). Die Elemente bilden das Ich. Ich
empfinde Grün, will sagen, dass das Element ‚Grün' in
einem gewissen Komplex von anderen Elementen
(Empfindungen, Erinnerungen) vorkommt. „Aus den
Empfindungen baut sich das Subjekt auf, welches dann
allerdings wieder auf die Empfindungen reagiert“.15
Beide Positionen, die gewöhnlich unter „Sensualismus“ geführt werden, zeigen eine deutliche Tendenz zur
physikalischen Analyse, was bei Mach, der ein Physiker
ersten Ranges gewesen ist, weiter nicht verwundert.
Sie haben als Hintergrund eine Auffassung von Materie,
die Atomismus genannt wird. Meist wird der Atomismus
mit Materialismus gleichgesetzt, eine Auffassung, die
durchaus angezweifelt werden kann. Jedenfalls folgt
daraus, dass auch die Empfindungen atomistisch und
daher als elementare Sinnesdaten angelegt sind. Damit
wird der Übergang zu ethischen und politischen Konzepten, der für die Konfuzianer von zentraler Bedeutung
ist, abgeblockt.
14
15
Ebenda.
Ebenda.
406
Eine Versöhnung des Sensualismus mit dem Materialismus versucht die „Neurophilosophie“, ebenso einige
Vertreter der Hirnforschung.
Dennoch wir damit der Begriff der Materie problematisiert. Z.B. bei Gaston Bachlard (1884–1962), der
von einer „Entmaterialisierung der Materie“ spricht.
Berühmt ist die Polemik von Lenin gegen Mach,
um die Objektivität der Materie zu retten.
Offensichtlich ebenfalls von den Atomisten beeinflusst
ist Leibniz, der einzige der großen Denker der Neuzeit,
der sich in angemessener Weise mit der chinesischen
Philosophie auseinandergesetzt hat.16
Sein Versuch, das Problem der Subjektivität im Lichte
des Atomismus zu lösen, führt zur Monadenlehre. In
den Monaden sind Subjekt und Objekt, Materie und
Geist, schon vereint, sonst könnten sie nie zusammen
kommen. Das heißt, auch in der „toten“ Materie ist
Bewusstsein.
In der Auseinandersetzung um die chinesische
Philosophie spielt der Begriff des Geistes (lĭ) eine
zentrale Rolle. Im Brief an Remond geht es um die
Frage, ob die Chinesen einen Gottesbegriff haben. Die
Gegner dieser Auffassung meinen, dass das lĭ „bloß"
Naturgesetzlichkeit meint, dass die konfuzianischen
Philosophen also gottlose Materialisten sind. Leibniz
16
Lettre de Mons. Leibniz sur la Philosophie Chinoise à Mons. de Remond. 1716.
407
hält dagegen, dass das lĭ absoluter geistiger Ursprung ist,
der dem christlichen Gottesbegriff entspricht.
Hier prallen unbewusst zwei verschiedene philosophische Welten aufeinander, die in ihren Konzepten
inkompatible Begrifflichkeiten entwickelt haben. Die
Unterscheidung der Differenz von Geist und Materie
kommt in der klassischen chinesischen Philosophie gar
nicht vor, daher gibt es auch keine Schulen, die idealistisch
oder materialistisch genannt werden könnten, auch
wenn die Europäer diese Zuordnungen immer wieder
verzweifelt suchen.
Es ist recht interessant zu sehen, dass Leibniz allerdings
durch die chinesische Tradition zu dieser Unterscheidung
verführt wird, weil die Quellen, auf die er sich stützt.17
den Neokonfuzianismus, insbesondere Zhu Xi, im
Blick haben und diese Schule für die ganze chinesische
Philosophie nehmen. Man kann die lĭs 理 sicher als geistige,
immaterielle Entitäten ansehen, beim Gegenbegriff des
qì 氣 ist es schon schwieriger, ihn schlicht mit Materie
zu übersetzen, schon weil der atomistische Hintergrund
fehlt. Diese Spaltung wird in der chinesischen Tradition,
gerade bei Wang Yang Ming, erkannt. Dieser versucht
diese Differenz als überflüssig wieder aufzuheben.
Leibniz, Gottfried Wilhelm .Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China
(1689-1714): französisch, lateinisch .. Hrsg. und mit einer Einleitung. versehen
von Rita Widmaier. Hamburg 2006.
17
408
Schon gar nicht kommen die anderen Schulen in
den Blick, die sich im Alten China mit den Konfuzianern kritisch auseinandersetzen. In dieser Auseinandersetzung spielt das von uns geortete Problem des
Geistes eine zentrale Rolle.
Im Laozi und Zhuangzi wird die methodische
Benennung der Gefühle als Problem gesehen.
Der bestimmte Name ist kein Name, der oft wiederholt
wird, der lange in Geltung bleibt.18
Warum bezeichnen die Namen nichts? Sie können
nichts benennen, weil sie das Wesen der Erscheinungen
verfehlen. Die bei Menzius herabgestufte Bedeutung der
sprachlichen Form des normativen Ausdrucks wird hier
in noch radikalerer Form abgelehnt. Aufgrund des zeitlichen
Charakters der Erscheinungen ist ein bestimmendes
Festhalten der Erscheinungen in den Namen grundsätzlich
nicht möglich. Sprechen ist nicht nur hie und da,
sondern grundsätzlich Lüge.
Wenn das Wissen erscheint, entsteht die große Heuchelei.19
Auf diese Weise kommt es zur Bestimmung von
Wahrheit (daò 道) aus dem Nichts (wú 無).
18
19
Daodejing Kap. 1.
Daodejing Kap. 18.
409
Der Gegensatz( 反 făn) ist die Kraft des daò. Die
Schwäche ist das Mittel des daò. Die zehntausend Dinge
unter dem Himmel entstehen aus dem Sein. Das Sein
entsteht aus dem Nichts.20
In dieser Aufdeckung des Grundes aller Erscheinungen
im Nichtsein ist gleichzeitig methodische Erkenntnis
möglich. Indem der zivilisatorische Namensschutt hinweg
geräumt wird, ergibt sich eine direkte Einheit von
Erkennendem und Erkannten. Der Mensch überlässt sich
dem daò, dem ewigen unaufhaltsamen Fluss der Zeit.
Das entspricht den übrigen Naturwesen, die ihre
Existenz ohne sprachliche Vermittlung in glücklicher
Einheit mit der Natur führen.
Damit gerät auch die konfuzianische Lehre von
den Gefühlen in die Kritik.
Die fünf Farben schwächen die Sehkraft, die fünf Töne
machen das Gehör taub. … Daher sorgt der Weise für
den Bauch, nicht für das Auge.21
Die unterschiedliche Kraft der Sinne (Sehen, Hören
usw.) verführt zur Verfestigung dieser Sinneseindrücke
und bildet die Voraussetzung logischer Begriffsbildung.
Daher gilt es wieder, diese Verfestigung aufzuheben und
nicht etwa in Form von ästhetischer Begrifflichkeit
20
21
Daodejing Kap. 40.
Daodejing Kap. 12.
410
festhalten zu wollen. Deswegen die erstaunliche
Bemerkung über den Bauch und das Auge.
Die Sinnlichkeit wahrer Erfahrung besteht also darin,
sich dem Strom der phänomenalen Wirklichkeit zu
überlassen, und diese nicht in kategorialen Einteilungen
zu fixieren.
Der höchste Mensch gebraucht sein Herz wie einen
Spiegel. Er geht den Dingen nicht nach und geht ihnen
nicht entgegen. Er spiegelt sie wider, aber hält sie nicht
fest…. Er beachtet das Kleinste und ist doch unerschöpflich
und weilt jenseits des Ichs.22
Moti versucht die Einheit von Vernunft, Geist und
Gesellschaft über das Logisch-Allgemeine herzustellen.23
Auch er geht in gewisser Weise von Gefühlen aus.
Diese Gefühle sind aber grundsätzlich egoistisch. Der
Mensch ist ein Wesen, das immer nach seinem Vorteil
(lì 利), also nach Selbsterhaltung, strebt. Die Konfuzianer
meinen, dass unter diesen Bedingungen keine Gesellschaft
möglich ist. Daher kann eine soziale Ordnung nur durch
diese egoistische Natur erreicht werden. Diese Ordnung
ist nur dadurch möglich, dass es Bedürfnisse gibt, nach
denen alle Menschen streben müssen. Das sind die
Grundbedürfnisse Nahrung, Kleidung, Wohnung. Wie
kommt der Mensch aber zu dieser Einsicht? Durch eine
Zhuangzi 1 7 6.
Werner Gabriel. Krieg, Frieden und die Erfindung der Logik im Alten
China. In: Quadrivium, Toluca, Mexico 1998.
22
23
411
logische Überlegung, der genau diesen Sachverhalt
aufdeckt, also durch die Entdeckung des Allgemeinen.
Damit werden Aussagen, Sätze und ihre Beziehungen
zur entscheidenden Qualität des Geistes.
Im Gegensatz zum Konfuzianismus und insbesondere zum
Taoismus leistet der sprachlich-logische Ausdruck sehr
wohl die Verbindung von Erkennendem und Erkannten.24
Nicht zu verdrängen ist schließlich das Konzept
des Legalismus, der mit den bisher besprochenen
Bemühungen um den Geist aufräumt, und meint, dass
in der Gesellschaft die Sorge um den Geist überhaupt
keinen Platz haben soll. Als Gegenbegriff zum Geist
wird der der Macht (shì 势) präsentiert. Die Macht
gestaltet die Wirklichkeit und nicht die vernünftige,
moralische Überlegung.
Wir müssen zugeben, dass dieses Konzept das
geschichtsmächtigste ist, weil der Geist wahrscheinlich
immer wieder vor der Macht kapitulieren muss.
Hegel sagt: „Die Vernunft ist Geist, indem die
Gewissheit, alle Realität zu sein, zur Wahrheit erhoben,
und sie sich selbst als ihrer Welt, und der Welt als ihrer
selbst bewusst ist.“25
Siehe Joseph Needham. Science and Civilisation in China Vol 2.
Cambridge 1977. S. 172 ff.
25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Der
philosophischen Bibliothek Band 114. Hamburg 1952.
24
412
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