Annemarie Pieper Einführung in die Ethik Fünfte, überarbeitete und aktualisierte Auflage A. Francke Verlag Tübingen und Basel Annemarie Pieper ist emeritierte o. Professorin für Philosophie an der Universität Basel. <, ..,:).:;..:;."-.:..~ ( "'-"' ./ ..... r..; ~ • .-'. \'t .. \ ~'\.' . :~/ l, - . 'i f'..' .>. .... . "\ \ ,,' ~ \. .. '." .<..~ ~;;'~ :;,t" .-)- l~:.} ,."",-:, ' ; ' ; : .: ..;'''', . ..., •.• ':? Vorwort . ~'J" ~~ <.~~> t. ;>. .. " " , - -,,,.. / '\. '\IVER~\: ~. / ·.t \ /.~ y Bibliografisc he Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.dd b.de> a brufbar. 5., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2003 4. , überarbeitete und aktualisierte Auflage 2000 3., überarbeitete Auflage 1994 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage 1991 1. Auflage 1985 (Beck Verlag, München) Die erste Auflage dieses Buches erschien 1985 unter dem Titel »Ethik und Moral. Eine Einführung in die praktische Phi­ losophie « im Beck Verlag (München). Der Text basiert auf dem dreiteiligen Kurs »Einführung in die philosophische Ethik«, den ich 1979/80 im Auftrag der Fernuniversität Hagen für Studie­ rende der Erziehungswissenschaften erarbeitet hatte. Die zweite, gründlich überarbeitete und erweiterte Auflage, die der Entwick­ lung der Ethik seit 1985 Rechnung trug, erschien 1991 im Francke Verlag (Tübingen und Basel) unter dem Titel »Ein­ führung in die Ethik«. Die dritte Auflage, in welcher das Literaturverzeichnis auf den neuesten Stand gebracht wurde, kam 1994 heraus. Die vierte Auflage (1999) wurde wiederum durchgehend aktualisiert und vor allem in den Kapiteln 2.5, 3.2.1, 3.3.2 und 8. ergänzt. Die nun vorliegende 5. Auflage wurde erneut durchgesehen. Kapitel 7 wurde ergänzt und das Literaturverzeichnis aktualisiert. © 2003 . A. Francke Verlag Tübingen und Basel Dischingerweg 5 . D-72070 Tübingen ISBN 3-7720 - 1698-7 Das Werk ei nschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z ustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt ins­ besondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Satz: Nagelsatz, Reurlingen Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Druck und Bindung: Hubert & Co., Gättingen Printed in Germany ISBN 3-8252-1637-3 (UTB-Bestellnumme r) ~b+ (t.f.1.00b (OJ.I.\: 6 Basel, im April 2003 Annemarie Pieper Inhaltsverzeichnis Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . ..... .. ............... . ......... .. . , 5 11 1 Die Aufgabe der Ethik .. . ....... . . .. ... . .. . 17 1.1 1.2 1.3 1.4 Herkunft und Bedeutung des Wortes »Ethik « .. Die Rolle der Moral in der Alltagserfahrung ... Der Ansatz ethischen Fragens .............. Der Vorwurf des Relativismus .............. . . . . 24 2 Ethik als praktische Wissenschaft ........... . 60 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 Disziplinen der praktischen Philosophie ...... Politik ................................. Rechtsphilosophie .. ..... ... ......... .. .. Öko.nomik ... .. ........ . .. .... ......... . . . . 61 61 63 2.2 2.2.1 . . . . 72 72 2.2.3 Disziplinen der theoretischen Philosophie ..... Anthropologie .......................... Metaphysik ............................ Logik ................................. 2.3 2.3.1 2.3.2 Teildisziplinen der Ethik ... . .... . ...... ... . Pragmatik .............................. . Metaethik .... ...... ........ .. . .. ....... . 84 84 86 2.4 Die Autonomie der Ethik ......... ... .... .. . 92 2.5 2.5.1 Angewandte Ethik ............. ... ....... Medizinische Ethik ....................... Bioethik ............................... Sozialethik .... . . . ...................... 92 2.2.2 2.5.2 2.5.3 . . . . 30 42 49 66 76 81 93 95 97 8 Inhaltsverzeichnis 2.5.4 2.5.5 2.5.6 2.5.7 2.5 .8 Wirtschaftsethik ..._..................... . . 98 Wissenschaftsethik ....................... . 99 Ökologische Ethik ................... . .. . . 100 Friedensethik ... . ... . .................. . . 103 Weitere Spezialethiken; Ethikkommissionen .. . . 106 2.6 Die Bedeutung der Ethik für die menschliche Praxis ... . . . ............... . .. . .... . ... . 114 3 Ethik als praktische Wissenschaft unter anderen praxis bezogenen Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . 119 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 Ethik im Verhältnis zu empirischen Einzel­ wissenschaften ........................... 120 Psychologie .. . . . .. . ............... . .... " 120 Soziologie . . ....... . ................... " 124 3.2 .1 3.2.2 Ethik im Verhältnis zu normativen Wissenschaften ......................... " 128 Theologie ............................. . . 128 Jurisprudenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3.3 3.3.1 3.3.2 Ethik und Pädagogik ...................... 139 Die ethische Dimension der Pädagogik ... .. ... 140 Pädagogisch vermittelte Ethik ...... . . . .. .... 150 Inhaltsverzeichnis 9 6. Grundformen moralischer und ethischer Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 185 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5 6.1.6 Moralische Begründungen .. . ............... Bezugnahme auf ein Faktum . ............... Bezugnahme auf Gefühle ... . ............... Bezugnahme auf mögliche Folgen ............ Bezugnahme auf einen Moralkodex ........... Bezugnahme auf moralische Kompetenz ....... Bezugnahme auf das Gewissen ............... 185 185 189 191 195 196 197 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.2.7 Ethische Begründungen .................... Logische Methode ... . ... . ................ Diskursive Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Dialektische Methode .................. .. . Analogische Methode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Transzendentale Methode ................ . . Analytische Methode . . .......... . ......... Hermeneutische Methode ................. . 200 200 205 212 220 223 226 229 7. Grundtypen ethischer Theorie ............... 234 7.1 7.1.1 7.1.2 7. 1.3 Neutralität oder Engagement? Zur Haltung des Moralphilosophen 234 Das theoretische Erkenntnisinteresse 236 Das praktische Erkenntnisinteresse ....... . .. . 23 7 Die Rolle der Kritik in der Ethik ............ . 23 7 7. 2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 Modelle einer deskriptiven Ethik . . . . . . . . . . . .. Der phänomenologische Ansatz (Wertethik) .... Der sprachanalytische Ansatz (Metaethik) ..... Der evolutionäre Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Modelle einer normativen Ethik ..... . . ... ... 255 Der transzendentalphilosophische Ansatz (Willensethik, konstruktive, sprachpragmatische und generative Ethik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 255 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik) . . .. 262 4. Grundfragen der Ethik ... .. .............. . . 160 4.1 4.2 4.3 Glückseligkeit ........................ . .. . 161 Freiheit und Determina tion .......... . . . ... . 164 Gut und Böse ........................ . .. . 171 5. Ziele und Grenzen der Ethik ........... . .... 178 7.3 7.3.1 5.1 5.2 Ziele ....... .. ........ . ......... . ... . . . . 178 Grenzen .. . . ... . ...... . ..... . ......... . 181 7.3.2 238 238 244 251 10 7.3.3 7.3.4 7.3 .5 7.3.6 8. Inhaltsverzeichnis Der eudämonis.tische Ansatz (Hedonistische und utilitaristische Ethik) Der vertragstheoretische Ansatz (Gerechtigkeitsethik ) .. . ...... ... ... . .. . .. . Der traditionale Ansatz (Tugendethik und kommunitaristische Ethik) . . .... .. ... . ..... . Der materialistische Ansatz (Physiologische und marxistische Ethik) .... . .. 266 Einleitung 273 275 Im Mittelpunkt unserer Überlegungen stehen drei Fragenbereiche: 278 Feministische Ethik .. .. . . ....... . . . .... . .. 289 Anmerkungen . ... .. ....... . . . . . ...... .. . .. ... . . 302 Zitierte Autoren und ergänzende Literaturhinweise .... 311 Bibliographie .... . .. . . ... ..... ....... .. . . ... .. . 329 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Sachen .... . . . ........ . ... . ............. 336 1. Womit hat es die Ethik als philosophische Disziplin zu tun? Was ist ihr Gegenstand? 2. In welcher Weise beschäftigt sie sich mit diesem Gegenstand? Bildet sie methodische Verfahren aus, die dazu berechtigen, von der Ethik als einer Wissenschaft zu sprechen? Oder steht sie auf einer Stufe mit Weltanschauungen und Ideologien, die keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen können? 3. Worum geht es der Ethik letztendlich? Was ist ihr Ziel? Vorab lassen sich noch ohne nähere Begründung folgende Antworten auf diese Fragen skizzieren: Zu 1. Die Ethik hat es mit menschlichen Handlungen zu tun. Dennoch ist sie keine Handlungstheorie schlechthin, denn ihr geht es vorrangig um solche Handlungen, die Anspruch auf Moralität erheben, um moralische Handlungen also. Sie fragt nach diesem qualitativen Moment, das eine Handlung zu einer moralisch guten Handlung macht, und befaßt sich in diesem Zusammenhang mit Begriffen wie Moral, das Gute, Pflicht, Sollen, Erlaubnis, Glück u.a . Zu 2. Die Ethik beschäftigt sich auf methodische Weise mit ihrem Gegenstand - mit moralischen Handlungen -, da sie zu argumentativ begründeten Ergebnissen gelangen will und somit weder moralisieren noch ideologisieren oder weltanschauliche Überzeugungen als allgemein verbindliche Handlungsgrundlage verkünden darf. Ihr ist es demnach um Aussagen zu tun, die nicht bloß subjektiv gültig, sondern als intersubjektiv verbind­ lich ausweis bar sind. Man unterscheidet in der Ethik grob zwei Kategorien von ethischen Methoden: deskriptive und normative Methode. Die 262 Grundtypen ethischer Theorie sucht aber - der Intention nach wie FICHTE - über den Kanti­ sehen Ansatz hinausgehend nach einem letzten höchsten Prinzip, das nicht nur reduktiv ermittelt, sondern auch aus sich selbst entfaltet und immanent expliziert wird. Diese in den Bildern des Ursprungs oder des Entschlusses vorgenommene Selbstexplika­ tion von Freiheit als oberste geltungsbegründende Instanz ist letzter Grund für Moralität und damit unverzichtbarer Sinn­ grund menschlicher Praxis schlechthin. 7.3.2 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik) Der existentialistische Ansatz stellt den Begriff der menschlichen Existenz in den Mittelpunkt ethischer Überlegungen und versucht, menschliches Handeln aus der Gesamtheit mensch­ lichen Selbstseins, das als Einheit von Denken, Wollen, Fühlen und Handeln begriffen wird, zu begründen. Diese Einheit im konkreten Vollzug seines Daseins je und je geschichtlich neu herzustellen, ist die bleibende moralische Aufgabe jedes ein­ zelnen. Als erster hat Sören KIERKEGAARD den Versuch unternom­ men, die Ethik existentialistisch zu begründen. KIERKEGAARD setzt sich mit seinem Ausgangspunkt beim menschlichen Existieren zur Wehr gegen jede Wesensphilosophie (Gegensatz von essentia - Wesen und existentia - Dasein). Die traditionelle Philosophie, als deren Repräsentanten er vor allem HEGEL sah, war für ihn ausschließlich Wesensmetaphysik, indem sie nicht nach dem Sein, sondern nach dem Wesen der Dinge fragte und dieses Wesen abstrakt, vermittels allgemeiner Begriffe formulier­ te. Was für die Dinge noch angehen mag, ist im Hinblick auf den Menschen jedoch nach KIERKEGAARD nicht mehr zulässig, denn der Mensch interessiert als Individuum und hinsichtlich seiner Individualität, so daß man die abstrakte Frage nach dem Wesen des Menschen nicßt unabhängig von der Frage nach der Seinsweise des einzelnen als Individuum stellen kann. Wenn man aber danach fragt, wodurch denn ein Individuum dieses bestimmte Individuum ist, kann man diese Frage nicht mehr auf herkömmliche Weise in Form eines philosophischen Systems Modelle einer normativen Ethik 263 beantworten, weil dieses System ja wieder nur ein abstrakter Begriffsapparat ist, aus dem der einzelne als einzelner heraus­ fällt. Wodurch der einzelne zu dem bestimmten Individuum wird, das er ist, läßt sich nur gewissermaßen biographisch an fiktiven Figuren zeigen. Daher hat KIERKEGAARD so viele verschiedene Pseudonyme erfunden, von denen jedes aus einem anderen Aspekt deutlich machen soll, was Existieren für es heißt. Selbstverständlich kommen auch hier abstrakte Erörterun­ gen vor, aber sie stehen immer in irgendeinem Zusammenhang mit jenem ursprünglichen Seinsvollzug, der als Existenz bezeich­ net wird. Hier ist für KIERKEGAARD SOKRATES das Vorbild, der seine Schüler auch kein begriffliches Wissen, keine Formeln von Tugend, keine Definitionen des Gerechten und Guten gelehrt, sondern ihnen exemplarisch vorgelebt hat, was es heißt, ein tugendhafter, gerechter, guter Mensch zu sein. Für KIERKEGAARD ist Menschsein als Existenz nicht stati­ sches, ontisches Sein, sondern wesentlich Bewegung, Prozeß, Selbstwerden. Existieren heißt: unter einem Unbedingtheits­ anspruch handeln und sich durch solches Handeln als ein trotz seiner Gebundenheit an sein jeweiliges Sosein freies Individuum zu erweisen . Um moralisch handeln zu können, muß sich der einzelne in einem Akt autonomer Selbstbestimmung unbedingt entschlossen haben, er selbst zu sein und Freiheit als Moral­ prinzip anzuerkennen, »denn allein indern man unbedingt wählt, kann man das Ethische wählen . Durch die absolute Wahl ist somit das Ethische gesetzt.« (Entweder-Oder II, 189) Dabei versteht KIERKEGAARD unter dem "Setzen des Ethischen« das Hervorbringen von Moralität aus dem unbedingten Streben nach dem Guten, d.h. die Wahl der Freiheit. »Durch diese Wahl wähle ich eigentlich nicht zwischen Gut und Böse, sondern ich wähle das Gute; indern ich aber das Gute wähle, wähle ich eben damit die Wahl zwischen Gut und Böse. Die ursprüng­ liche Wahl ist ständig zugegen in einer jeden folgenden Wahl.« (Ebd., 232f.) Modelle einer normativen Ethik 264 265 Grundtypen ethischer Theorie Mit der ursprünglichen Wahl bringt der einzelne in freier Selbstbejahung sich selbst als moralische Person hervor, die bereit ist, ihr künftiges Wollen und Handeln den Normen des Guten und Bösen zu unterstellen. Nur wer sich ethisch wählt, wird er selbst als der, der er sein soll: er wird ein "Selbst«. »Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.« (Die Krankheit zum Tode, 31) Menschsein realisiert sich nach KIERKEGAARD als doppeltes, in sich reflexes Verhältnissein, als Tätigkeit eines Sichverhaltens, das sich im Verhältnis zu anderem (Welt, Mitmenschen, Gott) zugleich wesentlich auf sich selbst und im Zusichselbstverhalten zugleich wesentlich auf anderes bezieht. Diese Verhältnis­ struktur menschlichen Existierens als geistigen Selbstseins gilt es stets von neuem in Akten freier Selbstbestimmung geschichtlich zu vollziehen. Die ethische Aufgabe des einzelnen besteht darin, zu existieren, sich zu verhalten und in diesem Sichverhalten als der offenbar zu werden, der er ist. Was KIERKEGAARD in ,Entweder-Oder<durch den Akt des Wählens als der Grundweise individuellen Existierens signali­ siert hat, das präzisiert er in ,Die Krankheit zum Tode <weiter unter dem Begriff des Selbst als Sichverhalten. Nur wer sich verhält und in diesem Sichverhalten offenbar macht, wie er sich entschieden hat, gibt sich als der zu erkennen, der er durch freie Selbstbestimmung geworden ist. Er existiert im ursprünglichen Wortsinn von· ex-sistere - herausstehen, sich zeigen und han­ delnd eröffnen als der, der man wirklich ist. Einen existenzphilosophischen Ansatz, der aber nicht eigentlich zu einer Ethik ausgearbeitet wurde, findet man in diesem Jahrhundert bei Martin HEIDEGGER und deutlicher ausgeprägt bei Karl JASPERS. HEIDEGGER versteht sich zwar weniger als einen Existenzphilosophen und bezeichnet sich lieber, zum mindesten in der Periode um ,Sein und Zeit<, als Fundamentalontologen , aber insofern die Frage nach dem Sinn von Sein eine Analytik des Daseins miteinschließt, dessen Seinscharaktere er als Existenzialien begreift - wie z.B. Angst, Sorge, Sein zum Tode -, kann man auch HEIDEGGER zur Existenzphilosophie rechnen, ebenso wie JASPERS, der sich auch selbst dazu bekannte. Entsprechend betreibt er die Daseins­ analyse als Existenzerhellung, indem er vor allem jene Grundsi­ tuationen _ wie Kampf, Leid, Schuld, Tod - thematisiert, in denen der einzelne im Sichzusichselbstverhalten über sich hinausgetrieben wird auf das Transzendente hin. Auch bei den französischen Existentialisten finden sich Ansätze zu einer existentiellen Moral, so bei Jean-Paul SARTRE, der davon ausgeht, daß die Existenz der Essenz, das Dasein dem Wesen vorausgeht. Der Mensch ist eine Nullpunktexistenz, d.h. er beginnt als radikal Freier, dem nichts vorgegeben ist, der sein Wesen selbst hervorbringt und somit sich selbst erst als der erschafft, der er dann ist. Der Mensch als Existierender wählt sich selbst seinem Wesen nach, indem er im Bewußtsein seiner Verantwortung zugleich alle Menschen wählt. (Vgl. Ist der Existentialismus ein Humanismus?, Frankfurt 1983, 12 f.) Wieder anders reflektiert Albert CAMUS auf die Existentiali­ tät des Menschen . Bestand für KIERKEGAARD der ethische Sinn menschlichen Handelns in der unbedingten Selbstwahl, durch die der einzelne zu dem wird, der er sein soll, so findet Albert CAMUS im Protest gegen die Absurdität des Lebens jenes Moment der Unbedingtheit, aufgrund dessen sich die Menschen in der gemeinsamen Empörung über die Sinnlosigkeit der Welt solidarisch miteinander verbinden: "Weit entfernt, eine allgemeine Unabhängigkeit zu fordern, will die Revolte die Anerkennung der Tatsache, daß die Freiheit überall da eine Grenze habe, wo sich ein menschliches Wesen befindet, denn die Grenze ist eben die Macht der Revolte dieses Wesens. « (Der Mensch in der Revolte, 230) Die einzige dem Menschen nach CAMUS mögliche Freiheit, zu der er moralisch aufgerufen ist, realisiert sich im Protest und als Protest gegen die Unmenschlichkeit des Daseins. Der Mensch '.\ ',: I . \ , ·rt ' I ;i\ .I :11 1" f! !t ~l ~I 266 Grundtypen ethischer Theorie Modelle einer normativen Ethik existiert nur als Protestierender; so hält er seinen Anspruch auf Humanität und ein menschenwürdiges Leben hoch, ohne daß damit freilich die Sinnlosigkeit der Welt aufgehoben würde. Eine existentielle Ethik akzentuiert also das Dasein des Menschen als eines Individuums unter anderen Individuen. Sie denkt das Moralische in seiner geschichtlichen Struktur und Einmaligkeit als etwas, das nicht in zeitloser Präsenz »west", . sondern sich in der Zeit ereignet, den Augenblick zu einem sinnerfüIJten je Jetzt des Lebens macht. Indem ein Individuum moralisch handelt, existiert es als Mensch, und indem es so existiert, wird es einerseits es selbst als diese bestimmte Person offenbar, andererseits als jemand, der sich frei mit anderen verbunden hat, um Freiheit zu realisieren. Die menschliche Existenz erweist sich daher als der originäre Ort, an dem Moralität als geschichtlicher Sinn des Lebens hervorgebracht wird, wobei das Moment des Geschichtlichen, Natürlichen, des Werdens, das aIJe Existenzphilosophen betonen, zugleich die Endlichkeit menschlichen HandeIns in den Blick rückt. Die Handlung selber als bestimmtes empirisches Geschehen vergeht, ebenso wie der Mensch, der diese Handlung ausgeführt hat, eines Tages nicht mehr sein wird. Was bleibt und die einzelne Handlung als moralische überdauert, ist ihre Gültigkeit, ihr Sinn. 7.3.3 Der eudämonistische Ansatz (Hedonistische und utilitaristische Ethik) Der eudämonistische Ansatz (von griech. eudaimonia _ Glück) in der Ethik, der teleologisch das Glück als höchstes Ziel, an dem aIJes menschliche Handeln interessiert ist, bestimmt, geht auf ARISTOTELES zurück, wird aber insbesondere von - der hedonistischen Ethik einerseits, - der utilitaristischen Ethik andererseits ausdrücklich vertreten. Für ARISTOTELES ist das Glück Inbegriff eines schlechthin gelungenen, sinnerfüllten Lebens: 267 »Das oberste Gut ist zweifellos ein Endziel. .. , Als vollkommen schlechthin bezeichnen wir das, was stets rein für sich gewählt wird und niemals zu einem anderen Zweck. Als solches Gut aber gilt in hervorragendem Sinne das Glück. Denn das Glück erwählen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem darüber hinaus­ liegenden Zweck.« (Eth. Nie. I, 5; 1097a 25-b1) Man erstrebt das Glück also nicht um irgend etwas willen; vielmehr erstrebt man alles, was man erstrebt, um des Glücks willen. Zwar streben nach ARISTOTELES alle Menschen nach Glück, aber wirklich glücklich ist jedoch nur der zu nennen, der moralisch handelt, zugleich aber aller äußeren und leiblichen Güter (günstige Umstände, Gesundheit etc.) teilhaftig ist, deren er ebenfalls bedarf, um ein vollkommenes Leben zu führen. »Das Glück setzt moralische Vollkommenheit voraus und ein Vollrnaß des Lebens. « (Ebd ., 1,10; 1100a 4-5) Die hedonistische Ethik (von griech. hedone - Lust) geht ebenfalls davon aus, daß das Glück höchstes Ziel menschlichen Strebens ist, versteht unter Glück jedoch Lust, Freude. Daraus leitet sie den Grundsatz ab, jeder solle tun, was ihm Freude macht. Bezüglich dessen, was die meiste Freude macht, gehen die hedonistischen Ansichten allerdings auseinander. Während ARISTIPPOS von Kyrene (435-355 v.Chr.) den sinnlichen Genuß zum Maßstab menschlichen Handelns erklärt, wobei es Kennzeichen des Weisen ist, daß er die Lust genießt, ohne sich von ihr beherrschen zu lassen, erkennt EPIKUR (342-271) den geistigen und seelischen Freuden den Vorrang zu, da sie dauerhafter und unabhängiger von äußeren Umständen und Störungen seien. Glückselig ist letztlich nur derjenige, dem es gelingt, seine Triebe und Be­ gehrungen so zu harmonisieren, daß keine überschießende Leidenschaft mehr dominiert. Eine solche Harmonisierung ist die Ataraxie (= Unerschütterlichkeit), eine gewisse Seelenruhe, die es z.B. dem Philosophen erlaubt, in heiterer Gelassenheit über den Dingen zu stehen, und das ist das eigentliche, wahre Glück, die Lust am Gleichmaß, an der Ausgewogenheit der Interessen. Der Hedonismus kann egoistisch oder altruistisch fundiert sein, je nachdem ob er vorrangig die Befriedigung der eigenen I ,I