die versaute rebellion Notizen zum neuen Stück

Werbung
text: lutz hübner
Die versaute Rebellion
Notizen zum neuen Stück
Lutz Hübner ist ein scharfer Beobachter der Realität. In seinem
neuen Stück „Wunschkinder“ (Arbeitstitel), das er gemeinsam
mit Sarah Nemitz für das Schauspielhaus Bochum schreibt,
erzählt er von einem jungen Erwachsenen, bei dem in der
Erziehung einiges schief gelaufen sein muss. Oder? In seinen
Notizen zum Stück denkt der Autor darüber nach, warum aus
den „süßen Kleinen“, die die eigenen Kinder einst waren, orien­
tierungslose Erwachsene geworden sind, die nicht wissen, was
sie mit ihrem Leben anfangen sollen.
lang.) Fragen zum Abendprogramm und der anvisierten Rückkehr werden nur sehr vage beantwortet, denn nun herrscht
Zeitdruck. Auch seine Frage nach Geld sollte man nicht zu
Grundsatzdiskussionen nutzen, denn die anderen (wer auch
immer das ist) warten schon und da kann man seine Zeit nicht
mit den typischen Elternfragen (siehe 2) vertrödeln.
2
Wieso hast du dein Taschengeld schon verbraucht? Wann
willst du für deine Prüfungen/Klausuren lernen? Wann willst
du dich um einen Studienplatz kümmern?
Hast du schon mal darüber nachgedacht, selbst Geld zu verdienen?
Was ist so schwer daran, seinen Kram mal wegzuräumen?
Antworten: Gleich / Heute nicht / Mach ich noch / Nerv
nicht / Das ist mein Leben / YOLO
1
Wenn Erwachsene mittleren Alters zusammensitzen, kommt
das Gespräch irgendwann unweigerlich auf die Kinder (die
erwachsenen Kinder, die jungen Erwachsenen kurz vor dem
Schulabschluss, mit/ohne Schulabschluss oder geraume Zeit
nach dem Schulabschluss), und da passiert es nicht selten,
dass Klagegesänge angestimmt werden: Der Nachwuchs hat
eine perfekte Erziehung genossen. Er wurde von Kindesbeinen an ernst genommen, respektiert und hatte Zugang zu
allen Kulturtechniken. Es wurde ihm (ohne Druck) vermittelt, dass gesellschaftliche Verantwortung wichtig ist, ebenso Respekt, Bildung und Toleranz. Konflikte wurden durch
Gespräche geklärt, die Erziehungsmaßstäbe waren transparent
und nachvollziehbar und die Gesamtatmosphäre war achtsam
(= das neue ‚sensibel‘), partnerschaftlich, frei von Willkür
und moralischer Erpressung. Was dabei herausgekommen ist,
lässt sich phänotypisch etwa so beschreiben:
Der adoleszente Nachwuchs (nennen wir ihn A) hat noch
nicht die geringste Idee entwickelt, was er aus seinem Leben
machen will, und sieht darin kein Problem. A verbringt alle
(alle!) Nächte in Clubs, Kneipen oder auf Partys, kommt frühestens im Morgengrauen nach Hause und schläft dann bis
zum späten Nachmittag. Dann verlangt A ein Frühstück, das zu
lauter Musik oder YouTube-Videos eingenommen wird. A verlässt die Küche, ohne irgendetwas wegzuräumen, weil dringende Telefonate oder Chats anstehen, welche die Gestaltung des
Abends betreffen. Danach verzieht sich A wieder ins Bett, um
dort die verbleibende Zeit bis zum abendlichen Feierprogramm
mit amerikanischen Serien (nicht die guten, nein: die richtig
trashigen Serien) totzuschlagen. Das Bett wird nur verlassen,
um sich Süßigkeiten zu holen oder der Mutter Vorwürfe zu
machen, weil der Lieblingspullover noch nicht gewaschen wurde. Bei Einbruch der Dunkelheit verzieht A sich ins Badezimmer, um sich für den Abend fertig zu machen (die Verweildauer
im Bad ist bei Jungen und Mädchen etwa gleich, nämlich sehr
rerseits denkt man: Klar, ich habe es auch krachen lassen,
aber ich habe immerhin noch darauf geachtet, meinen Kram
(Zielvorstellungen entwickeln, auf Klausuren lernen, Bewerbungen schreiben …) geregelt zu bekommen. Nachfragen bei
den eigenen Eltern und ein Blick in die Zeugnismappe widerlegen diese weichgezeichnete Erinnerung. Hat man eben nicht
auf die Reihe bekommen. Also alles nur ein Phantom? Früher
hat man dich genervt, jetzt nervst du? Ja und nein. Falls ja,
kann man sich zurücklehnen und denken: Okay, das kriegst
du später alles von deinem eigenen Nachwuchs wieder zurück.
Falls nein, woran könnte das liegen?
5
„Die soll mal kapieren, dass der kindliche Versorgungsanspruch irgendwann mal ausläuft und wir nicht für alles
zuständig sind. Irgendwann mal fängt das Erwachsenenleben
an“, sagt ein Vater um die 50 beim Squash. Er trägt ein 99iger
Tourshirt von Pearl Jam.
6
Es gibt keine klar definierte Arbeitswelt mehr, alle Übergänge
sind fließend, keine ‚rites de passage‘ mehr, an deren Ende man
in die Gesellschaft aufgenommen wird, keine Erwachsenen
im Sinne einer definierten Gruppe, zu der man sich verhalten
muss, keine vorgezeichneten Wege, die man beschreiten oder
verlassen kann, keine ökonomischen Sicherheiten, die Familie
hat als soziales Netz wieder große Bedeutung. Es gibt für Heranwachsende ein Übermaß an Informationen und Bildern zu
allen Themen, die oft konsumiert werden, bevor sie emotional
und intellektuell verarbeitet werden können. Alle Informationen zu haben, bedeutet keine zu haben. Strukturen bilden sich
immer im Widerstand gegen eine Weltsicht, einer schwierigen
Familienkonstellation oder einer unhaltbaren ökonomischen
Situation.
Also mehr Widerstand, mehr Anforderungen, weniger
Verständnis? Das wäre die einfachste Lösung. Aber wie Einstein sagte: Für jedes schwierige Problem gibt es eine einfache
Lösung und die ist meistens falsch.
3
Natürlich will man, dass der Nachwuchs in sich ruht, ausgeglichen ist und glücksbegabt. Aber wieso ist das Resultat einer
perfekten Aufzucht oft ein narzisstischer, spaß- und erlebnisorientierter Hänger (das ist natürlich übertrieben, und trotzdem …)? Man hat alle Türen geöffnet und nun gibt es keine
mehr, die eingerannt werden können? Führt das allumfassende elterliche Verständnis für alle Sorgen und Nöte dazu, dass
es nichts mehr gibt, wovon sie sich abgrenzen können? Hat
man ihnen die Rebellion versaut, weil man mit ihnen aufs
Seeed-Konzert gegangen ist? Oder ihre schrägen Klamotten
ganz lustig findet? Hat man sich zu sehr angebiedert? Kurz
gesagt: Hat man sie zu ernst genommen? Anders gesagt: Sind
das einfach alles nur faule Ratten, denen man es vorne und
hinten reingeschoben hat und jetzt bekommt man die Quittung dafür?
4
Wovon willst du später eigentlich mal leben?
Was willst du mit dem Notendurchschnitt eigentlich mal
studieren?
Kapierst du nicht, dass die Weichen jetzt gestellt werden?
Musst du eigentlich jeden Abend raus?
Das sind genau die Fragen, die man früher gehasst hat, und
jetzt stellt man sie selbst und das fühlt sich nicht gut an. Ande-
74
Die Uraufführung von Lutz Hübners und sarah nemitz’ neuem stück „Wunschkinder“
(Arbeitstitel) in der Regie von Anselm Weber ist am 25. Mai 2016 in den Kammerspielen.
Herunterladen