»Ihr Deutschen seid alle Juden!« Ein kleines Lehrstück in Sachen Pluralismus und Toleranz Von: Walter Rothschild, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 11 / 2016 Ein geheimes Treffen Es war ein geheimer Ort. Keine Synagoge, natürlich - das wäre zu ... zu selbstverständlich gewesen. Vielleicht auch zu gefährlich. Wer weiß? Wie auch immer, wir hatten ein Platz gefunden, einen deutschen Ort - symbolisch, sehr symbolisch. Das ist wichtig, damit es richtig funktioniert ... Wir? Ein paar Kollegen und ich - alle Rabbiner - die Namen sind natürlich streng geheim, weil es wie in allen jüdische Verschwörungen war: alles muss geheim bleiben. - Wir haben uns also vor einigen Wochen getroffen an einem geheimen Ort und in gemeinsamer Absprache haben wir, als ein Beit Din, ein Haus des Richtens, alle Deutschen zu Juden deklariert. Darf man das tun? Leute zu Juden deklarieren, ohne ihr Wissen, vielleicht gegen ihren Willen? Ja, natürlich! Es gibt in Deutschland eine lange Tradition von solchen Maßnahmen: In den 1930er und 1940er Jahren hat die damalige Regierung zum Beispiel viele Menschen zu Juden deklariert, die überhaupt nicht wussten, dass sie es waren oder es gar nicht sein wollten. Viele davon waren getauft, einige sogar Pfarrer oder Nonnen. Viele hatten nur irgendwo in ihrem Stammbaum einen jüdischen Opa oder eine jüdische Oma. Aber das genügte. Die Endergebnisse dieser Zwangs-Etikettierung sind leider wohl bekannt. Oder zum Beispiel dies: In den 1990ern sind viele Einwanderer aus den GUS-Staaten unter einem "Kontingent" nach Deutschland gekommen, mit der Behauptung, sie wären jüdisch - ob sie das wirklich selbst glaubten oder nicht. Hier in Deutschland wurden sie alle als Juden registriert, auch wenn zumindest die Hälfte nicht in den jüdischen Gemeinden willkommen war, weil sie nur einen jüdischen Vater hatten. Interessanterweise waren alle diese Leute, wenn es um Geld ging, plötzlich bei den Gemeinden doch willkommen - nicht als Beter, sondern als Mitglieder. Sie mussten nicht in den Synagogen erscheinen, es genügte dass sie in den Bürgerämter als Juden registriert worden waren, weil dann viele jüdische Gemeinden extra Geld aus der öffentlichen Hand erhielten - und immer noch erhalten - , weil das pro Kopf kalkuliert wurde, und wichtig war nur einen Kopf zu haben, nicht was darin war oder ist. Wahrscheinlich hätten die Gemeinden sogar gern mehrere zweiköpfige Mitglieder gehabt, obwohl die Gemeindevorstände kein gutes Vorbild dafür waren - die meisten Gemeinden haben nur eine Person am "Kopf". Eine lange Tradition Zu diesem Thema gehört auch, dass es sehr viele Deutsche gibt, die Interesse am Judentum haben, die jüdische Wurzeln haben (oder behaupten, dass sie sie haben), die zum Judentum konvertieren möchten, und so weiter. Viele von ihnen reden stolz von ihren "jüdischen Vorfahren" oder bezeichnen sich sogar selbst als "wir Opfer". Und natürlich sehnen sich viele Deutsche - besonders die an der rechten Seite - auch sehr nach einer nationalen Opferrolle. Es wäre nur logisch, diese zwei Opfer-Identitäten zu kombinieren. Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 1/8 Sogar in Schulen und auf Schulhöfen, überall in Deutschland werden Schüler und Schülerinnen als "Juden" beschimpft, nur weil sie aus irgendeinem Grund nicht so genehm oder "in" sind. So etwas passierte natürlich nicht nur in Deutschland. Die Inquisition, von Spanien ausgehend, hat in vielen katholischen Ländern Menschen als Juden ausgekundschaftet, verurteilt, gefoltert, ermordet - sie wurden als Feueropfer für ihren Gott dargebracht - vielleicht weil sie an einem Samstag ein sauberes Hemd getragen hatten oder kein Feuer zuhause gemacht hatten. Das war für sie, die Hüter des richtigen Glaubens, schon Beweis genug: sie waren "Ungläubige", sie waren "insgeheim Juden" ... Europa ist noch immer voll von sog. "Marranos" - dieses Wort ist eigentlich ein Schimpfwort, bezeichnet aber Menschen mit jüdischer Abstammung, die nicht "christlich genug" sind um "echte" Christen zu sein. Was auch immer das bedeuten soll! Dazu gehört auch Folgendes: Seit dem 12. Jh., wenn nicht (schon) früher, wurden auch viele Juden zwangsgetauft. - In London gab es damals schon zwei "Domus Conversos" - Häuser für die zum Christentum Konvertierten - was bedeutet, dass kaum eine Person in Europa nicht irgendwo im Stammbaum, wenn man nur weit genug zurückgeht oder gehen kann, jüdische Vorfahren hat ... Und natürlich sind für viele islamistische Fundamentalisten alle Amerikaner "Juden", "Yahud". Für die alten sowjetischen Regierungen waren alle Kinder eines jüdischen Vaters "Ewrei". Alle in Deutschland zu Juden erklärt Warum sollen wir Juden das nicht auch tun? Was könnte einfacher sein? Wenn alle Menschen Juden würden, dann könnten wirklich die Juden endlich unsere Welt kontrollieren, beherrschen, und keiner würde das mehr problematisch finden ... Man könnte fragen: Was wäre mit der Beschneidung? Auch hier gibt es Präzedenzfälle, die hilfreich sein können. Natürlich ist es wichtig, dass nach der Halachah - dem jüdischen Gesetzessystem - alle Männer - (aber nur die Männer) beschnitten werden sollen. Aber wie wir wissen, waren viele jüdische Einwanderer aus dem Osten nicht beschnitten - sie zählten trotzdem für die Statistik als Juden - und natürlich haben wir in Deutschland Hunderttausende von Männern, die schon beschnitten sind, obwohl sie (bisher) nicht als Juden galten. Diese haben also kein Problem, müssen nichts mehr unternehmen. Deswegen haben wir Rabbiner debattiert und gemeinsam beschlossen, durch ein geheimes Formular aus dem tiefsten Teil der Kabbala, der mystischen Tradition, die zurück bis zur Schöpfung und vielleicht sogar noch weiter zurückreicht, mit dem Buch, das Gott selbst benutzt hat, um die Welt zu schaffen, alle Männer, Frauen und Kinder in Deutschland zu Juden zu deklarieren. In Bezug auf die schon Verstorbenen haben wir uns entschieden, uns nicht weiter darum zu kümmern - für uns sind sie schon in Gottes Hand und, obwohl die Mormonen gern alle Verstorbene zu Mormonen deklarieren, wollten wir nicht noch mehr posthume Juden haben. Tote Juden gibt es hier schon mehr als genug. Also: Seit dem Sonnenuntergang am 15. des jüdischen Monats Adar im jüdischen Jahr 5766 (entsprechend dem jüdischen Festtag "Purim") ist diese Entscheidung gültig, rechtskräftig und unantastbar. Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 2/8 Ein Problem weniger Warum wir das getan haben? Weil es so viele Vorteile für alle mit sich bringt, wenn sie das eben einfach nur akzeptieren und lernen, was es für sie bedeutet, jetzt Juden zu sein. Mit einem Schlag hätten wir das ganze Problem des Antisemitismus gelöst! Wenn alle Deutschen jetzt Juden sind - ob sie es wollen oder nicht ist hier egal, wie viele möchten Steuerzahler sein? - , dann sind alle Querelen und Konflikte nur mehr innerjüdische Konflikte. Wir sind "unter uns". Und das bedeutet, alle sollten nach jüdischen Regeln geführt werden. Aus ehemaligen verbissenen Antisemiten sind dann nur "Self-Hating Jews" geworden. Und alle Menschen, die hier einwandern möchten, müssten es dann wissen: In dem Moment, wenn sie die Grenzen Deutschlands überqueren - mit oder ohne gültige Papiere - würden auch sie zu Juden werden! Das könnte helfen, viele Spannungen und Ängste hier zu vermindern. Die, die das wirklich nicht wollen, sollten lieber fern bleiben; die, die hierher kommen, sind automatisch integriert. Wir Rabbiner wissen, dass hinter vielen Ängsten in der deutschen Gesellschaft die Angst vor der sog. "Islamisierung" steckt. (Kaum einer kümmert sich heutzutage um "Judaisierung", wie im letzten Jahrhundert - nur die echt Verrückten.) Wären alle Flüchtlinge Christen gewesen, wenn auch andere "Arten" von Christen - Maroniten, Kopten aus Irak und Nordafrika und dem Nahen Osten - , dann wäre das zumindest für "Pegida" und die "Alternativen für Deutschland" ein Problem weniger gewesen. Dann würden die großen Kirchen endlich offen geredet haben. Und insgeheim, so wie viele Politiker über "Integration" reden, meinen sie, alle Neuankömmlinge sollten zu Christen werden. (Denken wir nur an die Vorbehalte gegen den Eintritt der Türkei als muslimisches Land in das "christliche" Europa.) Es gibt sogar viele fundamentalistische christliche Gruppen, die in Asylantenheimen zu missionieren versuchen. Das führt zu potentiellen Konflikten. Es gibt sogar Konflikte, ausgetragen in überfüllten Lagern und Heimen, zwischen Flüchtlingen aus dem einen Land und einem anderen, oder zwischen Muslimen und Christen, oder zwischen verschiedenen Denominationen von Muslimen - Sunniten und Schiiten, oder zwischen beiden Gruppen und Alawiten oder Achmediyyas. Wenn aber dann alle Juden sind, brauchen sie nicht mehr zu kämpfen. Streitereien sind normal Meckern, ja, natürlich! Schreien? Absolut! "Bedijuk"! Streitigkeiten über Gemeindewahlen und Parteien, über autokratische Vorsitzende und inkompetente Vorstände? Alle jüdischen Gemeinden beschäftigen sich fast non-stop und ausschließlich mit solchen Themen. So viel Energie wird für diese Kämpfe benutzt, dass keine für andere Probleme in der Welt übrig bleibt. Aber trotz allem: Wir würden "unter uns" bleiben. Keine Dschihadisten mehr, nur noch Yehudisten. Und wir haben das Judentum zur neuen Staatsreligion ernannt. Das Judentum ist zwar nicht pazifistisch, aber es gibt gewisse Grundregeln. Eine davon ist, dass man mehrere Meinungen haben und mehrere Meinungen vertreten kann und dein Gesprächspartner genauso - und das ist völlig OK. Natürlich sind alle, die eine andere Meinung als du haben, völlig blöd und Idioten - aber sie sind trotzdem Juden. Und zu Gewalt kommt es sehr, sehr, sehr selten - die ganz wenige Ausnahmen (denken wir zum Beispiel an den Mord an Jitzhak Rabin) sind schockierend und bestätigen nur die Regel. Man könnte sagen: Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 3/8 auch wenn viele behaupten, das Judentum sei eine Religion, die auf vielen Regeln basiert - und das ist wahr - ist es auch wahr, dass es mehr Ausnahmen als Regeln gibt. Streitereien sind normal. Das findet man schon in unseren religiösen Texten. Awraham und Mose streiten mit Gott. Die Propheten streiten mit den korrupten Priestern. Die Rabbiner streiten auch mit den Priestern aber hauptsächlich untereinander. In einer rabbinischen Bibelausgabe - einer "Mikra'ot Gedolot" - findet man zahlreiche Kommentare von verschiedenen Rabbinern, die alle unterschiedliche Meinungen haben, aber alle wurden zusammen auf der gleichen Seite abgedruckt, alle haben das Recht gelesen zu werden und der Leser darf die Argumente von allen lesen und vergleichen und dann seine eigene Meinung dazu haben. In dem einzigen jüdischen Staat Israel kämpfen Ultra-Orthodoxe (Charedim) und Säkulare Juden (Chilonim), um Plätze in der einen Knesset zu ergattern. Sephardim und Aschkenasim streiten über fast alles, aber keiner will einen eigenen Staat oder eine Enklave haben, wie Basken oder Kurden oder Flamen oder andere Nationalisten - nein, sie wollen in dem gleichen Staat Israel bleiben, damit sie mit ihren Mitbürgern streiten können, statt mit Ausländern. Es gibt in Israel zahllose Kirchen und Moscheen, es gibt einen Baha'i Tempel und eine Mormonen-Universität; es gibt Gay Pride in Tel Aviv, es gibt fast alles es sind, ironischerweise, nur die liberalen Juden und die Feministinnen, die immer um ihre Rechte als Juden kämpfen müssen - genau wie hier. Als Waffen nur Bücher und Zeitungsartikel Wir hatten und haben keine Scheiterhaufen oder Autodafé, wir haben auch keine Massaker gegeneinander verübt. Wir brennen einander die Synagogen nicht nieder. Wir legen keine Autobomben auf Hochzeitspartys. Wir haben als Waffen nur Bücher und Zeitungsartikel und Predigten. Wir haben schier endlose Streitereien über Kleinigkeiten - aber ist nicht alles, was der Mensch bewegt, nur eine Kleinigkeit, wenn man an das ganze Universum denkt, die ganze Ewigkeit? Einer denkt so und ein anderer denkt so und ein Dritter steht irgendwo dazwischen und - was soll das? Ist es wirklich so wichtig - so wichtig, um ein Menschenleben dafür zu nehmen und eine Familie zu zerstören? Mit den ganzen Schäden an Familien und der Gesellschaft? Nein, sagt das Judentum: "Das wollen wir nicht, das erlauben wir nicht. Keine Menschenopfer im Namen Gottes." Und das ist genau der Punkt: Trotz aller blöden, falschen, lügnerischen, hasserfüllten, rassistischen antisemitischen Schmähungen und Vorwürfe, dass Juden Blut trinken oder Kinder ermorden oder Schlimmeres tun sollen - eigentlich sind wir besser als die anderen. Viel besser. Wir morden nämlich nicht. Und obwohl viele Juden relativ ignorant sind - und wir werden am Anfang plötzlich an die 82 Mio. ignorante Juden in Deutschland haben, die alles über ihre neue Religion erst lernen müssen - , ist es nur eine Frage der Zeit, bis diese neuen Juden wissen, wie sie sich verhalten sollen. Am Anfang, sollten wir nicht mehr von "Den Deutschen und den Juden" reden und schreiben! Stattdessen sollten alle "Wir Juden" sagen. Dann wird man zum Beispiel auch lernen, wie es sich anfühlt, jüdisch zu sein. Auch oder obwohl man nicht mehr zu einer Minderheit, sondern zu der Mehrheitsgesellschaft gehört. Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 4/8 Sonderbare Mischung aus Hoffnung, Zynismus und Pragmatismus Natürlich wird das etwas kosten, aber Juden geben gern Geld für Bildung aus. Schon im Talmud steht, man soll Lehrern Respekt zollen und sie bezahlen. Also, Lehrer zu bezahlen wird in der jüdischen Tradition und in jüdischen Gemeinden als Pflicht angesehen. Das bedeutet, es sollte möglich sein, genug Lehrer zu finden und anzustellen, um diesen neuen Juden etwas Zivilisatorisches beizubringen. Sparen kann man woanders. So viele teure Flughafenprojekte wird man nicht mehr brauchen - man kommt auch ohne das in den Himmel. Wenn man nur weiß, wie ... Vielleicht können wir nur so die Welt noch retten. Das Judentum ist eine sonderbare und einzigartige Mischung aus unendlicher Hoffnung, Zynismus und Pragmatismus. Nur so hat es so vieles überlebt - so viele historische Katastrophen, Vertreibungen, so viele Kaiserreiche, andere intolerante Religionen ... Das Judentum sagt, es gibt einen Gott, aber Gott ist nur einer; das Judentum sagt, dieser Gott hat alle Menschen geschaffen, deswegen sind wir alle Geschöpfe und in diesem Zusammenhang alle gleich - das heißt nicht, dass alle gleich intelligent sind, auch nicht, dass alle gleich reich sein sollen, aber alle haben die gleichen Rechte zu leben und etwas zu verdienen und auszuruhen und respektiert zu werden, anerkannt zu sein. Wenn Gott viele Menschen nicht als Juden geschaffen hat, ist das für uns Juden kein Problem - wir sind tolerant; wir hatten bisher kein theologisches Problem - nur ab und zu ein politisches Problem oder sogar einen Überlebenskampf. Wir haben kein Problem, wenn Christen Christen sind oder Muslime Muslime sind oder Hindus Hindus oder Buddhisten Buddhisten oder sogar Atheisten Atheisten. Das ist ihr gottgegebenes Recht, das können sie sein und das können sie selbst später vor dem Thron des allerhöchsten Richters verantworten. Das ist kein Problem für uns. Eine massenhafte Mission ist uns fremd Wir haben seit Jahrtausenden keine Mission unter Nicht-Juden ausgeübt. Im Buch Esther oder in einem der Makkabäer-Bücher kann man von Konversionen lesen; in dem Buch Ruth entscheidet eine Witwe aus Moab selbst darüber, sich in das Volk ihres verstorbenen Mannes zu integrieren - aber eine massenhafte Mission ist uns fremd. In den biblischen Zeiten bestimmte vielleicht das Oberhaupt des Stammes, wer Mitglied war und wer nicht. Normalerweise, sagen die Rabbiner, weiß man wer die Mutter eines Kindes ist, und wenn die Mutter Jüdin ist, sind ihre Kinder auch ein Teil der jüdischen Gemeinschaft. Wer das nicht behaupten kann, darf konvertieren, muss aber beweisen, dass dieser Schritt ernst gemeint ist und dass man weiß, wie man als Jude oder Jüdin leben und beten kann. Aber Druck soll es nicht geben. Und die, die das nicht tun, sind trotzdem Menschen und haben trotzdem eine eigene Beziehung zu dem gleichen Gott. Und ein Recht weiter zu leben. Die Gedanken sind frei. Nur wenn die Mission gegen uns benutzt wurde, wenn wir gezwungen worden sind oder durch einseitige Disputationen in der Öffentlichkeit gedemütigt wurden, nur wenn Leute versuchen, uns oder anderen Juden durch "Love-Bombing" zu beeinflussen - nur dann findet unser Toleranz eine Grenze. Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 5/8 Partnerschaft des Menschen mit Gott In unserer Theologie, (die wir eigentlich nie richtig schriftlich und systematisch entwickelt haben), lernt der Mensch sehr früh zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Das heißt, der Mensch hat keine Ausreden mehr. Er kann Gott nicht die Schuld geben oder sagen, er sei mit Schuld schon geboren worden und kam sozusagen hoch spirituell verschuldet aus dem Mutterleib in die Welt hinein. Der Mensch kann nicht sagen, er sei hilflos, das Schicksal entscheide alles, er müsse nur fatalistisch abwarten, was für ihn schon vorherbestimmt sei. Nein, im Judentum hat der Mensch sowohl Rechte als auch Pflichten, und auch wenn einige der Pflichten - das sind alle "Taryag Mitzwot", nämlich die 613 Gebote und Verbote, die man aus den ersten fünf Büchern herausinterpretiert und definiert hat, plus die Aufrufe der Propheten und dazu die aus der Rabbinischen Literatur - , wenn auch nicht alle inzwischen noch relevant oder möglich sind, wenn einige praktisch auf das Ritual und die Priester und Könige oder die Landwirtschaft in einem einzigen Land begrenzt zu sein scheinen, sind die Grundlagen nichtsdestotrotz ganz klar. Der Mensch, als Geschöpf Gottes, ist auch in einer Partnerschaft mit Gott. Ein Junior-Partner, aber immerhin, ein Partner mit Rechten und Pflichten. Nur gemeinsam können wir unsere Welt verbessern - nicht durch Gott allein, der uns braucht, und nicht, indem wir alles allein an Gott weitergeben und ihm überlassen - nein, wir müssen auch aktiv an dieser Arbeit teilnehmen. Soziale Gerechtigkeit kommt nicht von selbst. "Letakeyn Olam beMalchut Schaddai" bedeutet: die Welt besser zu machen und zu verbessern - als Teil des Gottesreichs. Tischregeln Im Judentum gibt es Regeln, wie wir mit Gott und wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen sollen. Mit Gott? Naja, die alten Methoden sind schon überaltert und jetzt nicht mehr relevant - es gab und gibt doch auch Fortschritt in lebendigen Religionen. Obwohl einige Völker glaubten, Menschenopfer darbringen zu müssen, hat die Torah uns gesagt: "Keine stattdessen nur Tieropfer und Speiseopfer!" Wir brachten Stiere, Widder, Lämmer, Ziegen, Tauben, Obst, Mehl, Wein, Olivenöl - als Zutaten für eine gemeinsame Mahlzeit, die zwischen den Menschen unten und Gott da oben geteilt wird. Wenn wir sie nicht essen können, sollen wir sie nicht opfern, denn sonst könnten wir nicht teilnehmen. Wir sind keine Kannibalen, also: es war alles klar und selbstverständlich für die damalige Zeit. Später ging diese Methode verloren - es gab keinen Tempel mehr, keine Priester, keinen Altar, keine Opfer - und die Rabbiner haben ein wunderbares neues System erdacht: Wir essen hier unten wie normale Menschen und laden Gott ein. Wir sind jetzt die Gastgeber und bedanken uns bei Gott für das, was Gott uns zum Essen geschenkt hat. Auch das ist relativ einfach und selbstverständlich - ein paar Berachot, Segenssprüche vorher und ein Tischgebet mit Danksagungen nachher, und alle sind zufrieden. Aber es gibt keinen echten großen Streit darüber, wer das Essen auftischen darf oder ob es sich in etwas verändert und verwandelt. Es ist ein Abendessen, kein Abendmahl. Ja, wir streiten darüber, wer was als kascher bezeichnen darf, welche Rabbiner welche Autorität hat. Es gibt Juden, die vermeiden es, in dieser oder jener Synagoge oder im "koscheren Restaurant" zu essen. Wie schon gesagt, wir haben viele innerjüdische Streitigkeiten, eine Streitkultur - aber keinen Mord deswegen. Das ist der Unterschied. Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 6/8 Was könnte einfacher sein? Und die Pflichten gegenüber den anderen Menschen sind auch klar. In Lev. 19,18 (Jesus von Nazareth zitiert dieses Konzept in Mk. 12,31) ist das Grundprinzip zu finden: "Ich bin, wer Ich bin; Ich weiß, was Ich mag, und Ich weiß, was Ich nicht mag, was mir weh tut oder mir Sorgen macht. - Ich gehe davon aus: Du bist in dieser Hinsicht genauso wie Ich; Du magst auch nicht Angst, Schmerzen, Hunger, Kälte, Verzweiflung, Obdachlosigkeit, Einsamkeit, Krankheit, Sorgen, Armut also soll Ich mein Bestes tun, um dies in Deinem Leben auch zu vermeiden oder nicht schlimmer zu machen ... Nur so. Ich kann zwar nicht alles tun, um alles besser zu machen, aber einiges schon, und zumindest soll ich versuchen, alles nicht noch schlimmer zu machen." Was könnte einfacher sein? Und das gilt für alle Menschen, sogar für die, die uns dienen und für uns arbeiten, oder für die, die aus anderen Ländern kommen, sogar für die, die arm oder verwitwet oder behindert sind, die anders aussehen ... Sogar für Kriegsgefangene männlich oder weiblich - gibt es Regeln. Die haben verloren, die sind zwar Gefangene, aber trotzdem haben sie bestimmte Rechte. Die Einzelheiten für diese Regeln - es gibt Tausende davon - füllen mehrere Bücher und es gibt immer neue Probleme, die immer neue Interpretationen von unseren Gelehrten verlangen - was heißt "heilen", wenn jemand im Koma liegt oder unheilbar krank ist? Wie hilft man jemandem, der eigentlich keine Hilfe annehmen möchte, der Selbstmord verüben möchte, usw.? Wie darf man Technologie und modernes Wissen nutzen, um zu helfen und zu bauen statt zu zerstören? Ja, es gibt keinen Platz für Dogmen, die Welt ändert sich ständig, deswegen braucht man diesen Pragmatismus, diese Flexibilität man muss immer in der Lage sein, einen neuen Anfang zu machen, und das ist nicht immer einfach; aber die Grundideen sind wirklich einfach: "Mein Leben ist Mein Leben, nicht Deines, und sicher nicht Dein Spielzeug. Mein Besitz ist Mein Besitz. Ich darf ihn besitzen - Du darfst Deins haben, aber Ich soll Deins nicht stehlen und Du Meins auch nicht, auch nicht begehren, nicht davon fantasieren oder es neiden. Meine Ehe ist Meine Ehe und Deine Ehe ist Deine Ehe, und wenn wir uns entschieden haben zu heiraten, jemanden zu ehelichen, dann haben wir ein Versprechen gemacht und haben auch einen Anspruch darauf, dass andere dies respektieren. Du und Ich - Wir sind in so vieler Hinsicht gleich! Ich soll Dich behandeln wie Ich behandelt werden möchte, und Ich erwarte von Dir, dass Du Mich auf die gleiche Art und Weise behandelst ... weil der gleiche Gott über Uns Beiden steht." Und das geht so weiter - sogar in der Tierwelt! Die Lasttiere haben auch ein Recht auf Ruhe und sollen fair behandelt, pünktlich gefüttert werden (auch an Ruhe- und Feiertagen). Ja, sie sind unsere Diener, aber sie sollen auch einen Ruhetag genießen. Ja, wir dürfen sie töten und essen, aber sie sollen nicht brutal und schmerzvoll geschlachtet werden, sie sollen nicht zusehen müssen, wenn ihre Kinder geschlachtet werden. Den Muttervogel und die Eier soll man nicht zur gleichen Zeit nehmen ... Ochs und Esel sollen nicht zusammen arbeiten ... Es ist nicht so, dass uns verboten worden wäre, Mücken zu töten oder gefährliche Schlangen, es ist nicht so, dass wir Fleisch total vermeiden sollten oder sogar alle Tierprodukte - das würde uns zu weit gehen. Aber ein gewisser Respekt für andere Teile von Gottes Schöpfung - das gehört zum Judentum, das ist uns wichtig. Wir sollen nicht verschwenderisch mit Dingen umgehen; wir haben nur die eine Welt, zumindest auf dieser Ebene, "Olam haSeh". Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 7/8 Ach ja, die Seele Das Jenseits, das ist eine andere Welt, ein "Olam Haba" - aber darüber haben wir nur wenig Informationen und hauptsächlich nur Hoffnungen. Es soll aber offen für alle sein. Wir sind nicht die, die entscheiden, wer eine Eintrittskarte kaufen darf ... oder wann genau andere dorthin geschafft werden sollen, bevor sie sich bereit fühlen dorthin zu ­gehen ... Ach ja, die Seele. Die haben alle Menschen, die geboren worden sind. (Übrigens: die, die noch nicht geboren worden sind, haben sie noch nicht - das ist ein Unterschied zwischen Fötus und Mensch.) Aber die Seele - diese Kraft, diese Energie, diese Individualität, Persönlichkeit, Gefühle, die "Software" in der "Hardware" des Körpers - diese Seele hat eine eigene Existenz, einen eigenen Zweck, unabhängig vom Körper - und kann, soll, muss irgendwann später berichten ... oder beichten ... Also, meine neuen Brüder und Schwestern im jüdischen Glauben: "B'ruchim HaBa'im!" Herzlich Willkommen im jüdischen Volk! Es gibt vieles zu lernen. Von nun an können wir miteinander Auseinandersetzungen führen, einander beleidigen, einander beschimpfen, wirklich wie Brüder und Schwestern. Und trotzdem miteinander weiterleben und unsere Schicksale teilen. Und vielleicht werden wir so die Welt - unsere Welt - Gottes Welt - doch ein bisschen besser machen. Sollen andere Länder dann später fragen, was unsere Besonderheit ist. Wieso geht es denn in Deutschland plötzlich besser? Dann ... aber nein! Ssssh!! Das soll unser Geheimnis bleiben, ja? Unter uns! ▸ Walter Rothschild Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771 Herausgeber: Geschäftsstelle des Verbandes der ev. Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V Langgasse 54 67105 Schifferstadt Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 8/8