Ethische Urteilsbildung im Krankenhausalltag Vortrag von Prof. med. K. Gahl (Chefarzt am Städtischen Klinikum Braunschweig) anlässlich der Tagung des Konvents der Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorger in der Evang. Kirche im Rheinland zum Thema „Ethik-Komitee im Krankenhaus“ in Mönchengladbach am 19.Sept. 2001 Für die freundliche Einladung zu Ihrem „Ethikkomitee im Krankenhaus“ bedanke ich mich herzlich und hoffe, anhand einer Kasuistik beitragen zu können zur Einübung in „medizinethische Urteilsbildung im Krankenhausalltag“. Der Beitrag versteht sich nicht als geschlossener Vortrag sondern als skizzierte Anregung zur Diskussion. Ich möchte schon jetzt betonen, dass es sich bei dem zu besprechenden Fall nicht um die Beschreibung eines alltäglich stattfindenden expliziten Prozesses, vielmehr um ein Wunschbild, quasi ein Modell möglicher Kommunikation über ethische Dilemmata handelt. Lassen Sie mich einige allgemeine Vorgaben voranstellen, die den klinikinternen Prozess der Urteilsbildung ebenso wie die fundamentale Arzt-Patient-Beziehung mit beeinflussen. Ärztliches Handeln ist stets eingebunden in und mitgeprägt durch gesundheitspolitische, rechtliche, ökonomische und soziokulturelle Rahmenbedingungen. Die in Tabelle 1 stichwortartig aufgeführten Aspekte (z. T. präjudizierende Regelungen, Entscheidungen, Zuweisungen, implizite Zielsetzungen und gesetzliche Grenzen medizinischer Aufgaben) können hier nur potentielle Problemfelder markieren, die auch Einzelfallentscheidungen berühren. Tab. 1: Gesundheitspolitische, rechtliche, ökonomische, soziokulturelle Einbindung medizin-ethischer Urteilsbildung a) im Rahmen der Kranken- und Sozialversicherungsgesetzgebung: Gesundheitsstrukturgesetz Ressourcenverteilung DRG-/SE-/FP-Abrechnungsmodus budgetäre/ökonomische Begrenzung von Diagnostik und Therapie Basisversorgung, Akutmedizin, Vorsorge, rehabilitative Medizin Aufteilung der Versorgungszuständigkeit (Kranken-/Sozialversicherung) ambulante/stationäre Krankenversorgung Liegezeitverkürzung b) im Rahmen zivil- und strafrechtlicher Regelung: Pränatal-/Präimplantations-Diagnostik und -Therapie Schwangerschaftsabbruch Sterbehilfe 2 Von diesen primär krankenhaus-externen Determinanten werden auch die institutionellen Rahmenbedingungen innerhalb des Krankenhauses (Tab. 2) strukturell und funktionell beeinflusst. Tab. 2: Medizin-ethische Urteilsbildung: Institutionelle Einbindungen auf „mittlerer Ebene“ (Institution Krankenhaus) Organisationsstrukturen Personalstrukturen Unmittelbare Mittelbare Krankenversorgung: Pflegekräfte Ärzte Physio-/Ergotherapeuten Krankentransportdienst Labor/apparat. Diagnostik Küche „Wirtschaft“ Reinigung Technik haben Einfluss auf Zeit- und Funktionsabläufe Desozialisation i.w.S. Verlust der Privatsphäre Entmündigung/oktroyierte Regression „institutionalisierte Zumutung“ Diese Strukturen haben - auch für den Kranken spürbar - deutliche Auswirkungen auf die medizin-ethische Urteilsbildung. Die funktionsteilige Krankenversorgung, die zeitfragmentierte Zuständigkeit und die personale Verantwortungsfragmentierung – nicht nur durch die immer stärkere Trennung von pflegerischer und ärztlicher Betreuung sondern auch innerhalb dieser beiden Versorgungsbereiche – führen zu einer „zerstückelten“ Kranker/Arzt- und Kranker-/Pflegeperson-Beziehung und damit unter Umständen zu einer „wertedivergenten“ Urteilsbildung. Die Personalhierarchie kann dazu beitragen, indem unter Umständen wechselnde und unterschiedlich direktive Diskussionen über die Begründung von Handlungsabläufen (weisungs-)abhängiger Personen geführt werden. Derartige Institutions- und Strukturgegebenheiten können unabhängig von den Personen in den Strukturen und von den Kranken und den je aktuellen Problemen, die eine kommunikative Urteilsbildung erfordern, den Prozess mitprägen - sei es ihn vereiteln oder fördern. Damit will ich die Skizze der „überindividuellen“ Einflussfaktoren beenden. Sie zeigen bereits, wie die Urteilsbildung vielfältigen positiven wie negativen, entlastenden und belastenden „Prägekräften“ ausgesetzt ist - großenteils unausweichlich. 3 Ich komme zu der Kasuistik, anhand derer modellhaft der Prozess medizin-ethischer Urteilsbildung entwickelt werden kann. Kasuistik: Der 65-jährige Herr L. wurde uns am 23.11.2000 aus einem konfessionellen Nachbarkrankenhaus (dort vom 4.11. bis 23.11.) verlegt, nachdem er in einer kurzen Vorphase der Krankenhauseinweisung mehrere Synkopen erlitten hatte. Über die gut 14 Tage der Betreuung dort mit wiederholten Elektroschockbehandlungen bösartiger Rhythmusstörungen war der Kranke weitestgehend kommunikationsfähig; der Wunsch einer Maximaltherapie hätte besprochen werden können. Infolge eines frischen Herzinfarktes geriet er in den protrahierten kardiogenen Schock mit Linksherzdekompensation und respiratorischer Insuffizienz, musste intubiert und maschinell beatmet werden. Nach telefonischer Absprache mit dem Spezialarzt unserer Klinik für die geplante Diagnostik Überweisung auf unsere Intensivstation. Grund der Verlegung zu uns: Herzkatheteruntersuchung in der Hoffnung auf die Möglichkeit einer interventionellen Therapie, sei es mittels Ballondilatation oder KoronarOperation. Ergebnis: Schwerste koronare 3-Gefäßkrankheit mit hochgradiger Ventrikelfunktionsstörung, inoperabel, koronar-dilatierbar allenfalls mit hohem Risiko und fraglichem Erfolg hinsichtlich des Akut- und des Langzeitergebnisses. Nach der Katheteruntersuchung wurden der für die Intensivstation zuständige Chef- und Oberarzt informiert und einbezogen in die weiteren Entscheidungen. Ehefrau und Tochter wurden anhand der Katheteraufzeichnung über den schwerwiegenden Befund aufgeklärt. Der Kranke war zu dem Zeitpunkt noch intubiert, tief sediert und nicht kommunikationsfähig. Den Angehörigen wurde die Entscheidung zum Interventionsverzicht medizinisch begründet. Im Gespräch weist die Ehefrau auf die zwei Monate zuvor abgefasste Vorsorgevollmacht hin; sie sehe sich mit der ihr aufgebürdeten Entscheidung oder Willensbekundung für ihren Mann aber überlastet und nicht in der Lage, „über Tod oder Leben (ihres) Mannes“, über einen riskanten Kathetereingriff als einzige Chance des Weiterlebens zu entscheiden. Die Tochter bringt das mit der Vorsorgevollmacht verbundene, am gleichen Tag ausgestellte, sehr ausführliche und detaillierte Patiententestament (nach Uhlenbruck) ins Gespräch. Auch habe sich der Kranke ausdrücklich gegen ein „Leben an Schläuchen“ geäußert. Ehefrau und Tochter berichten über einen Aktenordner des Kranken, in dem er Vorkehrungen für die Beerdigung schriftlich festgehalten habe. Mit dieser so überaus deutlichen und zeitnahen Willensbekundung war die Entscheidung zum Therapieverzicht nun auch auf der medizin-ethischen Ebene klar. Im abschließenden Arztbrief wurde das lange Gespräch, die Begründung der Entscheidung reduziert auf den Satz: „Eine Intervention mittels Ballondilatation wurde von unserem Chefarzt ... in Anbetracht der unmittelbaren Vorgeschichte und der daraus resultierenden infausten Prognose für nicht angebracht erachtet“. So weit in Kürze die Darstellung eines gar nicht außergewöhnlichen Falles, an dem ich die verschiedenen Entscheidungsebenen auf dem Wege zu einer medizin-ethischen Urteilsbildung beispielhaft darstellen möchte. Es handelt sich dabei - wie gesagt - nicht um einen alltäglich stattfindenden Dialog sondern um ein Wunschbild kommunikativer Ethik. In einem ersten raschen Überblick sind zu unterscheiden, aber nicht zu trennen: die institutions-strukturell unabhängigen Ebenen des Einzelfalles (Tab. 3). 4 Tab. 3: Medizin-ethische Urteilsbildung: Institutionsstrukturell unabhängige Ebenen des Einzelfalles • • • • • • Medizinisch fachliche Ebene Kommunikative und interaktionelle Ebene Psychologische (Verarbeitungs-)Ebene Juristische Ebene Soziale, ökonomische, soziokulturelle Ebene Wertebene individueller Entscheidung Wie sieht das „inhaltlich“ für unseren „Fall L.“ aus? 1. Medizinische Sachebene: Vorgeschichte mit mehreren chronischen Krankheiten; unmittelbare prämonitorische Symptome und Ereignisse (Synkopen) vor akutem Herzinfarkt mit protrahiertem kardiogenen Schock und mit respiratorischer Insuffizienz (Intubation, maschinelle Beatmung). Rezidivierende bösartige Herzrhythmusstörungen. Deswegen Überlegung, durch eine Herzkatheteruntersuchung/-behandlung die lebensbedrohliche Situation zu überwinden. - Die Untersuchung wurde unter extremen Bedingungen bei maschineller Beatmung, erheblicher Lungenstauung und Kreislauflabilität durchgeführt. Ergebnis: Sogenannte koronare 3Gefäßkrankheit mit schwerer linksventrikulärer Funktionsstörung. Entscheidung: Intervention nur mit hohem Risiko und fraglichem Erfolg quoad Lebensqualität und -quantität möglich. 2. Kommunikative und interaktionelle Ebene: Für den Prozess medizinethischer Urteilsbildung wären Gespräche zwischen dem primär behandelnden Arzt und dem Kranken, die einander seit Jahrzehnten enger bekannt waren, wie auch zwischen dem Arzt und der Ehefrau möglich gewesen, ebenso zwischen dem Kranken und seinen Angehörigen. Die wiederholt erforderlichen Elektroschockbehandlungen der bösartigen Herzrhythmusstörungen hätten dazu genügend Anlass gegeben. War doch schon diese extreme Behandlung jenseits dessen, was der Kranke in seinem Patiententestament als inadäquat verfügt hatte. Da dem zuweisenden Arzt die Lebenseinstellung seines Kranken auch bekannt war, hätte er den hiesigen Katheterarzt darüber informieren müssen, sodass nicht in der Extremsituation bei dem nicht entscheidungsfähigen Kranken die Untersuchung in Unkenntnis seines Willens hätte durchgeführt werden müssen. In unserer Klinik war die unmittelbare Kommunikation mit dem intubierten Patienten nicht mehr möglich; wohl aber die Kommunikation der hier beteiligten Ärzte und des Pflegepersonals untereinander wie auch mit der Ehefrau und der Tochter des Kranken, die als Vermittler des mutmaßlichen Willens, sogar der schriftlich ausdrücklichen Willensbekundung zugegen waren. 5 3. Psychosoziale Ebene: Das gespannte Eheverhältnis zwischen dem zeitweilig handgreiflichen Alkoholiker und seiner Frau (dem zuweisenden Chefarzt bekannt) erklärt die empfundene Bürde der Vollmacht. Die Stellung der Tochter wurde uns nicht deutlich. Auf der psychologischen Ebene müssen wir Ärzte uns aber auch fragen, warum es uns oft so schwer fällt, Diagnostik und Therapie aufzugeben. Warum ist uns (bei unserer medizinischärztlichen Sozialisation) Handeln leichter als Verzichten? 4. Juristische Ebene: Der Patient hatte ein sehr detailliertes „Patiententestament“ (nach Uhlenbruck) und eine Vorsorgevollmacht verfasst, zeitnah, konkludent und durchaus auf die aktuelle Krankheitssituation anwendbar. Der Aktenordner mit schriftlichen Regelungen und Anweisungen bezüglich Beerdigung war zudem deutlich genug ein Indiz für seinen vorbereiteten Tod. Tab. 4: Medizin-ethische Urteilsbildung Juristische Ebene • Behandlungspflicht (NB: Grenzen der Pflicht!) • Aufklärungspflicht Æ einverständliche Selbstentscheidung („informed consent“) • Vorausverfügungen: • Patientenverfügung („-testament“) • Vorsorgevollmacht • Betreuungsverfügung • Mutmaßlicher Wille • Schweigepflicht u. a. 5. Medizin-ethische Ebene: Auf dieser Ebene war hier zu fragen nach der Akzeptanz der Patientenautonomie und dem Selbstbestimmungsrecht, dessen Anspruch mit den beiden Rechtsinstrumenten des „Patiententestamentes“ (nach Uhlenbruck) (besser Patientenverfügung) überaus detailliert und in der Vorsorgevollmacht für die Ehefrau persönlich dokumentiert war. Wer aber war der Garant für die Wahrung der Willensbekundung? Auch galt es (wenn schon mit der Entscheidung für die Herzkatheteruntersuchung der Schritt in die Richtung der Maximaltherapie diagnostisch eingeleitet worden war), die Verhältnismäßigkeit in der Nutzen/Schaden-Abwägung zu prüfen, auch im Blick auf erwartbare Lebensqualität und quantität. Liefen wir nicht mit der invasiven Diagnostik unter medizinischen Extrembedingungen (ganz abgesehen von dem organisatorischen Aufwand) Gefahr, in einem vielleicht nicht mehr aufzuhaltenden Aktionismus die Menschenwürde des Kranken zu missachten? Bei einem 3. Durchgang werden wir die verschiedenen Entscheidungsebenen nicht mehr streng gegeneinander trennen und uns ausdrücklich auf Handlungsorientierungen (s. Tab. 5) oder Grundnormen ärztlicher Ethik (s. Tab. 6) konzentrieren. Dabei wird die wechselseitige Durchdringung und Abhängigkeit der Entscheidungsebenen deutlich werden - auch für unsere so vielfältig konflikthafte Fallgeschichte. 6 Tab. 5: Medizin-ethische Urteilsbildung • • • • • • • „Praktische Wertebene“ gebotene Sachlichkeit Angemessenheit des Handelns bzgl. Situation und Person Verantwortung Achtung der leiblichen und geistigen Personalität Ziel der Leidensminderung Beachtung des Nutzen/Schaden-Verhältnisses Solidarität und Mitmenschlichkeit Die fachlich-medizinische Entscheidung gegen eine Intervention war getroffen: begründet im Beisein von Ehefrau und Tochter, aber nicht unter deren Einbeziehung in die Entscheidung. Das ist auf der medizinischen Sachebene nicht möglich. Angehörige sind ggf. „Informationsquelle“ für den mutmaßlichen Willen des Kranken, aber nicht Entscheidungsträger, schon gar nicht auf der fachlichen Begründungsebene. Jetzt erst berichten die Ehefrau von der Vorsorgevollmacht und die Tochter von der Patientenverfügung („Patiententestament“) und beide von den Vorbereitungen des Kranken auf sein Sterben und seine Beerdigung - dies alles dem Herzkatheterarzt, dem Oberarzt und dem Chefarzt nicht bekannt, wohl aber - wie sich im Nachhinein herausstellt - dem zuweisenden Chefarzt! Mit den genannten Rechtsinstrumenten und dem „Äquivalent“ in der indiziellen Willensbekundung (dem Vorbereitungsordner) wird die juristische Ebene in den Entscheidungsprozeß ethischer Urteilsbildung gebracht. Handelt es sich doch um den Schutz des Grundrechtes der Selbstbestimmung. Der sonst häufig zu beachten geforderte mutmaßliche Wille, diese viel vagere, unsicherere Form, in der das Selbstbestimmungsrecht geltend gemacht werden kann (von Angehörigen, Freunden etc.), war hier als Begründung für unsere Entscheidung gar nicht heranzuziehen. Alle drei Willensbekundungen waren konkludent, nicht überaltert, nicht unbestimmt und durchaus applikabel für die aktuelle Situation. Wie konnte bei dieser „einstimmigen“ Willensbekundung der Wille des Kranken überhaupt übergangen werden?! Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht haben verschiedene Adressaten 1 : Die Patientenverfügung richtet sich an den Arzt. Sie ist eine Aufforderung zum Verzicht auf Intensivmaßnahmen – nicht ohne den Appell zur kritischen, verantwortungsvollen Prüfung der aktuellen Krankheitssituation: Ist der Kranke tatsächlich in einer nicht überwindbaren Lebensbedrohung durch Krankheit oder Unfall? Stimmen die in der Patientenverfügung formulierten, antizipierten Bedingungen für einen primären Therapieverzicht oder eine Therapiebegrenzung oder –abbruch mit dem aktuellen Krankheitszustand überein? Wie ist die Prognose? Wie sind die konkret verfügbaren medizinischen und organisatorischen Möglichkeiten der Überwindung der akuten Lebensbedrohung? Erst die Kongruenz macht die „Patientenverfügungen ...verbindlich, sofern sie sich auf die konkrete Behandlungssituation beziehen und keine Umstände erkennbar sind, dass der Patient 1 Arbeitsgruppe „Sterben und Tod“ der Akademie für Ethik in der Medizin e.V.. Handreichung für Ärzte und Pflegende zur Patientenverfügung, Betreuungsverfügung, Vorsorgevollmacht. Göttingen 1998. Beckmann J.P. (1998): Patientenverfügungen: Autonomie und Selbstbestimmung vor dem Hintergrund eines im Wandel begriffenen Arzt-Patient-Verhältnisses. Zschr Med Ethik 44:143-156 7 sie nicht mehr gelten lassen würde“ 2 . Die Patientenverfügung fordert unter den genannten Kautelen den Arzt zum Verzicht auf Behandlungsmaßnahmen auf. Wer aber verzichtet? Der Kranke verzichtet auf einen moralischen und rechtlichen Behandlungsanspruch, auf Lebensverlängerung und auf den Versuch einer Lebensqualitätsverbesserung. Der Arzt hingegen soll verzichten auf lebensverlängernde, intensivmedizinische Maßnahmen. Die „Basisversorgung incl. Schmerztherapie, Sedierung, Beschwerdelinderung werden selbstverständlich erwartet; dazu ist der Arzt auch verpflichtet. Unter den möglichen Umständen bedeutet das Verzichtsgebot einer Patientenverfügung für den Arzt ein Behandlungsverbot, unter Umständen entgegen dessen medizinisch-sachliche Einschätzung. Hier ist der Arzt unter Umständen in seinem Selbstverständnis, in seiner Sozialisation, in seiner personal-hierarchischen „Struktureinbindung“ (s.o.), psychologisch und funktional in seiner „Berufsverpflichtung“ tangiert, auch in seiner institutionellen Vertragsbindung. Rechtsgültig vorrangig ist jedoch der Patientenwille. Noch einmal: Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht haben verschiedene Adressaten: Richtet sich die Patientenverfügung vornehmlich an den Arzt, so die Vorsorgevollmacht an Angehörige i. w. S., im optimalen Fall an eine Vertrauensperson, der die Lebenseinstellung, die Wertsetzung des bevollmächtigenden Kranken bekannt ist. Umfang und Inhalt der Vorsorgevollmacht müssen ausführlich dargelegt sein, um die Patientenwünsche über die Vertrauensperson dem Arzt als Handlungsorientierung vermitteln zu können. Auch hier ergibt sich wieder die Aufgabe der kritischen Prüfung der Adäquanz von antizipierter, ja überhaupt vorhersehbarer und konkreter Situation. Soll eine oder sollen mehrere Personen bevollmächtigt werden? Sinnvoll, aber nicht obligat ist notarielle Beglaubigung. Steht zwecks Einschätzung der Prognose die Frage diagnostischer Maßnahmen an oder sind Eingriffe „mit hohem Risiko für Leben und Gesundheit“ erforderlich, so hat das Vormundschaftsgericht die letztgültige Zustimmungsbefugnis (§ 1904 BGB); bedarf doch die „Einwilligung des Betreuers oder des [Vorsorge-] Bevollmächtigten in eine das Leben gefährdende Behandlung ... der Zustimmung des Vormundschaftsgerichtes“. 3 Mögen die juristischen Richtlinien im Umgang mit Vorsorgevollmachten auch klar sein, so zeigt unsere Kasuistik doch weitergehende Probleme. Das vom Kranken ausgesprochene Vertrauen in die bevollmächtigte Person bis hin zu solch gravierenden Entscheidungen über Leben und Tod impliziert die Entbindung des Arztes von der Schweigepflicht gegenüber der Vertrauensperson. Dies kann den Arzt in den Konflikt der Offenlegung von Krankheitszuständen bringen, die den bevollmächtigten Angehörigen bislang verborgen geblieben waren 4 . Die psychische Bürde der (Akzeptanz einer) Mitentscheidung über das möglicherweise stark beeinträchtigte Weiterleben oder den nicht unausweichlichen, den aufschiebbaren Tod wird dort besonders belastend, wo der Prozess der Bevollmächtigung nicht offen und wechselseitig vertrauend vollzogen worden ist. Das Argument der Unsicherheit der Prognose und der möglichen Diskrepanz zwischen Antizipation und konkreter Situation wie schließlich das der möglichen terminalen Willensänderung gelten für die Vorsorgevollmacht wie für die Patientenverfügung. Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht entbinden den Arzt nicht von der verantwortungsvollen Verpflichtung 2 Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (1998) in Deutsches Ärzteblatt 95, 39, pp C-1690-1691. Siehe dazu: Gahl K. (2001): Gedanken zur ärztlichen Sterbebegleitung. Med Klinik 96: 491-496. 3 Grundsätze der Bundesärztekammer, a.a.O. Indem durch die am 1.1.1999 in Kraft getretene Änderung des Betreuungsgesetzes der Gesetzgeber das Erfordernis einer vormundschaftlichen Genehmigung zu risikobelasteten Diagnostik- oder Behandlungsmaßnahmen auf Vorsorgebevollmächtigte ausgedehnt hat, ist die vertrauensgetragene Entscheidung des Kranken, einer nahestehenden Person Entscheidungsbefugnis zu erteilen, unter betreuungsrechtliche Kontrolle gestellt worden: ein Rückschritt in der Entwicklung hin zu einer größeren Akzeptanz der Selbstbestimmung! 4 Verfasser hatte selbst vor Jahren die Ehefrau eines Kranken über dessen AIDS-Erkrankung aufzuklären. 8 stringenter medizinischer Sachentscheidung, auch im Hinblick auf Kongruenz oder Inkongruenz von antizipierter und konkreter Situation. Mit der Respektierung der Patientenverfügung und ggf. der Vorsorgevollmacht des Kranken ist aber mehr als die juristische Ebene berücksichtigt: Das Selbstbestimmungsrecht, wie es in einer Patientenverfügung oder einer Vorsorgevollmacht bekundet wird, wurzelt in der konstitutiven Unverfügbarkeit des Menschen, insofern in dem (kantianisch humanistischen) Verständnis von Autonomie. Sie ist eines der heute gültigen Prinzipien medizin-ethischer Urteilsbegründung. Der Arzt wird sich in seiner Entscheidung zu einer Behandlung oder zum primären Verzicht oder zur sekundären Therapiebegrenzung, ja auch (soweit medizinisch begründbar und zu rechtfertigen) zur Behandlungsmethode prüfen müssen, wieweit er der Autonomie des Kranken gerecht handelt. Das gilt auch für ärztliche Handlungen in der Situation, wo der Kranke nicht entscheidungskompetent und einwilligungsfähig ist und sein Wille nur durch eine Patientenverfügung oder eine Vorsorgevollmacht oder indiziell-mutmaßlich zu erschließen ist. Mit der Entscheidung zum Therapieverzicht haben wir das Selbstbestimmungsrecht unseres Patienten respektiert. In die prognostische Beurteilung der Verbesserung der Lebensqualität ist die Abwägung des hohen Risikos und des mögliche Nutzens eines Eingriffes eingegangen. Indem Nutzen und Risiko gegeneinander abgewogen werden, stehen zwei für die ethische Orientierung ärztlichen Handelns wichtige Kriterien zur Diskussion: das ausdrückliche oder implizite Ziel der ärztlichen Aufgabe und die limitierende Wahrscheinlichkeit des Gelingens oder reziprok die Vergeblichkeit des Handelns, gemessen an eben diesem Ziel. Gilt schon grundsätzlich auch bei voraussichtlich nicht todbringender Krankheit für die Therapie das Gebot, mehr zu nutzen als zu schaden („primum nil nocere!“, „nonmaleficence“), so erfährt diese Maxime angesichts des lebensbedrohlich Kranken eine praktische Brisanz und eine ethische Begründungsnotwendigkeit, die durch die Irreversibilität der Konsequenzen des Handelns kaum drängender zu denken sind. Praktisch insofern, als das Handeln – ob Tun oder Unterlassen – potentiell zum Tode oder in ein „beschädigtes“, vom Kranken nicht gewolltes Leben führt. Und argumentativ rechtfertigend, weil für den möglichen Nutzen eines gelingenden Reanimationsversuches die Frage der Verhältnismäßigkeit bedeutungslos ist - mindestens unter der Voraussetzung, dass der Kranke sein wiedererlangtes Leben akzeptiert. 9 Tab. 6: Grundnormen ärztlicher Ethik • Prinzip der Patientenautonomie („autonomy“) • Prinzip der Schadensvermeidung („non-maleficence“) = mehr nützen als schaden („beneficence“), nil nocere / bonum facere • Prinzip der Fürsorgepflicht („obligation to care“) • Gerechtigkeit („justice“) • Verschwiegenheit („confidentiality“) Vertraulichkeitsprinzip Angesichts dieser möglichen Konsequenzen ist der Arzt vor die Frage der ethischen Begründbarkeit seines Handelns gestellt. Diese kann unter drei Aspekten gesehen werden: die teleologische Begründung, das Ziel des Handelns ist die Abwendung der Lebensbedrohung und – gelingt sie – die Verbesserung der Lebensqualität des Kranken; im Blick auf Konsequenzen des Eingreifens bedacht, kann angesichts der Sicherheit der infausten Prognose im Falle des Nichtstuns um der Minimalchance willen die Maximaldiagnostik und –therapie eingesetzt werden, da „man ja nichts zu verlieren“ habe (so wurde auch bei unserem Patienten L. argumentiert); die deontologische Begründung kann für die Maximaltherapie die Pflicht des Lebenserhaltes um jeden Preis („in dubio pro vita!“) oder das absolut geltende Hilfeleistungsgebot anführen; dem sind entgegenzuhalten die Achtung des Selbstbestimmungsrechtes und der sie fundierenden Autonomie und die Menschenwürde als einer personal-partnerschaftlichen ArztPatient-Beziehung angemessene Maximen. Hier zeigt sich eine Wertehierarchie, die mit dem allmählichen Abbau paternalistischdirektiven Alleinentscheidungsanspruches des Arztes mehr und mehr zugunsten der zunehmenden Mit- oder Selbstentscheidung des Kranken auf dessen Wertorientierung hin individualisiert und respektiert wird. Vorausgehend wurde der „Nutzen“ ärztlichen Handelns in seinem Verhältnis zum „Schaden“ gesehen (die Maxime „mehr nutzen als schaden!“). Hier soll nun der Nutzen als Ziel ärztlichen Handelns nochmals betrachtet werden. War früher die Orientierung an dem Heil des Kranken („salus aegroti suprema lex esto!“) vorrangig, so war damit verbunden die (paternalistische) Beurteilung dessen, was das Heil denn sei. Seiner religiösen Konnotation entsprechend wurde es sub specie aeterni, unter dem Gesichtspunkt der metaphysischen Bestimmung des Menschen gesehen. Mit dem Schwund religiösen Selbstverständnisses der Kranken in einer zunehmend säkularen Gesellschaft gewinnt die Orientierung an der Lebensqualität den Stellenwert des Heiles. Diese bemisst sich an Daten biologischen („Gesundheit“), psychischen und sozialen Wohlbefindens und der Selbsteinschätzung. Sie wechselt intra- und interindividuell, situativ, biographisch, sozial und spirituell stark und ist „von außen“, auch aus der Sicht des Arztes, nicht festzulegen als diachron gültiges Behandlungsziel, schon gar nicht als für verschiedene Personen gleichermaßen gültig. Entgegen dem strengen Gebot „in dubio pro vita“ wird die Lebensqualität heute (mindestens in der Vorstellung aus gesunden Tagen) der Lebensverlängerung vorrangig gesehen. 10 Mit der Gegenüberstellung von Lebensquantität und Lebensqualität als möglichen Zielen des Nutzens für den Kranken wird eine Werte-Hierarchie benannt, die entsprechend der genannten Einschätzung intra- und interindividuell stark wechseln kann. Auch unser Patient L. hatte die Entscheidung getroffen: Eine Lebensverlängerung um den Preis intensivmedizinischer Maßnahmen wollte er für sich nicht. Und wieder: Welche wert-implikativen Fragen ergeben sich aus dieser Entscheidung?! Eine Lebensverlängerung um den Preis einer Leidensverlängerung, u. U. bei falsch eingeschätzter Prognose? Eine in Kauf genommene oder sogar beabsichtigte Lebensverkürzung um der erwünschten oder geforderten Verschonung von Leiden willen? Das Gebot des Lebenserhaltes, und das heißt angesichts des drohenden Todes: Lebensverlängerung bis zum Erlöschen jeden Restes einer Chance der Revitalisierung eines sterbenden Organismus - dieses Gebot wird oft mit der „Heiligkeit“, der Unantastbarkeit des Lebens als eines grundrechtlich geschützten Personrechtes begründet. Gerade um der Unantastbarkeit menschlichen Lebens willen ist aber eine Qualifizierung des Lebens als biologisches Phänomen gegenüber psychischem, personalem und spirituellem gefordert. Biologisches Leben ist zwar die Voraussetzung, aber nicht die Totalität dieses Lebens. Mit der Patientenautonomie, dem Selbstbestimmungsrecht, dem Nutzen-/Schadensprinzip sind drei der (besonders nach amerikanischem Vorbild medizin-ethischer Diskussion betonten) Grundnormen ärztlicher Ethik benannt (Tabelle 6). In der offenen Diskussion um unseren Patienten waren die anderen aufgeführten Grundnormen nicht thematisiert. Deswegen werden sie hier auch nicht ausführlicher hinsichtlich ihrer Orientierungsqualität und der ihnen inhärenten Konflikte dargelegt, zumal eine angemessene Analyse den Zeitrahmen dieses Vortrages sprengen würde. Tab. 7: „Sekundäre Normen“ • • • • • Wahrhaftigkeit Verschwiegenheit Wahrung der Intimsphäre Verantwortung einverständliches Handeln („informed consent“) u. a. „Leitbilder“ („ideals“) und „Tugenden“(virtues“) wie • • • • Behutsamkeit, Empathie Sach-/Kommunikationskompetenz Angemessenheit soziale und soziokulturelle Vertretbarkeit und Zuträglichkeit Der Prozess medizin-ethischer Urteilsbildung, wie er als vornehmlich kognitiv-rationale Annäherung dargestellt wurde, wäre unvollständig, wollte man die intuitive Dimension in diesem Prozess außer Acht lassen. Oft nimmt ja die Urteilsbildung ihren Ausgang von einem „Gefühl“ des Unbehagens, der Unangemessenheit, der Verletzung von mitmenschlicher 11 Achtung, Verletzung von Wertordnungen oder Menschenwürde, die präreflexiv „wahrgenommen“ werden. Solche „Zäsuren“ in Routineabläufen werden intuitiv gespürt, emotional registriert und geben dann Anlass zu dem kognitiven Prozess der Analyse und zielen auf handelnde Veränderungen der „unbehaglichen“ Situation. So hat die Intuition diese drei verflochtenen Bewegungen: Die emotional-empathische Wahrnehmung, den Stimulus zu analytisch-rationaler Klärung und den Antrieb praktischer Überwindung. Dass sie oft beides nicht erreichen kann – weder die kognitiv-analytische Freilegung noch die praktische Umsetzung – spricht nicht gegen die innere Sinnstruktur der Intuition. In der Entwicklung ethischer Kompetenz gilt es auch, die Fähigkeit zur intuitiven Wahrnehmung zu wecken und zu schulen und sie zur Artikulations- und Kommunikationsfähigkeit zu befreien und sie so wirksam werden zu lassen für die rationale Konfliktbewältigung. Mit zwei abschließenden Tabellen möchte ich meine Skizzen zusammenfassen. Die Tab. 8 ist ein „Muster“ medizinethischer Urteilsbildung, ein didaktisch akzeptabler, inhaltlich aber durchaus nicht konfliktfreier Vorschlag, der aus einer (amerikanischen) pragmatischen Tradition ethischer Urteilsbildung hervorgeht 5 . Was auf Seiten einer prinzipien-orientierten Ethik die Deduktionsproblematik (i.e. Anwendung und Gültigkeit für den Einzelfall), ist auf Seiten der diskursiv-analytischen, fallorientierten Ethik die Induktionsproblematik, i.e. die Hinführung zu generalisierbaren normativen Begründungen, die Prüfung der Tragfähigkeit von Generalisierungen. Die Tabelle 9 macht abschließend noch einmal deutlich, wie schwierig und verantwortungsvoll dieser Weg der medizinethischen Kompetenzentwicklung ist, der wir uns m.E. nur im ernsten und offenen Dialog annähern können. Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. med. Klaus Gahl Medizinische Klinik II Städtisches Klinikum Salzdahlumer Straße 90 38126 Braunschweig 5 Viefhues H. (1989): Medizinische Ethik in einer offenen Gesellschaft. In: H.-M. Sass (Hrsg.): Medizin und Ethik. Stuttgart, Philipp Reclam jun., pp 17-39 12 Tab. 8: Medizin-ethische Urteilsbildung1 • ein Prozess der Entscheidungsfindung • statt einer deduktiv-normativen eine analytisch-diskursive Ethik, ausgehend vom konkreten Fall; • hinführend auf einen (Minimal-)Konsens Prämisse: Arzt-Patient-Beziehung = Hilfsprozess! („Was dient dem Wohl des Patienten?) Analyse: 1. Medizinische und soziale Fakten 2. Handlungsleitende Prinzipien: „prima-facie-Prinzipien“ • Gesundheits- und Wohlbefindensfürsorge • Selbstbestimmung • soziale Zuträglichkeit Prinzipien 2. Ordnung: • Vertrauen • Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit • Verschwiegenheit, Vertraulichkeit 3. Deskription des Falles als rationales Dilemma verschiedener Entscheidungsoptionen 4. Entscheidung für 1 rational begründbare Option. „Wie kommt meine ärztliche Handlung als ethisch rechtfertigungsfähig zustande?“ 5. Beachtung der Folgeprobleme 1 nach H. Viefhues (1989): Medizinische Ethik in einer offenen Gesellschaft. In: H.-M. Sass (Hrsg.): Medizin und Ethik (Stuttgart, Philipp Reclam jun., pp 17 - 39) 13 Tab. 9: Was gehört zu medizin-ethischer Kompetenz? • medizinische Sachkompetenz • analytische Kompetenz für die Differenzierung unterschiedlicher Determinations- und Entscheidungsebenen • Wahrnehmungskompetenz • Verbalisationskompetenz für eine diskussionsfähige Artikulation • Bewertungskompetenz • Kommunikationskompetenz Literatur Amelung E.(Hrsg.): Ethisches Denken in der Medizin (1992) Berlin, Heidelberg; Springer Verlag (ISBN 3 - 540-53175 - 0) Bondolfi A. & Müller H. (Hrsg.): Medizinische Ethik im ärztlichen Alltag (1999) Basel; EMH, Schweizerischer Ärzteverlag (ISBN 3 - 7965 - 1112 -0) Brudermüller G. 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