Realitätsbezogene Aufgaben — ein Schlüssel zur Nachhaltigkeit im Mathematikunterricht? Stefan Götz Fakultät für Mathematik Universität Wien Nordbergstraße 15 A-1090 Wien [email protected] 1. Oktober 2008 Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 1 / 66 Inhalt 1 Einleitung 2 Fundamentale Ideen 3 Grundvorstellungen 4 Fundamentale Ideen und Grundvorstellungen 5 Vernetzung 6 Zwei Münzen 7 Bayes und die Ziegen 8 Didaktisches Resümee 9 Big Points in der Stochastik-Lehramtsausbildung 10 Beliefs über Mathematik als Fach bzw. Wissenschaft 11 Modellieren im Mathematikunterricht Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 2 / 66 Einleitung Real existierender Mathematikunterricht in Österreich: Betonung des kalkülhaften Operierens TIMSS und PISA: Defizite z. B. im Begründen und Darstellen Conclusio: Mathematik wird in der Schule verzerrt dargestellt Folgerungen: Schüler(innen) sehen keinen Sinn in der Mathematik Mathematik wird nicht im Alltagsleben verwendet Mangel an Studierenden in Technik, Naturwissenschaften (und Mathematik) in verschiedenen Bereichen benötigte Kompetenzen sind nicht (ausreichend) verfügbar Nachhaltigkeit kann so nicht erreicht werden! Reaktion: Bildungsstandards“ zur Outputkontrolle ” Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 3 / 66 Fundamentale Ideen 1 Jerome S. Bruner 1960, US-Psychologe: Grundthese Schulfach soll ein getreues Abbild der zugehörigen Wissenschaft sein! Gesucht: Inhalte und Herangehensweisen, die charakteristisch für das Betreiben von Mathematik Wichtige Aspekte dabei: Spiralpinzip: bestimmte Themen werden immer wieder auf ansteigendem Niveau behandelt Transfereffekt: Wissen wird anwendbar Eine Konsequenz: Isolierung verschiedener mathematischer Gebiete wird überwunden, Beispiele später! Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 4 / 66 Fundamentale Ideen 2 Drei Charakteristika von fundamentalen Ideen (Schreiber 1983, S. 69): 1 Weite: logische Allgemeinheit 2 Fülle: vielfältige Anwendbarkeit und Relevanz in mathematischen Einzelgebieten 3 Sinn: Verankerung im Alltagsdenken, lebensweltliche Bedeutung Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 5 / 66 Fundamentale Ideen 3 Vorschlag für (provisorischen) Ideenkatalog von Schreiber 1979, S. 167: 1 Algorithmus: Idee des Kalküls; Berechenbarkeit 2 Exhaustion: Approximation; Modellieren 3 Invarianz: Erhaltung von Eigenschaften von Objekten, die bestimmten Operationen unterworfen sind 4 Optimalität: Eigenschaft von . . . , einer vorgegebenen Bedingung bestmöglich“ zu genügen ” 5 Funktion: funktionale Abhängigkeit; eindeutige Zuordnung; Abbildung 6 Charakterisierung: Kennzeichnung von Objekten durch Eigenschaften; Klassifikation von Objekten und Strukturen Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 6 / 66 Fundamentale Ideen der Stochastik 1 von Heitele 1975: i) Messen von subjektiven Einschätzungen ii) Wahrscheinlichkeitsraum iii) Verknüpfung von Wahrscheinlichkeiten – Additionssatz iv) Verknüpfung von Wahrscheinlichkeiten – Unabhängigkeit v) Gleichverteilung und Symmetrie vi) Kombinatorik vii) Urnenmodell viii) Idee der Zufallsvariable ix) Gesetz der großen Zahlen x) Idee der Stichprobe Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 7 / 66 Fundamentale Ideen der Stochastik 2 und — alternativ — von Borovcnik 1996: i) Ausdruck von Informationen über eine unsichere Sache ii) Revidieren von Informationen unter neuen (unterstellten) Fakten iii) Offenlegen verwendeter Informationen iv) Verdichten von Informationen v) Präzision von Informationen – Variabilität vi) Repräsentativität partieller Informationen vii) Verbesserung der Präzision Synthese Inhalt versus Handlung: Zusammenführen benötigt passende Beispiele! Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 8 / 66 Grundvorstellungen 1 Rudolf vom Hofe 1995 : Subjekte, die Mathematik betreiben, im Mittelpunkt Differenzierung (vom Hofe 1995, S. 103 ff.) normativ: Input des/der Lehrers/Lehrerin logische Zusammenhänge didaktische Überlegungen deskriptiv: individuelle Vorstellungen der Schüler(innen) kognitive Inhalte affektive Einstellungen Problem: Unterschiede zwischen diesen beiden Kategorien, weil neue Begriffe oder Sichtweisen bestehendes Wissenssystem stören können Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 9 / 66 Grundvorstellungen 2 Lösung: Analyse der Schüler(innen)fehler, dazu Subjektive Erfahrungsbereiche: Bauersfeld 1983 Wissen, Fähigkeiten, kognitive and affektive Einstellungen sind primär aktiv nur für einen speziellen Bereich. Erweiterung and Kombination dieser ist gefragt! Stimulation eines bestimmten Bereichs hängt ab von Häufigkeit der Aktivitäten in der Vergangenheit Intensität des Ursprungs Didaktische Herausforderung: Aktivierung der richtigen“ ” (inter-)subjektiven Erfahrungsbereiche um den neuen Begriff in das bestehende System von Vorstellungen auf passende Weise zu integrieren Orientierung durch individuelle Interviews mit Schüler(inne)n oder Erfahrung der Lehrer(innen) Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 10 / 66 Fundamentale Ideen und Grundvorstellungen stehen für die Kluft zwischen konkreten Inhalten und abstrakten Vorstellungen. Zur Überbrückung ist das Wichtigste im Prozess des Mathematik Lernens: [. . . ] die antizipierende Funktion des intuitiven Erfassens von ” Zusammenhängen, das die Konzepte entwirft, die das analytische Denken ausbreitet [. . . ]“ (Loch im Vorwort zu Bruner 1970, S. 14) Zwei Bedingungen: Eigenaktivität der Schüler(innen) unter An- und/oder Begleitung der Lehrer(innen) Hierarchie: Fundamentale Ideen → normative Kategorien der Grundvorstellungen → individuelle Erklärungen Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 11 / 66 Vernetzung 1 Die fachliche Ausbildung von Lehrkräften für Mathematik sollte ” daher folgende Ziele im Blick haben: [. . . ] 2. die exemplarisch gewonnene Einsicht in den Nutzen der Vernetzung von Ideen und Methoden aus unterschiedlichen mathematischen Gegenstandsbereichen; [. . . ]“ Aus: Für ein modernes Lehramtsstudium im Fach Mathematik. Diskussionspapier. GDM-Mitteilungen 82, 2006, S. 71. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 12 / 66 Vernetzung 2 2.6.1 Forderungen an eine Fundamentale Idee der ” Angewandten Mathematik [. . . ] Verfahren, Prinzip, Prozeß oder Schema, eine Methode, Strategie, Handlung, Technik, der/die/das [. . . ] 4. innerhalb der Angewandten Mathematik bzw. ihres Unterrichts eine gewisse Ordnung von Inhalten und Phänomenen zu stiften imstande ist, regulierend wirkt, Querverbindungen bzw. Verzahnungen schafft und so ein Zersplittern bzw. ein beziehungsloses Nebeneinander“ der ” Inhalte verhindert.“ Aus: Humenberger/Reichel 1995, S. 27 f., Hervorhebungen außer der Überschrift vom Referenten. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 13 / 66 Zwei Münzen — Eine Problem und seine Lösung 1 Gegeben: Zwei Münzen, jede zeigt 1“ und 2“ auf ihren zwei Seiten. ” ” Frage: Können sie so gezinkt werden, dass die drei Werte 2, 3, 4 ihrer geworfenen Augensumme“ gleichverteilt sind? ” Antwort: Nein!“, mit Hilfe von elementarer Algebra (Götz 2006b): ” Xk : Zufallsvariable, die die geworfene Zahl der k-ten Münze beschreibt: k = 1, 2 und P(X1 = i) =: pi und P(X2 = j) =: qj , i, j = 1, 2 . Die Zufallsvariablen X1 and X2 sind unabhängig voneinander: P(X1 = i, X2 = j) = pi · qj . Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 14 / 66 Zwei Münzen — Ein Problem und seine Lösung 2 Wir möchten 1 3 1 p1 · q2 + p2 · q1 = 3 1 p2 · q2 = 3 durch Zinken einer Münze oder beider erreichen. Umformen und Einsetzen liefert q2 2 + q1 2 = 1 , und das ist nicht möglich: q1 · q2 p1 · q1 = (a − b)2 ≥ 0 a2 + b 2 ≥ 2 · a · b a2 + b 2 ≥ 2 ∀a, b > 0 . a·b Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 15 / 66 Eine Verwandtschaft 1 Beachten wir, dass (a2 x 2 + a1 x) · (b2 x 2 + b1 x) = a2 b2 x 4 + (a2 b1 + a1 b2 )x 3 + a1 b1 x 2 von der selben Bauart ist wie die Rechnungen für die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Summe. Das führt uns zur sog. erzeugenden Funktion von X1 , p2 t 2 + p1 t =: GX1 (t) , und analog q2 t 2 + q1 t =: GX2 (t) . Wir finden aufgrund dieses Ansatzes GX1 (t) · GX2 (t) = GX1 +X2 (t) . Diese Beziehung, die wir von der Polynommultiplikation abgeschaut haben, ist die entscheidende Idee für diesen Beweis: Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 16 / 66 Eine Verwandschaft 2 Wir erhalten (p2 t 2 + p1 t) · (q2 t 2 + q1 t) = 1 · (t 2 + t 3 + t 4 ) . 3 Division durch t 2 6= 0 liefert (p2 t + p1 ) · (q2 t + q1 ) = 1 · (1 + t + t 2 ) . 3 Beachte: Auf der linken Seite existieren reelle Nullstellen im Gegensatz zur rechten Seite, ein Widerspruch! Unser Wunsch kann aus analytischen Gründen nicht erfüllt werden. Diese Einsicht verdanken wir algebraischen Methoden. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 17 / 66 Verallgemeinerung und Umkehrung 1 Das Resultat gilt auch für zwei oder mehr Würfel und andere Platonische Körper. Das kann genauso mit erzeugenden Funktionen bewiesen werden (Götz 2006b). Umgekehrt: die Verteilung der Summe der geworfenen Augenzahlen von zwei fairen Münzen ist natürlich wohlbekannt: 111 . 4 2 4 Kann diese Verteilung auch auf anderem Wege, durch Verfälschen einer oder beider Münzen, erreicht werden? Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 18 / 66 Umkehrung 2 Die Antwort ist wieder Nein‘“, weil wie zuvor muss die Gleichung ” 1 1 1 (p2 t 2 + p1 t) · (q2 t 2 + q1 t) = · t 2 + · t 3 + · t 4 4 2 4 erfüllt sein, beziehungsweise (p2 t + p1 ) · (q2 t + q1 ) = 1 1 · (1 + 2 · t + t 2 ) = · (t + 1)2 . 4 4 Rechts: −1 ist Nullstelle mit Vielfachheit zwei, daher bekommen wir zwei Bedingungen für die linke Seite: p2 · (−1) + p1 = 0 und q2 · (−1) + q1 = 0 . Das ist äquivalent mit p1 = p2 und q1 = q2 . Für zwei Würfel gilt das auch: Halmos 1991, S. 54 und S. 226 f. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 19 / 66 Didaktisches Kurzresümee Vordergründig: typisches Beispiel einer eingekleideten Aufgabe: Wie zinke ich eine Münze? Tatsächlich: mathematische Miniatur, die typische mathematische Herangehensweisen bzw. Tätigkeiten auf elementarem Niveau zeigt: Vernetzung verschiedener Gebiete: Musterwiedererkennung in anderem Zusammenhang Verallgemeinerung Umkehrung Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 20 / 66 Bayes und die Ziegen: Die klassische Lösung Monty Hall Dilemma: Stellen Sie sich vor Sie sind bei einer Show, und ” Sie haben drei Türen zur Wahl: Hinter einer ist ein Auto; hinter den beiden anderen je eine Ziege. Sie wählen eine Tür aus, sagen wir Nummer 1, und der Moderator, der weiß, was hinter den Türen steckt, öffnet eine andere Tür, sagen wir Nummer 3, dahinter wird eine Ziege sichtbar. Er sagt dann zu Ihnen: ,Wollen Sie auf Tür 2 wechseln?´ Ist es zu Ihrem Vorteil, zu wechseln?“ Klassische Lösung: Das Öffnen einer Ziegentür durch den Moderator ändert nicht die Wahrscheinlichkeit 13 , dass das Auto hinter der zuerst gewählten Tür ist. Da nur mehr eine andere geschlossene Tür vorhanden ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich dahinter das Auto befindet 23 . Es ist daher von Vorteil für den Kandidaten, auf Tür 2 umzuschwenken. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 21 / 66 Bayes und die Ziegen: Der Bayesianische Standpunkt 1 Bayesianischer Standpunkt (Vancsó/Wickmann 1999): θj bedeutet Das Auto steht hinter Tür j.“ ” Das Ereignis x = 3 bedeutet Kandidat wählt Tür 1 und Moderator ” öffnet Tür 3.“ A priori halten wir P(θj ) = 1 3 (j = 1, 2, 3) fest. Wir erhalten P(x = 3|θ3 ) = 0 P(x = 3|θ2 ) = 1 1 P(x = 3|θ1 ) = , 2 hängt vom Verhalten des Moderators ab! θ1 : Moderator kann sich aussuchen, welche der beiden Türen er öffnet! — Wie macht er das? Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 22 / 66 Bayes und die Ziegen — Der Bayesianische Standpunkt 2 Das Bayes’sche Theorem liefert die a posteriori Einschätzung P(θ3 |x = 3) = 0 2 P(θ2 |x = 3) = 3 1 P(θ1 |x = 3) = , 3 also — numerisch! — kein Unterschied zum klassischen Resultat! Aber: Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 23 / 66 Eine Erweiterung 1 Zwei extreme Annahmen (Götz 2006a): P(x = 3|θ1 ) = 1: dann erhalten wir 1 1 = 1+1+0 2 1 P(θ2 |x = 3) = 2 P(θ3 |x = 3) = 0 . P(θ1 |x = 3) = Interpretation: θ2 — Zwang versus θ1 — freier Wille! Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 24 / 66 Eine Erweiterung 2 P(x = 3|θ1 ) = 0. Diese Bedingung erspart die Qual der Wahl: 0 =0 0+1+0 1 =1 P(θ2 |x = 3) = 1 P(θ3 |x = 3) = 0 . P(θ1 |x = 3) = Interpretation: Obwohl der Moderator das Öffnen von Tür 3 hasst, tut er es: θ2 ist der Fall. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 25 / 66 Überblick 1 Mit P(x = 3|θ1 ) =: p ∈ [0, 1] sehen wir p p = ( bleiben“) ” p+1+0 1+p 1+p−p 1 p = = ( wechseln“) P(θ2 |x = 3) = 1 − ” 1+p 1+p 1+p P(θ3 |x = 3) = 0 . P(θ1 |x = 3) = Ein Vergleich der Graphen von b(p) := p 1+p and w (p) := 1 1+p gibt einen Überblick über die Situation x = 3: Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 26 / 66 Überblick 2 Abbildung: Wechseln versus Bleiben Moral des Monty Hall Dilemmas Wechseln ist nie schlechter als Bleiben! Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 27 / 66 Didaktische Bemerkungen Variable p liefert eine allgemeine Aussage Menschliches Verhalten wird auf einfache Weise beschrieben Schätzen von p durch Anschauen vieler Shows Wissen über das Verhalten des Moderators Was heißt eigentlich 3 p = −→ b 4 3 3 = 4 7 3 4 und w = ? 4 7 Interpretation durch eine fiktive, faire Wette: Wert des Autos a = 14000 heißt 14000 · 74 = 8000 Einsatz für Strategie Wechseln“ ” Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 28 / 66 p= 1 2 führt zum selben Resultat 1 2 3 | 3 |0 , aber: Klassische Sichtweise: Wechseln auf lange Zeit Standpunkt des Moderators Verlustrate des Autos ist 2 3 Bayesianische Lösung: aktuelle Situation x = 3 Standpunkt des Kandidaten Wechseln erhöht die Wahrscheinlichkeit das Auto zu gewinnen von Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1 3 1. Oktober 2008 auf 2 3 29 / 66 Didaktisches Resümee 1 Funktionsbegriff: taucht in verschiedenen mathematischen Gebieten auf — fundamentale Idee Zufall kann (auch) mit deterministischen Methoden beschrieben werden: Grundvorstellung Woher kommen Wahrscheinlichkeiten? Symmetrie Gesetz der großen Zahlen Laplace Wahrscheinlichkeit – Geometrische Wahrscheinlichkeit Axiome von Kolmogoroff Grundvorstellungen Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 30 / 66 Didaktisches Resümee 2 Aber auch: subjektive Wahrscheinlichkeiten — Bayesianische Beschreibung des Monty Hall Dilemmas hängt vom (individuellen, intersubjektiven) Wissen (über das Verhalten des Moderators) ab a priori Einschätzung beeinflusst a posteriori Beurteilung: 14 122 −→ 0 , 5 5 5 5 5 aber es gibt auch eine bemerkenswerte Konstanz: 1 12 (a|a|1 − 2a) 0<a≤ −→ 0 2 3 3 Das Öffnen von Türe 3 macht die Türe 2 verdächtig! Vorausgesetzt wird dabei jeweils p = Stefan Götz (Universität Wien) 1 2 und x = 3. Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 31 / 66 Didaktisches Resümee 3 Bayes’sches Theorem wird hier auch als Funktion gesehen. Zwei Gründe warum Funktionen so selten sind im Stochastikuntericht: 1 diskrete Wahrscheinlichkeitsräume 2 die Normalverteilung ist eine der/die zentrale/n Verteilung/en: Z x Φ(x) = −∞ √ −(t−µ)2 1 · e 2σ2 dt 2πσ kann bekanntlich nur mittels Tabellen oder CAS berechnet werden Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 32 / 66 Big Points in der Stochastik-Lehramtsausbildung unterschiedliche Natur von bestimmten stochastischen Begriffen Grundlegendes Prinzip für eine wichtige Klasse von statistischen Tests emprische Größe – Zufallsvariable – Parameter Zum Beispiel unterscheide: x̄ X̄ µ fundamentale Idee: finde eine Testvariable welche mit dem unbekannten Parameter verknüpft ist mit einer bekannten (asymptotischen) Verteilung Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 33 / 66 Big Points in der Stochastik-Lehramtsausbildung 2 relative Häufigkeiten – Wahrscheinlichkeit Gesetz der großen Zahlen limn→∞ P(|Rn (A) − p| ≤ ε) = 1 versus limn→∞ rn (A) = p Grundvorstellung: Unterschiede zwischen der empirischen Größe rn (A) und dem Parameter p werden immer unwahrscheinlicher mit steigender Zahl der Realisationen der Zufallsvariablen Rn (A) Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 34 / 66 Big Points in der Stochastik-Lehramtsausbildung 3 Konfidenzintervall klassische Interpretation: auf lange Sicht überdeckt ein bestimmter Prozentsatz der Realisationen den unbekannten Parameter vom Bayesianischen Standpunkt: (subjektive) Unsicherheit wird durch eine Zufallsvariable beschrieben Grundvorstellung: zwei Lesarten von Unsicherheit funktionaler Charakter von stochastischen Begriffen Beschreibung einer Zufallsvariable mittels ihrer Verteilungsfunktion F (x) = P xi ≤x P(X = xi ) F (x) = Rx −∞ f (t) dt fundamentale Idee: Funktionen schauen nicht immer so aus wie f (x) = x 2 Stefan Götz (Universität Wien) or f (x) = sin x Realitätsbezogene Aufgaben or f (x) = e x ! 1. Oktober 2008 35 / 66 Beliefs – deskriptive Grundvorstellungen prozessorientiert: viel ausprobieren, Ideen zum Lösen selbst nach Lösungswegen suchen, verschiedene Lösungswege finden schemaorientiert: zum Lösen von Aufgaben das Lösungsverfahren kennen formalismusorientiert: zur Lösung von Aufgaben Einsatz von exakten Verfahren Aus Maaß K. 2004, S. 156, selektiert nach realitätsbezogenem MU. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 36 / 66 Modellierungskreislauf Abbildung: Vereinfachter Modellierungskreislauf (Maaß K. 2007, S. 30) Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 37 / 66 Realitätsbezüge im Mathematikunterricht Einkleidungen mathematischer Probleme in die Sprache des Alltags, z. B. schulklassische Extremwertaufgaben Veranschaulichungen mathematischer Begriffe, z. B. negative Zahlen — Schulden Anwendung mathematischer Standardverfahren, d. h. Anwendung wohlbekannter Algorithmen zur Lösung realer Probleme, z. B. Extremwertkalkül zur Bestimmung der Maße der größten Fensters bei gegebener Form Modellbildungen, d. h. komplexe Problemlöseprozesse, basierend auf z. B. der vorigen Folie nach Kaiser 1995, S. 67. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 38 / 66 Umsetzung im Schulbuch Umkehraufgaben (Modellbildungsaufgaben): Kleinprojekt: Der Finanzminister will das Steuersystem weiter vereinfachen. Die Berechnung soll in Zukunft über eine einfache“Funktion f ” erfolgen, die den Steuersatz y = f (x) angibt, der auf ein Einkommen x anzuwenden ist. Einkommen unter 10000€ sollen nicht, Einkommen zwischen 10000€ und 50000€ sollen mit einem monoton wachsenden Steuersatz zwischen 0% und 50% besteuert werden, darüber liegende Einkommen mit 50%. Gib eine passende Funktion an (1=10000€ ˆ bzw. 100%)! Götz/Reichel 2006, S. 99. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 39 / 66 Eine erste Lösung: Polynomfunktion Der Ansatz y (x) = ax 2 + bx + c 1≤x ≤5 liefert y (1) = 0 = a · 12 + b · 1 + c y (5) = 0, 5 = a · 52 + b · 5 + c y 0 (5) = 0 = 2a · 5 + b und schließlich f :y = 0 1 32 Stefan Götz (Universität Wien) · 0, 5 (−x 2 0≤x <1 + 10x − 9) 1 ≤ x < 5 5≤x Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 40 / 66 Graph der ersten Lösung Abbildung: Ein erster Versuch Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 41 / 66 Eine zweite: rationale Funktion Bei sonst gleichen Vorgaben soll sich zwecks Entlastung der Oberschicht“ der Steuersatz der 50% Grenze nur asymptotisch ” (von unten) nähern. Gib ein einfaches“ Funktionsmodell samt ” Graphen an (1=10000€ ˆ bzw. 100%)! f :y = 0 x−1 2x 0≤x <1 1≤x Götz/Reichel 2006, S. 106. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 42 / 66 Graph der zweiten Lösung Abbildung: Ein neuerlicher Versuch zur Rettung“ der Oberschicht ” Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 43 / 66 Eine dritte: Winkelfunktion Gib bei sonst gleichen Vorgaben ein einfaches“ ” Winkelfunktionsmodell samt Graphen an (1=10000€ ˆ bzw. 100%)! Der Ansatz y (x) = 0, 5 · sin[b · (x + c)] 1≤x ≤5 liefert y (1) = 0 = 0, 5 · sin[b · (1 + c)] y (5) = 0, 5 = 0, 5 · sin[b · (5 + c)] und schließlich 0≤x <1 0 π 0, 5 · sin[ 8 · (x − 1)] 1 ≤ x < 5 f :y = 0, 5 5≤x Götz/Reichel 2006, S. 111. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 44 / 66 Graph der dritten Lösung Abbildung: Weil es so schön war nocheinmal! Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 45 / 66 Eine vierte und letzte: Logarithmusfunktion Bei sonst gleichen Vorgaben soll sich zwecks Entlastung der Mittelschicht“ der Steuersatz der 50% Grenze langsam“ und ” ” degressiv nähern. Gib ein einfaches“ Funktionsmodell samt ” Graphen an (1=10000€ ˆ bzw. 100%)! Der Ansatz y (x) = a · ln x 1≤x ≤5 liefert y (5) = 0, 5 = a · ln 5 und schließlich 0 0, 31 · ln x f :y = 0, 5 0≤x <1 1≤x <5 5≤x Götz/Reichel 2006, S. 116. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 46 / 66 Graph der vierten Lösung Abbildung: Die Mittelschicht wird entlastet Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 47 / 66 Kern des Modellierungsprozesses Gemeinsamkeit dieser realitätsbezogenen Beispiele Fokussierung auf den Schritt mathematisches Modell −→ mathematische Lösung — Emanzipation von der Ausgangssituation! Daher wichtig: 1 Voraussetzungen, Vereinfachungen des Modells herausarbeiten! 2 Die Bedeutung des erhaltenen Ergebnisses in der Realität prüfen! Weitere Beispiele mit diesem Fokus: Befüllen eines Öltanks (Greefrath 2007): Abhängigkeit der Füllhöhe vom Volumen — Form des Tanks? Modellieren einer Vase: Körner 2007 Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 48 / 66 Conclusio und noch ein Beispiel zur Verdeutlichung Conclusio Einkleiden und Anwendungen von Standardverfahren: Vorstufe zu komplexeren Modellierungen, die auch scheitern können! Ein letztes Beispiel: Konkurrenzgrenzen (Ableitinger/Götz 2008) Ausgangssituation: ein Konsumgut — zwei Anbieter A, B an verschiedenen Orten Von welchen Orten aus ist der eine günstiger als der andere? — Konkurrenzgrenzen sind die Orte gleicher Kosten. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 49 / 66 Ein Modell“ ” Notwendige Informationen dazu (unser Modell): 1 Anschaffungskosten A, B 2 Transportkosten a, b pro km: Luftlinie – Euklid’scher Abstand Also ein sehr einfaches Modell! — tatsächliche Entfernung i. Allg. anders als Luftlinie Zeit teurer als Weg auch andere Kostenfaktoren möglich: z. B. Service Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 50 / 66 Der einfachste Fall Transport- und Anschaffungskosten jeweils gleich: A=B und a = b Abbildung: Konkurrenzgrenze: y -Achse Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 51 / 66 Ein bisschen dran drehen — zweiter Fall Transportkosten verschieden, Anschaffungskosten gleich: A=B und a 6= b Abbildung: Zur geometrischen Veranschaulichung A+b Stefan Götz (Universität Wien) q q (x + l)2 + y 2 = A + a (x − l)2 + y 2 Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 52 / 66 Algebraische Auswertung des zweiten Falls CAS oder Umformungen per Hand liefern 2 2 2 2 2 2 x − l a + b + y 2 = l 2 a + b − l2 2 − b2 2 − b2 a a | {z } {z } | xM r2 Konkurrenzgrenze: Kreis mit Mittelpunkt (xM |0) und Radius r Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 53 / 66 Zwei Beispiele Abbildung: B teurer — A teurer Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 54 / 66 Algebraische Analyse des Kreises Mittelpunkt 2 a + b2 M= l 2 |0 a − b2 Radius 2 r =l 2 a2 + b 2 a2 − b 2 2 − l2 r 2 = xM 2 − l 2 bzw. xM 2 − r 2 = l 2 Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 55 / 66 Zwei Grenzübergänge xM = l a2 + b 2 a2 − b 2 Abbildung: Eine gleichseitige Hyperbel b → a : xM → ∞ und r → xM , d. h.: Kreis −→ Gerade: einfachster Fall b → 0 : xM → l und r → 0, d. h.: Kreis −→ Punkt A Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 56 / 66 Geometrische Analyse des zweiten Falls A + b · PB = A + a · PA Abbildung: Zur geometrischen Veranschaulichung Also: PB a = = const. b PA Stefan Götz (Universität Wien) Menge aller Punkte, deren Abstandsquotient von zwei festen Punkten konstant ist. Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 57 / 66 Apolloniuskreis Apollonius von Perga, 262 – 190 v. Chr. Alle Punkte, deren Entfernungen von zwei gegebenen Punkten A und B ein gegebenes Verhältnis a : b haben, liegen auf einem Kreis, dem Kreis des Apollonius. Die Punkte C und D, welche AB im Verhältnis a : b harmonisch teilen, begrenzen einen Durchmesser dieses Kreises. PA QA = PB QB Abbildung: Apollonius von Perga und sein“ Kreis ” Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 58 / 66 Conclusio aus der geometrischen Analyse Das Verhältnis a : b allein bestimmt die Konkurrenzgrenze: Abbildung: Verschiedene Konkurrenzgrenzen in Abhängigkeit von a : b Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 59 / 66 Zusammenfassung des zweiten Falls Die Konkurrenzgrenzen sind Kreise (Apollonius). Die Kreise hängen nur vom Verhältnis der Transportkosten ab. Bei annähernd gleichen Transportkosten werden die Kreise sehr groß, bei gleichen Transportkosten erhalten wir wieder den einfachsten Fall. Wird ein Standort im Vergleich zum anderen unverhältnismäßig teuer, ziehen sich die Kreise um den teuren Standort zusammen. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 60 / 66 Genug Realitätsbezug? Dann: 1 2 Für welche rationalen Zahlen q sind die Zahlen cos(qπ), sin(qπ), tan(qπ) rational? Für welche rationalen Zahlen q ist die Zahl cos2 (qπ) rational? Satz: Ist q eine rationale Zahl, sodass tan2 (qπ) (definiert und) verschieden von 0, 13 , 1, 3 ist, dann ist tan2 (qπ) irrational. Kuba 2008, S. 57. Stefan Götz (Universität Wien) Realitätsbezogene Aufgaben 1. Oktober 2008 61 / 66 Literatur 1 Ableitinger, C. und Götz, S. (2008): Konkurrenzgrenzen: kann man sie verstehen? In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2008. Vorträge auf der 42. Tagung für Didaktik der Mathematik vom 13. bis 18. März 2008 in Budapest. WTM-Verlag, Münster, S. 305–308. Bauersfeld, H. 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