Institut für Psychologische Psychotherapie www.ipp-bochum.de Alkoholismus als Störung der Affektregulation – Ein Störungsmodell Vortrag am 21.02.2008 IDIKOS I Dr. phil. P. Schlebusch Dipl.-Psych. Leiter INSTITUT FÜR SUCHTTHERAPIE (ISTh) am IPP ISTh Institut für Suchtttherapie ISTh Suchtausbildung 3 Jahre DRV-anerkannt Ipp-sucht.de Literatur • Schlebusch, P., Kuhl, J., Breil, J., & Püschel, O. (2006). Alkoholismus als Störung der Affektregulation. In: R. Sachse & P. Schlebusch. Perspektiven Klärungsorientierter Psychotherapie. Pabst Science Publ. • Kuhl, J. (2001). Motivation und Persönlichkeit. Hogrefe. • Sachse, R. (2003). Klärungsorientierte Psychotherapie. Hogrefe Probleme der Suchttherapie • Komorbidität • Motivationsproblem und seine Behandlung • Keine einheitliche Störungstheorie • Insbesondere mangelnde Integration neurobiologischer und psychologischer Störungstheorien • Rückfälle Daten 1 Angstsymptome: bis zu 75% der Alkoholabhängigen Angststörungen: insgesamt zwischen 23 und 69%, mittlere LZP 44% (Kushner et al., 1990) Affektive Störungen bei Alkoholabhängigen – Depression: 23% (15-38%) LZP, 20-42% AP – Dysthymia: 15% (11-17%) LZP, 11% AP) Daten 4 Persönlichkeitsstörungen: zwischen 57 und 78% (SCID-II oder andere strukturierte Diagnostik) 40 36,4 35 30 25 20 25,7 22,7 19,7 19,3 18 18,2 15,2 15 12,1 10 5 0 15,2 7,6 3 0,3 PN ST 3,7 9,1 9,7 9,1 9,7 6 3,7 11,5 SZ HI NA BL AS SU AB ZW PA M W Wie groß ist das Problem? • Geschilderte Studien zeigen ein hohes Ausmaß von Komorbidität über das gesamte psychiatrische Spektrum • U. E. wird die Zahl der Patienten mit komorbiden Störungen möglicherweise stark unterschätzt: – Übertrinken von Phasen – Naive Kausalitätsannahmen – Etc. Störungsmodell auf der Basis der PSITheorie (Motivationspsychologie) • Soll – Komorbidität erklären – Neurobiologie und Psychologie integrieren – Motivationsprobleme von Alkoholikern klären – Therapeutische Optimierungsressourcen erschließen Modell der Handlungsregulation von Kuhl, 2001 ObjektErkennungsSystem Intuitive VerhaltensSteuerung Vier kognitive Makrosysteme Regulation der Systeme durch A- ExtensionsGedächtnis Negativen und positiven Affekt A+ IntentionsGedächtnis Neurobiologische Affektsysteme • Positiver Affekt: Belohnungssystem, insbes.: Nucleus Accumbens, VTA, Projektionen in den präfrontalen Cortex Neurobiologische Affektsysteme • Negativer Affekt: Bestrafungssystem, insbes.: Septo-Hippocampales System (siehe Gray & McNaughton: Neuropsychology of Anxiety, 2000) Alkoholismus: Störung der Affektregulation 1 • Personen regulieren normalerweise sowohl negativen als auch positiven Affekt situationsangemessen herauf und hinab • Nicht alle Personen beherrschen die intrapsychische Affektregulation gleichermaßen Alkoholismus: Störung der Affektregulation 2 Negativer Affekt Personen können z. B.: • eine eingeschränkte Fähigkeit zur Selbstberuhigung haben • durch kritische Lebensereignisse ausgelöste extreme Affektlagen erleben • andere Störungen oder Persönlichkeitsdispositionen mit erhöhtem negativen Affekt aufweisen (Angststörungen, Ängstlichkeit, best. PS) Negativer Affekt Der „Normalfall“ ObjektErkennungsSystem Endzustand: Ausgangslage: Negativer Affekt niedrig hoch A- Bahnung des OES EG A(-) ExtensionsGedächtnis Alkoholismus: Störung der Affektregulation 3 Negativer Affekt • Die Person muss lernen, dass Alkohol effektiv zu einer MINDERUNG NEGATIVEN AFFEKTES führt Negativer Affekt Phase 1: Affektreduktion, „Kein Zugang“ • Die Person erlebt einen erhöhten negativen Affekt • Sie erlebt diesen Affekt als nicht reduzierbar, hält die Reduktion für zu anstrengend etc. • Sie reduziert den negativen Affekt durch die Substanz • ABER: der Zugang zum Extensionsgedächtnis wird nicht gebahnt • Im Niedrigdosierungsbereich wird möglicherweise Selbstzugang tatsächlich gebahnt Negativer Affekt Affektregulation durch Alkohol Phase 1 Endzustand: Ausgangslage: Negativer Affekt niedrig hoch ObjektErkennungsSystem AAlkohol Blockade des OES EG Bahnung des A(-) ExtensionsGedächtnis Negativer Affekt Phase 2: Toleranzentwicklung • Mit zunehmendem Konsum nimmt die Fähigkeit der Substanz ab, den negativen Affekt zu reduzieren • Die Person erhöht die Dosis schrittweise, um den Effekt wieder zu erleben • Die Person erreicht einen Punkt, an dem – Keine Affektregulation mehr eintritt – Körperliche Abhängigkeit besteht • D. h.: Die Person „hängt im negativen Affekt fest“ • Sie befindet sich in einem Zustand der „chronischen Bahnung des OES“ • Der Zugang zum EG ist dauerhaft blockiert Negativer Affekt Affektregulation durch Alkohol Phase 2: Toleranz Endzustand: Ausgangslage: Festhängen im Negativer Affekt Negativen Affekt hoch ObjektErkennungsSystem AAlkohol Festhängen Bahnung desimOES OES ExtensionsGedächtnis Alkoholismus: Störung der Affektregulation 4 Positiver Affekt • Die Person kann eine eingeschränkte Fähigkeit zur Hinaufregulation positiven Affektes haben • Durch kritische Lebensereignisse eine Handlungshemmung aufweisen (erlernte Hilflosigkeit) • Eine genetische Disposition zu niedrigem positiven Affekt aufweisen (reward deficiency syndrome) • Eine Persönlichkeitsdisposition (z. B.: Abhängige PS, Selbstunsichere, Depressive PS) oder Störung (Depression) aufweisen, die mit niedrigem positiven Affekt verbunden ist Positiver Affekt Der „Normalfall“ Intuitive VerhaltensSteuerung Endzustand: Ausgangslage: Positiver Affekt hoch niedrig A+ Bahnung des IG IVS A(+) IntentionsGedächtnis Alkoholismus: Störung der Affektregulation 5 Positiver Affekt • Die Person muss lernen, dass Alkohol effektiv zu einer ANHEBUNG POSITIVEN AFFEKTES führt Positiver Affekt Phase 1: Affektanhebung, Kompetenzverlust • Die Person erlebt einen reduzierten positiven Affekt • Sie erlebt diesen Affekt als nicht anhebbar, hält die Reduktion für zu anstrengend, verfügt nicht über die notwendigen Kompetenzen etc. • Sie reguliert den positiven Affekt durch die Substanz • Im Niedrigdosierungsfall: Die IVS wird gebahnt, d. h. z. B.: Die Person traut sich etwas, was sie sonst nicht kann • Im Hochdosierungsfall: die Person verschafft sich ein Belohnungsgefühl, ohne die notwendigen belohnenden Verhaltensweisen auszuführen, die Exekutive wird gehemmt • Die Person erlebt Verhaltensweisen als belohnend, die ansonsten nicht hinreichend wären Positiver Affekt (Niedrigdosis) Affektregulation durch Alkohol Phase 1 Endzustand: Ausgangslage: Positiver Affekt hoch niedrig Intuitive VerhaltensSteuerung A+ Alkohol Bahnung des IG IVS A(+) IntentionsGedächtnis Positiver Affekt Hochdosis Affektregulation durch Alkohol Phase 1 Alternative Endzustand: Ausgangslage: Positiver Affekt hoch niedrig Keine Ausführung Bahnung des IG von belohnendem Verhalten Intuitive VerhaltensSteuerung Alkohol A+ A(+) IntentionsGedächtnis Positiver Affekt Phase 2: Toleranzentwicklung • Mit zunehmendem Konsum nimmt die Fähigkeit der Substanz ab, den positiven Affekt anzuheben • Die Person erhöht die Dosis schrittweise, um den Effekt wieder zu erleben • Die Person erreicht einen Punkt, an dem – Keine Affektregulation mehr eintritt – Körperliche Abhängigkeit besteht • D. h.: Die Person „hängt im niedrigen positiven Affekt fest“ • Sie befindet sich in einem Zustand der „chronischen Bahnung des IG“ • Es kommt zu einem zunehmenden Kompetenzverlust („use it or loose it“) Positiver Affekt Toleranzentwicklung Intuitive VerhaltensSteuerung Endzustand: Ausgangslage: Positiver Affekt Festhängen im niedrig niedrigen positiven Affekt Bahnung des IG Festhängen im IG Alkohol A(+) A(+) IntentionsGedächtnis Systemkonfiguration bei Abhängigkeit ObjektErkennungsSystem Intuitive VerhaltensSteuerung ADas Intentionsgedächtnis wird nicht durch das Extensionsgedächtnis geladen Reward A(+) ExtensionsGedächtnis IntentionsGedächtnis Zusammenfassung: Problemeinstieg 1 • Es gibt unterschiedliche Einstiegsbedingungen in den Alkoholismus: • Erhöhter negativer Affekt • Erniedrigter positiver Affekt • Oder eine Kombination Zusammenfassung: Problemeinstieg 2 • Die Affektlage allein ist nicht hinreichend, entscheidend ist die mangelnde Fähigkeit, die Affekte zu regulieren Zusammenfassung: Problemeinstieg 3 • Zweck des Suchtmittelkonsums ist die Herabregulation negativen und/oder die Heraufregulation positiven Affektes • Lernt die Person, Affektregulation überwiegend über die Substanz zu erzielen, besteht der Einstieg in die psychische Abhängigkeit • Die Potenz der Substanz zur Affektregulation nimmt aufgrund von Toleranz ab; die Person reagiert mit Dosissteigerung • Die Toleranz entsteht sowohl für positiven als auch für negativen Affekt, da beide Systeme physiologisch auf Alkohol reagieren Zusammenfassung: Abhängigkeit 1 • Im Laufe der Zeit entsteht eine körperliche Abhängigkeit • Die Person erlebt nun einen permanent hohen, nicht reduzierbaren negativen Affekt und gleichzeitig • einen permanent niedrigen, nicht heraufregulierbaren positiven Affekt • Entsprechend ist die Systemkonfiguration durch eine Dominanz der Diskrepanzsensitiven Wahrnehmung und des Intentionsgedächtnisses (nicht umgesetzte Intentionen) gekennzeichnet Zusammenfassung: Abhängigkeit 2 • Das Extensionsgedächtnis bleibt weitestgehend „offline“ • Das Intentionsgedächtnis wird somit nicht durch Inhalte des Extensionsgedächtnis geladen, das sind: – Persönlich Motive – Wünsche – Präferenzen • Die Person spürt nicht, ob etwas gegen diese Inhalte verstößt • Sie setzt in ihrem Leben persönliche Motive nicht in Handlungen um, gerät somit zunehmend in eine Diskrepanz zwischen ihren Wünschen/Bedürfnissen und der Realität/der Umsetzung Zusammenfassung: Abhängigkeit 3 • Das System wird anfällig gegen Infiltrationen fremder Motive und Intentionen • Da das Extensionsgedächtnis off-line ist, bemerkt die Person nicht einmal, dass das System infiltriert wird • Es entsteht das Alienationsphänomen: Mangelnder Zugang zum Selbst (EG) und Verwechslung fremder Intentionen mit eigenen