Früh erkannt, Gefahr gebannt – eine Chance für schwerhörige Kinder

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Früh erkannt, Gefahr gebannt –
eine Chance für schwerhörige Kinder
Tagungsband der Beethovengespräche 1999
Fr ü h e r ka n n t , G e fa h r ge b a n n t –
e i n e C h a n c e f ü r s ch we r h ö r i ge K i n d e r
Tagungsband der Beethovengespräche 1999
am 25. August 1999 in Bonn
4
Z u d e n B e e t h ove n ge s p r ä ch e n 19 9 9
Schwerhörigkeit bei Kindern kommt häufiger vor, als viele Menschen glauben.
Wenn die Erkrankung rechtzeitig erkannt wird, kann heutzutage dank der modernen Technik schon sehr viel erreicht werden, um den Kindern dennoch einen
guten Start ins Leben zu ermöglichen. Eine flächendeckende Früherkennung
von Hörschäden bei Kindern und eine optimale Betreuung durch Ärzte,
Hörgerätespezialisten und Pädagogen sind daher zwingend erforderlich.
Die Siemens Audiologische Technik GmbH, Erlangen, hat sich als weltweiter
Marktführer im Bereich der Hörgerätetechnik diesem schwierigsten Teilgebiet
der Audiologie angenommen. Das Unternehmen stellt sein Wissen und seine
Erfahrungen einem Aufgabengebiet zur Verfügung, in dem enormer Nachholbedarf besteht.
Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
Die von der Siemens Tochter initiierten Beethovengespräche haben das Ziel,
die Öffentlichkeit über verschiedene Aspekte der Schwerhörigkeit zu informieren und Vorurteile gegenüber Schwerhörigen abzubauen. Bei der diesjährigen
Veranstaltung diskutierten Experten aus Medizin und Industrie zusammen mit
zahlreichen Vertretern aus den Medien die frühzeitige Versorgung von hörgeschädigten Kindern. Dieser Tagungsband möchte nicht nur die Aufmerksamkeit
von medizinischen und öffentlichen Entscheidungsträgern auf die Problematik
schwerhöriger Kinder lenken, sondern auch Eltern Mut machen, die Herausforderung eines schwerhörigen Kindes anzunehmen und sich für eine Frühdiagnose und Frühversorgung einzusetzen.
Unser besonderer Dank gilt den Experten, die sich mit ihrem Wissen und ihren
Erfahrungen eingebracht haben. Ohne ihr Engagement wäre dieser Tagungsband nicht möglich gewesen.
Erlangen, September 1999
Maria-José García
Marketing Manager
Siemens Audiologische Technik GmbH
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6 Beethovengespräche 1999
I n h a l t s ve r z e i ch n i s
Beate Riese – Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Sprecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
Einführung
12
..............................................
„Die Bedeutung des Hörens für die psychische
und physische Entwicklung des Kindes“
■ Te i l I
Dr. phil. Werner Richtberg
„Schwerhörigkeit im Kindesalter als lebensbegleitendes Problem“
1. Probleme schwerhöriger Kinder und Erwachsener im Alltag . . . . . . . . . .
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2. Psychische Folgen der Schwerhörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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■ Te i l I I
Prof. Dr. med. Martin Westhofen
Früherkennung
1. Einleitung
...............................................
23
2. Erkennungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Behandlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Schlüsselentscheidungen zu Schlüsselzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Kosten und Nutzenrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Aktuelle Screening Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
Inhalt ■
7
■ Te i l I I I
Dr. med. Agnes Hildmann
Frühkindliche Audiometrie und Hörgeräteversorgung
1. Risikofaktoren für eine Schwerhörigkeit erkennen
.................
31
2. Audiometrische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
3. Psychologische Aspekte
34
....................................
4. Interdisziplinäre Zusammenarbeit
.............................
35
...............................................
39
2. Technische Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
3. Spezielles Kinderzubehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
4. Kindgerechtes Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
■ Te i l I V
Dr. rer. nat. Kristin Rohrseitz
Hörgeräte für Kinder
1. Einleitung
■ Glossar
.......................................................
46
8 Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
Vorwort
G e d a n ke n vo n E l t e r n e i n e s h e u t e
13 Ja h r e a l t e n , m i tt e l - b i s h o ch g r a d i g
s ch we r h ö r i ge n S o h n e s
Wenn bei Eltern, Ärzten oder Erziehern der erste Verdacht auf
eine Hörschädigung des Kindes auftaucht, wird man schnellstmöglich eine Diagnose herbeiführen wollen, um bald Klarheit zu
gewinnen. Bestätigt sich der Verdacht, so ist die ärztliche
Diagnose oftmals ein Schock für die Eltern. Alle elterlichen Vorstellungen hinsichtlich der Entwicklung des eigenen Kindes allgemein, seiner Sprachentwicklung, seiner Schullaufbahn, seiner Berufsfindung und seiner Möglichkeiten, später ein in jeder Hinsicht erfülltes Leben führen zu können, scheinen
vor dem Hintergrund einer völlig unbekannten Situation und ihrer möglichen
Konsequenzen plötzlich in Frage gestellt. Hinzu kommt der erhebliche zusätzliche zeitliche Aufwand einer dringenden und schnellstmöglichen Hörgeräteanpassung, verbunden mit zahlreichen Besuchen bei Ärzten und Hörgeräteakustikern.
Die anfängliche Unsicherheit mündet in der für die Eltern so zentralen Frage:
„Wird mein Kind sprechen lernen, wenn es wenig oder kaum hört?“
Darauf gibt es nur eine Antwort: Jedes hörgeschädigte Kind kann die Sprache
erlernen, so daß es sich lautsprachlich verständigen kann. Dazu ist selbstverständlich eine effektive lautsprachliche Frühförderung die beste und erforderliche Grundlage.
Gerade in dieser Phase der Unsicherheit ist es wichtig, mit seinen Problemen
nicht allein gelassen zu werden. Wir haben es als eine große Hilfe erfahren,
dass wir über örtliche Elterninitiativen und über die überregionale Bundes-
Vo r wo r t ■ von Beate Riese
gemeinschaft der Eltern und Freunde hörgeschädigter Kinder e.V. in Hamburg
Kontakt zu anderen Eltern gefunden haben, die sich in einer vergleichbaren
Situation befanden. Die von der Gemeinschaft veranstalteten Wochenendseminare gaben Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch und gaben Kraft zur
Bewältigung der Situation.
Zwangsläufig kam auch bei uns die Frage auf, warum denn gerade unser Kind
von der Hörbehinderung und damit auch die ganze Familie betroffen ist.
Schließlich beantworteten wir diese Frage für uns mit der Gegenfrage, warum
denn nicht unser Kind, wo es doch in unserer Familie gut aufgehoben ist.
Bei allen notwendigen Fördermaßnahmen durch Therapeuten und Eltern darf
man nicht vergessen, daß das Kind auch kindgemäß aufwachsen muß. Das
heißt, daß dem Kind genügend Zeit- und Freiraum, z. B. einfach zum Spielen,
für Sport und für Freunde gegeben werden muß, ohne daß die Eltern ein
schlechtes Gewissen haben, daß die Förderung des Kindes zu kurz kommt.
Im Laufe der Entwicklung unseres Sohnes haben wir gelernt, weitgesteckte
und in die fernere Zukunft reichende Ziele, z. B. hinsichtlich der Schullaufbahn,
zurückzustellen.
Es erscheint uns viel sinnvoller, den Blick auf einen kurzfristigen Zeitraum, z.B.
ein Jahr, zu richten, nach dem man das Erreichte jeweils bewertet und auf dieser Basis weiterführende Entscheidungen trifft.
Köln, im September 1999
Beate Riese
2. Vorsitzende des Landesverbandes der Fördervereine
schwerhöriger Kinder Nordrhein-Westfalen
9
10
D i e S p r e ch e r
D r. m e d . A g n e s H i l d m a n n
Dr. med. Agnes Hildmann ist Ärztin für Phoniatrie und Pädaudiologie sowie Ärztin für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde. Sie war elf
Jahre Chefärztin des von ihr aufgebauten Instituts für Phoniatrie und Pädaudiologie, das in die Vestische Kinderklinik Datteln
der Universität Witten/Herdecke integriert ist. Seit dem 1. Juli 1999 leitet sie
das CI-Zentrum Ruhrgebiet in Kooperation mit der Hals-Nasen-Ohrenklinik der
Ruhruniversität Bochum. Der Aufgabenbereich umfaßt Früherkennung von versorgungspflichtigen Schwerhörigkeiten mit Diagnose und Rehabilitation durch
Hörgeräte und Cochlea-Implantationen. Darüber hinaus bietet das Zentrum
die Erstellung und Durchführung von Rehabilitations-Programmen an, die individuell den Bedürfnissen von Kind und Eltern angepaßt sind.
D r. p h i l . W e r n e r R i c h t b e r g
Dr. Werner Richtberg ist Psychotherapeut und leitender
Psychologe der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I
an der Universität Frankfurt am Main. Er ist Autor bzw.
Herausgeber mehrerer Bücher und zahlreicher wissenschaftlicher Artikel über Hörbehinderung. Insbesondere widmet er sich den
psychischen und psychosomatischen Begleitstörungen bei Schwerhörigkeit,
Taubheit und Tinnitus. Weiterhin erstellt er Konzepte zur Psychotherapie und
Rehabilitation von Hörbehinderten mit psychischen Störungen.
Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
D r. r e r. n a t . K r i s t i n R o h r s e i t z
Dr. Kristin Rohrseitz ist verantwortlich für den Bereich der Kinderversorgung bei der Siemens Audiologische Technik GmbH in
Erlangen. Während ihres naturwissenschaftlichen Studiums und der
Promotion beschäftigte sie sich intensiv mit verschiedenen Facetten akustischer Kommunikation. Sie ist Autorin zahlreicher wissenschaftlicher
Veröffentlichungen aus dem Bereich der Sinnesphysiologie.
P r o f . D r. m e d . M a r t i n W e s t h o f e n
Professor Martin Westhofen ist Direktor der Klinik
für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Plastische
Kopf- und Halschirurgie der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Schwerpunkt seiner klinisch operativen Tätigkeit sind die Mikrochirurgie des Ohrs einschließlich gehörverbessernder Operationen des Mittelohrs und CochlearImplant-Operationen, sowie die Mikrochirurgie der vorderen Schädelbasis und
Nasennebenhöhlen. Das wissenschaftliche Arbeitsgebiet betrifft die Erkrankungen des Innenohrs und des Gleichgewichtsorgans. In diesem Zusammenhang
gründete er die Arbeitsgruppe „Neugeborenen-Hörscreening“.
11
12
Einführung
„ D i e B e d e u tu n g d e s H ö r e n s
f ü r d i e p s ych i s ch e u n d p hy s i s ch e
E n t w i ck l u n g d e s K i n d e s .”
Physiologie
Schon im Mutterleib nimmt ein Kind Laute von außen wahr; ab der 24. Schwangerschaftswoche reagiert es bereits auf das Gehörte. Die Reifung und vollständige Ausdifferenzierung der Hörbahnen erfolgt jedoch erst nach der Geburt
und wird durch akustische Reize angeregt.
Sprachentwicklung
Nicht nur für die physiologische Reifung des Gehörs, sondern auch für die
Sprachentwicklung des Kindes ist die Wahrnehmung akustischer Signale
enorm wichtig. Etwa bis zum vierten Lebensmonat entwickeln sich die einzelnen
Sinnessysteme isoliert. Alle Kinder weltweit weisen in dieser sogenannten
ersten Lallphase dasselbe Lautierungsmuster auf. Im Alter von vier bis sechs
Monaten nimmt jedoch der Hörsinn Einfluß auf die Sprachentwicklung. Das
heißt, die Kinder nehmen ihre eigene Stimme bewußt wahr und beginnen, mit
der Sprache zu spielen. Fehlt den Kindern der Hörsinn, verlieren sie die
Neugierde, Laute auszuprobieren und verstummen in der zweiten Hälfte des
ersten Lebensjahres.
Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
Psychologie
Von Geburt an reden Mütter mit ihren Kindern.
Auch wenn diese den Inhalt der Worte noch nicht
verstehen, vermittelt die Stimme der Bezugsperson Geborgenheit und Nähe. Später erweitert sich
das Repertoire dieser emotional-akustischen
Kommunikation. Das Kind erfährt, noch bevor es
zu sprechen lernt, Lob, Zustimmung oder Ermahnung durch die Stimme der Eltern. Diese Botschaften sind für das frühe soziale Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung von großer Bedeutung.
Aus all diesen Gründen ist es wichtig, kindliche Hörstörungen so früh wie möglich zu entdecken und frühzeitig zu behandeln, um Folgeschäden in der Entwicklung des Kindes so weit wie möglich zu vermeiden.
13
14 Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
S ch we r h ö r i g ke i t i m K i n d e s a l t e r
und als lebensbegleitendes Problem
Dr. phil. Werner Richtberg
„Die Bezeichnung ‚schwerhörig‘
ist zwar eine physiologisch
korrekte, aber auch verharmlosende Zustandsbeschreibung
einer Behinderung, die breite
psychosoziale Probleme umfaßt.
Erschwert sind nicht allein Hören
und Verstehen. Alles, was zur
sozialen Teilhabe am Leben gehört,
ist viel anstrengender, belastender,
konfliktträchtiger, als es der
unaufgeklärte Laie ahnen kann“.
Te i l I ■ Dr. phil. Werner Richtberg
1. Probleme schwerhöriger Kinder und Erwachsener im Alltag
Hören ist für nicht Hörgeschädigte in vielen Alltagssituationen eine randbewußte Leistung. Sie können sich an einer Unterhaltung beteiligen und gleichzeitig noch einer anderen Tätigkeit nachgehen, z. B. essen, eine Handarbeit erledigen oder das Gehörte gedanklich filtern und Gesprächsnotizen machen.
Schwerhörige sind zu einer derartigen Spaltung der Aufmerksamkeit beim
Hörvorgang nicht in der Lage. Bei ihnen bindet die Anstrengung um das akustische Verstehen weitgehend die Konzentration und alle geistigen Energien.
Jeder, der schon einmal versucht hat, einem Gespräch in einer fremden
Sprache zu folgen, weiß, was das bedeutet.
Der Weg eines schwerhörigen
Kindes ins Erwachsenenalter ist in
vielerlei Hinsicht schwieriger als
der eines normal hörenden Kindes,
sei es beim Sprechen lernen, in der
Schule, bei der sozialen Rollenfindung oder Selbstbehauptung. Es
ist einem ständigen Druck ausgesetzt, den Anforderungen normal
Hörender genügen zu müssen.
Während gehörlose Kinder meist in einer geschützten Umgebung aufwachsen,
werden schwerhörige Kinder fast überall an den Normen für normal Hörende
gemessen. Nach erfolgter Hörgeräteversorgung besuchen sie im Allgemeinen
die Regelschule und müssen sich in der Welt der normal Hörenden zurecht finden.
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16 Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
2. Psychische Folgen der Schwerhörigkeit
Schwerhörigkeit kann bei Kindern und Erwachsenen gravierende psychische
Probleme auslösen:
■ Identitätsprobleme
■ Erschöpftheit
■ Verlust von Lebensfreude und sozialer Kompetenz
■ Vertrauenverlust
■ Entmutigung
Identitätsprobleme ■
Schwerhörige Kinder, die eine Regelschule besuchen, fühlen sich dazu
gezwungen, die gleichen Anforderungen zu erfüllen wie alle anderen Kinder
auch. Sie orientieren sich in ihren persönlichen Zielen und Maßstäben an der
Mehrheit; die eigene Identität wird dabei in den Hintergrund gedrängt. Daraus
erwachsen manche Forderungen, die nur um den Preis großer Entbehrungen
und Enttäuschungen erfüllbar sind.
Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die zunächst ein intaktes Gehör besaßen
und eine normale seelische, geistige und soziale Entwicklung durchgemacht
haben, können z. B. infolge einer Infektionskrankheit plötzlich schwerhörig werden oder ertauben. Sie sind in ihrer psychischen Integrität stärker verwundbar
als jene Leidensgefährten, die von Anfang an in der Schwerhörigen-Rolle aufgewachsen sind und ihre Bedürfnisse und Zielsetzungen an den Begrenzungen
dieser Behinderung orientiert haben. Es ist offenbar folgenschwerer und leid-
Te i l I ■ Dr. phil. Werner Richtberg
voller, etwas schon Besessenes zu verlieren, als das gleiche Gut nie besessen
zu haben. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Identitätsverlust,
der einen wichtigen Ansatzpunkt in der Psychotherapie mit hörgeschädigten
Patienten liefert.
E r s ch ö p ft h e i t ■
Schwerhörige müssen in allen kommunikativen Situationen geistig hochpräsent sein, wenn sie vermeiden wollen, daß die Situation an ihnen vorüberläuft
und sie vom Geschehen ausgeschlossen bleiben. Sie müssen „ganz Ohr sein“,
um zu verstehen, und können dennoch ihren Ohren nie ganz trauen. Dieser
Lebensstil ist anstrengend und führt zu einem charakteristischen Erschöpfungszustand bei den Betroffenen.
Ve r l u s t v o n L e b e n s f r e u d e u n d s o z i a l e r K o m p e t e n z ■
Die Folge der chronischen Erschöpfung ist ein Verlust von Lebensfreude,
Lebensmut und vitaler Frische. Besonders Schwerhörige, die in Beruf und
Familie stark gefordert sind, weisen diese psychosomatischen Erscheinungsbilder auf. Das zeigen Erfahrungen aus der täglichen Praxis sowie die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien.
Schwerhörigkeit erweist sich oft als menschentrennende Behinderung. Denn
wo die Kommunikation mit den Mitmenschen erschwert oder gestört ist, kann
trotz der räumlichen Nähe zu Menschen ein Gefühl von Einsamkeit entstehen.
Schwerhörige kennen diese scheinbar paradoxe Situation aus ihren enttäuschenden Kontakten mit normal Hörenden, z. B. in einer dienstlichen Besprechung am Arbeitsplatz, bei einem Biertischgespräch oder einer Familienfeier,
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18 Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
wenn aus Gedankenlosigkeit notwendige Rücksichten entfallen und der Hörgeschädigte die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft des Augenblicks verliert.
„Mitten unter den Menschen zur Einsamkeit verdammt”, nannte Beethoven im
Heiligenstädter Testament diese Situation, die noch heute viele Schwerhörige
nachvollziehen können.
Was in der Psychotherapie bei erwachsenen Schwerhörigen weiter auffällt, ist
ein Mangel oder ein Verlust von sozialer Kompetenz. Jeder Mensch hat von
sich ein Bild seiner Fähigkeiten, seines Könnens, seiner Attraktivität, seiner
sozialen Bedeutung und seines Wertes innerhalb vertrauter Bezugsgruppen.
Aus diesem sogenannten Selbstkonzept entwickeln sich Forderungen an sich
und andere. Dieses Selbstkonzept ist der Motor für vielfältige soziale
Aktivitäten – etwa für Kontaktbedürfnis und -fähigkeit, für Durchsetzungsvermögen, innere Selbständigkeit, Lebensmut und Lebensziele. Die Gesamtheit all dieser Eigenschaften und Fähigkeiten bezeichnet man als „soziale
Kompetenz”. Einen Mangel an sozialer Kompetenz findet man bei vielen
Schwerhörigen. Dafür stehen Aussagen wie die folgenden Zitate aus Psychotherapie-Protokollen:
„Mein Freundeskreis ist sehr klein. Ich habe das Gefühl, ich falle allen zur
Last . . .”
„Im Geschäft habe ich Angst vor jedem Telefonanruf, vor jedem Kundengespräch, vor jeder Besprechung. Ich zittere dann am ganzen Körper und verhalte mich hilflos wie ein kleines Kind. Nachher, wenn alles vorbei ist, wird mir
klar, wie dumm ich mich verhalten habe.”
Te i l I ■ Dr. phil. Werner Richtberg
„. . . Bei Elternabenden in der
Schule hätte ich so vieles zu sagen, aber ich traue mich nicht, es
zu tun.”
Was sich in solchen Aussagen ausdrückt, ist das Bild von Menschen,
die sich ins zweite Glied gestellt
sehen und darunter leiden.
Ve r t r a u e n s v e r l u s t ■
Bei Menschen, die sich in Begegnungssituationen nie sicher sein können, ob
sie etwas richtig verstanden haben, ob sie richtig verstanden worden sind,
oder ob ihr Gegenüber Mißverständnisse richtig deutet, entwickelt sich häufig
ein schleichender Vertrauensverlust. Was das bedeutet, kann man ermessen,
wenn man die Rolle des Vertrauens in unserem Leben bedenkt. Wir lassen uns
täglich auf eine Vielzahl von Situationen und Aufgaben ein, die die Gefahr eines
Scheiterns oder Versagens in sich bergen. Vertrauen schützt uns vor überflüssigen Zweifeln, Ängsten und Kontrollen. Wie sieht es aber aus, wenn das
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, in die eigene Kompetenz und Attraktivität
erschüttert ist? Dann zerbrechen die natürlichen Selbstverständlichkeiten und
alles Tun wird von Zweifeln und Ängsten überlagert.
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20 Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
Entmutigung ■
Die genannten Schwierigkeiten führen bei Schwerhörigen jeden Alters häufiger als bei normal Hörenden zu Überforderungs- und Enttäuschungserlebnissen, die sich in dem ganz charakteristischen Entmutigungssyndrom
äußern können.
3. Fazit
Schwerhörigkeit fordert dem Betroffenen eine Menge ab, um sein Leben zu
meistern. Eltern schwerhöriger Kinder werden vor viele Fragen gestellt, entwickeln Ängste und müssen täglich viele Anstrengungen auf sich nehmen.
Eine frühzeitige optimale Hörgeräteversorgung bietet einem schwerhörigen
Kind die Chance, trotz seiner Behinderung sein Leben zu meistern und seinen
Platz in der Gesellschaft zu finden.
Te i l I ■ Dr. phil. Werner Richtberg
Literatur ■
Kammerer, E. (1988): Kinderpsychiatrische
Aspekte der schweren Hörschädigung.
Enke, Stuttgart
Regenspurger, O. (1989): Rehabilitation
Hörbehinderter als gesellschaftpolitische
Aufgabe.
In: Kongr. Ber. „Rehabilitation Schwerhöriger,
Ertaubter und Gehörloser“ (13 – 21),
Bad Berleburg
Richtberg, W. (1980): Hörbehinderung als
psychosoziales Leiden.
Forschungsbericht des Bundesministers
für Arbeit und Sozialordnung,
Gesundheitsforschung Band 32,
Bonn
Richtberg, W. (1990): Was Schwerhörigsein
bedeutet. Schriftenreihe für den HNO-Arzt,
Kind.
Großburgwedel
Richtberg, W. (1992): Hörgeschädigte:
eine vernachlässigte Patientengruppe in der
ärztlichen Praxis.
Wiener Med. Wschr. 142 (11/12), 230 – 235
Richtberg,W. (1993): Psychosomatische
Aspekte bei Schwerhörigkeit. Psycho 19 (7),
436 – 442
Richtberg, W., Verch, K. (1991): Medizinische
Rehabilitation psychischer Störungen bei
Hörbehinderten – Psychotherapeutische
Kuren. Forschungsbericht des
Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung,
Sozialforschung Band 214 a,
Bonn
Zenner, H.P. (1990): Denkschrift zur
Gründung eines Instituts/Zentrums für
Hör- und Kommunikationsforschung,
Tübingen
21
22 Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
Fr ü h e r ke n n u n g
Prof. Dr. med. Martin Westhofen
„In Deutschland wird Schwerhörigkeit bei Säuglingen in der
Regel nicht vor dem zweiten bis
dritten Lebensjahr festgestellt.
Das ist eindeutig zu spät. Die
bislang angebotene Früherfassung
reicht offensichtlich nicht aus.
Dabei ist mit technisch einfachen
und risikofreien Untersuchungsmaßnahmen eine objektive Hörschwellenbestimmung beim
Säugling durchaus möglich. Was
fehlt, sind grundsätzliche Hörtests
bei jedem Neugeborenen.”
Te i l I I ■ Prof. Dr. med. Martin Westhofen
1. Einleitung
Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit treten bei Kindern in einer Häufigkeit von
ca. 15 pro 1000 Geburten auf. In etwa 0,5 % der Geburten sind Taubheiten oder
an Taubheit grenzende Schwerhörigkeiten zu beobachten. Die Ursachen dieser
bei Geburt vorliegenden Hörstörungen sind vielfältig. Weit überwiegend sind
Kinder nach Risikoschwangerschaften, einigen Infektionserkrankungen während der Schwangerschaft sowie Schädigungen durch Medikamenteneinnahmen oder Alkohol während der Schwangerschaft betroffen. Detaillierte
Informationen liegen über seltenere Erkrankungen der Neugeborenen wie
familiär vererbte Mißbildungen und frühkindliche Hirnhautentzündungen als
Ursache für Hörstörungen vor (siehe Teil III, 1. Risikofaktoren für eine
Schwerhörigkeit erkennen).
Im Gegensatz zu anderen europäischen und außereuropäischen Ländern ist
das Alter der Kinder zum Zeitpunkt der Diagnosestellung in Deutschland mit 28
Monaten im Durchschnitt erschreckend hoch. Bei 26 % der diagnostizierten
Kinder vergeht in Deutschland mehr als ein Jahr zwischen erstem Verdacht und
Diagnose. Abhängig vom Grad der Schwerhörigkeit liegt das mittlere Alter der
Diagnosestellung bei 2 Jahren für Taubheit und 6,2 Jahren für geringgradige
Schwerhörigkeiten.
Derzeit fehlt in Deutschland ein flächendeckendes Früh-Screening-Programm
für Hörstörungen Neugeborener. Dies ist um so bedauerlicher, da seit langem
nicht -invasive Diagnosemethoden als Instrumentarium für Neugeborenen-Hörscreening bekannt sind. Mit einigen dieser Methoden lassen sich Hörstörungen bei ca. 1,5 Promille aller Neugeborenen feststellen.
23
24 Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
2. Erkennungsverfahren
Te s t e n d e r R e a k t i o n a u f a k u s t i s c h e S i g n a l e ■
Diese Methode, beispielsweise in Form von Klatschen am Hinterkopf, wird teilweise noch bei Routineuntersuchungen der Kinder durchgeführt. Sie ist in keinster Weise aussagekräftig, da Kinder allein auf den Luftzug reagieren, auch
wenn sie nichts hören können.
Messung otoakustischer Emissionen ■
Bei dieser Methode wird eine Mess-Sonde ins Ohr eingeführt, die kurzzeitig
ein Geräusch abgibt. Anschliessend wird die akustische Information gemessen, die das Innenohr auf diesen Reiz hin weitergibt. Dieses Messverfahren
gibt zwar Auskunft über das Vorhandensein einer Hörbeeinträchtigung, läßt
jedoch keine präzise Gradeinteilung der Schwerhörigkeit zu. Außerdem ist das
Ergebnis häufig nicht eindeutig.
BERA (Brainstem Electric Response Audiometry) ■
Bei diesem Verfahren werden Antworten des Hirnstamms auf akustische Reize
gemessen. Es ermöglicht durch verschiedene Techniken der akustischen
Reizung eine Unterscheidung nach Mittel- und Innenohr-Schwerhörigkeit. Die
Messung ist einfach, in kurzer Zeit durchzuführen und läßt Aussagen zu, die unabhängig von der „Tagesform” des Kindes sind.
Te i l I I ■ Prof. Dr. med. Martin Westhofen
3. Behandlungsverfahren
Je nach Art der vorliegenden Hörstörung gibt es verschiedene Behandlungsmöglichkeiten:
■ wiederaufbauende Mikrochirurgie bei Missbildungen des Mittelohrs oder
selbst bei beidseitiger Innenohrtaubheit
■ Hörgeräteversorgung als zeitlich erste Maßnahme
■ Entwicklungsbegleitende Hörgeräteversorgung: Bei manchen Kindern entwickelt sich innerhalb der ersten drei bis fünf Monate nicht das Laut-,
Sprach- und Richtungshören, das sich normalerweise im Verfolgen von
Schallreizen mit den Augen äußert. In solchen Fällen kann die Anpassung
von Hörgeräten unabhängig vom Grad der Hörstörung eine Stimulation des
Hörvermögens bewirken. Oft können die Hörgeräte nach einiger Zeit wieder
entfernt werden.
■ Implantation elektronischer Innenohrprothesen: Diese ist ratsam, wenn eine
beidseitige Taubheit vorliegt oder wenn Hörgeräte in Kombination mit intensiver Hör-/Spracherziehung keine altersgemäße Sprachentwicklung bewirken. Sie setzt intensive logopädische und pädagogische Nachbehandlung
voraus.
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26 Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
4. Schlüsselentscheidungen zu Schlüsselzeiten
Um zu einer optimalen Hörgeräteversorgung von Kindern zu gelangen, ist
neben einem Screening-Programm eine frühzeitige Begleitung der Kinder mit
Hörproblemen notwendig. Die folgenden Schritte sollten meiner Meinung nach
eingehalten werden:
Alter
Aktion
0 – 2 Monate
erste Kontaktaufnahme mit Ärzten, Erkennung des
Problems, Beratung der Eltern
0,5 Jahre
spätester Zeitpunkt für eine Versorgung mit
Hörgeräten
1,5 Jahre
bei vollständiger Taubheit Implantieren einer
Innenohrprothese, Hörtraining, pädagogische
Beratung
Einschulung
Spätestens jetzt muss klar sein, ob das Kind auf
Grund seiner Hörbeeinträchtigung auf einen besonderen Schultyp gehen sollte oder eine Regelschule
besuchen kann.
Te i l I I ■ Prof. Dr. med. Martin Westhofen
5. Kosten- und Nutzen-Rechnung
Frühscreening und frühzeitige Hörgeräteversorgung sind nicht nur aus ethischer,
sondern auch aus rein wirtschaftlicher Sicht sinnvoll, da Kosten für besondere
Ausbildung und Betreuung von Hörgeschädigten ungleich teurer sind.
6. Aktuelle Screening-Studien
Wesentliche Voraussetzung, allen Kindern mit Hörschädigungen eine optimale
Behandlung zu bieten, liegt in einer verlässlichen Routineuntersuchung schon
beim Neugeborenen. Bislang gibt es im Gegensatz zu einigen anderen europäischen Ländern in Deutschland kein flächendeckendes Hörscreening-Programm für Neugeborene. Die wenigen bisher existierenden Screenings sind
Bestandteil von Studien.
Eine solche Projektstudie wird unter Leitung von Prof. Westhofen an der Klinik
für HNO-Heilkunde in Aachen durchgeführt. Alle Kinder des Landkreises Düren
werden innerhalb der ersten Tage nach der Geburt mit Zustimmung der Eltern
einem Hörtest unterzogen. Bislang wurden 642 Neugeborene untersucht. Im
Verlauf der nächsten vier Jahre wird der Entwicklungsfortschritt dieser Kinder
im Vergleich zu Kindern ohne Frühscreenings und Frühversorgung beobachtet.
Das Ziel der Studie ist es, Auskünfte über Notwendigkeit, Realisierbarkeit und
Wirtschaftlichkeit der Hörscreenings bei Neugeborenen zu erhalten, sowie
Erkenntnisse über die Natur der zugrunde liegenden Erkrankungen zu sammeln.
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28 Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
Am Institut für Phoniatrie / Pädaudiologie der Dattelner Kinderklinik läuft unter
der Leitung von Dr. med. Agnes Hildmann eine komplementäre Studie, in
deren Rahmen etwa 2 000 Säuglinge mit hohem Risiko für Schwerhörigkeit,
z.B. nach Frühgeburt erfaßt werden.
Te i l I I ■ Prof. Dr. med. Martin Westhofen
We i t e r f ü h re n d e L i t e ra tu r ■
Grandory F. et. al. A project from the
Biomedical and Health Programme European
Commission – Biomed 2 – Directorate General
XII. The European Consensus Development
Conference on Neonatal Hearing Screening,
J. Perinat Med. 1998; 26(4):330-1.
Lynn G. Spivak, Ph.D.
Universal Newborn Hearing Screening, 1-274,
Thiemie,
New York – Stuttgart, 1998
29
30 Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
Fr ü h k i n d l i ch e Au d i o m e t r i e
u n d H ö r ge r ä t e ve r s o r g u n g
Dr. med. Agnes Hildmann
„Ein Säugling mit Hörminderung
entwickelt keine Neugierde für
akustische Geräusche, weil er sie
nicht hört. Er hört seine eigene
Stimme nicht. Er spielt nicht mit
seiner Stimme wie mit Händen
und Füßen – er verstummt in
der 2. Hälfte des ersten Lebensjahres. Seine Sprache entwickelt
sich nicht.”
Te i l I I I ■ Dr. med. Agnes Hildmann
1. Risikofaktoren für eine Schwerhörigkeit erkennen
Für Schwerhörigkeit gibt es vielfältige Ursachen. Unter bestimmten Risikogruppen treten Schwerhörigkeiten vermehrt auf.
Risikofaktoren, die vor, während oder kurz nach der Geburt eine Rolle spielen
können sind:
■ Geburtsgewicht unter 1.500 g
■ Geburt vor der 32. Schwangerschaftswoche
■ Langzeitbeatmung (länger als 8 Std.)
■ peripartale Asphyxie mit evtl. begleitender Sepsis
■ Gabe von ototoxischen Medikamenten (Schleifendiuretica, Aminoglycoside)
■ Pränatale Infektionen
■ Zytomegalie
■ Toxoplasmose
■ Rötelembryopathie
■ Fehlbildungen im Kopfbereich
■ syndromale Erkrankungen
■ familiäre Belastung
■ Alkohol- und Drogenmißbrauch während der Schwangerschaft
Bei ca. 50 % der schwerhörigen Kinder entstehen Schwerhörigkeiten erst nach
der Geburt, z. B. bei
■ Säuglingen und Kleinkindern, die als Baby an bakterieller Meningitis oder
Encephalitis erkranken,
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32 Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
■ Kindern nach schwerer Masern- oder Mumpserkrankung, nach Unfällen,
nach Chemotherapien, bei Tumorerkrankungen oder nach chronischen Otitiden (Ohrentzündungen),
■ Kindern, die an bestimmten Syndromen erkrankt sind (z. B. Moebius-Syndrom – Arthrogryposis multiplex, u. a.).
An eine mögliche Hörschädigung sollte man außerdem denken bei:
■ Kindern mit kleinen und großen Mittelohrmißbildungen (z. B. das Franceschetti-Syndrom),
■ Kindern, die durch verminderte Mundbewegungsmuster auffallen oder eine
vermehrte Speichelbildung haben, die nicht mit Zahnung erklärbar ist,
■ Kindern mit cerebralen Bewegungsstörungen,
■ Kindern, bei denen sich die Sprache gar nicht oder nicht weiter entwickelt,
■ Kindern, die verhaltenssauffällig werden, also sehr laut, aggressiv oder ganz
still sind.
■ Kindern, die kognitiv-psychosozial und in der Sprachentwicklung erhebliche
Entwicklungsverzögerungen oder Störungen zeigen.
Manche Kinder, die leicht- bis mittelgradig schwerhörig sind, fallen zunächst in
ihrer Entwicklung nicht auf, da sie die Hörbeeinträchtigung ausgezeichnet kompensieren. In diesen Fällen kann es passieren, daß die Schwerhörigkeit im
ersten Lebensjahr nicht entdeckt wird.
Besteht der Verdacht auf Hörminderung, muß das Kind mit weiteren subjektiven und objektiven Prüf- und Meßmethoden untersucht werden (siehe Teil II,
Früherkennung).
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2. Audiometrische Aspekte
Die Hörgeräteversorgung bei Kindern ist eines der schwierigsten Gebiete der
Audiologie, denn:
■ Sehr kleine Kinder können noch nicht sagen, was ihnen fehlt. Daher müssen
bei Kindern besondere Meß- und Versorgungsverfahren angewandt werden.
■ Bei Säuglingen ist es oft schwierig, die komplexen Zusammenhänge der
Hörstörung zu erkennen. Meistens läßt sich das Störungsbild erst im Laufe
von Monaten oder Jahren definieren.
■ Es kann bei Säuglingen nie eine abschließende Diagnose gestellt werden,
sondern eine laufende Beobachtung ist notwendig.
■ Kinder sind keine kleinen Erwachsenen! Audiologische Messungen bei
Säuglingen liefern immer angenommene Werte; die Versorgung mit einem
Hörgerät ist ohne häufigen Kontrollen nie für einen langen Zeitraum möglich.
Man sollte folgendes nie aus den Augen verlieren:
■ Die Anamnese ist wichtig. Mütter mit einem Verdacht auf Schwerhörigkeit
ihres Kindes sollten unbedingt ernst genommen werden.
■ Eine rechtzeitige Hör-/Spracherziehung muß die Hörgeräteversorgung
begleiten.
■ Team-Arbeit ist gefragt: HNO-Ärzte, Kinderärzte, Hörgeräteakustiker,
Schwerhörigenpädagogen, Logopäden, Psychologen, Hörgerätehersteller
und Eltern müssen zusammen arbeiten.
■ Wenn neben der Schwerhörigkeit weitere Einschränkungen der Kommunikationsfähigkeit bestehen, müssen diese bei der Therapie mit berücksichtigt
werden.
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34 Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
3. Psychologische Aspekte
Die Diagnostik der Schwerhörigkeit und das Verschreiben eines modernen
Hörgerätes allein reichen nicht aus, um einem Kind mit Hörbeeinträchtigung
einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Viele weitere Aspekte müssen
beachtet werden:
■ Einfühlungsvermögen ist gefordert, denn viele Kinder sind noch zu klein um
zu verstehen, was mit ihnen geschieht.
■ Viele Eltern neigen dazu, die Behinderung ihres Kindes verstecken zu wollen. Wenn ein Kind jedoch ein buntes Hörgerät wünscht, sollten die Eltern
diesem Wunsch nachkommen.
■ Ein Kind, das ein Hörgerät ablehnt, hat immer Recht! In diesem Fall muß
Ursachenforschung betrieben werden.
■ Ein Kind lernt nur, seine Behinderung und ein Hörgerät zu akzeptieren, wenn
seine Eltern dies auch tun. Eine positive Einstellung der Eltern ist daher von
großer Bedeutung. Das heißt, Eltern benötigen Beratung und Begleitung.
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4. Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Jedes Kind ist anders und einmalig. Jede apparative Versorgung verläuft individuell. Jedes Kind verdient die Sicht seiner persönlichen Einzigartigkeit und
unseres gesamten fachlichen und menschlichen Wissens und Angebotes.
Die Hörgeräteversorgung bei Kindern ist stets eine die Entwicklung des Kindes
begleitende Maßnahme mit zu kontrollierender Überprüfung der Hörschwelle
und der Sprachentwicklung im aktiven Gebrauch und im Sprachverständnis.
Immer gibt es „Versager” in der Hörgeräteversorgung. Immer gibt es „Überflieger” in der Entwicklung. Dies sind Grenzsituationen, die für viele Eltern im
Vergleich mit anderen schwerhörigen Kindern häufig nur schwer zu verkraften
sind.
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Hörgeräteversorgung bei Kindern ist immer ein interdisziplinäres Handeln zwischen Arzt – Eltern – Hörgeräteakustiker – Schwerhörigenpädagoge – Logopäde
und häufig unter Zuhilfenahme der Psychologie und der Heilpädagogik. Die einzelnen Bereiche dürfen nicht hintereinander zum Einsatz kommen, sondern
müssen von Anfang an parallel in guter Koordination miteinander arbeiten. Die
Grenzen des Erreichbaren müssen dabei von allen Beteiligten akzeptiert werden.
Te i l I I I ■ Dr. med. Agnes Hildmann
Literatur ■
Auszugsweise aus „Ausbildung des Hörens –
Erlernen des Sprechens”
Agnes Hildmann: „Möglichkeiten der apparativen Versorgung junger Säuglinge bei neonatalen Hörstörungen”
(Herausgeber: Annette Leonhardt,
Luchterhand Verlag 1998, ISBN
3/472/03628/1)
Weiterführende Literatur beim Verfasser:
Dr. med. Agnes Hildmann,
CI-Zentrum Ruhrgebiet, Vestische Kinderklinik,
Universität Witten Herdecke,
Dr. Friedrich-Steiner-Str. 1-5 in D-45711 Datteln
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38 Be e t h ove n g e s p r ä ch e 19 9 9
H ö r ge r ä t e f ü r K i n d e r
Dr. rer. nat. Kristin Rohrseitz
„Eine Therapie bei einem schwerhörigen Kind ist nur erfolgreich,
wenn es seine Hörgeräte von Anfang
an akzeptiert. Neben High-Tech ist
ein kindgerechtes Design mit
leichten und kompakten Gehäusen
in vielen bunten Farben ein Muß.
Dieser Aspekt sollte nicht unterschätzt werden, denn das beste
Hörgerät nützt nichts, wenn das
Kind es nicht trägt.”
Te i l I V ■ Dr. rer. nat. Kristin Rohrseitz
1. Einleitung
Die Hörgeräteversorgung von Kindern ist eines der anspruchsvollsten Gebiete
der Audiologie und erfordert sehr viel Erfahrung und Einfühlungsvermögen. Die
Gründe dafür sind vielfältig:
■ Es ist schwierig, die Hörschwelle von Kindern festzustellen, denn kleine
Kinder können in der Regel noch nicht sagen, ob sie das Testsignal gehört
haben oder nicht. Das bedeutet, daß für die Kinderaudiometrie besondere
Verfahren angewendet werden müssen (z. B. Spielaudiometrie), die wesentlich aufwendiger sind als die Standardverfahren für Erwachsene.
■ Gleichzeitig sind aber die Anforderungen an die Qualität der Kinderversorgung sehr hoch, denn sie ist die Basis für eine optimale Entwicklung
des Kindes.
■ Häufig sind die Hörverluste der Kinder hochgradig, was besondere Anforderungen an die Hörgeräte und deren Anpassung stellt.
■ Zur Gewährleistung einer optimalen Versorgung ist interdisziplinäre
Zusammenarbeit gefragt: Ärzte, Pädakustiker, Pädaudiologen, Eltern, Pädagogen, Frühförderer und Hörgerätehersteller müssen intensiv zusammenarbeiten.
■ Hörgeräte für Kinder müssen bestimmte Anforderungen hinsichtlich Technik,
Zubehör und Design erfüllen.
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2. Technische Anforderungen
Leistungsklasse ■
Weltweit leiden im Durchschnitt 45% aller schwerhörigen Kinder an einer
hochgradigen Schwerhörigkeit (Siemens Market Data 1996).
Daher müssen Kinderhörgeräte über ausreichende Verstärkung und Ausgangsleistung verfügen. Dies dürfen jedoch nicht die einzigen Auswahlkriterien für
die Hörgeräte sein.
Vielmehr kommt es darauf an, daß Kinder in jeder Hörsituation optimal hören
können.
Flexible Anpassung ■
Kinderhörgeräte müssen flexibel einstellbar sein, um sowohl die wachstumsbedingten Veränderungen audiologischer Parameter als auch mögliche Veränderungen des Hörvermögens berücksichtigen zu können. Diese Forderungen
werden von programmierbaren Hörgeräten erfüllt, die für die Kinderversorgung
zu empfehen sind.
Solange sich ein Kind im Wachstum befindet, wachsen auch die Ohren. Das
Hörgerät muß daher ständig an den größer werdenden Gehörgang und an das
zunehmende Volumen der Ohren angepaßt werden. Der Gehörgang kann grob
mit einer Orgelpfeife verglichen werden: Je länger eine Orgelpfeife ist, desto
tiefer ist ihr Ton, desto niedriger ist also die sogenannte Resonanzfrequenz.
Genauso verhält es sich beim Gehörgang. Mit zunehmender Länge wird die
Frequenz der Gehörgangs-Resonanz niedriger.
Te i l I V ■ Dr. rer. nat. Kristin Rohrseitz
Durch das Wachstum des Kindes vergrößert sich auch das Restvolumen, also
das Volumen zwischen dem Ohrpaßstück (der Otoplastik) und dem
Trommelfell. Je kleiner dieses Volumen ist, desto lauter ist der Schall, der das
Ohr erregt. Daher muß bei der Anpassung von Hörgeräten die Größe des
Restvolumens berücksichtigt werden.
Gerade in den ersten vier Lebensjahren verändern sich die Gehörgangsresonanzen und die Größe des Restvolumens sehr stark. Das macht häufige
Nachanpassungen erforderlich, die nur mit programmierbaren Hörgeräten einfach und schnell durchgeführt werden können.
Optimaler Lautheitsausgleich ■
zu laut
Innenohrschwerhörigkeiten sind durch
Wahrgenommene Lautheit
sehr laut
das
laut
normalhörend
Phänomen
des
Recruitment
gekennzeichnet. Darunter versteht man
mittellaut
die Tatsache, daß Schwerhörige leise
leise
Töne entsprechend ihrer Hörschwelle
sehr leise
schwerhörig
gar nicht oder kaum hören, laute Schall-
unhörbar
0
20
40
60
80
100
Eingangspegel [dB SPL]
ereignisse jedoch als genauso unangenehm empfinden wie normal Hörende
Fig. 1
(Fig.1). Man spricht hier von einem eingeschränkten Dynamikbereich.
Um den davon Betroffenen dennoch ein angenehmes Lautheitsempfinden zu
ermöglichen, ist eine spezielle Verstärkung der Signale (automatische
Verstärkungseinstellung, AGC) im Hörgerät erforderlich. Dies ist besonders
wichtig für Kinder, da sie sich häufig in Umgebungen aufhalten, in denen die
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zu laut
Wahrgenommene Lautheit
sehr laut
Lautstärke stark variabel ist. Bei Hör-
laut
normalhörend
geräten mit linearer Verstärkung ist die
mittellaut
Verstärkung konstant. Bei der automati-
leise
Verstärkung
sehr leise
schwerhörig
unhörbar
0
Fig. 2
20
40
60
80
100
Eingangspegel [dB SPL]
schen Verstärkungseinstellung hingegen stellt sich die Verstärkung situationsgerecht ein (Fig.2). Dieses Prinzip
wird Kompression genannt. Die Vorteile
der Kompression liegen auf der Hand:
■ Leise Signale können (wieder) wahrgenommen werden
■ Laute Signale werden nicht als unangenehm empfunden.
Die Programmierung der automatischen Verstärkungseinstellung erfolgt
durch den Pädaudiologen mit Hilfe der speziellen Computer-Software
Connexx. Die zugrundeliegende Anpaßformel DSL (desired sensation level)
wurde speziell für Kinder entwickelt.
Optimale Sprachverständlichkeit ■
Die alleinige Unterscheidung von lauten und leisen Geräuschen ist jedoch noch
nicht ausreichend. Besonders bei Kindern ist es wichtig, auf optimale Sprachverständlichkeit zu achten, denn sie sollen durch die Hörgeräte Sprache erlernen können. In einer normalen Umgebung wie z. B. auf einer Straße mit Autoverkehr ist häufig der Störlärm lauter als das Nutzsignal, also z. B. die Sprache.
Ein Hörgerät mit Kompression regelt die Verstärkung automatisch und richtet
sich dabei nach dem lautesten Anteil des Eingangssignals. Dadurch wird
jedoch nicht nur der Störlärm, sondern auch das Sprachsignal reduziert, so daß
der Hörgeräte-Träger die Sprache eventuell gar nicht wahrnehmen kann.
Te i l I V ■ Dr. rer. nat. Kristin Rohrseitz
Hörgeräte mit mehreren Kanälen bieten hier Abhilfe: Sie können den Störlärm
reduzieren und gleichzeitig das Sprachsignal verstärken, weil bei ihnen die
Verstärkung für verschiedene Frequenzen getrennt berechnet wird. Im tieffrequenten Kanal, wo der Störlärm liegt, wird die Verstärkung reduziert. Im hochfrequenten Kanal wird die Verstärkung entsprechend dem leisen Sprachsignal
erhöht. Klinische Tests haben gezeigt, daß Schwerhörige mit einem mehrkanaligen Hörgerät die Sprache trotz des Störlärms gut wahrnehmen können.
3. Spezielles Kinderzubehör
Für Kinder ist spezielles Zubehör notwendig:
■ Thermisch verformbare Kindertragehaken, die besser an die kleinen Ohren
angepaßt werden können
■ Eine Batteriefach-Sicherung, die verhindert, daß das Kind die Batterie entnehmen kann und im schlimmsten Fall verschlucken kann
■
Audioschuhe, die eine Verbindung
des Hörgeräts mit Schulanlagen
Thermisch verformbarer
Kinder-Tragehaken
und FM-Systemen ermöglichen.
Dadurch wird es schwerhörigen
Kindern erleichtert, eine RegelBatteriefachSicherung
Audioschuh
schule zu besuchen.
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4. Kindgerechtes Design
Um einen perfekten Sitz der Geräte zu gewährleisten, müssen diese hinsichtlich ihrer Form und Größe häufig an die wachsenden Kinderohren angepaßt
werden. Deshalb werden Kinder in der Regel mit Hinter-dem-Ohr (HdO) -Geräten versorgt, bei denen anstelle des gesamten Hörgeräts nur die Otoplastik
ausgetauscht werden muß.
Die Geräte müssen besonders kompakt geformt sein, damit sie hinter den kleinen Kinderohren gut sitzen und diese nicht abspreizen.
Das beste Hörgerät nutzt nur dann, wenn es auch getragen wird. Daher ist es
wichtig, daß Kinder ihr Hörgerät akzeptieren und ganz selbstverständlich damit
umgehen. Dieser Prozeß kann dadurch beschleunigt werden, daß das Hörgerät
attraktiv aussieht.
Da Kinder großen Wert auf bunte Farben legen, sollten ihre Hörgeräte auch
bunt sein. Bei einigen Siemens Geräten ist es sogar möglich, die Gehäuse
leicht auszutauschen und somit immer wieder andere Farben tragen zu können.
Te i l I V ■ Dr. rer. nat. Kristin Rohrseitz
We i t e r f ü h re n d e L i t e ra tu r ■
Kießling, Jürgen; Kollmeier, Birger;
Diller, Gottfried:
Versorgung und Rehabilitation mit Hörgeräten.
Stuttgart 1997.
Zenner, Hans-Peter: Hören.
Stuttgart, 1994
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Glossar
Im Folgenden werden einige der in den Texten gebrauchten Fachbegriffe kurz
erläutert.
AGC (Automatic Gain Control): Elektronische Regelung eines Hörgerätes,
welche die Verstärkung in Abhängigkeit vom Eingangspegel einstellt.
Anamnese: medizinisch und/oder psychologisch erhobene Krankheits-
geschichte
Analoge Hörgeräte: Analoge Geräte können Schallsignale nur in analoger
Form verarbeiten. Nachträgliche Änderungen der Funktionen sind nicht mehr
möglich. Mit der digitalen Programmierung von analogen Hörgeräten ist ein
großer Fortschritt gelungen, die individuelle Hörgeräteanpassung durch eine
Vielzahl von Stellern unter Beibehaltung kleinster Gerätebauweise computerunterstützt zu optimieren (s. digital programmierbare Hörgeräte).
Audio-Eingang: Kontakt am Hörgerät, an den über Stecker oder eine Art
Schuh ein Verbindungskabel bzw. aufteckbarer Funkempfänger angeschlossen
werden kann zum störfreien Empfang von Radio, Fernseher, etc. oder auch
für Konferenzen- Kongreß- und Schulanlagen.
Binaurale Hörgeräteanpassung: Die Versorgung beider Ohren mit je einem
Hörgerät. Wird in der Regel in Betracht gezogen, da das Gehirn nur über die
beidseitige Schallwahrnehmung in der Lage ist, Nutzschall aus Lärm zu unterscheiden, sich im Stimmengewirr mehrerer Menschen auf einen Gesprächs-
Glossar ■
partner zu konzentrieren oder die Schallrichtung z.B. im Straßenverkehr zu
bestimmen.
Digital programmierbare Hörgeräte: Hörhilfen, deren elektroakustische
Eigenschaften extern über einen Rechner oder Computer eingestellt werden.
Der Hauptvorteil programmierbarer Hörgeräte liegt darin, daß eine Vielzahl
elektroakustischer Parameter eingestellt werden kann, um den Hörverlust
präziser zu kompensieren. Mitunter werden diese Hörgeräte oft mit digitalen
Hörgeräten verwechselt oder als solche fälschlicherweise bezeichnet, denn
die Signalverarbeitung erfolgt bei diesen Hörgeräten in analoger Weise
(s. Volldigitale Hörgeräte).
DSL [i /o] (Desired Sensation Level): Anpaßformel, die von einer Forschungs-
gruppe unter der Leitung von Dr. Richard C. Seewald an der University of
Western Ontario in Kanada speziell für Kinder entwickelt wurde. Sie berücksichtigt die Lautheitswahrnehmung so, daß leise Signale zwar als leise, aber
noch wahrgenommen werden; mittellaute Signale als angenehm, und laute
Signale zwar laut, aber nicht unangenehm empfunden werden.
Hörbereich: der Frequenzbereich, der vom menschlichen Ohr wahrgenom-
men wird. Er liegt zwischen 16 Hz und 20 000 Hz (altersabhängig).
invasive Verfahren: eingreifend, meist operative Verfahren
kochleär: dem Hörorgan (Kochlea oder Cochlea) zugeordnet
Kompression: Automatischer Verstärkungsmechanismus (s. AGC), der bei
Erreichen eines bestimmten Pegels die Verstärkung reduziert. Das Kompressionsverhältnis wird durch das Hörgerät vorgegeben. Ein Kompressions-
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verhältnis von beispielsweise 3:1 bedeutet, daß bei einer Erhöhung des Eingangssignals um drei Teile das Ausgangssignal um einen Teil verstärkt wird.
Otoplastik: Ohrpaßstück, das der Hörgeräteakustiker nach entsprechendem
Ohrabdruck als Plastik von Gehörgang, Concha und einer Spange bis hinauf
zur Fossa triangularis anfertigt. Sie dient als Verankerung und dichtende
Halterung des Hörgerätes am Ohr. Durch den Gehörgangteil wird der Schall
vom Hörgerät zum Restvolumen vor dem Trommelfell geleitet. Die dichtende
Eigenschaft ist wichtig, um das akustische Rückkopplungspfeifen zu vermeiden.
Recruitment: Lärmempfindlichkeit trotz Schwerhörigkeit. Stellt hörgeräte-
technisch die Herausforderug eines unterschiedlichen Verstärkungsbedarfs
bei unterschiedlichen Eingangspegeln dar.
Schwerhörigkeit, Formen der Hörstörung
Eine Hörstörung kann unterschiedliche, sehr vielfältige Ursachen haben. Das
Hörvermögen wird immer dann gemindert, wenn ein oder mehrere Elemente
auf dem Weg vom Außenohr zum Gehirn beeinträchtigt sind.
Grundsätzlich unterscheidet man zwei Arten:
1. Schall-Leitungs-Schwerhörigkeit in Folge einer gestörten Schall-Leitung im
Gehörgang, im Mittelohr oder am ovalen Fenster. Betrifft ca. 5 – 10% der
Hörstörungen. Läßt sich operativ behandeln.
2. Schallempfindungs- oder Innnohrschwerhörigkeit bei der die Haarzellen im
Innenohr geschädigt sind oder fehlen und somit die Umwandlung der akus-
Glossar ■
tischen Reize in neuronale Erregungsmuster nicht erfolgen kann. Lassen
sich primär mit einem Hörgerät behandeln. Bei an Taubheit grenzender
Schwerhörigkeit und/oder bei Fehlschlagen einer Hörgeräteversorgung
kann heute die Maßnahme eines Kochlea Implantats in Erwägung gezogen
werden.
Unbehaglichkeitsschwelle: Auch Unbehaglichkeitsgrenze genannt, bezeich-
net denjenigen Schalldruckpegel, bei dem der Schall unangenehm laut wird;
liegt bei Normalhörenden bei etwa 110 dB spl. Bei Schwerhörigen, deren
Unbehaglichleitsschwelle ebenfalls in diesem Bereich liegt oder geringfügig
davon abweicht (+/ - 10 dB), spricht man von Recruitment.
Volldigitale Hörgeräte: Hörgeräte, die das durch die Mikrofone aufgenom-
mene analoge Signal in ein digitales Signal umwandeln. Das digitale Signal
wird dann entsprechend den Befehlen der programmierten Software (Algorithmus) und den auf dem Chip integrierten Schaltkreisen bearbeitet. Nach
dieser Verarbeitung werden die digitalen Signale erneut in analoge Signale
gewandelt und dem Hörer verstärkt zugeführt. Die Digitalisierung erlaubt eine
Analyse und Filterung der Signale im Hinblick auf Sprache und Störlärm. Das
ankommende Signal wird dabei in bestimmten Zeitabständen gemessen
(Signalabtastung). Je häufiger die Signalabtastung desto besser ist die Reproduktion des Eingangssignals. Der entscheidende Vorteil dieser komplexeren
Signalverarbeitung liegt in einer gezielteren Kompensation des Hörverlustes,
insbesondere hinsichtlich einer optimalen Sprachverständlichkeit in lärmerfüllter Umgebung.
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