Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der

Werbung
Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der
25.03.11
Erinnerung, München 2/2008 (2005/2002)
(empfohlene Zitierweise: Detlef Zöllner zu Harald Welzer, Das kommunikative
Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2/2008 (2005/2002),
25.03.2011, in: http://erkenntnisethik.blogspot.de/)
1. Zum Begriff des „neuronalen Korrelats“
2. Autobiographisches Gedächtnis und das Prinzip der Narrativität
3. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: Person-Person-Objekt-Spiele,
Selbst-im-Zusammensein-mit-anderen
4. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: zum Verhältnis von
phylogenetischer Co-Evolution und Psychogenese
5. Lebenswelt und kommunikatives Gedächtnis: soziale Marker
6. Emotionalität und Entscheidung: somatische Marker
7. Körperschleifen und die Entstehung von Innen und Außen
Mit Bezug auf Norbert Elias, Lev Wygotsky, Daniel Stern und Michael Tomasello schreibt Welzer, „daß Menschen nichts ‚verinnerlichen‘, wenn sie sich entwickeln“ (vgl. Welzer 2005/2002, S.120), während es an anderer Stelle dann in
deutlichem Widerspruch dazu heißt, daß das „Körper-Selbst“ „klare Innen- und
Außengrenzen aufweist“ und „in bezug auf die und in Abgrenzung von der Umwelt operiert.“ (Vgl. Welzer 2005/2002, S.141f.) Dieser Widerspruch wird von
Welzer nicht reflektiert und wohl auch nicht bemerkt. (Vgl. meinen Post vom 22.
03.11)
In seinen Darstellungen zu Damasios Konzept eines „körperbewußten Gehirns“ (vgl. Antonio Damasio, Descartes’ Irrtum (5/2007), S.298-324) zieht Welzer dann auch nicht die notwendigen Konsequenzen bei der Verhältnisbestimmung
von sozialen und individuellen Erfahrungen. So besteht Welzer lediglich darauf,
daß es „keine neuronalen Korrelate sozialer Austauschprozesse“ (vgl.S.162) gibt:
„Uns fehlt jede Möglichkeit, in die Gehirne der Beteiligten hineinzuschauen, um
festzustellen, welche Aktivitäten an welcher Stelle ihres neuronalen Apparates
vonstatten gehen, wenn sie dieses oder jenes denken, fühlen oder sagen – jedenfalls nicht, während sie dies in einer sozialen Situation tun.“ (Ebenda)
Es fehlt Welzer jedes Gespür für die somatische Spezifität individueller Erfahrungen. Daß es schon auf dieser Ebene eine Differenz zwischen neuronalen Korrelaten und den anderen, ‚restlichen‘ physiologischen Prozessen unseres Körpers
geben könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Erst durch ihre Einbettung in eine
soziale Situation werden die Aktivitäten des neuronalen Apparates prinzipiell undurchschaubar.
An welcher Stelle aber müßte eine andersartige, den Gesamtorganismus berücksichtigende Verhältnisbestimmung eigentlich notwendig werden? Die nötigen Informationen, um diese Frage zu klären, liefert Welzer selbst. So spricht er
z.B. in Anlehnung an Damasios Körperschleifen von einem „Körperfeedback“, das
einem „Baby“ bei der Nahrungsaufnahme „propriozeptiv und intrazeptiv“ signalisiert, daß sich in seinem Körperzustand etwas, „– vom Unbehagen zum Wohlbefinden – verändert hat“. (Vgl. Welzer 2005/2002, S.121) Dieses Körperfeedback
wird ergänzt durch das soziale Feedback der Mutter, daß „nicht nur intrapersonal,
sondern interpersonal alles wieder in Ordnung ist.“ (Vgl. Welzer 2005/2002, S.
121f.)
Hier haben wir alle nötigen Informationen, um zu verstehen, wie sich im Säugling allmählich ein ‚Innen‘ in Differenz zum ‚Außen‘ herauszubilden beginnt, indem es nämlich einerseits seine Körperzustände „propriozeptiv und intrazeptiv“
zu beobachten lernt und dazu die von außen gelieferten Bewertungsangebote durch
die Mutter nach und nach ‚verinnerlicht‘. Dies ist nicht einfach nur ein sozialer
Formungsprozeß, der dem Säugling von außen widerfährt und dem es sich passiv
anpaßt, sondern es hat sein ‚Modell‘ im körperlichen Organismus selbst: in der
Wechselbeziehung von Gehirn und ‚Fleisch‘, wie es Damasio prägnant auf den
Punkt bringt. (Vgl. Damasio 5/2007, S.19) Denn das Körperfeedback, also Damasios Körperschleifen, stellt nicht einfach nur einen neuronalen Reflexbogen dar,
der von irgendwelchen Apparaten mechanisch ausgelöst werden könnte. Vielmehr
wird das Gehirn durch die Körperschleifen dem Körper ‚gegenübergestellt‘, also
in eine exzentrische Position versetzt: es wird durch die Körperschleifen „in das
faszinierte Auditorium des Körpers verwandelt“. (Vgl. Damasio 5/2007, S.16)
Wir haben also schon im Körperleib selbst eine Grenzbestimmung von Innen
und Außen vorliegen, und damit befindet sich Damasio mit seiner Beschreibung
der menschlichen Anatomie auf der Höhe der Plessnerschen Anthropologie! Der
Plessnerschen Grenzbestimmung des Körperleibs entspricht auch Damasios Differenzierung zwischen Körperschleifen und Als-ob-Körperschleifen. (Vgl. Damasio 5/2007, S.215f.) Denn was sind die Als-ob-Körperschleifen anderes als das
Körperschema und damit der ‚Leib‘, den wir seelisch und geistig ‚kontrollieren‘,
während wir die eigentlichen Körperschleifen auf den Aspekt des Körperleibs beziehen können, nach dem der ‚Körper‘ das Bewußtsein ‚kontrolliert‘? Wobei wir
immer, gleichgültig, welcher Aspekt nun gerade die ‚Kontrolle‘ übernimmt, von
einem grundsätzlichen Wechselverhältnis zwischen Gehirn und Körper, zwischen
Als-ob-Körperschleife und Körperschleife ausgehen müssen, einem Wechselverhältnis, in dem der Körper die Priorität hat. (Vgl. Damasio 5/2007, S.19)
Wir können jedenfalls festhalten, daß es bei der Differenzierung zwischen Innen und Außen immer auch um eine Differenzierung zwischen Körper und Leib,
zwischen Körper und Gehirn geht. Es sind nicht die neuronalen ‚Korrelate‘, die
mit den sozialen Erfahrungen interagieren: „Der Organismus, der aus der HirnKörper-Partnerschaft besteht, tritt als Ganzes in Interaktion zur Umwelt, wobei
weder der Körper noch das Gehirn allein für diese Wechselbeziehung verantwortlich ist.“ (Damasio 2005/2002, S.130)
Wir müssen also immer drei Ebenen auseinanderhalten, die zugleich nur zusammen den ganzen Menschen ergeben: die Ebene der biologischen Evolution,
die in der Herausbildung eines zentralen Nervensystems in arbeitsteiliger Wechselbeziehung mit dem Körper (‚Fleisch‘) gipfelt, die Ebene der kulturellen Evolution mit ihren zwei Phasen der Mündlichkeit (Lebenswelt) und der Schriftlichkeit und die Ebene der individuellen Person (Ontogenese), die durch exzentrische
Positionalität gekennzeichnet ist, d.h. durch einen Freiraum bzw. Spielraum des
Verhaltens/Handelns.
Dieser Spielraum wird nicht durch die Statistik eröffnet, wie Welzer andeutet
(vgl. Welzer 2005/2002, S.223) und wie es auch in unserem ersten Post vom 21.
04.2010 anklingt, wo wir von der „Unzahl möglicher Motive“ sprechen, von einer
„Komplexität“, die „eine bestimmte Grenze“ überschreitet, „die die bloße Möglichkeit individueller Urteilskraft umwendet in eine existentielle Notwendigkeit“.
Zwar hatten wir damit nicht auf eine statistische Einzigartigkeit der individuellen
Urteilskraft hinausgewollt, sondern auf ihre Unvertretbarkeit im Augenblick der
Entscheidung, – aber dennoch spielte zumindest ich mit dem Gedanken, hier eine
statistische Lücke für etwas offenzuhalten, was mir immer schon besonders am
Herzen liegt: für den eigenen Verstandesgebrauch.
Aber es kann eben nicht um Statistik gehen, wenn es um den Spielraum für
unser Handeln geht. Es geht vor allem um den ‚Raum‘ selbst, der sich nicht im
Bereich der Wahrscheinlichkeit befindet, sondern jederzeit ‚verfügbar‘ ist, unabhängig von Gelegenheit, Herkunft und Intelligenz. Er befindet sich nicht ‚innen‘
und nicht ‚außen‘, so daß ihn Wiesings Kritik an der Verräumlichung des IchWelt-Verhältnisses nicht betrifft. (Vgl. meinen Post vom 04.06.2010) Aber dieser
Raum hat dennoch etwas mit der Differenz von Innen und Außen zu tun, auch
wenn er keins von beidem ‚ist‘, denn er ergibt sich aus ihrem Verhältnis, aus ihrer
Struktur, als exzentrische Positionalität. Weil es nicht nur eine Naivität gibt, die
als ‚zweite Natur‘ bzw. als ‚Kultur‘ zur ersten Natur hinzutritt, und weil der
Mensch sich zu dieser Naivität ‚stellen‘ kann, so daß sie zum Werkzeug wird, zur
zweiten Naivität, die über die zweite Natur verfügen kann, deshalb gibt es individuelle Urteilskraft. Jede andere Begründung läuft ins Leere.
Deshalb am dieser Stelle noch einmal in aller mir möglichen Klarheit: Es gibt
eine erste und eine zweite Natur, und es gibt eine erste und eine zweite Naivität.
Die erste Natur ist die Natur unserer Biologie. Die zweite Natur ist unsere Kultur
bzw. die Lebenswelt. Diese ist zugleich unsere erste undurchschaute Naivität. In
dem Moment, in dem wir sie durchschauen, entsteht automatisch eine zweite Naivität. Und bei dieser zweiten Naivität stellt sich nun die Frage, ob wir uns von ihr
endgültig ‚einfangen‘ lassen – die meisten von uns verwandeln sich dabei in Zyniker – oder ob wir sie zum Werkzeug machen. Diesen Spielraum haben wir,
denn es gäbe keine zweite Naivität, wären wir nicht exzentrisch positioniert.
Herunterladen