Das beim SWR in Freiburg angesiedelte EXPERIMENTALSTUDIO für akustische Kunst e.V. ist eines der führenden elektronischen Studios weltweit. Seit gut 35 Jahren arbeiten dort Tontechniker, Musikinformatiker und Sounddesigner mit Komponisten Neuer Musik an der Realisierung ihrer Werke. Das Aufgabenspektrum des Studios umfasst die Gebiete Klangforschung und technische Entwicklung, die Realisation und Interpretation von Kompositionen sowie die Nachwuchsförderung. Schnittstelle zwischen akustischer Kunst und Technik Das EXPERIMENTALSTUDIO für akustische Kunst e. V. in Freiburg Von Detlef Heusinger Experimentalstudio as EXPERIMENTALSTUDIO Freiburg sucht nach Synthesen von akustischer Kunst und avancierter Technik vermittels live-elektronischer Klangerweiterung. Diese ergänzt zu den von Musikern real hervorgebrachten Tönen über verschiedene Effektgeräte deren Modulationen, welche dann im Raum über spezielle Steuergeräte und Lautsprecher in Bewegung gesetzt werden. Das Studio versteht sich als Schnittstelle zwischen kompositorischer Idee und technischer Umsetzung. Jährlich werden deshalb mehrere Komponisten und Musiker zu einem Arbeitsstipendium eingeladen, um dann im kreativen Diskurs mit den Mitarbeitern des Studios, d. h. den Musikinformatikern, Sounddesignern, Tonmeistern und Klangregisseuren, ihre Werke mit dem speziellen Equipment des EXPERIMENTALSTUDIOS zu realisieren. Klangkörper Neben der Herstellung neuer Werke fungiert das Studio auch als Klangkörper bei den mittlerweile weltweiten Aufführungen und der Interpretation dieser Kompositionen. Seit mehr als 35 Jahren Präsenz im internationalen Musikbetrieb hat es sich als das führende Studio für ambitionierte Werke mit Live-Elektronik etabliert und konzertiert bei nahezu allen bedeutenden Festivals wie den Berliner Festwochen, den Wiener Festwochen, den Salzburger Festspielen, dem Festival d’Automne à Paris, der Biennale di Venezia, den Donaueschinger Musiktagen etc. wie auch etlichen renommierten Musiktheatern wie dem Teatro alla Scala Mailand, der Carnegie Hall New York, dem Théâtre de la Monnaie, dem Teatro Real Madrid etc. Zu den herausragenden Produktionen in der Geschichte des EXPERIMENTALSTUDIOS gehören Arbeiten so bedeutender Komponisten wie Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, EXPERIMENTALSTUDIO Christóbal Halffter, Vinko Globokar und Luigi Nono, wobei Letzterer nahezu sein gesamtes Spätwerk in enger Verbundenheit mit dem Studio und seinen Mitarbeitern erstellt hat. Nonos »Hörtragödie« »Prometeo« ist nach der Uraufführung 1984 mittlerweile 56-mal durch das EXPERIMENTALSTUDIO und seinen ehemaligen Leiter André Richard kongenial realisiert worden und gilt heute als richtungweisender Meilenstein der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aus der jüngeren Generation sind insbesondere Mark André, Chaya Czernowin, José María Sánchez-Verdú und Johannes Maria Staud als die Komponisten aufgefallen, welche höchst erfolgreich zukunftweisende Werke in Koproduktion mit dem Freiburger Studio hervorgebracht haben. Unter den Interpreten, welche dem Studio durch langjährige Zusammenarbeit verbunden sind, finden sich herausragende Musikerpersönlichkeiten wie Mauricio Pollini, Claudio Abbado, Gidon Kremer, Jörg Widmann, Irvin Arditti und Roberto Fabbriciani. Für seine exemplarische Arbeit wurde das EXPERIMENTALSTUDIO international mit mehreren Preisen ausgezeichnet; unlängst erhielt es für die Produktion von Werken Luigi Nonos den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik. Forschungsfelder In der Musikgeschichte hat es einen steten Bedeutungswechsel der verschiedenen musikalischen Parameter gegeben. Um den Parameter Dynamik zu entfalten, bedurfte es in der so genannten Mannheimer Schule der Zurücknahme der Parameter Harmonik und Kontrapunktik. Nur so konnte die berühmte »Mannheimer Rakete« – eine eruptive, aufsteigende Dreiklangzerlegung oder Tonfolge – starten. ARD-JAHRBUCH 07 113 Um den Parameter Klangfarbe zu entfalten, instrumentierte Arnold Schönberg in seinem berühmten »Farben«-Satz aus op. 16 einen einzigen Akkord ständig neu, um somit der jeweils wechselnden Klangfarbe gestalterische Bedeutung zu verleihen. Einzig der Raum ist für die Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – zumindest während der Aufführung – noch eine unverrückbare Konstante, welche erst durch die technische Entwicklung von Raumklangsteuergeräten wie dem von Hans Peter Haller zusammen mit dem Entwickler Peter Lawo erfundenen Halaphon Aufhebung erfahren hat. Hans Peter Haller, der erste Leiter des EXPERIMENTALSTUDIOS, hat durch diese epochale Erfindung die technischen Voraussetzungen geschaffen, den Raum als weitere Variable und gleichberechtigten Parameter wie Klangfarbe oder Harmonik in Kompositionen einzusetzen. Die Aufhebung der Ortung des realen Klangsignals, die Möglichkeit, verschiedene Klangsignale in unterschiedlichen Geschwindigkeiten differenziert durch den Raum wandern zu lassen, eröffnet der musikalischen Textur die dritte Dimension. Der Venezianer Luigi Nono hat, inspiriert durch die antiphonische Anlage venezianischer Renaissance-Musik beispielsweise eines Giovanni Gabrieli, dem Raum als Parameter in seinen Kompositionen für das EXPERIMENTALSTUDIO auch strukturell zu einem qualitativen Sprung verholfen. Wobei für Nono nicht nur die durch das Halaphon umgesetzte Klangbewegung gestaltbildend ist, sondern ebenso der differenzierte Einsatz von künstlichen Hallräumen, durch welchen auch in einem Kammermusiksaal eine Kathedrale aufscheinen kann. Im Informatikraum des Studios: die Geräte von hinten. Reinhold Braig behält den Durchblick. 114 Artikel Fakten zum Studio Im August 1972 als Studio für experimentelle Musik von der gemeinnützigen Heinrich-Strobel-Stiftung des SWF in den Räumen des Landesstudios Freiburg errichtet. Das »EXPERIMENTALSTUDIO für akustische Kunst e. V.« – so der heutige Name – ist als eingetragener gemeinnütziger Verein dem SWR angegliedert. Die Mitglieder des Vereins treten einmal jährlich zusammen, um über die gundsätzliche Ausrichtung des Studios zu befinden und den Vorstand zu entlasten. Finanziert wird das Studio in erster Linie aus Spenden: Geldgeber sind der SWR mit circa 75 Prozent, der BR – seit 2006 Kooperationspartner des Studios – mit circa 11 Prozent, das Land Baden-Württemberg resp. das ZKM Karlsruhe und die Stadt Freiburg mit je 7 Prozent. Bisherige Leiter waren: Hans Peter Haller (1972 – 1989) und André Richard (1989 – 2005). Vorstand z. Zt.: SWR-Hörfunkdirektor Bernhard Hermann, Dorothea Enderle, Hauptabteilungsleiterin Musik im Hörfunk des SWR. Klanglabor Neben seiner Tätigkeit als Klangkörper versteht sich das EXPERIMENTALSTUDIO ebenso als Klanglabor. Da das über neue Spieltechniken zu erreichende Klangspektrum tradierter Musikinstrumente mittlerweile an einen Endpunkt gekommen scheint, vermag einzig der Einsatz von Effektgeräten wie Harmonizer, Vocoder, Gate oder Filter noch Horizont- wie Klangerweiterung zu versprechen. Die virtuose Verknüpfung dieser elektronischen Instrumente wie ihrer Funktionen und damit ihrer instrumentalen Spielbarkeit ist zentrales Forschungsfeld des EXPERIMENTALSTUDIOS. Hierfür wurde bereits 1993 der Digitale Matrix Mixer entwickelt, der mit bis zu 64 Einund Ausgängen Klänge auf 64 Lautsprecher verräumlicht verteilen kann. In jüngerer Zeit folgte (in Zusammenarbeit mit der Firma DFM Lahr) ein universelles Steuerpult AREC, das in seiner Funktionalität über konventionelle Steuer- oder Mischpulte weit hinausgeht, da seine Regler frei konfiguriert und somit auch für Klangbewegung wie -erweiterung genutzt werden können. Zukünftig ist die digitale Nachbildung bedeutender analoger Effektgeräte vordringliches Entwicklungsziel. Ein erster Schritt in diese Richtung ist der Eigenbau eines digitalen, auch haptisch ansprechenden, stufenlosen Sinusge- ARD-JAHRBUCH 07 Michael Acker, Detlef Heusinger, Joachim Haas, Gregorio Karman (v. l.) bei Proben zu »Murmullos del páramo« von Julio Estrada, anlässlich der Biennale di Venezia 2006 nerators (mit einem Ambitus von 14 Oktaven). Ein Gerät, welches insbesondere für »Mixtur« von Karlheinz Stockhausen entwickelt wurde und bei dessen Aufführung erfolgreich zum Einsatz kam. Neben den Hardware-Entwicklungen ist die permanente Verbesserung der Software unabdingbar. Ein Beispiel hierfür ist der OKTEG, ein oktophonischer Effektgenerator, mit dem nun extrem schnelle Rotationen – d. h. bis zu 30 Rotationen über acht Lautsprecher pro Sekunde – gelingen, welche bislang im digitalen Bereich hoher Kontrollratenungenauigkeit unterworfen waren. Hiermit kann Raumbewegung als eigenständige Modulation hörbar gemacht werden, womit eine neue Dimension der Raumklangbewegung eröffnet wird. Förderfelder Da das Komponieren elektronischer Musik aufgrund der Vielfalt der Möglichkeiten ein aufwändiger wie zeitraubender Prozess ist, benötigen eingeladene Komponisten zumeist finanzielle Unterstützung. Das EXPERIMENTALSTUDIO gewährt diese über Arbeitsstipendien, die an bis zu 20 Komponisten pro Jahr vergeben werden. In der Regel dauern diese Arbeitsaufenthalte zwischen zwei und sechs Wochen. Die Stipendiaten können während dieser Zeit das Instrumentarium des EXPERIMENTALSTUDIOS kostenlos nutzen und werden von den dortigen Mitarbeitern fachlich unterstützt. Eine Aufwandsentschädigung von wöchentlich 500 Euro soll die entstehenden Unkosten decken. EXPERIMENTALSTUDIO Jedes Jahr bewerben sich etliche interessierte Komponisten um ein Arbeitsstipendium im Studio. Die Auswahl der Stipendiaten trifft das Kuratorium des EXPERIMENTALSTUDIOS, in dem – unter Vorsitz von Prof. Wolfgang Rihm – die Komponisten Pierre Boulez und Dieter Schnebel, der Musikwissenschaftler Prof. Jürg Stenzl, die künstlerische Direktorin des Berliner Konzerthauses, Heike Hoffmann, sowie die Rundfunkredakteure Armin Köhler, Hans-Peter Jahn (beide SWR), Harry Vogt (WDR) und neuerdings auch der Musikchef des BR, Axel Linstädt, vertreten sind. Eine weitere Zugangsmöglichkeit stellt der in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe seit 2007 erstmals ausgeschriebene GIGA-HERTZPREIS für elektronische Musik dar: In dessen Rahmen werden vier Produktionspreise in Höhe von je 8 000 Euro sowie – für je zwei Komponisten – vierwöchige Arbeitsaufenthalte im ZKM und im EXPERIMENTALSTUDIO vergeben. Darüber hinaus veranstaltet das Studio mit wechselnden Partnern Workshops, um Interpreten und jungen Komponisten einen ersten Einblick in die Arbeit mit Live-Elektronik zu vermitteln. In der Spielzeit 2007/08 sind dies die Freiburger Ensemble-Akademie mit dem ensemble recherche und dem Freiburger Barockorchester (September 2007), die Fondazione Giorgio Cini Venezia mit dem Archivio Luigi Nono (November 2007) und die Darmstädter Ferienkurse (Juli 2008). Des Weiteren betätigt sich das Studio auch als eigenständiger Konzertveranstalter und gibt in Werkstattkonzerten insbesondere jungen Komponisten Gelegenheit, ihre im Studio produzierten Werke einem kundigen Publikum vorzustellen. Künftiges Projekt ist die Gründung einer jähr­ lich stattfindenden zweiwöchigen Akademie für Live-Elektronik, die darauf zielt, den Mangel an Diskurs zwischen Komponisten, Interpreten, Musikwissenschaftlern, Musikinformatikern und Journalisten zu beheben. Als Themen dafür sind beispielsweise vorgesehen: »Wa(h)re Schönheit«, »Music of the Future«, »Cross Over . . . Over?« oder »Simplicity/Complexity«. Detlef Heusinger SWR, Komponist, Regisseur und Dirigent, seit . . Leiter des EXPERIMENTALSTUDIOS in Freiburg ARD-JAHRBUCH 07 115