IM BLICKPUNKT Mittelpunkt Mensch Für eine Ethik der Zuwendung Im Gespräch: Prof. Dr. med. Giovanni Maio, Universitätsprofessor für Bioethik/ Medizinethik mit Heidrun Loewer · Fotos: Hans-Jürgen Schumacher Frei und selbstbestimmt über sein eigenes Leben entscheiden, ist heute ein wesentliches Bedürfnis. Wir leben in einer Zeit, die uns das in einem bisher noch nie da gewesenen Maß ermöglicht. Bei aller Freiheit zwingt die Fülle der Optionen jedoch gleichzeitig zu immer neuen Entscheidungen. So sind gerade die existenziellen Situationen unseres Lebens, wenn es um Geburt, Krankheit und Tod geht, nicht mehr eingebettet in eine selbstverständliche, unhinterfragte gesellschaftliche Form. Die moderne Medizin ermöglicht es, in diese Situationen je nach eigener Entscheidung einzugreifen und sie selbst zu bestimmen. Fragen sind zu beantworten wie: Wollen Sie einen Gesundheitstest für Ihr Kind vor der Geburt? Durch die Pränataldiagnostik können Paare entscheiden, ungeborenes Leben nur dann am Leben zu erhalten, wenn die Diagnostik keinen schweren Defekt entdecken kann. Mit der PID kann diese Entscheidung sogar schon vor einer Einnistung gefällt werden. Wie gehen wir um mit der Entscheidungsvielfalt, die uns die moderne Medizin bietet? Wie können wir – grundlegend infor- Wollen Sie Organspender sein? Alle Bundesbürger ab 16 Jahren werden in diesem Jahr von ihrer Krankenkasse zu einer Entscheidung aufgefordert. Manches spricht dafür, einem Notleidenden zu helfen und die eigenen Organe im Fall eines Hirntodes zu spenden. Kriterien und Praktiken der Organspende sind jedoch stark umstritten und fordern zu einer bewussten Auseinandersetzung heraus. Wollen Sie jede mögliche klinische Behandlung zur Lebenser- miert, bewusst und verantwortungsvoll – entscheiden? Wie können wir sicher sein, dass unsere Entscheidung uns selbst und unserer Lebenssituation gerecht wird? Wir sprachen mit dem bekannten Medizin-Ethiker Giovanni Maio, der sich intensiv mit den vielfältigen Fragen auseinandersetzt, mit denen die moderne Medizin konfrontiert. Sein Ziel ist es, Orientierung zu geben – insbesondere in existenziellen Entscheidungskonflikten. haltung? Mit Hilfe von Patientenverfügungen kann je nach ei- genem Wunsch über lebenserhaltende Maßnahmen und ihre Begrenzung entschieden werden. Wollen Sie lieber sterben als schwere Leiden ertragen? Auch in diesem Bereich gibt es inzwischen eine gesellschaftlich akzeptierte, zum Teil jedoch auch noch heiß diskutierte Bandbreite an Optionen bis hin zur aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zur Selbsttötung. Ausgabe 10 Frühjahr 2013 Professor Dr. med. Giovanni Maio ist Arzt und Philosoph und Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik der Universität Freiburg. Er leitet das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin und ist Mitglied zahlreicher Ethikkommissionen und Ethikbeiräte. Sein jüngstes Buch „Mittelpunkt Mensch – Ethik in der Medizin“ fand große Beachtung. IM BLICKPUNKT : Werdenden Eltern stellt sich immer wieder die besorgte Frage, werden wir ein gesundes Kind bekommen? Die moderne Medizin bietet klare Antworten: Mit einer Pränataldiagnostik ist früh genug zu erkennen, ob das Kind im Mutterleib Schädigungen aufweist, um die Schwangerschaft gegebenenfalls abzubrechen. Mit einer Präimplantationsdiagnostik kann diese Untersuchung sogar schon vor der Einnistung stattfinden. Das wird von vielen als großartige Freiheitssituation angesehen, aber es gibt auch Kritik. Wie beurteilen Sie diese Möglichkeiten? In angeregtem Gespräch: Heidrun Loewer und Giovanni Maio Prof. Dr. med. Giovanni Maio: Grundsätzlich ist es natürlich sehr verständlich, dass jedes Paar sich ein gesundes Kind wünscht. Zu fragen ist aber, wie die diagnostischen Möglichkeiten unsere Grundeinstellung zum ungeborenen Leben verändern. Die Zunahme der diagnostischen Tests vermittelt eine Zunahme an Freiheit, die sich jedoch als trügerisch erweist. Denn dieses Angebot bedeutet eben nicht, dass jede Frau nur aus sich heraus entscheiden kann, ob sie es in Anspruch nehmen will oder nicht. In Wirklichkeit entsteht durch das Angebot selbst die soziale Erwartung, dass es in Anspruch genommen wird, weil es eben als fahrlässig gilt, dies nicht zu tun. Auf diese Weise werden Kinder mit Behinderungen immer mehr als grundsätzlich vermeidbares „Übel“ angesehen und so verschärft sich die Erwartungshaltung der Gesellschaft. Es entsteht ein enormer Druck für die werdende Mutter, „Sorgfaltspflichten“ zu erfüllen. Was ist Ihrer Meinung nach Ursache dieser Entwicklung? Wir leben in einer ökonomisierten Gesellschaft, in der das ökonomische Diktat des Funktionierens, der Zweckmäßigkeit, der Leistungsfähigkeit, der Effizienz übertragen wird auf den privaten Bereich. Damit verlernen wir, das Leben an sich für wertvoll anzusehen. Wir maßen uns ein selbstbezogenes Recht an, Leben auszusortieren, das unseren Kriterien nicht entspricht. Verbietet der Schutz des ungeborenen Lebens grundsätzlich die Forschung an und mit Embryonen zur Weiterentwicklung medizinischer Möglichkeiten? Auf jeden Fall. Denn woher sollten wir das Recht nehmen, mit Embryonen zu forschen? Das Heilsversprechen neuer Therapiemöglichkeiten ist bisher nicht eingelöst, auch nicht in den Ländern mit genehmigter Embryonenforschung. Das Hauptargument ist aber, dass der Zweck nicht alle Mittel heiligen kann. Schließlich ist die Embryonenforschung eine Totalinstrumentalisierung, eine Totalverfügung über menschliches Leben. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass wir alle einmal Embryonen waren, wird uns deutlich, dass wir den Embryo, der wir selbst einmal waren, nicht zur Verfügungsmasse erklären können. Einem Sterbenskranken bietet die Transplantationsmedizin potenziell die Möglichkeit einer Lebensverlängerung durch Organtransplantation an. Gibt es bei diesem Hilfsangebot ethische Probleme, die zu bedenken sind? Zunächst einmal muss man sich von der Vorstellung befreien, dass man durch die Organtransplantation aus schwerkranken Menschen gesunde Menschen machen könnte. Das ist nicht möglich. Sie können länger leben mit den Organen, sie bleiben aber schwerkrank. Das Grundproblem aber liegt darin, dass wir einerseits zu Recht von einer „Organspende“ sprechen, was eben besagt, dass es sich hierbei um ein Geschenk handelt. Gleichzeitig aber sprechen die Politiker davon, dass die Organspendenbereitschaft erhöht werden muss, weil es einen großen Bedarf an Organen gibt. Dieser suggerierte Mangel aber steht in Widerspruch zu dem Geschenk der Spende. Es kann ja keinen Bedarf an Geschenken geben. Ebenso widersprüchlich ist es, wenn gesagt wird, dass Menschen sterben müssen, weil zu wenige Organe gespendet werden. Denn die Kranken sterben nicht wegen „fehlender“ Organspenden, sondern sie sterben an ihrer Grunderkrankung. Das ist ein großer Unterschied Und was sagen Sie zu den großen Spenden-Kampagnen? Mit diesen Kampagnen wird suggeriert, dass die Spende eine Bürgerpflicht ist. Diesen Wechsel von der Gabe zur Bürgerpflicht halte ich für sehr problematisch. Wir können nicht etwas zu einer Bürgerpflicht machen, was unser Ureigenstes betrifft. Kein anderer Mensch hat irgendeinen auch noch so subtilen Anspruch auf meinen Leib oder seine Teile. Das muss einer Verfügung von Seiten Dritter oder des Staates komplett entzogen bleiben. Diese Werbekampagnen sind eine Übertölpelungs-Strategie. Verschwiegen wird dabei, dass die Spende ein Opfer be- IM BLICKPUNKT deutet für den Spender. Er verzichtet darauf, in den letzten Minuten in Frieden gelassen und von seinen Nächsten begleitet zu werden. Zudem ist der Hirntod nicht mehr als eine Hilfsdefinition für die Organentnahme. Tatsächlich wird der Spender – der zahlreiche sichtbare Zeichen des Lebendigseins trägt – erst auf dem Operationstisch, erst nach Entnahme der Organe zur Leiche. Das alles sollte gewusst werden, sonst kann nicht von einer bewussten Entscheidung für die Organspende gesprochen werden. Wo sehen Sie die Ursache für diese intensive OrganspendenWerbung? Da kommen verschiedene Interessen zusammen. Es ist ein dankbares Thema für die Politik, weil man damit als Menschenretter auftreten kann, und für die Medizin, weil damit das Grundanliegen der Machbarkeit neu zelebriert wird. Die Organtransplantation als Paradebeispiel für die Erfolgsgeschichte der Medizin. De facto ist sie das aber nicht, weil wir hier nicht einfach aus Kranken Gesunde machen, sondern alte Probleme durch neue ersetzen. Ein pragmatischer Grund für dieses Thema ist außerdem der Wunsch nach einer eindeutig festgelegten Spendenbereitschaft. Damit könnte das konfliktreiche Gespräch mit Angehörigen vermieden werden, die angesichts des Sterbeprozesses über eine Organspende entscheiden sollen. Sterbehilfe heute umfasst eine ganze Reihe von Möglichkeiten bis hin zur aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zur Selbsttötung. Die Freiheit des Patienten, wie er sein Leben beenden möchte, scheint damit unbegrenzt zu sein. Wie stellen sich diese Möglichkeiten aus ethischer Sicht dar? In der Öffentlichkeit ist in den letzten Jahren eine Tendenz zu beobachten, den Tod durch Suizid zu privatisieren, ihn also allein als Sache des Individuums zu sehen und nicht als gesellschaftlichen Auftrag. Nehmen wir Gunther Sachs als Beispiel, der sich aufgrund der Diagnose Alzheimer umgebracht hat. In der Presse wurde das als würdiger Tod zelebriert. Da frage ich: Warum haben wir verlernt, angemessen auf einen Suizid zu reagieren? Wenn ein Mensch sagt, ich bin lieber nicht mehr bei euch und töte mich selbst, weil ich das Nichtsein dem Sein vorziehe, dann muss die erste Reaktion doch Erschütterung sein und die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Was haben wir versäumt? In diesem Zusammenhang nur von individueller Freiheit zu sprechen, hieße zu verkennen, dass der Sterbewunsch immer auch eine Reaktion auf die Verhältnisse ist, in denen man lebt. Kann einem Suizidwilligen denn überhaupt geholfen werden? Wir dürfen auf keinen Fall bevormunden. Es kann ja auch nicht um eine moralische Bewertung gehen. Das wäre ja geradezu unbarmherzig. Aber einem resignierenden Menschen nur die Frage zu stellen, welche Methode er gerne hätte, um sich umzubringen, ist absolut unangemessen. Ich finde, dass es im Angesicht einer so existenziellen Not eines Menschen keinen moralischen Rückzug geben darf, sondern dass wir uns aufgerufen fühlen müssen, alles zu tun, um vielleicht doch Perspektiven aufzuzeigen, und sei es durch die Zusicherung, dass man den Menschen nicht allein lassen wird. Ich habe erlebt, wie bei einem Podiumsgespräch ein Teilnehmer sagte, er wähle den assistierten Suizid, weil er selbstbestimmt über sein Lebensende entscheiden wolle. Da fragte ihn eine Zuhörerin, ob er sich auch dann umbringen ließe, wenn seine Tochter ihn darum bäte, es nicht zu tun. Und er sagte nein, dann natürlich nicht. In dem Moment war es mucksmäuschenstill im Saal. Da wurde eben klar, dass er sich umbringen wollte, weil er keine Perspektive mehr sah, weil für ihn kein Mensch mehr da war und er keinen Sinn mehr in seinem Leben fand. Und wenn die Tochter diesen Menschen davon abbringen kann, dass er sich tötet, warum kann es nicht ein anderer Mitmensch ebenso, der ihm vermittelt: Du bist wertvoll, auch wenn du nur im Bett liegst. Weil ich dich anschauen kann und du dich mir mitteilst. Gilt dasselbe auch für die aktive Sterbehilfe? Ja, genauso. Sie ist grundsätzlich ein Akt des Verfügens über einen Anderen, auch wenn dieser es selbst will. Diese Form des Umgangs mit einem Menschen ist nicht von Freiheit gekennzeichnet, sondern von Herrschaft, im Grunde genommen von Gewaltherrschaft. Darum sind ja auch viele Ärzte gegen die Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe. Vor allem aber drückt der Mensch, der aktive Sterbehilfe vornimmt unweigerlich aus, dass er es nachvollziehen kann, wenn der andere lieber tot ist. Er vermittelt also die Botschaft, dass auch er denkt, es sei besser, wenn der andere nicht mehr ist. Das halte ich nicht für eine mitmenschliche Botschaft. Was würden Sie einem leidenden Schwerstkranken raten, der im Weiterleben keinen Sinn mehr sieht? Ich würde ihm raten, den Kontakt zu Menschen zu suchen und mit ihnen zu sprechen. Genau hier liegt ja auch die Aufgabe der Heilberufe, dem Schwerkranken zu verdeutlichen, dass die Zeit, die ihm noch bleibt, noch voller Hoffnung und Zuversicht sein IM BLICKPUNKT Wie schätzen Sie das Verhältnis von Ökonomie und Medizin ein? Das Grundproblem besteht darin, dass die moderne Medizin mit den ihr auferlegten ökonomischen Strukturen immer mehr zu einem industriellen Betrieb wird. Nicht der Kranke steht dann im Mittelpunkt der Behandlung, sondern der Kunde, der sich souverän und frei das aussucht, was ihm von den Angeboten zusagt. Das ist ein falsches Paradigma. Medizin muss als ein soziales Feld begriffen werden, das nach sozialen Kriterien strukturiert ist. Soziale Probleme über ökonomisches Denken zu lösen, ist zum Scheitern verurteilt. kann. Nicht unter allen Umständen Hoffnung auf noch mehr Zeit, wie es z.B. durch die Flucht in die Chemotherapie oder in technische Verfahren vorgetäuscht werden kann, sondern Hoffnung darauf, dass die verbleibende Zeit eine gute sein wird, weil Menschen da sind, die ihn nicht allein lassen. Wenn das zum Hauptanliegen der Heilberufe würde, wären Menschen nicht mehr so schnell verzagt. Wenn wir vor der Geburt das Ausmustern von nicht gesundem Leben für selbstverständlich ansehen, vermitteln wir auch chronisch kranken und hilfsbedürftigen Menschen, dass sie nichts wert sind. Und da müssen die Heilberufe gegensteuern, indem sie vermitteln: Die Arbeit mit Dir ist uns wichtig, sie ist eine Chance für uns, mit Dir in Kontakt zu sein, weil wir viel von Dir lernen können. Die Hospizarbeit führt das seit langem vor. In der Medizin ist diese Grundhaltung leider noch nicht weit verbreitet. Aber wenn sie dort einzieht, wird sich die Selbstwahrnehmung der Schwerkranken grundlegend ändern. Wie hilfreich ist eine Patientenverfügung? Die Patientenverfügung ist so hilfreich, wie Menschen sich Zeit nehmen für Gespräche über die Bedeutung dieser Verfügung. Es ist eine irrige Annahme zu glauben, die Herausforderung des Sterbens lasse sich über Formulare lösen. Egal, was in der Patientenverfügung festgelegt wird, es bleiben in der Regel Unklarheiten für die akute Situation, wenn sie schließlich eintritt. Eindeutige Anweisungen zu geben für eine noch unbekannte spätere Situation ist geradezu unmöglich. Daher ist es wichtig, dass Menschen eine Vertrauensperson benennen, mit der sich die Ärzte in Verbindung setzen können. Diese wird besser einschätzen können, was in meinem Sinne ist, als ein abstraktes Formular. Wer ist verantwortlich für diesen Paradigmen-Wechsel? Die Politik, die keine Verantwortung mehr für die Versorgungsentscheidungen übernimmt. Sie lässt stattdessen die Ökonomie entscheiden: Die konkurrenzfähigsten Krankenhäuser überleben, die anderen müssen schließen. Die Kliniken müssen also schwarze Zahlen schreiben und das lässt sich vor allem mit Patienten erreichen, für die gut gezahlt wird. Die chronisch Kranken dagegen mit vielen und komplizierten Krankheiten rechnen sich nicht. Mit dem Fallpauschalensystem bekommt die Klinik nur einen fixen Satz für den Patienten, egal wie er behandelt wird. Das bedeutet, je schneller der Patient entlassen wird, desto besser für die Bilanz. So wird die Hilfspflicht der Medizin ersetzt durch die Rentabilitätspflicht. Das ist die Umkehrung des sozialen Systems: Die Ökonomie dient nicht mehr der Medizin, sondern die Medizin hat heute der Ökonomie zu dienen. Das ist das Problem. Was ist für Sie eine zukunftsweisende Medizin? Medizin ist ein Auftrag der Sorge für den ganzen Menschen. Das heißt, wir dürfen den Menschen nicht reduzieren auf funktionierende Organe, sondern müssen die Chance erkennen, über eine echte Begegnung die inneren Reserven in dem Kranken zu mobilisieren. Wir brauchen eine Medizin, in der die Beziehung als die eigentliche Heilquelle wahrgenommen wird. Es geht um die heilende Kraft des Verstehens und der Begegnung. Nur so kann geholfen werden, die Krankheit nicht nur als Verlust zu erleben, sondern auch als Herausforderung, die für Wesentliches öffnet und zu einer Intensivierung des Lebens führen kann. Was in der Gesundheitspolitik muss sich dafür ändern? Letztlich ist das ganze Problem kein pragmatisches Problem, das nur mit kleinen Systemänderungen zu lösen wäre. Es geht hier um ein Bewusstseinsproblem. Erst wenn die Übernahme ökonomischer Leitbegriffe und mechanistischer Vorstellungen von Hei- IM BLICKPUNKT lung in Frage gestellt werden, kann sich etwas grundlegend ändern. Dazu muss die Politik den Unterschied zwischen einem Dienstleistungsunternehmen und der Medizin als sozialem System akzeptieren und sie muss erkennen, dass das öffentliche Vertrauen in die Integrität der Medizin dringend neu etabliert werden muss. Können Patienten mithelfen, eine solche Beziehungsmedizin zu fördern? Ihrer Sorge, einer rein profitorientierten Medizin ausgeliefert zu sein, können die Patienten dadurch begegnen, dass sie mit den Füßen abstimmen, dass sie nur die Ärzte und Einrichtungen Bei dieser Fülle von dringenden Anliegen bleibt nur noch die Frage: Worin sehen Sie, Herr Maio, Ihre Hauptaufgabe? Als Ethiker ist es mir ein Hauptanliegen, dafür zu sensibilisieren, dass die Medizin sich aus dem Käfig des naturwissenschaftlichen Zugangs auf den Menschen befreien muss und nicht nur in Zweckmäßigkeitskategorien denken darf. Mir ist wichtig, die Medizin darin zu bestärken, in jedem kranken Menschen einen eigenen Kosmos wiederzuentdecken, dessen Not nicht nur durch Reparatur zu begegnen ist, sondern vor allem dadurch, dass die Not als eine existenzielle Not begriffen wird. Eine Not, die ohne Liebe zum Patienten auch mit aller Technik nicht gewendet werden kann, sondern den Arzt als Mitmenschen braucht. Die Patienten haben eine große Macht: Sie können mit den Füßen abstimmen! aufsuchen, die eine solche Medizin anbieten. Damit haben sie eine große Gestaltungsmacht, weil nur die Kliniken und die Ärzte überleben können, zu denen sie gehen. Herr Maio, wir danken für das beeindruckende Gespräch, das zu uneingeschränkter Achtung allen Lebens und zum aktiven Einsatz für Mitmenschlichkeit in der Medizin aufruft sowie mit klaren Kriterien für menschengemäße Entscheidungen Orientierungshilfe geben kann. Medizinische Entscheidungskonflikte Drei reale Patientengeschichten* sollen exemplarisch zeigen, welche Kriterien die Medizinethik zur Verfügung stellen kann für eine menschengemäße Beurteilung und Entscheidung in existentiellen medizinischen Konflikten. In allen drei Fällen, in denen Giovanni Maio um ethische Beratung gebeten wurde, geht es um die Frage, ob ein Leben beendet werden soll: so das Leben eines Embryos mit Wachstumsretardierung, eines alten Menschen mit allgemeiner Ablehnung künstlicher Lebenserhaltung, einer 43-jährigen Patientin mit starkem Leidensdruck. Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch In der Schwangerschaft einer 29-jährigen Frau stellt sich durch eine Pränataldiagnostik (PND) heraus, dass das Kind unterversorgt ist und eine ausgeprägte Wachstumsretardierung hat. Die Ärztin prognostiziert einen höchstwahrscheinlichen Kindstod und rät zu einem Schwangerschaftsabbruch. Aus Überzeugung lehnt die Patientin ab. Das Kind kommt vorzeitig zur Welt mit geringer Überlebenschance. Nach einer zunächst stabilen Lage verschlechtert sich der Zustand nach drei Tagen jedoch dramatisch. Man entscheidet sich, auf weitere Maßnahmen zu verzichten und lässt das Kind in Ruhe sterben. Die Eltern nehmen mit großem Schmerz von dem Kind Abschied, empfinden aber die drei gelebten Tage mit ihrem Sohn als große Bereicherung. Aus medizin-ethischer Sicht zeigt diese Geschichte die Janusköpfigkeit der Pränataldiagnostik. Einerseits hat die PND der Patientin zu einem realistischen Bild der zu erwartenden Komplikationen verholfen, ihr andererseits aber auch eine Entscheidung abgefordert, die andernfalls gar nicht gegeben wäre: ob dieses Kind weiterleben oder sein Leben frühzeitig aktiv beendet werden soll. Hier wird deutlich, wie leicht Betroffene in die Entscheidung eines Abbruchs hineingedrängt werden, wenn die vorgeburtliche Untersuchung Negativbefunde ergibt. Was ohne PND der Fall gewesen wäre – dass das Kind so lange lebt, wie es leben kann – wird mit der möglichen Diagnostik zur persönlichen Wahlentscheidung. Patientenverfügung Intubationsverzicht auf Wunsch der Angehörigen? Eine 83-jährige Patientin muss nach einem Kollaps am Herzen operiert und dabei intubiert werden. Bei guter Prognose wird sie nur wenig später extubiert und von der Intensivstation auf IM BLICKPUNKT die Tagesstation verlegt. Nach vier Tagen entwickelt sie jedoch eine schwere Lungenentzündung, ist nicht mehr ansprechbar, ihr Zustand aber stabil. Wenn die Patientin erneut intubiert und die Lungenentzündung behandelt wird, ist von einer guten Prognose auszugehen. Die Angehörigen der Patientin weisen jedoch auf ihre Patientenverfügung hin, in der sie wünscht, sie sterben zu lassen, wenn keine „vernünftige Aussicht“ auf ihre Genesung bestehe oder sie „schweres Leiden“ erleben müsse und eine „bewusste Existenz“ nicht mehr möglich sei. Wird man der Patientin gerecht, wenn man sie sterben lässt? Es wird medizin-ethischer Rat eingeholt. Die Aussage des Behandlungsteams, dass die Patientin in der ansprechbaren Phase nicht zu erkennen gab, dass sie mit der zuvor erfolgten Behandlung nicht einverstanden gewesen sei, lässt daran zweifeln, dass die Patientin in der gegenwärtigen Situation den Tod wünscht. Es finden intensive Gespräche mit den Angehörigen und dem Behandlungsteam statt. Schließlich kann der Entscheidungskonflikt durch einen eintretenden guten Behandlungsverlauf einvernehmlich so gelöst werden, dass die Behandlung zunächst fortgesetzt wird, aber jede Eskalation der Therapie zu vermeiden ist. Aktive Sterbehilfe Aktive Sterbehilfe bei Gesichtstumor? Eine 43-jährige Patientin leidet an einem Tumor in der Nasenhöhle, der im Lauf von acht Jahren so auf Nase und Augen drückt, dass eine Erblindung eintritt. In ihrem Leidensdruck fordert die Patientin per gerichtlichem Antrag für ihren Arzt das Recht ein, aktive Sterbehilfe zu leisten. Sie will ihren Angehörigen nicht ihr langsames Sterben zumuten, sondern lieber bewusst zu einem selbstgewählten Zeitpunkt aus dem Leben gehen. Die Richter lehnen den Antrag ab. Drei Tage nach dem Richterspruch wird die Patientin tot in ihrer Wohnung gefunden – vermutlich hat sie sich mit einer Tabletten-Überdosis das Leben genommen. Hier stellt sich die ethische Frage: Hat die Medizin mit ihrem Ziel, aus aller Kraft Leiden zu lindern, nicht auch die Verpflichtung, mithilfe der aktiven Sterbehilfe unnötiges Leiden zu verhindern? Aus medizin-ethischer Sicht ist die aktive Sterbehilfe nicht zu rechtfertigen, wenn Leiden mit der Verhinderung von Schmerzen gleich gesetzt wird, da die moderne Medizin über eine effektive Schmerztherapie verfügt. Leiden selbst ist letztlich über die menschliche Verlusterfahrung definiert: Der ...dem Patienten durch empathische und einfühlsame Begleitung helfen... Mensch leidet an einer Erfahrung, die nicht mit seinem Konzept eines guten Lebens vereinbar ist. So können selbst Menschen im Endstadium – ans Bett gefesselt und nur noch notdürftig über den Computer kommunizierend – ihr Leben durchaus als sinnvoll und lebenswert empfinden. Es hängt also entscheidend von der Lebenseinstellung des Einzelnen ab, was als Verlust und was als unerträgliches Leid angesehen wird. Wesentliches Element der ärztlichen Heilkunst ist es daher, dem Patienten durch empathische, einfühlsame Begleitung zu helfen, seine Krankheitssituation als Aufforderung zur aktiven inneren Bewältigung zu verstehen. * Patientengeschichten und die Kommentare sind entnommen aus: Giovanni Maio, Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin Stuttgart 2012, Schattauer Verlag (zu bestellen unter www. gesundheit-aktiv.de/shop, Bestellnr.: 1722) – auf den Punkt informiert Ausgabe 8 Herbst 2012 gesundheit aktiv anthroposophische heilkunst e.v. erscheint 4x im Jahr und kann im günstigen Abo zum Preis von 12,– Euro inklusive Porto und Versand (im Inland/Auslandsangebote auf Anfrage) bezogen werden. Ausgabe 7 Frühjahr / Sommer 2012 gesundheit aktiv anthroposophische heilkunst e.v. Jetzt Abonnent werden! patient - orientiert - informiert patient - orientiert - informiert per Post: Hat Schmerz einen Sinn? Essen wir uns krank? 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