Mittelpunkt Mensch Für eine Ethik der Zuwendung

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IM BLICKPUNKT
Mittelpunkt Mensch
Für eine Ethik der Zuwendung
Im Gespräch: Prof. Dr. med. Giovanni Maio, Universitätsprofessor für Bioethik/
Medizinethik mit Heidrun Loewer · Fotos: Hans-Jürgen Schumacher
Frei und selbstbestimmt über sein eigenes Leben
entscheiden, ist heute ein wesentliches Bedürfnis. Wir leben in einer Zeit, die uns das in einem
bisher noch nie da gewesenen Maß ermöglicht.
Bei aller Freiheit zwingt die Fülle der Optionen
jedoch gleichzeitig zu immer neuen Entscheidungen.
So sind gerade die existenziellen Situationen unseres Lebens,
wenn es um Geburt, Krankheit und Tod geht, nicht mehr eingebettet in eine selbstverständliche, unhinterfragte gesellschaftliche Form. Die moderne Medizin ermöglicht es, in diese Situationen je nach eigener Entscheidung einzugreifen und sie selbst
zu bestimmen. Fragen sind zu beantworten wie:
Wollen Sie einen Gesundheitstest für Ihr Kind vor der Geburt?
Durch die Pränataldiagnostik können Paare entscheiden, ungeborenes Leben nur dann am Leben zu erhalten, wenn die Diagnostik keinen schweren Defekt entdecken kann. Mit der PID
kann diese Entscheidung sogar schon vor einer Einnistung gefällt werden.
Wie gehen wir um mit der Entscheidungsvielfalt, die uns die
moderne Medizin bietet? Wie können wir – grundlegend infor-
Wollen Sie Organspender sein? Alle Bundesbürger ab 16 Jahren
werden in diesem Jahr von ihrer Krankenkasse zu einer Entscheidung aufgefordert. Manches spricht dafür, einem Notleidenden zu helfen und die eigenen Organe im Fall eines Hirntodes zu spenden. Kriterien und Praktiken der Organspende sind
jedoch stark umstritten und fordern zu einer bewussten Auseinandersetzung heraus.
Wollen Sie jede mögliche klinische Behandlung zur Lebenser-
miert, bewusst und verantwortungsvoll – entscheiden?
Wie können wir sicher sein, dass unsere Entscheidung uns
selbst und unserer Lebenssituation gerecht wird?
Wir sprachen mit dem bekannten Medizin-Ethiker Giovanni
Maio, der sich intensiv mit den vielfältigen Fragen auseinandersetzt, mit denen die moderne Medizin konfrontiert. Sein Ziel ist
es, Orientierung zu geben – insbesondere in existenziellen Entscheidungskonflikten.
haltung? Mit Hilfe von Patientenverfügungen kann je nach ei-
genem Wunsch über lebenserhaltende Maßnahmen und ihre
Begrenzung entschieden werden.
Wollen Sie lieber sterben als schwere Leiden ertragen? Auch in
diesem Bereich gibt es inzwischen eine gesellschaftlich akzeptierte, zum Teil jedoch auch noch heiß diskutierte Bandbreite an
Optionen bis hin zur aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zur
Selbsttötung.
Ausgabe 10
Frühjahr 2013
Professor Dr. med. Giovanni Maio ist Arzt und Philosoph und
Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik der Universität Freiburg.
Er leitet das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
und ist Mitglied zahlreicher Ethikkommissionen und Ethikbeiräte. Sein jüngstes Buch „Mittelpunkt Mensch – Ethik in
der Medizin“ fand große Beachtung.
IM BLICKPUNKT
: Werdenden Eltern stellt sich immer wieder die besorgte
Frage, werden wir ein gesundes Kind bekommen? Die moderne
Medizin bietet klare Antworten: Mit einer Pränataldiagnostik
ist früh genug zu erkennen, ob das Kind im Mutterleib Schädigungen aufweist, um die Schwangerschaft gegebenenfalls abzubrechen. Mit einer Präimplantationsdiagnostik kann diese
Untersuchung sogar schon vor der Einnistung stattfinden. Das
wird von vielen als großartige Freiheitssituation angesehen,
aber es gibt auch Kritik. Wie beurteilen Sie diese Möglichkeiten?
In angeregtem Gespräch: Heidrun Loewer und Giovanni Maio
Prof. Dr. med. Giovanni Maio: Grundsätzlich ist es natürlich
sehr verständlich, dass jedes Paar sich ein gesundes Kind
wünscht. Zu fragen ist aber, wie die diagnostischen Möglichkeiten unsere Grundeinstellung zum ungeborenen Leben verändern. Die Zunahme der diagnostischen Tests vermittelt eine Zunahme an Freiheit, die sich jedoch als trügerisch erweist. Denn
dieses Angebot bedeutet eben nicht, dass jede Frau nur aus sich
heraus entscheiden kann, ob sie es in Anspruch nehmen will
oder nicht. In Wirklichkeit entsteht durch das Angebot selbst die
soziale Erwartung, dass es in Anspruch genommen wird, weil es
eben als fahrlässig gilt, dies nicht zu tun. Auf diese Weise werden
Kinder mit Behinderungen immer mehr als grundsätzlich vermeidbares „Übel“ angesehen und so verschärft sich die Erwartungshaltung der Gesellschaft. Es entsteht ein enormer Druck
für die werdende Mutter, „Sorgfaltspflichten“ zu erfüllen.
Was ist Ihrer Meinung nach Ursache dieser Entwicklung?
Wir leben in einer ökonomisierten Gesellschaft, in der das ökonomische Diktat des Funktionierens, der Zweckmäßigkeit, der
Leistungsfähigkeit, der Effizienz übertragen wird auf den privaten Bereich. Damit verlernen wir, das Leben an sich für wertvoll
anzusehen. Wir maßen uns ein selbstbezogenes Recht an,
Leben auszusortieren, das unseren Kriterien nicht entspricht.
Verbietet der Schutz des ungeborenen Lebens grundsätzlich
die Forschung an und mit Embryonen zur Weiterentwicklung
medizinischer Möglichkeiten?
Auf jeden Fall. Denn woher sollten wir das Recht nehmen, mit
Embryonen zu forschen? Das Heilsversprechen neuer Therapiemöglichkeiten ist bisher nicht eingelöst, auch nicht in den Ländern mit genehmigter Embryonenforschung. Das Hauptargument ist aber, dass der Zweck nicht alle Mittel heiligen kann.
Schließlich ist die Embryonenforschung eine Totalinstrumentalisierung, eine Totalverfügung über menschliches Leben. Wenn
wir uns vergegenwärtigen, dass wir alle einmal Embryonen waren, wird uns deutlich, dass wir den Embryo, der wir selbst einmal waren, nicht zur Verfügungsmasse erklären können.
Einem Sterbenskranken bietet die Transplantationsmedizin
potenziell die Möglichkeit einer Lebensverlängerung durch
Organtransplantation an. Gibt es bei diesem Hilfsangebot
ethische Probleme, die zu bedenken sind?
Zunächst einmal muss man sich von der Vorstellung befreien,
dass man durch die Organtransplantation aus schwerkranken
Menschen gesunde Menschen machen könnte. Das ist nicht
möglich. Sie können länger leben mit den Organen, sie bleiben
aber schwerkrank. Das Grundproblem aber liegt darin, dass wir
einerseits zu Recht von einer „Organspende“ sprechen, was
eben besagt, dass es sich hierbei um ein Geschenk handelt.
Gleichzeitig aber sprechen die Politiker davon, dass die Organspendenbereitschaft erhöht werden muss, weil es einen großen
Bedarf an Organen gibt. Dieser suggerierte Mangel aber steht in
Widerspruch zu dem Geschenk der Spende. Es kann ja keinen
Bedarf an Geschenken geben. Ebenso widersprüchlich ist es,
wenn gesagt wird, dass Menschen sterben müssen, weil zu
wenige Organe gespendet werden. Denn die Kranken sterben
nicht wegen „fehlender“ Organspenden, sondern sie sterben an
ihrer Grunderkrankung. Das ist ein großer Unterschied
Und was sagen Sie zu den großen Spenden-Kampagnen?
Mit diesen Kampagnen wird suggeriert, dass die Spende eine
Bürgerpflicht ist. Diesen Wechsel von der Gabe zur Bürgerpflicht
halte ich für sehr problematisch. Wir können nicht etwas zu einer Bürgerpflicht machen, was unser Ureigenstes betrifft. Kein
anderer Mensch hat irgendeinen auch noch so subtilen Anspruch auf meinen Leib oder seine Teile. Das muss einer Verfügung von Seiten Dritter oder des Staates komplett entzogen
bleiben. Diese Werbekampagnen sind eine Übertölpelungs-Strategie. Verschwiegen wird dabei, dass die Spende ein Opfer be-
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deutet für den Spender. Er verzichtet darauf, in den letzten Minuten in Frieden gelassen und von seinen Nächsten begleitet zu
werden. Zudem ist der Hirntod nicht mehr als eine Hilfsdefinition für die Organentnahme. Tatsächlich wird der Spender – der
zahlreiche sichtbare Zeichen des Lebendigseins trägt – erst auf
dem Operationstisch, erst nach Entnahme der Organe zur Leiche.
Das alles sollte gewusst werden, sonst kann nicht von einer bewussten Entscheidung für die Organspende gesprochen werden.
Wo sehen Sie die Ursache für diese intensive OrganspendenWerbung?
Da kommen verschiedene Interessen zusammen. Es ist ein
dankbares Thema für die Politik, weil man damit als Menschenretter auftreten kann, und für die Medizin, weil damit das
Grundanliegen der Machbarkeit neu zelebriert wird. Die Organtransplantation als Paradebeispiel für die Erfolgsgeschichte der
Medizin. De facto ist sie das aber nicht, weil wir hier nicht einfach aus Kranken Gesunde machen, sondern alte Probleme
durch neue ersetzen. Ein pragmatischer Grund für dieses Thema
ist außerdem der Wunsch nach einer eindeutig festgelegten
Spendenbereitschaft. Damit könnte das konfliktreiche Gespräch
mit Angehörigen vermieden werden, die angesichts des Sterbeprozesses über eine Organspende entscheiden sollen.
Sterbehilfe heute umfasst eine ganze Reihe von Möglichkeiten bis hin zur aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zur
Selbsttötung. Die Freiheit des Patienten, wie er sein Leben
beenden möchte, scheint damit unbegrenzt zu sein. Wie
stellen sich diese Möglichkeiten aus ethischer Sicht dar?
In der Öffentlichkeit ist in den letzten Jahren eine Tendenz zu
beobachten, den Tod durch Suizid zu privatisieren, ihn also allein als Sache des Individuums zu sehen und nicht als gesellschaftlichen Auftrag. Nehmen wir Gunther Sachs als Beispiel,
der sich aufgrund der Diagnose Alzheimer umgebracht hat. In der Presse
wurde das als würdiger
Tod zelebriert. Da frage
ich: Warum haben wir
verlernt, angemessen auf
einen Suizid zu reagieren? Wenn ein Mensch
sagt, ich bin lieber nicht
mehr bei euch und töte
mich selbst, weil ich das
Nichtsein dem Sein vorziehe, dann muss die erste Reaktion doch Erschütterung sein und die
Frage: Wie konnte es
dazu kommen? Was haben wir versäumt? In diesem Zusammenhang nur von individueller Freiheit zu sprechen, hieße zu
verkennen, dass der Sterbewunsch immer auch eine Reaktion
auf die Verhältnisse ist, in denen man lebt.
Kann einem Suizidwilligen denn überhaupt geholfen werden?
Wir dürfen auf keinen Fall bevormunden. Es kann ja auch nicht
um eine moralische Bewertung gehen. Das wäre ja geradezu
unbarmherzig. Aber einem resignierenden Menschen nur die
Frage zu stellen, welche Methode er gerne hätte, um sich umzubringen, ist absolut unangemessen. Ich finde, dass es im Angesicht einer so existenziellen Not eines Menschen keinen moralischen Rückzug geben darf, sondern dass wir uns aufgerufen
fühlen müssen, alles zu tun, um vielleicht doch Perspektiven
aufzuzeigen, und sei es durch die Zusicherung, dass man den
Menschen nicht allein lassen wird. Ich habe erlebt, wie bei einem Podiumsgespräch ein Teilnehmer sagte, er wähle den assistierten Suizid, weil er selbstbestimmt über sein Lebensende entscheiden wolle. Da fragte ihn eine Zuhörerin, ob er sich auch
dann umbringen ließe, wenn seine Tochter ihn darum bäte, es
nicht zu tun. Und er sagte nein, dann natürlich nicht. In dem
Moment war es mucksmäuschenstill im Saal. Da wurde eben
klar, dass er sich umbringen wollte, weil er keine Perspektive
mehr sah, weil für ihn kein Mensch mehr da war und er keinen
Sinn mehr in seinem Leben fand. Und wenn die Tochter diesen
Menschen davon abbringen kann, dass er sich tötet, warum
kann es nicht ein anderer Mitmensch ebenso, der ihm vermittelt: Du bist wertvoll, auch wenn du nur im Bett liegst. Weil ich
dich anschauen kann und du dich mir mitteilst.
Gilt dasselbe auch für die aktive Sterbehilfe?
Ja, genauso. Sie ist grundsätzlich ein Akt des Verfügens über
einen Anderen, auch wenn dieser es selbst will. Diese Form des
Umgangs mit einem Menschen ist nicht von Freiheit gekennzeichnet, sondern von Herrschaft, im Grunde genommen von
Gewaltherrschaft. Darum sind ja auch viele Ärzte gegen die Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe. Vor allem aber drückt der
Mensch, der aktive Sterbehilfe vornimmt unweigerlich aus, dass
er es nachvollziehen kann, wenn der andere lieber tot ist. Er
vermittelt also die Botschaft, dass auch er denkt, es sei besser,
wenn der andere nicht mehr ist. Das halte ich nicht für eine
mitmenschliche Botschaft.
Was würden Sie einem leidenden Schwerstkranken raten,
der im Weiterleben keinen Sinn mehr sieht?
Ich würde ihm raten, den Kontakt zu Menschen zu suchen und
mit ihnen zu sprechen. Genau hier liegt ja auch die Aufgabe der
Heilberufe, dem Schwerkranken zu verdeutlichen, dass die Zeit,
die ihm noch bleibt, noch voller Hoffnung und Zuversicht sein
IM BLICKPUNKT
Wie schätzen Sie das Verhältnis von Ökonomie und Medizin
ein?
Das Grundproblem besteht darin, dass die moderne Medizin mit
den ihr auferlegten ökonomischen Strukturen immer mehr zu
einem industriellen Betrieb wird. Nicht der Kranke steht dann
im Mittelpunkt der Behandlung, sondern der Kunde, der sich
souverän und frei das aussucht, was ihm von den Angeboten
zusagt. Das ist ein falsches Paradigma. Medizin muss als ein soziales Feld begriffen werden, das nach sozialen Kriterien strukturiert ist.
Soziale Probleme über ökonomisches Denken
zu lösen, ist zum Scheitern verurteilt.
kann. Nicht unter allen Umständen Hoffnung auf noch mehr
Zeit, wie es z.B. durch die Flucht in die Chemotherapie oder in
technische Verfahren vorgetäuscht werden kann, sondern Hoffnung darauf, dass die verbleibende Zeit eine gute sein wird, weil
Menschen da sind, die ihn nicht allein lassen. Wenn das zum
Hauptanliegen der Heilberufe würde, wären Menschen nicht
mehr so schnell verzagt.
Wenn wir vor der Geburt das Ausmustern von nicht gesundem
Leben für selbstverständlich ansehen, vermitteln wir auch
chronisch kranken und hilfsbedürftigen Menschen, dass sie
nichts wert sind. Und da müssen die Heilberufe gegensteuern,
indem sie vermitteln: Die Arbeit mit Dir ist uns wichtig, sie ist
eine Chance für uns, mit Dir in Kontakt zu sein, weil wir viel von
Dir lernen können. Die Hospizarbeit führt das seit langem vor.
In der Medizin ist diese Grundhaltung leider noch nicht weit
verbreitet. Aber wenn sie dort einzieht, wird sich die Selbstwahrnehmung der Schwerkranken grundlegend ändern.
Wie hilfreich ist eine Patientenverfügung?
Die Patientenverfügung ist so hilfreich, wie Menschen sich Zeit
nehmen für Gespräche über die Bedeutung dieser Verfügung. Es
ist eine irrige Annahme zu glauben, die Herausforderung des
Sterbens lasse sich über Formulare lösen. Egal, was in der Patientenverfügung festgelegt wird, es bleiben in der Regel Unklarheiten für die akute Situation, wenn sie schließlich eintritt. Eindeutige Anweisungen zu geben für eine noch unbekannte spätere
Situation ist geradezu unmöglich. Daher ist es wichtig, dass
Menschen eine Vertrauensperson benennen, mit der sich die Ärzte in Verbindung setzen können. Diese wird besser einschätzen
können, was in meinem Sinne ist, als ein abstraktes Formular.
Wer ist verantwortlich für diesen Paradigmen-Wechsel?
Die Politik, die keine Verantwortung mehr für die Versorgungsentscheidungen übernimmt. Sie lässt stattdessen die Ökonomie
entscheiden: Die konkurrenzfähigsten Krankenhäuser überleben, die anderen müssen schließen. Die Kliniken müssen also
schwarze Zahlen schreiben und das lässt sich vor allem mit Patienten erreichen, für die gut gezahlt wird. Die chronisch Kranken dagegen mit vielen und komplizierten Krankheiten rechnen
sich nicht. Mit dem Fallpauschalensystem bekommt die Klinik
nur einen fixen Satz für den Patienten, egal wie er behandelt
wird. Das bedeutet, je schneller der Patient entlassen wird, desto besser für die Bilanz. So wird die Hilfspflicht der Medizin ersetzt durch die Rentabilitätspflicht. Das ist die Umkehrung des
sozialen Systems: Die Ökonomie dient nicht mehr der Medizin,
sondern die Medizin hat heute der Ökonomie zu dienen. Das ist
das Problem.
Was ist für Sie eine zukunftsweisende Medizin?
Medizin ist ein Auftrag der Sorge für den ganzen Menschen.
Das heißt, wir dürfen den Menschen nicht reduzieren auf funktionierende Organe, sondern müssen die Chance erkennen, über
eine echte Begegnung die inneren Reserven in dem Kranken zu
mobilisieren. Wir brauchen eine Medizin, in der die Beziehung
als die eigentliche Heilquelle wahrgenommen wird. Es geht um
die heilende Kraft des Verstehens und der Begegnung. Nur so
kann geholfen werden, die Krankheit nicht nur als Verlust zu
erleben, sondern auch als Herausforderung, die für Wesentliches öffnet und zu einer Intensivierung des Lebens führen kann.
Was in der Gesundheitspolitik muss sich dafür ändern?
Letztlich ist das ganze Problem kein pragmatisches Problem, das
nur mit kleinen Systemänderungen zu lösen wäre. Es geht hier
um ein Bewusstseinsproblem. Erst wenn die Übernahme ökonomischer Leitbegriffe und mechanistischer Vorstellungen von Hei-
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lung in Frage gestellt werden, kann sich etwas grundlegend ändern. Dazu muss die Politik den Unterschied zwischen einem
Dienstleistungsunternehmen und der Medizin als sozialem System akzeptieren und sie muss erkennen, dass das öffentliche Vertrauen in die Integrität der Medizin dringend neu etabliert werden muss.
Können Patienten mithelfen, eine solche Beziehungsmedizin
zu fördern?
Ihrer Sorge, einer rein profitorientierten Medizin ausgeliefert zu
sein, können die Patienten dadurch begegnen, dass sie mit den
Füßen abstimmen, dass sie nur die Ärzte und Einrichtungen
Bei dieser Fülle von dringenden Anliegen bleibt nur noch die
Frage: Worin sehen Sie, Herr Maio, Ihre Hauptaufgabe?
Als Ethiker ist es mir ein Hauptanliegen, dafür zu sensibilisieren,
dass die Medizin sich aus dem Käfig des naturwissenschaftlichen Zugangs auf den Menschen befreien muss und nicht nur
in Zweckmäßigkeitskategorien denken darf. Mir ist wichtig, die
Medizin darin zu bestärken, in jedem kranken Menschen einen
eigenen Kosmos wiederzuentdecken, dessen Not nicht nur
durch Reparatur zu begegnen ist, sondern vor allem dadurch,
dass die Not als eine existenzielle Not begriffen wird. Eine Not,
die ohne Liebe zum Patienten auch mit aller Technik nicht gewendet werden kann, sondern den Arzt als Mitmenschen
braucht.
Die Patienten haben eine große Macht:
Sie können mit den Füßen abstimmen!
aufsuchen, die eine solche Medizin anbieten. Damit haben sie
eine große Gestaltungsmacht, weil nur die Kliniken und die Ärzte überleben können, zu denen sie gehen.
Herr Maio, wir danken für das beeindruckende Gespräch,
das zu uneingeschränkter Achtung allen Lebens und zum
aktiven Einsatz für Mitmenschlichkeit in der Medizin aufruft
sowie mit klaren Kriterien für menschengemäße Entscheidungen Orientierungshilfe geben kann.
Medizinische Entscheidungskonflikte
Drei reale Patientengeschichten* sollen exemplarisch zeigen, welche Kriterien die Medizinethik zur
Verfügung stellen kann für eine menschengemäße Beurteilung und Entscheidung in existentiellen
medizinischen Konflikten. In allen drei Fällen, in denen Giovanni Maio um ethische Beratung gebeten wurde, geht es um die Frage, ob ein Leben beendet werden soll: so das Leben eines Embryos mit
Wachstumsretardierung, eines alten Menschen mit allgemeiner Ablehnung künstlicher Lebenserhaltung, einer 43-jährigen Patientin mit starkem Leidensdruck.
Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch
In der Schwangerschaft einer 29-jährigen Frau stellt sich durch
eine Pränataldiagnostik (PND) heraus, dass das Kind unterversorgt ist und eine ausgeprägte Wachstumsretardierung hat. Die
Ärztin prognostiziert einen höchstwahrscheinlichen Kindstod
und rät zu einem Schwangerschaftsabbruch. Aus Überzeugung
lehnt die Patientin ab. Das Kind kommt vorzeitig zur Welt mit
geringer Überlebenschance. Nach einer zunächst stabilen Lage
verschlechtert sich der Zustand nach drei Tagen jedoch dramatisch. Man entscheidet sich, auf weitere Maßnahmen zu verzichten und lässt das Kind in Ruhe sterben. Die Eltern nehmen
mit großem Schmerz von dem Kind Abschied, empfinden aber
die drei gelebten Tage mit ihrem Sohn als große Bereicherung.
Aus medizin-ethischer Sicht zeigt diese Geschichte die Janusköpfigkeit der Pränataldiagnostik. Einerseits hat die PND der
Patientin zu einem realistischen Bild der zu erwartenden Komplikationen verholfen, ihr andererseits aber auch eine Entscheidung abgefordert, die andernfalls gar nicht gegeben wäre: ob
dieses Kind weiterleben oder sein Leben frühzeitig aktiv beendet werden soll. Hier wird deutlich, wie leicht Betroffene in die
Entscheidung eines Abbruchs hineingedrängt werden, wenn die
vorgeburtliche Untersuchung Negativbefunde ergibt. Was ohne
PND der Fall gewesen wäre – dass das Kind so lange lebt, wie es
leben kann – wird mit der möglichen Diagnostik zur persönlichen Wahlentscheidung.
Patientenverfügung
Intubationsverzicht auf Wunsch der Angehörigen?
Eine 83-jährige Patientin muss nach einem Kollaps am Herzen
operiert und dabei intubiert werden. Bei guter Prognose wird
sie nur wenig später extubiert und von der Intensivstation auf
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die Tagesstation verlegt. Nach vier Tagen entwickelt sie jedoch
eine schwere Lungenentzündung, ist nicht mehr ansprechbar,
ihr Zustand aber stabil. Wenn die Patientin erneut intubiert und
die Lungenentzündung behandelt wird, ist von einer guten Prognose auszugehen. Die Angehörigen der Patientin weisen jedoch auf ihre Patientenverfügung hin, in der sie wünscht, sie
sterben zu lassen, wenn keine „vernünftige Aussicht“ auf ihre
Genesung bestehe oder sie „schweres Leiden“ erleben müsse
und eine „bewusste Existenz“ nicht mehr möglich sei.
Wird man der Patientin gerecht, wenn man sie sterben lässt? Es
wird medizin-ethischer Rat eingeholt. Die Aussage des Behandlungsteams, dass die Patientin in der ansprechbaren Phase nicht
zu erkennen gab, dass sie mit der zuvor erfolgten Behandlung
nicht einverstanden gewesen sei, lässt daran zweifeln, dass die
Patientin in der gegenwärtigen Situation den Tod wünscht. Es
finden intensive Gespräche mit den Angehörigen und dem Behandlungsteam statt. Schließlich kann der Entscheidungskonflikt
durch einen eintretenden guten Behandlungsverlauf einvernehmlich so gelöst werden, dass die Behandlung zunächst fortgesetzt wird, aber jede Eskalation der Therapie zu vermeiden ist.
Aktive Sterbehilfe
Aktive Sterbehilfe bei Gesichtstumor?
Eine 43-jährige Patientin leidet an einem Tumor in der Nasenhöhle, der im Lauf von acht Jahren so auf Nase und Augen drückt,
dass eine Erblindung eintritt. In ihrem Leidensdruck fordert die
Patientin per gerichtlichem Antrag für ihren Arzt das Recht ein,
aktive Sterbehilfe zu leisten. Sie will ihren Angehörigen nicht ihr
langsames Sterben zumuten, sondern lieber bewusst zu einem
selbstgewählten Zeitpunkt aus dem Leben gehen. Die Richter lehnen den Antrag ab. Drei Tage nach dem Richterspruch wird die
Patientin tot in ihrer Wohnung gefunden – vermutlich hat sie sich
mit einer Tabletten-Überdosis das Leben genommen.
Hier stellt sich die ethische Frage: Hat die Medizin mit ihrem
Ziel, aus aller Kraft Leiden zu lindern, nicht auch die Verpflichtung, mithilfe der aktiven Sterbehilfe unnötiges Leiden zu verhindern? Aus medizin-ethischer Sicht ist die aktive Sterbehilfe
nicht zu rechtfertigen, wenn Leiden mit der Verhinderung von
Schmerzen gleich gesetzt wird, da die moderne Medizin über
eine effektive Schmerztherapie verfügt. Leiden selbst ist letztlich über die menschliche Verlusterfahrung definiert: Der
...dem Patienten durch empathische
und einfühlsame Begleitung helfen...
Mensch leidet an einer Erfahrung, die nicht mit seinem Konzept
eines guten Lebens vereinbar ist. So können selbst Menschen im
Endstadium – ans Bett gefesselt und nur noch notdürftig über
den Computer kommunizierend – ihr Leben durchaus als sinnvoll und lebenswert empfinden. Es hängt also entscheidend von
der Lebenseinstellung des Einzelnen ab, was als Verlust und was
als unerträgliches Leid angesehen wird. Wesentliches Element
der ärztlichen Heilkunst ist es daher, dem Patienten durch empathische, einfühlsame Begleitung zu helfen, seine Krankheitssituation als Aufforderung zur aktiven inneren Bewältigung zu
verstehen.
* Patientengeschichten und die Kommentare sind entnommen
aus: Giovanni Maio, Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin
Stuttgart 2012, Schattauer Verlag (zu bestellen unter www.
gesundheit-aktiv.de/shop, Bestellnr.: 1722)
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