Im Namen des Islam

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Im Namen des Islam …
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BADEN
10. NOVEMBER .15
Navid Kermani
• Rede des Preisträgers Navid Kermani Friedenspreis des Deutschen Buchhandels:
• «Es gibt keine islamische Kultur mehr, jedenfalls keine von Rang. Was uns jetzt
um die Ohren und auf die Köpfe fliegt, sind die Trümmer einer gewaltigen
geistigen Implosion.»
• «Wer als Muslim nicht mit ihm (dem Islam) hadert, nicht an ihm zweifelt, nicht
ihn kritisch befragt, der liebt den Islam nicht.»
• «Eher führt der Islam einen Krieg gegen sich selbst, will sagen: wird die islamische
Welt von einer inneren Auseinandersetzung erschüttert, deren Auswirkungen auf
die politische und ethnische Kartographie an die Verwerfungen des Ersten
Weltkriegs heranreichen dürften.»
EINLEITUNG
2
Islam / Muslime
• Islam als dichter Begriff
• Er bezeichnete damit Ausdrücke, die sowohl einen Sachverhalt bezeichnen
wie die Bewertung dieses Sachverhalts einschliessen.
• Eine semantische Auftrennung des deskriptiven und normativen
beziehungsweise evaluativen Gehalts lässt sich in dichten Begriffen wie
«Mord», «Mut», «Grausamkeit» oder «Dank» nicht vollziehen, ohne die
konventionelle Bedeutung zu zerstören und den Begriff sinnlos werden zu
lassen.
• Islam: im Sinne eines dichten Begriffs übersetzt als «Unterwerfung»,
Ergebenheit», «Friede» etc.
Islam?
3
Islam als Vorschrift?
• Islam, als dichter Begriff gelesen, enthält Vorstellungen, nach denen
der Islam eine Ordnung sei, die denjenigen bestimme, der sich zu ihr
bekennt.
• Islam heist Unterwerfung, Einheit von Religion und Staat, Ergebenheit
etc.
• Relationen:
• Islam und Demokratie?
• Islam und Gewalt?
• Islam und Frauen?
• Islam nicht als dichter Begriff zu verstehen.
Islam
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Islam als Name
• Das Wort ʻIslamʼ als
• der Name für sehr viele verschiedene Bedeutungen,
• die durch den Gebrauch eines offenen ‘Lexikons’ von Begriffen, Aussagen und Praktiken,
• die narrativ-historisch oder normativ als Teil eines Traditionsgefüges
• gedeutet werden,
• dessen Genealogie auf den Koran, die Prophetentradition und möglicherweise auch auf die
Prophetenvita zurückgeführt wird.
• Islam ist also eine Gesamtheit von Handeln, Bedeutung und Rechtfertigung.
• Grundsätzlich handelt es sich um einen affirmativen Gebrauch; dennoch bilden auch
negative Gebräuche Islam ab.
Islam
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Die früheste Zeit
• Quellen
• Text: der Koran (datiert 610-632, als Text seit etwa 645 überliefert)
• Gedächtnis: die Überlieferung (der “Lebenslauf” Muhammads, sîra, und die
Überlieferung über seine Praxis (sunna) und die seiner “Genossen” (sahâba)
• Auslegung durch die “Erben der Propheten” (Gelehrte), Juristen, Sufis,
Philosophen u.a.m.
• Keine archäologischen Reste
• Aussenwahrnehmung erst ab etwa 645/650
• Früheste Textzeugen jenseits des Korans ab etwa 644 (Graphiti)
FRÜHZEIT
6
Die alte islamische Ordnung
Regeln der Herrschaft
WELT
GRENZE
Regeln, die den Kult
schützen
Regeln des Kults
KULT
FRÜHZEIT
7
Grenzbereiche
Kult (islâm)
Tabu
- u.a. Schweinefleisch, Aas,
Blut
- Dienen (salât) und
Opfern (begrenzt)
Grenzen (hudûd)
Diebstahl (sariqa)
Ordnung
Adoption, Ehe, Frauen
Wegelagerei (hirâba, qat’
at-tarîq)
Beute, Erbschaft
- Fasten (sawm)
Trinken von Wein (shurb
al-khamr)
Ehebruch (zinâ’)
Krieg, Mord
- Pilgern (ḥaǧǧ)
- Gaben (zakât)
Schulden, Testament und
Vertrag
Falsche Anschuldigung des Sklaven
Ehebruchs (qadhf)
FRÜHZEIT
Die alte islamische Ordnung
KULT
GRENZE
WELT
Bekenntnis (“Eid”)
Schutz des Kults
Herrschaft
Rituelles Gebet
Schutz des Lebens
Abgaben
Fasten
Schutz des
Nachkommenschaft
Schutz der Zugehörigen
Almosen
Schutz des Eigentums
Beute
Wallfahrt
Schutz der “Vernunft”
Gericht
Marktaufsicht
Polizei
Jihad
Krieg
Vollzugsgewalt
KULTRECHT
IMMANENTE REGELN
FRÜHZEIT
GEWOHNHEITSRECHT
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Islam – historisch gesehen
Kult
Lex
Religion
Heute?
7./8. Jh.
8./9. Jh.
16./17. Jh.
21. Jh.
Kultische Praxis
Dogmen
Glauben
?
Bestimmung der
Kultordnung
Bestimmung der
Rechtsordnung
Bestimmung der
Glaubensordnung
?
Sakral
Transzendent
Religiös
?
FRÜHZEIT
10
Das Gefüge der Neuzeit
Religion
NEUZEIT & MODERNE
Welt
11
Grundmuster der Vorstellungswelten
• Religion
•
•
•
•
•
•
•
• Welt
•
•
•
•
•
•
•
Glaube
Gewissen
Gewissheit
Text
Gnade
Der einzelne Mensch
Moral
Erfahrbar
Wissbar
Erkennbar
Naturgesetzlich
Vorhersagbar
Recht, Normen
Gültigkeit
Staat als
Friedensordnung
Kirche  Gemeinschaft  Gesellschaft
NEUZEIT & MODERNE
12
Die ideale moderne Ordnung
Religion
Gesellschaft
Staat
Selbstbegründet
Selbstbegründet
Autonom
Autonom
Gewissen
Souverän
Glauben
Politisch
Rituell
Öffentlich
System der
öffentlichen
Institutionen zur
Regelung der
Angelegenheiten
eines
Gemeinwesens
NEUZEIT & MODERNE
Demokratie als Möglichkeit
13
Die Ordnung der Gesellschaft
Regeln
Normen
Werte
NEUZEIT & MODERNE
• Staat
• Recht
• Gemeinschaft
• Sitte
• Religion
• Moral/Ethik/Tugend
14
Die ideale moderne Ordnung (2)
• Demokratie ist eine Ordnung der Gesellschaft und ihres Staats, nicht der Religion
• Religion stiftet an sich keine Staatsordnung und damit auch keine Demokratie
• Wohl kann Religion dazu dienen, eine Staatsordnung moralisch zu begründen
•
•
•
•
Werte-/Normen-Ordnung
Normen werden moralisch/ethisch begründet
Werte können, müssen aber nicht religiös gerechtfertigt sein
Die Werte, die die Demokratie moralisch begründen können aus jeder Religion hergeleitet
werden.
• Ideal: Friedenszustand zwischen Religion und Gesellschaft, Anerkennung der
jeweiligen Geltungsbereiche
NEUZEIT & MODERNE
15
Konflikte
• Hegemonieansprüche
• Gesellschaft über Religion
• Radikal: Laizismus (Ort der Religion ist das Private)
• Religion über Gesellschaft
• Radikal: Islamismus (Ort der Religion ist das Öffentliche)
• Öffentlichkeit als Feld des Konflikts
• Konflikt um Werte
• Konflikt um die Sichtbarkeit
• Konflikt um Regeln
GEGENWART
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Gesellschaften im Stress: Differenzierungen
• Soziale Differenzierung
• Konkurrierende Vorstellungswelt
• Verwandtschaftsbünde, formell, informell
• Solidaritätsnetzwerke
• Kommunen (Stadt, Dorf, Stadtteil, Strasse etc.)
• Differenzierung der Deutungswelten
• Konfessionalismus
• Separatismus
• Säkularismus
• Differenzierung der Rechtfertigungen
• Axiologisch (infra)
• Nomologisch (ultra)
• Entdifferenzierung
• Öffentlichkeit / Privatheit ¦ Theoretische Ordnung / Lebenswelten
• Globalisierung der Elitenkulturen
GEGENWART
17
Differenzierungen in der Öffentlichkeit
Islam in der
Moderne
Werte/
Werte
Konsumorientierte
Religion
Erlebnisfrömmigkeit
GEGENWART
Normen
Normen
Liberal
Ultra-religiöse
Normenordnung
Konservativ
18
Die Metapher der Sichtbarkeit
Spektrum des
sichtbaren Lichts als
Metapher für das
Spektrum
konventioneller
Ordnungsvorstellungen
Für Menschen sichtbare
elektromagnetische Strahlung
ULTRA
ÖFFENTLICHKEIT
Normen
INFRA
Werte
GEGENWART
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Ultraislamisch
• Ultra «weiter hinaus, jenseits, dahinter»:
• Pluralität von Normenordnungen, aus denen die Rechtfertigung für Regeln hergeleitet wird
• Bildung von «Normen-Gemeinschaften» gleichen Stils der Lebensführung
• Praxen: Alltag, Arbeit, Autorität, Militanz, Lebensführung
• Merkmale: Zugehörigkeit, Identität, Geschlecht, Sprache, Symbolwelten
• Rechtfertigung:
• Ultra-sozial
• Bezugsfelder der Rechtfertigung das soziale Dasein selbst
• Ultra-religiös
• Bezugsfeld der Rechtfertigung auf das islamische Feld bezogen
• Keine Rechtfertigung der Normen als durch Werte begründet
• Werte nur noch ad hoc anerkannt
GEGENWART
20
Aus der Perspektive der Gesellschaft:
Kohäsionsverlust
Deregulierung
Gesellschaft
Desintegration
GEGENWART
21
Die Verflechtung
Ordnung
Werte/
Normen
Religion
Werte
Religiös
Normen
Wir-Gruppen
Soziale
Gemeinschaften
Gesellschaft
Gesellschaft
Gesellschaft Ultrabünde
GEGENWART
Bünde
Ultra-societal and ultra-religious
• Die verhängnisvolle Verflechtung des Vertrauensverlusts
• Doppelte Differenzierung
• Religionsbegriff verliert seine Normativität in der Moderne
• Gesellschaftsbegriff verliert ihre Normativität in der Moderne
• Verflechtung von konkurrierenden sozialen Ordnungen (Verwandtschaftsbünde, informelle
Verwandtschaftsbünde, Solidaritätsnetzwerke, «Banden» etc.) und «nomologischen»
Ordnungen
• Gründe für den Zustimmungsverlust spezifisch
• Radikalisierung der «bürgerlichen Mitte»
• Rückgang der Reichweite bürgerlicher Vorstellungswelten
• Verteidigung der Bürgerlichkeit
• Keine einheitliche Position (links/rechts-Schema bürgerlicher Öffentlichkeit)
GEGENWART
Islam – dominante Orientierungen
• Infra: Konsumorientierte Erlebnisfrömmigkeit
• Wertepluralismus, sozialer Pluralismus
• Bürgerlicher Islam / islamische Bürgerlichkeit
• Breites Spektrum von linksliberalen bis rechtskonservativen Positionen
• Gemeint: Islamische Rechtfertigung dieser Einstellungen
• Einheit der Gesellschaft in einem Staat
• Muslimbrüder
• Islam der politischen Öffentlichkeit  Islamismus
• Ultra: Ultraislamische Kampfbünde  Jihadismus
• “Islamischer Staat”
• Al-Qâ’ida
• Islamischer Jihad
GEGENWART
Islam – jenseits der politische Öffentlichkeit
• Alltagsfrömmigkeit
• Sufische Traditionen
• Gelehrtenwissen
• Puritanische Lebensführung  Fundamentalismus
• Gemeinschaften
GEGENWART
Begriffe
• Islam: Name aller Gebräuche islamischer Traditionen
• Islamismus: Bezeichnung für den Anspruch, dass der Islam Teil der öffentlichen Debatte
zu sein habe und dass der Islam rechtmässig Angelegenheiten der Öffentlichkeit erörtern
dürfe
• Fundamentalismus: Bezeichnung für eine islamische Lebensführung, die Normen folgt,
die aus der islamischen Frühzeit abgeleitet werden
• Salafismus: unbrauchbarer Begriffe, da er auf sehr unterschiedliche Islamdeutungen
angewendet wird, arabisch oft auch im Sinne einer “streitbaren Salafiya” gebraucht
• Ultraislamische Kampfbünde: Bünde, die den Islam allein als normative Zwangsordnung
definieren, den Jihad als Teil des islamischen Kults und als Erlösungsakt propagieren und
jedwede andere islamische Tradition als “Gegner” definieren.
GEGENWART
Konfessionalismus
• In der islamischen Welt Prozess der
Konfessionalisierung
• Reichskonfessionen des 16./17. Jh.
• Alter Konfessionalismus des Osmanischen
Reichs des 19. Jh. (millet)
• Libanon – 1970er Jahre (alte koloniale
Konfessionelle Ordnung)
• Pakistan – 1980er Jahre
• Afghanistan – 1990er Jahre
• Irak 2000er Jahre
• Syrien 2010er Jahre
• Partikularität der Hegemonien
• Besonders markant die Sunna-Schia-Spaltung
• Schia als Konfession in Irak
• Sunna als Konfession in Syrien
• Aktualisierung und Zentrierung
• Alawiten als Schiiten
• Ultra-religiöse Gemeinschaften als
Sunniten
• Das heisst, keine allgemeine
Konfessionalisierung, sondern von Ort
und Zeit abhängig
• Konfessionalismus mobilisiert Ressentiments
und deutet durchaus „weltliche“ Interessen
• Ressourcen Irak
• Separatismus lässt sich heute besonders gut
konfessionell interpretieren
GEGENWART
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Islamische Religionsgemeinschaften in Pakistan
Muslim
Shi‘i
Sunni
Zwölfer
shaykhi
akhbari
Siebener
usuli
Hanafi
Salimi
babi
Fatimi
Baha‘i
Al-Musta‘li
Bohra
Brelwi
Sat panth
Nizari
Khoja
Hadith
Ahl-e
hadith
Nizari
Nizari
Aghakhani
Zikri
Jawnpur
Ahmadi
Jama‘a
Div. Sufi
Anjuman
Deoband
Ahl-e
Qur‘an
imamshahi
GEGENWART
28
Zerfall des Islam
• Wir erleben tatsächlich so etwas wie einen Zerfall des Islam (oder besser der islamischen
Öffentlichkeit),
• der aber nur ein spezifischer, wenn auch weit fortgeschrittener Ausdruck eines Zerfalls der Religion darstellt,
• der wiederum nur Teil eines Kohäsionsverlusts der Moderne ist.
• Die schöne alte Religion-und-Gesellschaft-Ordnung droht unter bestimmten Umständen zu
zerbrechen, so dass die beiden Ordnungen, die das ganze bislang gestützt haben, ihre
Integrationskraft verlieren.
• Noch gibt es die islamische Mitte, doch an den Rändern werden Prozesse sichtbar, die
• zum einen ultraislamische Bünde und Formen der Vergemeinschaftung freisetzen
• zum anderen ein merkwürdiges Geflecht von konsumorientierter Erlebnisfrömmigkeit ermöglichen.
• Letztere erscheinen harmlos, erstere hingegen sind ein massives Problem.
• Der Grund für den Kohäsionsverlust ist nicht nur in der katastrophalen Verfasstheit der alten
islamischen Öffentlichkeit, zu sehen, sondern auch in sozialen Prozessen, die das Vertrauen in den
Sinn und die Notwendigkeit einer staatlich verfassten gesellschaftlichen Ordnung schwinden
lassen.
• Zudem zerbricht auch das alte ehrwürdige Konzept der Öffentlichkeit selbst ein Fluch des
Internets
GEGENWART
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