VWL 15T - friedrich wilke

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G RUNDLAGEN
V OLKSWIRTSCHAFTSLEH
OLKSWIRTSCHAFTSLE H RE
15
.................
Konjunktur und Wachstum
15.1 Trend und Schwankungen ................................................ 1
15.2 Gesamtwirtschaftliche Ziele .............................................. 4
15.2.1 Wirtschaftswachstum ........................................... 5
15.2.2 Preisniveaustabilität ............................................. 5
15.2.3 Vollbeschäftigung ................................................. 7
15.2.4 Außenwirtschaftliches Gleichgewicht ................... 9
15.3 Elementare Zielbeziehungen .......................................... 10
15.3.1 Arten von Zielbeziehungen................................. 10
15.3.2 Wachstum und Beschäftigung ........................... 10
15.3.3 Beschäftigung und Inflation ................................ 12
15.3.4 Wachstum und Preisniveaustabilität .................. 13
15.3.5 Außenwirtschaftliche Verflechtungen ................. 13
15.4 Wirtschaftspolitische Konzeptionen ................................ 13
15.4.1
15.4.2
15.4.3
15.4.4
Ansatzpunkte ..................................................... 13
Konjunkturtheorien ............................................. 15
Keynesianismus – Nachfrageorientierung ......... 16
Monetarismus - Angebotsorientierung ............... 19
Wiederholungsfragen ............................................................... 22
Fachhochschule Köln
Cologne University of Applied Sciences
Campus Gummersbach
Prof. Dr. Friedrich Wilke
2007
www.friedrich-wilke.de
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
1
15.1 Trend und Schwankungen
Es ist wohl eine allgemeine Erfahrung, dass in vielen natürlichen Systemen die Entwicklungsprozesse nicht stetig, sondern in mehr oder weniger regelmäßigen (zyklischen) Schwankungen verlaufen, gleich einem Pendel, das einmal in die eine und dann wieder in die andere Richtung
ausschlägt. Auch das Wirtschaftsleben ist davon nicht ausgenommen. In allen Industrienationen
weist die Wirtschaftstätigkeit mehr oder weniger regelmäßige (zyklische) Schwankungen auf.
Von solchen Konjunkturbewegungen waren nicht allein die marktwirtschaftlichen Systeme betroffen, sondern auch die ehemaligen sozialistischen Planwirtschaften. Konjunkturschwankungen erfassen den gesamten Wirtschaftsprozess und lassen sich in vielen gesamtwirtschaftlichen Größen (Sozialprodukt, Preise, Zinsen, Aktienkurse, Arbeitslosigkeit, Lohnsteigerungen usw.) nachweisen.
Zentrale Kennziffer der Produktionstätigkeit einer Volkswirtschaft ist ihr reales Bruttoinlandsprodukt. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es in allen Industrienationen in Ost und West nahezu ständig gestiegen (= positive Wachstumsraten), nur in wenigen Ausnahmefällen ist es absolut gesunken (= negative Wachstumsrate). Der längerfristige Trend der Wirtschaftsentwicklung zeigt
aufwärts. In Deutschland ist das Bruttoinlandsprodukt lediglich in ganz wenigen Jahren im Vergleich zum Vorjahr gesunken, ansonsten hat es stets positive Zuwachsraten gegeben. Allerdings ist der Entwicklung nicht stetig verlaufen. Der längerfristige Trend wird von mittelfristigen
Konjunkturschwankungen überlagert.
Mit „mittelfristig“ ist eine Sicht gemeint, die etwa den Zeitraum von 1 - 5 Jahren umfasst (z.B.
geht die mittelfristige Finanzplanung bis zu 5 Jahren). „Kurzfristig“ bezieht sich auf einen kürzeren Zeitraum. Kurzfristige Maßnahmen entsprechen in erster Linie Sofortmaßnahmen angesichts aktueller, drängender Probleme. „Langfristig“ ist dementsprechend eine Sichtweise, die
über 5 Jahre hinausgeht.
Der Trend der Wirtschaftsentwicklung (= langjähriger Durchschnitt) ist durch positive Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsprodukts gekennzeichnet.
Empirische Konjunkturforscher haben zyklische Schwankungen mit unterschiedlicher Dauer
identifiziert. Diese Zyklen werden häufig nach ihrem Entdecker benannt.
Kondratieff-Zyklen mit einer Dauer von etwa 50 Jahren sind lange Wachstumswellen. Sie werden nach Schumpeter durch wichtige technische Neuerungen ausgelöst, die dann allmählich
an Wirkung verlieren (Eisenindustrie und Dampfkraft: 1787 - 1842, Eisenbahn und Stahlindustrie: 1842 - 1897, Elektro- und Automobilindustrie: 1897 - ca. 1935). Das beschleunigte
Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg kann in diesem Sinne als Aufschwung einer vierten langen Welle interpretiert werden, die nun allmählich zu Ende geht. Die Existenz
dieser langen Welle ist umstritten. Selbst wenn es sie in der Vergangenheit gegeben hat, so
ist damit noch keineswegs gesagt, die Wachstumsschwäche der letzten Jahre sei nicht beeinflussbar. Im Übrigen werden mit Konjunkturschwankungen im Allgemeinen auch nur die
mittelfristigen Zyklen bezeichnet.
Juglar-Zyklen von 7 - 11 Jahren Dauer haben vor dem Zweiten Weltkrieg dominiert.
Kitchin-Zyklen von 2 - 5 Jahren Dauer scheinen nach dem Zweiten Weltkrieg zu dominieren.
Deutschland hatte – zumindest bis Mitte der 80er Jahre – einen Konjunkturzyklus von 4 - 5
Jahren. In letzter Zeit ist ein regelmäßiger Zyklus nicht klar erkennbar.
Diese Wellen unterschiedlicher Länge können sich überlagern. Hinzu kommen noch kurzfristige
Zyklen mit einer Dauer von einem Jahr und weniger, wie etwa jahreszeitliche (saisonale), viertel-
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
2
jährliche, monatliche und wöchentliche Schwankungen. Sie zählen ebenfalls nicht zu den Konjunkturschwankungen.
Konjunkturschwankungen sind mittelfristige Wachstumswellen um einen Trend.
Die gedankliche Zerlegung der Wachstumswelle in die zwei Komponenten „Trend“ und
„Schwankungen“ deckt auch zwei unterschiedliche Ursachenkomplexe auf:
• Der langfristige Trend ergibt sich aus der Ausweitung des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials durch eine vermehrte und verbesserte Nutzung der Produktionsmittel. Wie ein
einzelner Betrieb, so kann auch die gesamte Volkswirtschaft nur wachsen, wenn die Kapazitäten ausgeweitet werden durch (private und öffentliche) Kapitalbildung in Verbindung mit einer Verbesserung des Produktionsfaktors Arbeit (Ausbildung) und dem technischen Fortschritt. Das Produktionspotential ist nicht direkt beobachtbar und muss geschätzt werden.
Potentialwachstum ist die langfristige Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts bei
normaler Auslastung der vorhandenen Kapazitäten.
• Das Produktionspotential gibt nur an, welches Gütervolumen bei Normalauslastung produziert werden könnte, es bestimmt die Angebotsmöglichkeiten. Über die Höhe der tatsächlichen Produktion und den Auslastungsgrad entscheidet die Nachfrage. Die mittelfristigen,
zyklischen Schwankungen äußern sich in einer unterschiedlichen Auslastung des jeweils vorhandenen Produktionspotentials.
Konjunktureller Schwankungen äußern sich als mittelfristige Änderungen im Auslastungsgrad der Kapazitäten.
Der Unterschied zwischen Produktionspotential (PP) und tatsächlichem Bruttoinlandsprodukt
(BIPr) heißt Outputlücke. Sie wird absolut oder in Prozent vom Produktionspotential gemessen.
Die Outputlücke dient als Maßstab für die Unterauslastung (oder Überauslastung) und gibt zugleich einen Eindruck von den Wachstumsverlusten, die eine Rezession verursacht.
Outputlücke (absolut) = BIPreal – PP
Outputlücke (relativ) =
BIPreal − PP
PP
Weil das PP nicht die maximal, sondern die bei Normalauslastung mögliche Produktion darstellt, kann die Outputlücke positiv oder negativ sein. In Deutschland gilt der im Jahre 1970 erreichte Auslastungsgrad als Referenzwert von 100%. Dieser Auslastungsgrad wurde danach bislang noch nicht wieder erreicht.
Produktionspotential und Auslastungsgrad sind keineswegs unabhängig voneinander. Hohe
Auslastungsgrade stimulieren das Potenzialwachstum. Umgekehrt gefährden geringe Auslastungsgrade – vor allem, wenn sie länger anhalten – den Ausbau der Kapazitäten und setzen
dem möglichen Wirtschaftswachstum längerfristig enge Obergrenzen. Dann ist ein hoher Auslastungsgrad selbst bei geringem Wirtschaftswachstum möglich.
In Deutschland ist im Vergleich zur Mitte der neunziger Jahre das Potentialwachstum gesunken und hat einem
Wachstumsrückstand gegenüber vielen anderen Ländern auch im Euro-Raum bewirkt. Schätzungen zeigen seit
längerer Zeit ein unverändert niedriges Potentialwachstum von etwa 1%. Auch die relative Outputlücke liegt annähernd konstant bei –0,7%. Das schwache Potentialwachstum belastet die langfristigen Perspektiven und verschärft im Zusammenspiel mit negativen konjunkturellen Impulsen die Gefahr einer Stagnation.
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
3
Abbildung 15–1: Wachstumszyklen (Prinzipskizze)
500
Reales BIP
(Euro)
Produktionspotential
450
k o ns t a nt e s P o t e nt ia lwa c hs t um
a bne hm e nde s P o t e nzt a lwa c hs t um
400
Outputlücke
350
negativ
positiv
300
250
hohe Auslastung bei
geringem Wachstum
200
150
100
reales Bruttoinlandsprodukt
Trend
50
Jahre
0
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
Abbildung 15–2: Reales Bruttoinlandsprodukt in Deutschland (1970 = 100)
Index
200
150
Reales Bruttoinlansprodukt
Index 1970 = 100
100
50
0
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
1995
2000
2005
Abbildung 15–3: Wirtschaftswachstum in Deutschland 1950 - 2005
%
12
Reales Bruttoinlansprodukt
Veränderungsraten in v.H
10
8
6
4
2
logarithm ische Trendlinie
0
-2
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
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4
Konjunkturphasen
Konjunkturzyklen bestehen im Regelfall aus Aufschwungphasen (Expansion), Hochkonjunktur
(Boom), Abschwungphasen (Rezession) und Depression. Die Abschwungphasen sind deutlich
kürzer als die Aufschwungphasen.
Hinsichtlich der Einteilung gibt aber es keine allgemein akzeptierte Definition oder Abgrenzung.
Insbesondere sind die Begriffe Rezession und Depression umstritten. In der Praxis wird häufig
auf eine einfache Daumenregel zurückgegriffen:
• Als Rezession gelten zwei aufeinender folgende negative Zuwachsraten des BIP im Quartalsvergleich.
• Als Depression gilt eine besonders schwere (oder lange) Rezession.
Konjunkturindikatoren
Es gibt eine Reihe von Konjunkturindikatoren, die zur Einschätzung der gegenwärtigen Lage
sowie der Entwicklungstendenzen verwendet werden. Neben „harten“ Kennziffern gelten Umfragen zum „Geschäftsklima“ und „Konsumklima“ als wichtige Frühindikatoren. Sie machen
deutlich, dass der konjunkturelle Verlauf ganz erheblich von den optimistischen oder pessimistischen Erwartungen abhängig ist.
Abbildung 15–4: Konjunkturindikatoren (Beispiele)
Frühindikatoren
Präsensindikatoren
Spätindikatoren
zeigen die künftige Entwicklung
an
zeigen die gegenwärtige Situation an
hinken der allgemeinen Entwicklung hinterher:
Auftragseingänge
Baugenehmigungen
Börsenkurse
GFK-Konsumklima-Index
IFO-Geschäftsklima-Index
Industrieproduktion
Kapazitätsauslastung
Geldmenge
Arbeitslosenquote
Löhne
Preise
Zinsen
Insolvenzen
Von den Frühindikatoren darf keine zuverlässige Prognose der künftigen Entwicklung erwartet
werden. Selbst die Diagnose der aktuellen Konjunkturlage ist oft problematisch, weil die Entwicklungen in verschiedenen Wirtschaftsbereichen teilweise erheblich voneinander abweichen,
sowohl hinsichtlich der Stärke der Schwankungen wie auch hinsichtlich der zeitlichen Abfolge.
Hinzu kommt, dass die Konjunktur keinen symmetrischen und auch keinen stetigen, sondern
gleich einer Fieberkurve einen „gezackten“ Verlauf mit Zwischenhochs und Zwischentiefs zeigt.
Bei aller Regelmäßigkeit hat jeder Zyklus seine spezifischen Besonderheiten.
15.2 Gesamtwirtschaftliche Ziele
Die drei dominierenden gesamtwirtschaftlichen Ziele, für deren Realisierung eine staatliche Verantwortung besteht, sind Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum und Geldwertstabilität. Das
außenwirtschaftliche Gleichgewicht wird in der öffentlichen Meinung als eigenständiges Ziel der
Wirtschaftspolitik nur wenig beachtet. Als weitere Ziele gelten oft noch die gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung sowie der Umweltschutz.
Im Stabilitätsgesetz aus dem Jahre 1967 werden vier gesamtwirtschaftliche Ziele genannt. Sie
laufen auch unter der Bezeichnung „Magisches Viereck“. Es heißt Viereck, weil es vier Ziele
enthält. (Analog gibt es ein „Dreieck, „Fünfeck usw.) Das „Eck“ deutet an, dass die Ziele nicht
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
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isoliert nebeneinander stehen, sondern durch Zielbeziehungen miteinander verknüpft sind. „Magisches“ Viereck heißt es, weil es bislang noch nicht gelungen ist, alle vier Ziele, wie das Gesetz
es vorschreibt, gleichzeitig zu verwirklichen.1
Abbildung 15–5: Magisches Viereck
Ziele des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts
„Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts-
und
finanzpolitischen
Maß-
nahmen die Erfordernisse des gesamt-
angemessenes
und stetiges
Vollbeschäftigung
1
Wirtschaftswachstum
(hoher Beschäftigungsstand)
wirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen,
dass sie im Rahmen der marktwirtschaft-
3
2
lichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität
des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftli-
Preisniveaustabilität
chem Gleichgewicht bei stetigem und an-
(Geldwertstabilität)
außenwirtschaftliches
Gleichgewicht
gemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.“ (§ 1 StabWG).
15.2.1 Wirtschaftswachstum
Der traditionelle Wachstumsindikator ist die Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts. Trotz
aller Mängel ist es derzeit noch die beste Maßgröße für die ökonomische Leistungsfähigkeit einer Wirtschaft und den durchschnittlichen materiellen Lebensstandard.
• Angemessenes Wirtschaftswachstum bedeutet, dass nicht allein die Nutzen, sondern
auch die möglichen Kosten des Wachstums gesehen werden müssen. Hier sind insbesondere die umweltpolitischen Ziele zu berücksichtigen. Was dann konkret „angemessen“ bedeutet, ist im politischen Willensbildungsprozess zu klären.
• Stetiges Wachstum soll Ungleichgewichtslagen zwischen gesamtwirtschaftlicher Nachfrage
und gesamtwirtschaftlichem Angebot mildern und einen störungsfreien dynamischen Prozess
bewirken. Als Indikator dient vor allem der Auslastungsgrad des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials.
Angemessenes Wachstum wird angestrebt, um den materiellen Lebensstandard zu verbessern.
15.2.2 Preisniveaustabilität
Das Preisniveau ist ein Durchschnittswert aus vielen Einzelpreisen. Zur Messung der Preisniveaustabilität stehen je nach „Warenkorb“ mehrere Preisindizes etwa für das BIP, für den privaten Verbrauch usw. zur Verfügung. Will man wissen, wie sich die Kaufkraft eines durchschnittlichen Haushalts durch die Inflation schmälert, so wird in Deutschland der VPI (Verbraucherpreisindex) und auf europäischer Ebene der HVPI (harmonisierte Verbraucherpreisindex) verwendet.
1 Nimmt man die „gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen“ in dem Zielkatalog auf, ergibt sich ein
„magisches Fünfeck“. Eine zusätzliche Erweiterung zum „magischen Sechseck“ ist die Einbeziehung des
„Umweltschutzes“.
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
6
Abbildung 15–6: HVPI
Man kann nicht einfach alle Preissteigerungen addieren
und dann durch die Anzahl dividieren, wie man es bei
einem einfachen Durchschnitt macht. Bestimmte Preise haben ein hohes Gewicht (z.B. Mieten), andere
spielen dagegen nur eine untergeordnete Rolle (z.B.
Fliegenleim). Deshalb werden die einzelnen Preisänderungen ihrer Bedeutung entsprechend „gewichtet“. Als
„Gewichte“ dienen dabei die Anteile an den jeweiligen
Ausgaben (Warenkorb). Die Inflationsrate ist ein „gewogenes arithmetisches Mittel“. Je nach Warenkorb
errechnen sich aus den einzelnen Preissteigerungen
durch unterschiedliche Gewichte auch verschiedene
Inflationsraten.
Abbildung 15–7: Inflationsraten
Inlationsraten
Verbraucherpreise
Anstieg in %
8,0
7,0
6,0
5,0
4,0
3,0
2,0
1,0
2004
1999
1994
1989
1984
1979
1974
1969
1964
1959
-1,0
1954
0,0
Bis 1992: Lebenshaltungskosten; ab 1992: VPI = Verbraucherpreisindex
Das Ziel lautet Preisniveaustabilität. Die Zementierung einzelner Preise würde den zentralen
Steuerungsmechanismus marktwirtschaftlicher Systeme ausschalten, deshalb sollen sich die
Preisbewegungen gegenseitig im Durchschnitt ausgleichen. Ein länger anhaltendes Ansteigen
(Sinken) des Preisniveaus wird mit Inflation (Deflation) bezeichnet. Preisniveaustabilität gilt in
der praktischen Wirtschaftspolitik als erreicht, wenn die Inflationsrate unterhalb von 2% bleibt.
Diese Grenze gilt als weitgehend unproblematische – möglicherweise sogar nützliche – Preissteigerung und kann auch zu einem gewissen Teil als Entgelt für statistisch in der Inflationsrate
nicht messbare Qualitätsverbesserungen angesehen werden.
Größere Preissteigerungen gefährden die Kalkulationsgrundlage und damit die Funktionsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Systems, beeinträchtigen die internationale Wettbewerbsfähigkeit
der inländischen Exportindustrie und bewirken eine unerwünschte Umverteilung (Redistribution)
der Einkommen und Vermögen zu Lasten der sozial Schwächeren. Ohne Geldwertstabilität
kann es keine stabile Wirtschaftsentwicklung geben.
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
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15.2.3 Vollbeschäftigung
Spätestens seit der Weltwirtschaftskrise gilt die Forderung nach Vollbeschäftigung als wirtschaftspolitisch unverzichtbares Ziel. Arbeitslosigkeit ist ein Verstoß gegen elementare gesellschaftliche Grundziele wie Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Wohlstand, von den menschlichen Problemen einmal ganz zu schweigen. Die sozialen Chancen der Betroffenen sinken ganz
entscheidend, und aus gesamtwirtschaftlicher Sicht bedeutet Arbeitslosigkeit einen Verzicht auf
Produktionsmöglichkeiten und eine bessere Versorgung mit Gütern (Opportunitätskosten). Zudem erleichtert ein hoher Beschäftigungsstand den Strukturwandel. Bei Zuwächsen sind die Anpassungslasten konfliktfreier verteilbar.
Zentrale Kennziffer der Beschäftigungslage ist die Arbeitslosenquote. Darunter versteht man
dabei den Anteil der (registrierten) Arbeitslosen an den Erwerbspersonen. Bei der Interpretation
der Arbeitslosenquote als Indikator einer Unterbeschäftigung ist daher generell zu beachten,
dass einige Formen der Unterbeschäftigung unberücksichtigt bleiben. Insbesondere bleiben die
verdeckte Arbeitslosigkeit und die Kurzarbeit unberücksichtigt.
Kurzarbeit: Kurzarbeiter sind unterbeschäftigt, sie sind nicht arbeitslos. Mit Zunahme der Kurzarbeit verliert die Arbeitslosenquote als alleinige Kennziffer an Aussagewert.
Stille Reserve: Viele Nichterwerbspersonen, insbesondere Hausfrauen, die eine Teilzeitbeschäftigung suchen, sind nicht als Arbeitssuchende beim Arbeitsamt registriert. - Zweiter Arbeitsmarkt: Teilnehmer an staatlichen Beschäftigungs- und Ausbildungsmaßnahmen. - Unfreiwillig (vorzeitig) aus dem Erwerbsleben Ausgeschiedene („Frührentner“).
Abbildung 15–8: Arbeitslosigkeit in Deutschland
15,0
%
Millionen
4,5
4,0
AL Deutschland
AL Alte Bundesländer
ALQ Deutschland
ALQ Alte Bundesländer
3,5
10,0
3,0
2,5
Arbeitslosenquote
(linke Skala)
2,0
5,0
Arbeitslose
(rechte Skala)
1,5
1,0
0,5
2000
1995
1990
1985
1980
1975
1970
1965
1960
1955
0,0
1950
0,0
Arbeitslosenquote der abhängigen zivilen Erw erbspersonen. 1950 bis 1958 ohne Saarland. Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg
Für eine detaillierte Untersuchung der Unterbeschäftigung ist außerdem eine Disaggregation der
gesamtwirtschaftlichen Größe erforderlich. Hier ist in zeitlicher Hinsicht auch die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit von Bedeutung. Eine hohe Arbeitslosenquote ist weniger dramatisch, wenn immer andere Personen betroffen sind, und der Einzelne nur kurzzeitig arbeitslos ist.
Umgekehrt deutet eine hohe Durchschnittsdauer selbst bei geringer Quote auf Problemgruppen
hin, die nicht integriert werden können.
Die Arbeitslosigkeit tritt in verschiedenen Formen auf, die sich hinsichtlich ihrer gesamtwirtschaftlichen Bedeutung unterscheiden:
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
8
Saisonale Arbeitslosigkeit
tritt in bestimmten Sektoren und Regionen jahreszeitlich bedingt auf (Bauindustrie, Landwirtschaft, Fremdenverkehr), sie ist auch die Folge saisonaler Nachfrageschwankungen.
Friktionelle Arbeitslosigkeit
entsteht, wenn Arbeitskräfte (freiwillig oder unfreiwillig) ihren Arbeitsplatz wechseln und während der Suche nach einer neuen Beschäftigung ohne Arbeit sind.
Konjunkturelle Arbeitslosigkeit
ist die mittelfristig durch unterschiedliche Kapazitätsauslastungen oder säkulare Stagnationen verursachte Arbeitslosigkeit. Nach den Ursachenkomplexen wird zwischen der keynesianischen Arbeitslosigkeit (Ursache: zu geringe Nachfrage auf den Gütermärkten) und der
neoklassischen Arbeitslosigkeit (Ursache: zu hohes Lohnkostenniveau) unterschieden.
Strukturelle Arbeitslosigkeit
stellt für die Wirtschaftspolitik ein längerfristiges Problem dar. Strukturwandel ist eine typische Begleiterscheinung wirtschaftlichen Wachstums. Zu struktureller Unterbeschäftigung
kommt es, wenn Neuerungen in der Produktionstechnologie, Strukturverschiebungen in der
Güternachfrage und Veränderungen in demographischen Faktoren die quantitativen und
qualitativen Anforderungen an den Faktor Arbeit so verändern, daß Arbeitskräfte freigesetzt
werden.
Eine weitere Differenzierung der strukturellen Arbeitslosigkeit ist die Form der technologischen Arbeitslosigkeit, die dann vorliegt, wenn technologische Innovationen die unternehmerische Produktionsstruktur so verändern, dass mehr Arbeitskräfte freigesetzt als wieder beschäftigt werden.
Diese begrifflichen Unterscheidungen verschiedener Formen von Arbeitslosigkeit sind analytisch
sinnvoll. Jedoch ist es bisher nicht möglich, den quantitativen Umfang der unterschiedlichen
Formen auch nur hinreichend genau zu bestimmen. Indessen spricht vieles für die Vermutung,
dass die gegenwärtige Arbeitslosigkeit überwiegend strukturelle Gründe hat.
Arbeitslosigkeit kann in marktwirtschaftlichen Systemen nicht vollständig verhindert werden. Ein
bestimmter Umfang an Arbeitslosigkeit (Sockelarbeitslosigkeit) scheint unvermeidbar. Dies
kommt in der Formulierung des „hohen Beschäftigungsstandes“ zum Ausdruck. Die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger haben jeweils zu entscheiden, bis zu welchem Grad der Arbeitslosigkeit sie das BeschäftigungsDie goldenen sechziger Jahre auf dem Arbeitsmarkt waren
in allen Industrieländern durch eine ausgesprochen niedrige Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. In
den siebziger und vor allem achtziger Jahren stiegen überall die Arbeitslosenzahlen deutlich an,
und zwar in stufenweisen Schüben auf einem jeweils höheren Niveau. Dies wird als verfestigten Arbeitslosigkeit bezeichnet. Verfestigte Arbeitslosigkeit ist nicht konjunkturell bedingt, sondern eine langfristig bedingte strukturelle Arbeitslosigkeit. Sie schlägt sich vor allem in einer
markanten Zunahme der Langzeitarbeitslosigkeit nieder.
Selbst nach Phasen der Konjunkturerholung kehrte die Arbeitslosigkeit nie wieder auf ihr ursprüngliches Niveau zurück. Noch nicht einmal der durch die Wiedervereinigung ausgelöste
Nachfrageschub konnte die Unterbeschäftigung mildern. Hieraus muss man schließen, dass in
Deutschland besonders ausgeprägte Sperrklinkeneffekte existieren, die einen deutlichen
Rückgang der Arbeitslosigkeit selbst in wirtschaftlich guten Zeiten verhindern.
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
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Abbildung 15–9: Konjunkturelle und verfestigte Arbeitslosigkeit
Als grobe Orientierungen für das Ausmaß der langfristig verfestigten Arbeitslosigkeit gelten die
von der OECD berechneten NAIRU und NAWRU (Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment; Non-Accelerating Wage Rate of Unemployment). Das sind theoretisch berechnete
Arbeitslosenquoten, bei denen die Inflationsrate bzw. die Lohnsteigerungen gleich Null sind.
(Einzelheiten dazu folgen später.) Danach beträgt der Anteil der konjunkturellen Arbeitslosigkeit
in Deutschland inzwischen weniger als 20%. Der klar überwiegende Anteil ist verfestigte Arbeitslosigkeit.
15.2.4 Außenwirtschaftliches Gleichgewicht
Das außenwirtschaftliche Gleichgewicht wird insbesondere durch den Saldo der Leistungsbilanz
beschrieben. Deutschland hat im Außenhandel (Warenverkehr) traditionell einen hohen Überschuss, der durch die Defizite bei den Dienstleistungen und den laufenden Übertragungen nur
teilweise aufgezehrt wird. Nach den Defiziten im Zuge der Wiedervereinigung wird inzwischen
wieder ein Überschuss in der Leistungsbilanz erwirtschaftet.
• Ein positiver Außenbeitrag bedeutet inländische Beschäftigungsimpulse.
• Eine positive Leistungsbilanz bedeutet eine Zunahme des Auslandsvermögens.
Mit Überschüssen lässt sich wohl bequemer leben als mit Defiziten, gleichwohl sind negative
Auswirkungen (z.B. importierte Inflation) möglich. Vor allem aber ist zu bedenken, dass dauerhafte Überschüsse in einigen Ländern zwangsläufig Defizite in anderen Ländern bedeuten. Defizite verursachen dort Finanzierungsprobleme und verleiten zu protektionistischen Maßnahmen
zu Lasten eines freien Welthandels. Das Ziel eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts dient
in erster Linie der langfristigen internationalen Zusammenarbeit.
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
10
Abbildung 15–10: Leistungsbilanz Deutschland
Mrd. Euro
150
Dienstleistungen
100
Außenhandel
Leistungsbilanz
50
-50
2003
2001
1999
1997
1995
1993
1991
1989
1987
1985
1983
1981
1979
1977
1975
1973
1971
0
bis 1989 Früheres Bundesgebiet
15.3 Elementare Zielbeziehungen
15.3.1 Arten von Zielbeziehungen
Die gesamtwirtschaftlichen Ziele stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sie sind miteinander verknüpft. Wenn Ziele zueinander in Beziehung sind, kann es sich entweder um eine harmonische Zielbeziehung oder um einen Zielkonflikt handeln.
Zielharmonie liegt vor, wenn die Verbesserung bei einem Ziel auch den Erfüllungsgrad des
anderen Ziels verbessert.
Zielkonflikt bedeutet, dass ein Ziel nur verbessert werden kann zu Lasten eines anderen
Ziels (Opportunitätskosten).
Bei Zielkonflikten müssen Prioritäten gesetzt und Kompromisse eingegangen werden. Die Gewichtung und Rangordnung der Ziele erfolgt dabei je nach Interessenstandpunkt und historischer Erfahrung der Gesellschaft. Solche Entscheidungen sind politische Werturteile. In der
Praxis gilt meist jenen Zielen die größte Aufmerksamkeit, die in der jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Lage und in ihrer absehbaren Entwicklung am meisten gefährdet erscheinen. Das ist gegenwärtig nahezu weltweit das Beschäftigungsziel.
15.3.2 Wachstum und Beschäftigung
Die Verbindung zwischen Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung gilt als harmonische Zielbeziehung. Mit einer Zunahme der Produktion wird sich auch die Beschäftigungslage verbessern
– und umgekehrt. Allerdings muss das Wirtschaftswachstum einen Mindestwert überschreiten,
damit die Beschäftigung ansteigt. Dieser Wert heißt Beschäftigungsschwelle.
Die Beschäftigungsschwelle ist das Wirtschaftswachstum, das mindestens erreicht werden muss, damit die Beschäftigung zunimmt.
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
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Abbildung 15–11: Verdoorn-Beziehung Deutschland 1971 – 2004
6,0
%b = Produktivitätsfortschritt
(in %)
5,0
Lineare Regression:
%b = 0,5 %X + 0,6
4,0
3,0
2,0
1,2
1,0
0,0
-2,0
-1,0
0,0
1,2
1,0
-1,0
2,0
3,0
4,0
5,0
6,0
%X = Wachstumsrate Bruttoinlandsprodukt (in %)
Beschäftigungsschelle (VERDOORN-Gesetz)
Grundlage der empirischen Berechnungen ist die VERDOORN-Beziehung. Die Erfahrungen belegen einen positiven Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum (Ŷ) und Produktivitätsfortschritt (ê).
Symbole:
Ê = Veränderungsrate der Anzahl der Erwerbstätigen in %
ê = Veränderungsrate der Arbeitsproduktivität (pro Erwerbstätigen) in %
X̂ = Veränderungsrate des realen Bruttoinlandsprodukts in %
Wir unterstellen eine lineare Beziehung:
ê = m X̂ + c
Der Produktivitätsfortschritt (pro Erwerbstätigen) ist definiert als Differenz aus Wirtschaftswachstum (Ŷ) und Veränderungsrate der Erwerbstätigen (Ê):
ê = X̂ – Ê
Hieraus folgt für die Veränderungsrate der Erwerbstätigen:
Ê = (1 – m) X̂ – c
Die Beschäftigungsschwelle1 ist das Wachstum, bei dem Produktivitätsfortschritt und Wirtschaftswachstum übereinstimmen und die Anzahl der Erwerbstätigen unverändert bleibt (Ê = 0).
Beschäftig ungsschwel le : Ê =
c
1− m
1 Die Beschäftigungsschwelle kann unter Verwendung der Stundenproduktivität (a) auch für das Arbeitsvolumen (H) berechnet werden. Sie liegt wegen der Arbeitszeitverkürzung (h) oberhalb der ErwerbstätigenSchwelle.
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
12
Beispiel (Abbildung 15-11):
Aus den deutschen Jahresdaten 1971 – 2004 ergibt sich eine Schätzgerade (lineare Regression)
von: %a = 0,5 %X + 0,6. Das ergibt eine Beschäftigungsschwelle von 1,2. Erst bei einem Wirtschaftswachstum über als 1,2% werden mehr Erwerbstätige beschäftigt.
Die hier berechnete Beschäftigungsschwelle von 1,2% ist ein reiner Durchschnittswert für einen
langen Zeitraum und darf nicht unbesehen auf die aktuelle Konjunkturlage übertragen werden,
denn eine so gemessene Beschäftigungsschwelle gilt nur unter ganz bestimmten Konstellationen. Sie ist keine konstante Größe, sondern ändert sich im Zeitablauf. (Je nach Beobachtungszeitraum ergibt sich eine andere Regressionsgleichung mit anderen Parametern). Diverse empirische Untersuchungen zeigen ein deutliches Absinken der Beschäftigungsschwelle. Sie lag in
den Mitte der 70er Jahre noch bei etwa 3% und sank in 80er auf unter 1%. Nach einem zeitweiligen Anstieg in den 90er Jahren (Wiedervereinigung) wird sie derzeit wieder mit etwa 1% angegeben. Kernursache ist der geringere Produktivitätsfortschritt als Folge der Wachstumsschwäche. Weitere Bestimmungsgrößen sind die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere die
institutionellen Faktoren wie Kündigungsschutz und andere gesetzliche Rahmenbedingungen.
15.3.3 Beschäftigung und Inflation
Zwischen Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität wird im Allgemeinen ein Zielkonflikt unterstellt. Er heißt auch Phillips-Konflikt und kann durch eine Phillips-Kurve dargestellt werden.
Danach muss mehr Beschäftigung mit höherer Inflation „bezahlt“ werden. (Opportunitätskosten).
Das klingt plausibel: Wird die Wirtschaft angekurbelt, um die Beschäftigungslage zu verbessern,
steigt als Folge davon die Inflationsrate. Wird umgekehrt die Inflation durch eine Drosselung der
Wirtschaftstätigkeit bekämpft, so steigt wahrscheinlich die Arbeitslosigkeit. Beide Ziele scheinen
nicht gleichzeitig erreichbar.
Abbildung 15–12: Inflation und Arbeitslosigkeit
Inflationsrate
in %
8,0
1974
7,0
1981
6,0
1992
5,0
4,0
3,0
1997
2,0
1,0
1954
1959
1986
0,0
0,0
-1,0
1,0
2,0
3,0
4,0
5,0
6,0
7,0
8,0
9,0
10,0
11,0
12,0
13,0
Arbeitslosenquote in %
Allerdings wird diese Zielbeziehung ganz wesentlich beeinflusst von der Ausgangslage (nur Arbeitslosigkeit - nur Inflation - Inflation und Arbeitslosigkeit zugleich) und der Art der wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Außerdem scheint der Phillips-Konflikt − wenn überhaupt − nur kurzfristig bis allenfalls mittelfristig zu existieren. Längerfristige Untersuchungen liefern keinen be-
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
13
gründeten Nachweis für einen empirischen Zusammenhang zwischen Beschäftigungslage und
Geldwertstabilität. Dies bedeutet zugleich, dass über höhere Inflationsraten offenbar die Arbeitslosigkeit nicht nachhaltig zu bekämpfen ist.
15.3.4 Wachstum und Preisniveaustabilität
Die Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und Preisniveaustabilität ist nicht ganz eindeutig.
In mittelfristiger Betrachtung wird ein Produktionszuwachs umso eher Preissteigerungen verursachen, je höher der Auslastungsgrad der vorhandenen Kapazitäten ist (Zielkonflikt). Allerdings
wird eine sehr starke Inflation wohl die Funktionsweise der Wirtschaft schädigen und Wachstumseinbußen bewirken (Zielharmonie). Dagegen wird eine geringfügige Inflation in längerfristiger Betrachtung sehr oft sogar als „Schmiermittel“ des Wirtschaftswachstums angesehen (Zielkonflikt).
15.3.5 Außenwirtschaftliche Verflechtungen
Außerdem kommt es aufgrund der außenwirtschaftlichen Verflechtungen immer wieder zu internationalen Preis- und Beschäftigungsübertragungen. Ganz entscheidend für die Art und den
Umfang der Übertragungsmechanismen sind dabei der Typ des Ungleichgewichts (Überschuss
oder Defizit), die Prinzipien der Wechselkursbildung (feste oder flexible Wechselkurse) und internationale Zinsunterschiede. Eine national eigenständige Stabilisierungspolitik ist allenfalls bei
flexiblen Wechselkursen möglich. Bei festen Wechselkursen und engen Wirtschaftsverflechtungen, wie etwa innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, sind auch die Konjunkturverläufe der
beteiligten Länder eng miteinander gekoppelt.
15.4 Wirtschaftspolitische Konzeptionen
15.4.1 Ansatzpunkte
Die gedankliche Zerlegung der Wachstumswellen in einen Trend und in Schwankungen um diesen Trend lässt zwei unterschiedliche Ursachenkomplexe und auch zwei unterschiedliche Ansatzpunkte für wirtschaftspolitische Maßnahmen erkennen.
• Die Beeinflussung des Trends ist Anliegen der Wachstumspolitik. Hier geht es um die Höhe
des angemessenen Wirtschaftswachstums. Die Wachstumspolitik muß bei den Bestimmungsgründen des Produktionspotentials, also bei den Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital
und technischer Fortschritt ansetzen. Sie ist angebotsorientiert und langfristig ausgerichtet.
Wachstumspolitik ist dabei im Kern immer auch Strukturpolitik, denn Wirtschaftswachstum
ohne Strukturverschiebungen kann es nicht geben.
• Die Reduzierung der mittelfristigen Schwankungen gehört zum Anliegen der Konjunkturpolitik. Hier geht es um die Stetigkeit des Wachstums. Konjunkturpolitik ist weitgehend identisch
mit Stabilisierungspolitik. Sie muss bei den Bestimmungsgründen der Kapazitätsauslastung,
also bei der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ansetzen.
Aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage ergeben sich Wirkungen auf die Ziele
des „magischen Vierecks“. Diese gemeinsame Sicht von Trend und Schwankungen erklärt,
dass eine Verletzung der Ziele in der Regel auf beiden - und im Übrigen noch anderen - Ursachenbereichen beruhen kann. Ein Beitrag zu Erfüllung der gesamtwirtschaftlichen Ziele muss
daher gemeinsam geleistet werden
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
14
Abbildung 15–13: Wachstumszyklen: Trend und Schwankungen
• von der langfristig- und eher angebotsorientierten Strukturpolitik und
• von der mittelfristig- und eher nachfrageorientierten Stabilisierungspolitik
Beispiel:
Arbeitslosigkeit hat ihre Ursachen in einer Konjunkturschwäche (konjunkturelle Arbeitslosigkeit)
und einer Wachstumsschwäche (strukturelle Arbeitslosigkeit). Hinzu kommen noch weitere Ursachen (z.B. saisonale Arbeitslosigkeit). Die strukturelle Arbeitslosigkeit dürfte gegenwärtig wohl die
Hauptkomponente sein. Dann können die Instrumente der Konjunkturpolitik allein auch wenig
ausrichten. Hier sind zusätzlich langfristig orientierte Maßnahmen erforderlich, um den hohen Sockelbetrag abzubauen.
Beide Bereiche sind im Übrigen eng miteinander verzahnt. Dies zeigt sich besonders deutlich
am dualen Charakter der Investitionen:
• Die Nachfrage nach Investitionsgütern ist Bestandteil der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage.
Investitionsgüter müssen zunächst produziert werden. Aufträge erhöhen die Beschäftigung
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
15
und damit das Einkommen (Löhne und Gewinne). Kurz: Investitionen haben kurz- und mittelfristig (während der Produktion) einen Einkommenseffekt.
• Investitionen erhöhen langfristig das Produktionspotential. Sie haben (nach der Fertigstellung) einen Kapazitätseffekt. Es kann anschließend mehr produziert werden.
Die Investitionen können als „Nahtstelle“ zwischen Konjunktur und Wachstum und als gleichermaßen wichtiger Ansatzpunkt sowohl der Struktur- wie auch der Stabilisierungspolitik angesehen werden.
15.4.2 Konjunkturtheorien
Die Erklärung konjunktureller Schwankungen, also die Beantwortung der Frage, warum die Produktionstätigkeit regelmäßigen Schwankungen unterworfen ist, gehört zur Aufgabe der Konjunkturtheorie.
Vergleichsweise gut erklärbar sind die im Aufschwung und Abschwung wirksamen dynamischen
Prozesse. Analytische Ansatzpunkte sind konjunkturelle Verstärkerprozesse (MultiplikatorAkzelerator-Modelle) oder auch Lagerzyklen. Besondere Schwierigkeiten bereitet demgegenüber die Erklärung der Umkehrprozesse vom Aufschwung in den Abschwung und umgekehrt.
Hier existiert eine Fülle verschiedener Ansätze. Sie reichen von natürlichen Schwankungen
(Sonnenflecken) bis hin zur psychologischen Erklärung. Als Auslöser von Konjunkturschwankungen werden ökonomische Schocks, finanz- oder geldpolitische Maßnahmen sowie politische
Zyklen diskutiert.
Die zahlreichen unterschiedlichen Konjunkturtheorien legen die Vermutung nahe, dass es eine
einfache (monokausale) Erklärung kaum geben dürfte. Wahrscheinlich beruhen die Konjunkturschwankungen bzw. Wachstumswellen auf dem Zusammenwirken sehr vieler Faktoren.
Theoretische Erklärungen von Konjunkturschwankungen sind keine rein akademischen Übungen, sondern haben erhebliche Konsequenzen für die praktische Wirtschaftspolitik. Wenn also
heute die verschiedenen Schulen der Volkswirtschaftslehre unterschiedliche Erklärungsansätze
favorisieren, führt das auch zu unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Empfehlungen und Konzepten.
Die beiden großen Instrumentbereiche der staatlichen Wirtschaftspolitik sind die Fiskalpolitik
und die Geldpolitik. Sie können im Hinblick auf Wachstum, Beschäftigung und Geldwertstabilität
mit unterschiedlicher Orientierung eingesetzt werden.
Instrumentbereich:
Fiskalpolitik oder Geldpolitik?
Ansatzpunkte:
Nachfrage oder Angebotsbedingungen?
Mitteleinsatz:
diskretionär oder verstetigt?
Fristigkeit:
kurzfristig oder mittelfristig?
In der Wirtschaftstheorie und auch in der Wirtschaftspolitik kann man diverse unterschiedliche
Ansichten erkennen, die sich fast immer zwei großen Lagern zuordnen lassen. Sie unterscheiden sich auch in der Ansicht, bei welchem Instrumentbereich der Schwerpunkt der staatlichen
Stabilisierungspolitik angesiedelt sein sollte:
• Fiskalisten (Keynes und Neokeynesianismus)
• Monetaristen ((Klassik, Neoklassik und Neoliberalismus)
Angesichts der vielfältigen Positionen, Kombinationsmöglichkeiten und Zwischenstufen fällt eine
Systematik nicht immer leicht. Insofern kann diese Zweiteilung der Standpunkte auch nicht allen
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
16
„gemischten“ Positionen gerecht werden. Sie erleichtert aber die Orientierung, wenn in der praktischen Politik bestimmte Forderungen nach staatlichen Maßnahmen erhoben werden.
Der Ursprung der beiden Positionen liegt letztlich in einem unterschiedlichen Vertrauen in die
Selbstregulierungsfähigkeit einer Marktwirtschaft. Dahinter steht auch die alte und immer wieder
aktuelle Kontroverse, ob die Ursachen einer Arbeitslosigkeit eher in zu hohen Löhnen oder eher
in einer fehlenden Güternachfrage zu suchen sind. Hieraus ergeben sich dann gegensätzliche
Strategien einer makroökonomischen Steuerung marktwirtschaftlicher Prozesse.
15.4.3 Keynesianismus – Nachfrageorientierung
Die Klassiker kannten zwar schon das Phänomen konjunktureller Schwankungen, sie erklärten
diese aber mit singulären Ereignissen (Schocks) wie Missernten oder dem Platzen von Spekulationsblasen. Exogene Schocks können sicherlich konjunkturelle Talfahrten auslösen. Jüngere
Beispiele sind etwa die Schockwellen aufgrund der Ölpreise oder Energiepreise überhaupt.
Die klassische Theorie der Marktwirtschaft ging allerdings davon aus, dass die Selbstheilungskräfte auf allen Märkten stets für ein Gleichgewicht sorgen. Auch auf gesamtwirtschaftlicher
Ebene, so glaubte man, würde sich auf den Güter-, Geld- und Arbeitsmärkten jeweils ein
Gleichgewicht einstellen. Insbesondere auf dem Arbeitsmarkt herrschte dann bei flexiblen Löhnen stets Vollbeschäftigung. Staatliche Eingriffe erscheinen überflüssig oder gar schädlich.
Die Einsicht, dass marktwirtschaftliche Systeme zu Instabilitäten und systematischen Fehlentwicklungen neigen und der Staat deshalb die Wirtschaftsentwicklung stabilisieren muss, geht
zurück auf die Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren, wo es offenkundig die Selbstheilungskräfte des Marktes nicht vermochten, die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen. Hier liegt auch
die Geburtsstunde des Keynesianismus.
Aufgrund der Weltwirtschaftskrise wurden die Vorschläge der klassischen Ökonomie als wirkungslos wenn nicht gar kontraproduktiv angesehen, dem Staat konjunkturpolitische Abstinenz
zu empfehlen und einen stabilen, ausgeglichenen Staatshaushalt anzustreben. Das lag zwar
auch an Fehlentscheidungen wie z. B. dem vermehrten Protektionismus, der den Handel zusammenbrechen ließ, sowie den durch Reparationsforderungen verstärkten Problemen in
Deutschland, mit Auswirkungen auch auf andere Länder, aber das änderte nichts an einem
schwindenden Vertrauen in eine fiskalisch konservative Wirtschaftspolitik. Ein Musterbeispiel für
eine solche Politik war in Deutschland die Brüning'sche Sparpolitik. Stattdessen führten die Erfolge insbesondere einiger militaristischer Länder bei der Überwindung der Krise durch verstärkte staatliche Ausgaben für Rüstung und Infrastruktur dazu, dass die Ideen des Keynesianismus
mehr und mehr an Bedeutung gewannen, der Staat müsse durch staatliche Ausgabenprogramme wirtschaftliche Ungleichgewichte kompensieren. In den USA kam es unter Präsident Franklin D. Roosevelt zum New Deal, einem staatlichen Investitionsprogramm, mit dessen Hilfe es
gelang, die Wirtschaft wieder zu stabilisieren.
Keynesianer (Fiskalisten) verstehen Konjunkturen als Ausdruck temporärer Ungleichgewichte
auf den Märkten („Unterkonsumtion" oder „Überinvestitionen"). Da Marktungleichgewichte
bzw. Strukturkrisen für Rezessionen verantwortlich gemacht werden, kann der Staat durch eine antizyklische Fiskalpolitik die Wirkungen konjunktureller Schwankungen abmildern (nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik).
Angesichts des „Wirtschaftswunders“ in den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland war
aufgrund der marktwirtschaftlichen Erfolge die Notwendigkeit einer staatlichen Konjunkturpolitik
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
17
durch Globalsteuerung wiederum umstritten. Erst 1967, nachdem sich erste Spuren einer dauerhaften Unterbeschäftigung zeigten, fand das keynesianische Gedankengut der antizyklischen
Fiskalpolitik mit dem „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“
(kurz: Stabilitätsgesetz, StabWG Eingang in die deutsche Wirtschaftspolitik.).
Prinzip der antizyklischen Fiskalpolitik
Fiskalpolitik (fiscal policy) bezeichnet den Einsatz staatlicher Einnahmen und Ausgaben zur
Verwirklichung der gesamtwirtschaftlichen Ziele. Träger sind in erster Linie Bund und Länder,
aber auch die Gemeinden. In Abhängigkeit von der jeweiligen Lage werden die Instrumente zur
Stimulierung oder Drosselung der Nachfrage eingesetzt.
Antizyklische Fiskalpolitik ist die Stabilisierung konjunktureller Schwankungen durch die Einnahmen und Ausgaben des Staates (öffentliche Haushalte, Budgetpolitik).
Ein Boom ist durch eine überschüssige Nachfrage bei hoher Kapazitätsauslastung und Preisniveausteigerungen gekennzeichnet. Ziel ist also die Nachfragedämpfung. Dies kann der Staat mit
seinen Einnahmen und Ausgaben erreichen:
• Eine Erhöhung der Staatseinnahmen (Steuern) reduziert das privat verfügbare Einkommen
und damit die private Ausgabenfähigkeit (Konsumausgaben und Investitionsausgaben). Hierbei ist zu bedenken, dass eine Verringerung der privaten Konsum- und Investitionsgüternachfrage nicht eintritt, wenn bei hoher Ausgabenneigung die privaten Haushalte und Unternehmen zusätzliche Kredite aufnehmen oder Ersparnisse auflösen. (Hier sind entsprechende
geldpolitische Maßnahmen erforderlich: Verknappung und Verteuerung des Geldes.)
• Eine Reduzierung der Staatsausgaben bedeutet unmittelbarer Nachfrageausfall.
Hieraus folgt: Der Staat muss im Boom seine Ausgaben senken und seine Einnahmen erhöhen,
also Budgetüberschüsse bilden. Diese überschüssigen Gelder müssen aus dem Wirtschaftskreislauf entfernt und bei der Zentralbank stillgelegt werden, indem entweder Kredite (vorzeitig)
zurückgezahlt (getilgt) oder überschüssige Mittel in einer Konjunkturausgleichsrücklage angesammelt werden.
Eine Rezession ist durch eine im Vergleich zum gesamtwirtschaftlichen Produktionspotential zu
geringe Nachfrage gekennzeichnet. Die Kapazitäten sind unterausgelastet, und die Arbeitskräfte
sind unterbeschäftigt. Ziel ist also die Nachfragesteigerung. Dies kann der Staat mit seinen Einnahmen und Ausgaben erreichen (analog zum Boom, nur mit entgegen gesetzten Vorzeichen):
• Senkung der Staatseinnahmen (Steuersenkung),
• Erhöhung der Staatsausgaben.
Hieraus folgt: Zur Ankurbelung der Wirtschaft wird ein Budgetdefizit1 finanziert durch Kreditaufnahme bzw. durch Entnahme aus der Konjunkturausgleichsrücklage (= deficit spending).
Probleme der antizyklischen Fiskalpolitik
Die Instrumente für eine antizyklischen Fiskalpolitik stehen in Deutschland mit dem Stabilitätsgesetz zur Verfügung. Warum ist es dann in der Praxis offenbar so schwierig, die Konjunktur zu
1 In einer wachsenden Wirtschaft und bei dem hohen Niveau der Staatsverschuldung handelt es sich nicht um
Überschüsse im eigentliche Sinne, sondern um die Senkung der Nettokreditaufnahme, mindestens aber um
eine Reduzierung der Zuwachsraten der Staatsverschuldung.
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
18
dämpfen oder anzukurbeln? Warum gibt es überhaupt noch Arbeitslosigkeit und Inflation? Tatsächlich ergeben sich bei dieser Art der Stabilisierungspolitik einige Probleme.
Die drei Kernprobleme der antizyklischen Fiskalpolitik sind zeitliche Verzögerungen, die
asymmetrische politische Praxis (Staatsverschuldung) und der Zielkonflikt zwischen Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität.
Entscheidungen über Art, Richtung und Stärke der Maßnahmen müssen bei der antizyklischen
Fiskalpolitik fallweise getroffen werden (= diskretionäre Politik). Direktes, schnelles und rechtzeitiges Handeln sind damit entscheidende Voraussetzungen für ein wirksames Gegensteuern.
Hier treten nun allerdings verschiedene Handlungs- und Wirkungsverzögerungen (time lags)
auf.
Es ist eine bekannte Tatsache, dass über die richtige Konjunkturdiagnose (Wo befinden wir
uns?) und vor allem die Konjunkturprognose (Geht es aufwärts oder abwärts?) nicht nur die Politiker streiten, sondern auch die Konjunkturforschungsinstitute häufig unterschiedlicher Meinung
sind. So kann zwischen Eintreten und Erkennen der Lage eine gewisse Zeit verstreichen. Hinzu
kommen weitere Verzögerungen bis zum Beschluss und Einsatz von Maßnahmen und schließlich deren Wirkungen. Selbst wenn Schubladenprogramme fertig sind, so vergeht viel Zeit, bis
die ersten Gelder ausgegeben werden und im Kreislauf ihre Wirkungen entfalten können.
Pessimisten rechnen mit einer zeitlichen Verzögerung von der Diagnose bis hin zur Wirkung von
mehr als zwei Jahren. Dies würde bei einem vierjährigen Zyklus bedeuten, dass der Staat,
selbst wenn er in guter Absicht antizyklische Fiskalpolitik betreiben möchte, tatsächlich prozyklisch (= konjunkturverstärkend) handelt. Er schaukelt gleichsam wie bei einer Kinderschaukel
gerade zum falschen Zeitpunkt an, die Ausschläge werden größer. Wenn dies stimmt – es ist
umstritten – hilft nur ein Rezept: Verzicht auf eine antizyklische Fiskalpolitik und Suche nach
neuen Wegen (Verstetigung der Staatseinnahmen und -ausgaben? Geldpolitik?).
Um die Gefahr zeitlich falscher fiskalpolitischer Entscheidungen zu beseitigen und die time lags
zu verkürzen, wird häufig gefordert, die diskretionäre Politik durch eine automatisierte Steuerung
zu ersetzen. Hier ergeben sich dann ganz andere Probleme. Insbesondere ist die Frage unbeantwortet, an welche Kriterien der Automatismus gebunden sein soll. Ein Konjunkturindikator allein (z.B. Beschäftigung oder Inflation) ist wohl nicht geeignet.1
Zweitens lässt sich zwischen dem Einsatz expansiv und kontraktiv wirkender Instrumente gewisse Asymmetrie feststellen. Da die Mengeneffekte (Erhöhung von Produktion und Beschäftigung) vorauseilen, ist der Erfolg bei expansiver Politik bereits nach kurzer Dauer sichtbar. Umgekehrt stellt sich aber auch bei kontraktiver Fiskalpolitik der unerwünschte Mengeneffekt vor
dem eigentlich angestrebten Preiseffekt ein. So sinken zuerst die Produktion und die Beschäftigung bevor die Inflationsrate fällt. Daraus resultieren die Schwierigkeiten öffentlicher Durchsetzung kontraktiver Politik und es kommt in der praktischen Wirtschaftspolitik ebenfalls zu einer
Asymmetrie.
Politiker waren nicht bereit, die in der Rezession erlassenen Ausgabenprogramme wieder abzuschaffen, wie dies nach dem Konzept der antizyklischen Politik erforderlich gewesen wäre. Auch
der in besseren Zeiten notwendige Schuldenabbau fand nicht statt, was stufenweise die langfris-
1 Eine gewisse automatische Gegensteuerung ist in einigen Staatsausgaben bereits „eingebaut“. So nehmen
beispielsweise die Arbeitslosengelder und Sozialausgaben in der Rezession automatisch zu. Wenn allerdings
diese Zusatzausgaben angesichts begrenzter staatlicher Finanzmittel durch anderweitige Einsparungen gewonnen werden, ist es nur eine Ausgabenverlagerung ohne zusätzliche Nachfrageimpulse.
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
19
tigen Belastungen der öffentlichen Haushalte durch Tilgung und Zinsen in die Höhe trieb und ihre Handlungsfähigkeit erheblich einschränkte. Ausgabenprogramme sind eben populärer als
Sparprogramme.
Teilweise führten die staatlichen Ausgaben auch zu einer dauerhaften Verlangsamung der notwendigen Anpassung der Wirtschaft an sich verändernde Märkte. Außerdem verloren die staatlichen Ausgaben immer mehr an Effizienz. Das alles zusammen sind einige Ursachen der deutschen Wachstumsschwäche und der hohen Sockelarbeitslosigkeit.
Drittens ist das Problem des Zielkonfliktes zwischen Vollbeschäftigung und Inflation mit der antizyklischen Fiskalpolitik ungelöst. Das Instrumentarium der antizyklischen Fiskalpolitik ist sicherlich geeignet, eine Unterbeschäftigung kurzfristig zu bekämpfen. Dazu ist es auch konzipiert.
Doch der Preis dafür ist ein Anstieg der Inflation – dies Problem stand in den 30er Jahren nicht
im Vordergrund. Dieser Zusammenhang (Phillipskurve) mit den daraus folgenden Konsequenzen ist ind der theoretischen und praktischen Wirtschaftspolitik zwischen Fiskalisten und Monetaristen heftig umstritten.
15.4.4 Monetarismus - Angebotsorientierung
Die Konsequenz dieser Schwierigkeiten der antizyklischen Fiskalpolitik sollte nicht zum Schluss
verleiten, sie sei für stabilisierungspolitische Zwecke absolut unbrauchbar. Es erklärt aber, warum dieses Instrumentarium in dieser Form seit längerer Zeit faktisch nicht mehr angewendet
wird. Es erklärt auch die Suche nach anderen Instrumenten (Geldpolitik) und einer längerfristigen Wachstumsorientierung (angebotsorientierte Wirtschaftspolitik). und die Wiederbelebung
klassischer Ideen in Gestalt der Neoklassik bzw. des Neoliberalismus.
Monetaristen (Neoliberale) verstehen Konjunkturen als die Folge von staatlichen Eingriffen in
den Wirtschaftskreislauf. Insofern empfehlen sie der Finanz- wie der Geldpolitik konjunkturpolitische Verstetigung oder sogar Enthaltsamkeit. Die Politik soll besser festen Regeln folgen,
Eingriffe in den Markt möglichst vermeiden und das langfristige Wachstum durch Verbesserung der Produktions- und Leistungsbedingungen fördern.
Markt und Staat
Die Wurzeln der monetaristischen Konzeption liegen in den klassischen Ideen zur Funktionsweise der Marktwirtschaft. Die Keynessche Theorie verstand sich als „Revolutionierung“ der
klassischen Theorie. Bereits Anfang der 60er Jahre ist dagegen die monetaristische „Gegenrevolution“ eingeleitet worden. Diese neoklassische Position ist von ihrem grundsätzlichen Glauben an die Selbstheilungskräfte des Marktes geprägt. Auch gesamtwirtschaftliche Prozesse sind
stabil, und Störungen werden durch den Marktmechanismus kompensiert, wenngleich der Anpassungsprozeß zum Gleichgewicht durchaus einen längeren Zeitbedarf erfordert.1
Die wirtschaftspolitische Konsequenz lautet dementsprechend, dass der Staat seine destabilisierenden antizyklischen Interventionen zurücknehmen muss. Wichtiger ist die Konstanz des
wirtschaftspolitischen Rahmens in Gestalt einer längerfristig orientierten Strategie, wobei die
makroökonomische Steuerung primär über die Geldpolitik erfolgen soll.
1 In einer extremen Position werden die Ursachen für die in der Realität auftretenden gesamtwirtschaftlichen
Instabilitäten sogar der diskretionären staatlichen Wirtschaftspolitik zugeschrieben.
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
20
Arbeitslosigkeit und Löhne
Die Hauptursache für den tiefen Einbruch bei Wachstum und Beschäftigung seit der Mitte der
70er Jahre lokalisieren die Vertreter der neoklassisch-liberalen Position in einer tief greifenden
Störung der Angebotsbedingungen. Für die Unternehmen wurde es immer weniger rentabel, zusätzliche Investitionen durchzuführen, die Produktion zu steigern, neue Produkte zu entwickeln
und neue Märkte zu erschließen – sowie zusätzliche Arbeitskräfte einzustellen.
Betont wird der Kostencharakter der Löhne und Gehälter. Eine expansive Lohnpolitik nimmt wenig Rücksichten auf die Kostensituation der Unternehmen im nationalen und internationalen
Wettbewerb. Schrumpfende Gewinne führen zu Produktionseinschränkungen und Produktionsverlagerungen an günstigere Standorte (im Ausland). Insofern ist die Kernursache der
Arbeitslosigkeit das zu hohe Lohnniveau.
Ursache der neoklassischen Arbeitslosigkeit ist eine Verschlechterung der allgemeinen Angebotsbedingungen mit einem zu hohen Lohnniveau.
Langfristige Angebotsbedingungen
Nicht fehlende Nachfrage, sondern unbefriedigende Rentabilitätsaussichten sind die Ursachen
der Wachstumsrückgänge. Insbesondere werden folgende Entwicklungsstörungen identifiziert:
• Die expansive Lohnpolitik, die mit Lohnsteigerungen über den Produktivitätsfortschritt hinaus
mit dem Ziel der Anhebung der Lohnquote zu Lasten der Gewinnquote betrieben wurde.
• Arbeitszeitverkürzungen ohne entsprechende Lohnverzichte,
• Anhebung der unteren Lohngruppen, Durchsetzung von Sockelbeträgen und Entlohnung von
Problemgruppen,
• Ausweitung der Staatsquote zu Lasten der privatwirtschaftlichen Aktivitäten,
• Zunahme der Staatsverschuldung,
• Ein Steuersystem, das Leistungen hemmt und die investive Verwendung von Einkommen
nicht hinreichend unterstützt.
Eine auf Vollbeschäftigung ausgerichtete Wirtschaftspolitik muss bei diesen langfristigen Angebotsbedingungen ansetzen. Insbesondere ist ein investitionsfreundliches Klima durch geeignete staatliche Rahmenbedingungen und durch ein leistungsförderndes Steuersystem zu
schaffen. Vor allem leistet die Förderung der privaten Forschung und Entwicklung einen wesentlichen Beitrag zum notwendigen Strukturwandel. Weil privatwirtschaftliche Produktion bei
vielen derzeit noch öffentlichen Leistungen kostengünstiger und effizienter erfolgen kann, ist Privatisierung und Deregulierung angebracht.
Die Nachfragesteuerung ist von untergeordneter Bedeutung. Sie kann allenfalls eine ergänzende Rolle spielen, um den Weg zur Wachstumsbeschleunigung und Beschäftigungszunahme
abzukürzen. Die Freisetzung der Aufschwungkräfte muss über die Angebotsbedingungen kommen.
Verstetigte Geldpolitik
Monetaristen unterstellen eine enge Beziehung zwischen der Geldmenge einerseits und Produktion und Preisniveau andererseits. Nicht von fiskalpolitischen Maßnahmen, sondern von Veränderungen der Geldmenge gehen daher längerfristig die entscheidenden Impulse auf die makroökonomischen Größen aus. Wenn aber monetäre Impulse das Produktionsvolumen stärker beeinflussen als fiskalische Anstöße, ist auch der Geldpolitik die dominierende Stellung bei der Si-
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
21
cherstellung einer störungsfreien Wirtschaftsentwicklung einzuräumen. Allerdings muss die zyklusorientierte durch eine trendorientierte Politik ersetzt werden. Geldpolitische und erst recht fiskalpolitische Maßnahmen diskretionärer Art müssen unterbleiben, um die Stabilität des marktwirtschaftlichen Systems nicht zu behindern.
Eine auf den langfristigen Entwicklungstrend des Produktionspotentials ausgerichtete Geldpolitik schafft die monetären Rahmenbedingungen für eine Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Prozesse durch die Marktkräfte.
Die – bereits von der Deutschen Bundesbank begonnene und von der Europäischen Zentralbank fortgesetzte – potentialorientierte Geldmengenpolitik entspricht dieser Verstetigungsabsicht: Die jährliche Erhöhung der Geldmenge orientiert sich am realen Produktionspotential und
an der akzeptierten Inflationsrate in der Größenordnung von 2%. Preisniveauanstieg.
Die monetaristische Position ist insgesamt dadurch gekennzeichnet, dass die Stabilisierung der
gesamtwirtschaftlichen Prozesse in erster Linie durch eine verstetigte Wirtschaftspolitik erfolgt,
die auf die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für das Angebot abzielt. Die Hauptlast
liegt bei der längerfristig orientierten, verstetigten Geldpolitik mit dem zentralen Anliegen der
Geldwertstabilität. Fiskalpolitik hat allenfalls eine kurzfristig stützende Funktion.
VWL 15: Konjunktur und Wachstum
22
Wiederholungsfragen
1. In welche beiden Komponenten kann man „Wachstumswellen“ gedanklich zerlegen?
2. Nennen Sie die vier gesamtwirtschaftlichen Ziele des „Stabilitätsgesetzes“ und die entsprechenden Maßgrößen.
3. Welche Formen der Unterbeschäftigung werden in der Arbeitslosenquote nicht berücksichtigt?
4. Welche Arten (Ursachen) der Unterbeschäftigung kann man unterscheiden?
5. Ist in einer Marktwirtschaft auch eine Arbeitslosenquote von Null erreichbar?
6. Was bezeichnet die „verfestigte Arbeitslosigkeit“ in Deutschland?
7. Welche Zielbeziehungen im Magischen Viereck dienen üblicherweise als Beispiele für
Zielharmonie und Zielkonflikt?
8. Was besagt die „Beschäftigungsschwelle“?
9. Erläutern Sie den „Phillips-Konflikt“.
10. Warum haben Investitionen einen „dualen“ Charakter?
11. Welche strategischen Orientierungen kann man im Hinblick auf die gesamtwirtschaftlichen Ziele unterscheiden?
12. Ein Kunststoff verarbeitendes Unternehmen plant für die Fertigung von Zahnrädern eine
neue Werkshalle mit den entsprechenden Einrichtungen. Erläutern Sie an diesem Beispiel ganz konkret den dualen Charakter von Investitionen.
13. Erläutern Sie das Prinzip und die Probleme einer „antizyklischen Fiskalpolitik“.
14. Wie kann man begründen, dass eine antizyklische Fiskalpolitik tatsächlich die Konjunkturausschläge noch weiter verstärken kann?
15. Nennen Sie die wichtigsten Merkmale des Keynesianismus.
16. Nennen Sie die wichtigsten Merkmale des Monetarismus.
17. In Deutschland wird immer wieder ein Ausgabenprogramm zur Ankurbelung der Wirtschaft gefordert. Welche wirtschaftspolitische Konzeption kommt darin zum Ausdruck?
18. In einer unterausgelasteten Wirtschaft mit hoher Arbeitslosigkeit spielt das Lohnniveau
eine wichtige Rolle. Wie sollte die Lohnpolitik nach keynesianischer und nach neoklassischer Konzeption gestaltet werden, damit Arbeitslosigkeit abgebaut wird? Wie beurteilen
Sie die beiden Konzeptionen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aus der Sicht der Gewerkschaften und aus der Sicht der Unternehmen?
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