Islamische Rechtsschulen und Erkenntnislehre - Al

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Zur
Methodologie
der
Interpretation
heiliger Quellen
Igtihad
Islamische Rechtsschulen und
Erkenntnislehre (Methodologie)
Die Interpretation von Schrift und Sunna
S. A. Hosseini Ghaemmaghami*
Zunächst muss man wissen, dass es
ungeachtet der Existenz unterschiedlicher islamischer Rechtsschulen, im Hinblick auf ihre
grundlegenden islamischen Prinzipien und muslimischen Maßstäbe
(d. h. Muslim zu sein) zwischen
diesen Rechtsschulen nicht die geringsten Unterschiede gibt.
Jede Religion setzt sich aus einer
Menge von Glaubensinhalten und
heiligen Begriffen, besonderen religiösen Zeremonien und Anbetungen
zusammen, und neben den Überzeugungen und Anbetungen gibt es
in der Regel einen besonderen heiligen Ort, in dem Gottesdienste stattfinden.
Die größten Gemeinsamkeiten der
islamischen Rechtsschulen
Der Islam besteht wie die anderen
Religionen aus dem Glauben, der die
Hauptsubstanz der islamischen Theologie ausmacht. Der Glaube an die
Einzigkeit Gottes, an Seinen Propheten Muhammad (s.a.s.) und den
Qur’an, das Wort Gottes, das Mu-
hammad offenbart wurde, und der
Glaube an den Tag der Auferstehung
und das Jenseits sind die Hauptprinzipien der islamischen Theologie.
Jeder, der an diese Prinzipien glaubt,
ist ein „Muslim“, ohne dass es einer
weiteren Voraussetzung bedarf. Die
genannten Grundlagen werden von
allen islamischen Rechtsschulen
vorbehaltlos akzeptiert, und folglich
sind die Hauptprinzipien der islamischen Theologie allen Muslimen
gemeinsam. Aber die Gemeinsamkeiten und der Konsens der islamischen
Rechtsschulen ist nicht darauf begrenzt, sondern ungeachtet ihrer
pluralistischen Struktur weisen sie
auch hinsichtlich des Gebetes und
der islamischen Zeremonien viele
Gemeinsamkeiten auf. Das rituelle
Gebet, das Fasten, die Pilgerfahrt und
die Almosenspende gelten als die
wesentlichen Gottesdienste der Muslime, und sie werden von allen islamischen Rechtsschulen gleichermaßen akzeptiert. Aus diesem Grunde
sind die Gemeinsamkeiten und die
Einheit der Muslime so tiefgründig,
so dass sie nicht nur in der islamischen Theologie, sondern auch was
ihre religiösen Zeremonien, Gebete
und die Art der Anbetungen anbelangt, sehr viele Gemeinsamkeiten
aufweisen. Darüber hinaus ist ihnen
der Ort der Anbetung, nämlich die
Moschee, gemeinsam. Es gibt kaum
Unterschiede zwischen schiitischen
und sunnitischen Moscheen. Im
Grunde ist die Unterteilung in sunnitische und schiitische Moscheen
falsch und widerspricht dem Sinn
von Qur’an und Sunna. Im Islam ist
die Bedeutung der Moschee an sich
wichtig, ungeachtet dessen, welche
Gruppe von Muslimen eine Moschee
erbaut hat. Das Gebet in der Moschee
hat einen besonderen Gotteslohn und
einen ungleich höheren Wert, und
folglich ist es völlig bedeutungslos,
ob Sunniten oder Schiiten eine Moschee erbaut haben.
Die Interpretation der heiligen Quellen im Islam
Die Interpretation der heiligen Quellen ist das wichtigste Thema, mit
dem die Anhänger der Religionen
nach dem Ableben der Gründer der
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Religionen konfrontiert sind. Der
Fortbestand und die Existenz einer
jeden Religion hängen von der Interpretierbarkeit ihrer heiligen Quellen
ab. In der Regel gibt es unter den
Anhängern aller Religionen immer
einige, die sich gegen jede Art der
Interpretation der heiligen Quellen
verwehren und daran glauben, dass
man nur das Äußerliche der Religion
praktizieren soll und keinerlei Interpretation und Exegese bedarf.
Sicherlich ist eine solche Meinung
theoretisch und praktisch unmöglich,
denn sie impliziert, dass ein historischer Ausschnitt der Vergangenheit
der Geschichte und der Menschheit
insgesamt aufgezwungen werden
soll, und das ist - selbst wenn es theoretisch vorstellbar wäre - unmöglich
realisierbar.
Die Mehrheit der Muslime
und
die
verschiedenen
Rechtsschulen sind davon
überzeugt, dass die heiligen
islamischen Quellen, d. h.
der Heilige Qur’an und die
Sunna, also die Aussagen
und Verhaltensweisen des
Propheten,
interpretierbar
sind, und dass diese Lehre
ohne Interpretation nicht
praktikabel ist.
Auch unter den Muslimen gab und
gibt es einige, deren Glaubensauffassung keine Veränderungen in der
religiösen Begrifflichkeit zulässt. Sie
glauben, dass das Äußerliche der
Religion ohne jegliche Veränderung
praktiziert werden soll und keiner
Interpretation bedarf. Eines der wesentlichen Probleme in religiösen
Gesellschaften sind genau die Menschen, die nur dem Äußerlichen der
Religion Aufmerksamkeit schenken.
Aber die Mehrheit der Muslime und
die verschiedenen Rechtsschulen
sind davon überzeugt, dass die heiligen islamischen Quellen, d. h. der
Heilige Qur’an und die Sunna, also
die Aussagen und Verhaltensweisen
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des Propheten, interpretierbar sind,
und dass diese Lehre ohne Interpretation nicht praktikabel ist.
Hier wird deutlich, wie weitreichend
die Gemeinsamkeiten der islamischen Rechtsschulen sind, und der
Grund hierfür ist die Akzeptanz der
Interpretierbarkeit der heiligen Quellen von der Mehrheit der Muslime.
Der Qur’an selbst hebt deutlich hervor, dass einige Verse mittels anderer
interpretiert werden müssen. Wenn
manche Verse im Gegensatz dazu
nicht interpretiert werden, so ist das
die Ursache für Irregehen und Verderben. Das ist eine Besonderheit
und ein positiver Aspekt des Heiligen
Qur’an.
Der wesentliche Unterschied zwischen den Rechtsschulen manifestiert
sich in der Methodologie der Interpretation des Qur’an. Hier stellt sich
die Frage, was den Maßstab und die
Grundlage der Interpretation ausmacht und inwieweit der Heilige
Qur’an interpretierbar ist.
Vernunftbetonte Interpretation der
islamischen Quellen
Der wesentliche Aspekt im Hinblick
auf die Interpretation der heiligen
islamischen Quellen ist die Beachtung und Betonung des Prinzips
„Vernunft“ beim Verstehen und Interpretieren der Quellen. Die heiligen
Quellen, vor allem der Qur’an, sprechen zum Menschen, und es versteht
sich von selbst, dass dabei die
menschliche Vernunft angesprochen
wird. Deshalb beruht jedes Verstehen
der Offenbarung auf der Vernunft
und der Kenntnis der Vernunft. Aus
diesem Grund stellt die Vernunft bei
der schiitischen Methode der Interpretation den Hauptmaßstab dar.
Jede Art von Interpretation des Heiligen Qur’an und der Sunna, die dem
Urteil der Vernunft widerspricht und
von der Vernunft nicht akzeptiert
wird, ist falsch und abzulehnen.
Grundsätzlich liegt eine Möglichkeit,
die Richtigkeit der Überlieferungen
vom Propheten und den anderen
religiösen Vorbildern festzustellen,
darin, sie auf ihre Vereinbarkeit mit
dem endgültigen Urteil der menschli-
chen Vernunft zu überprüfen. Wenn
eine Überlieferung der menschlichen
Vernunft widerspricht, so darf ihr
gemäß nicht gehandelt werden, auch
wenn sie dem Propheten zugeschrieben wird oder von Personen überliefert wurde, die gemeinhin als zuverlässig und wahrhaftig gelten.
Das Prinzip der umfassenden Sichtweise bei der Interpretation der
islamischen Quellen
Ein wichtiger Grundsatz bei der methodischen Interpretation des Heiligen Qur’an ist nach schiitischer Meinung die umfassende Sicht auf
Qur’an und Sunna, d. h. Qur’an und
Sunna sollen grundsätzlich als eine
Gesamtheit berücksichtigt werden.
Das Prinzip der umfassenden Sichtweise hilft uns zu verstehen, dass der
Qur’an dem Propheten des Islam
Jede Art von Interpretation
des Heiligen Qur’an und der
Sunna, die dem Urteil der
Vernunft widerspricht und
von der Vernunft nicht akzeptiert wird, ist falsch und
abzulehnen..
zwar im Laufe von 23 Jahren offenbart wurde, dass aber die Gesamtheit
des Qur’an eine Vielzahl von Versen
sind, die in einem engen Zusammenhang miteinander stehen. Das ist
vergleichbar mit einem Redner, dessen Vortrag man bis zum Ende hören
sollte, und aus dessen Rede man
nicht einen Teil herausnehmen und
seine Argumentation darauf aufbauen
sollte. Es ist möglich, dass er am
Anfang seiner Rede einen Punkt
erwähnt, den er im weiteren Verlauf
oder sogar am Ende seiner Rede erst
erklärt und seine Absicht deutlich
macht. Deshalb darf man nicht über
den Vortrag urteilen, bevor er beendet wurde. Gleichermaßen darf man
im Hinblick auf den Qur’an nicht nur
einen Teil der Verse berücksichtigen,
ohne die anderen Teile in die Argumentation einzubeziehen.
Gemäß dieser Sichtweise bedarf man
für die Interpretation der Qur’anverse
vor jeder anderen Quelle zunächst
des Qur’ans selbst; es gilt, die Gesamtheit der qur’anischen Verse zu
berücksichtigen, damit man die unterschiedlichen Verse, die miteinander verbunden sind, klarer interpretieren und deutlicher verstehen kann.
Oftmals gewinnt ein Vers eine andere Bedeutung, wenn er im Kontext
anderer Verse gesehen und verstanden wird, als wenn man den Vers für
sich allein interpretiert.
Das Prinzip der Bedeutung bei der
Interpretation der islamischen Quellen
Ein weiteres methodisches Prinzip
für die Interpretation der heiligen
Quellen (Schrift und Sunna) ist das
Prinzip der Bedeutung im Unterschied zum äußerlichen Wortlaut.
Beim Verstehen und der Interpretation des Buches und der Sunna darf
man nicht nur auf das Wörtliche
achten, sondern man muss die tiefe
Bedeutung erkennen, die der Maßstab und die Grundlage für die Tat
ist. Wenn z. B. in einer Stadt eine
Fluggesellschaft wirkt, die nicht sehr
erfolgreich ist und das Leben der
Passagiere wiederholt gefährdet hat,
und ein Vater deshalb seinem Sohn
empfiehlt, nicht zu fliegen, sondern
stattdessen mit der Bahn zu reisen,
dann bedeutet das nicht, dass der
Vater bei jeder Gelegenheit eine
derartige Empfehlung für seinen
Sohn hat, selbst wenn seine Empfehlung auf den ersten Blick so verstanden werden könnte. Wenn wir die
Empfehlung des Vaters genau betrachten, so will er mit seinen Worten
zum Ausdruck bringen, dass sein
Sohn nicht mit einer unsicheren
Fluggesellschaft fliegen soll. An
diesem Beispiel wird deutlich, dass
wir die wahre Bedeutung der Aussage herauskristallisieren können, wenn
wir auf den tieferen Sinngehalt achten. Wenn der Sohn also dennoch
fliegt, aber auf die Sicherheit der
Airline achtet, hat er der Empfehlung
seines Vaters entsprochen, der seinen
Sohn mit einem sicheren Verkehrsmittel reisen sehen möchte, gleich ob
es sich dabei ein Flugzeug oder z. B.
einen Zug handelt.
Vieles von dem, was in den Versen
des Qur’an und der Sunna des Propheten zum Ausdruck kommt, ähnelt
diesem Beispiel. Wenn die tiefe Bedeutung nicht gesucht und nicht beachtet wird, dann resultiert daraus
geistige Stagnation. Es verhindert
darüber hinaus, dass wir die grundlegende Absicht Gottes und Seines
Propheten verstehen; die Religion
und die Scharia erscheinen in einem
solchen Fall inakzeptabel, denn es
entsteht der Eindruck, als wolle die
Religion die Menschen von heute
jenen von vor 1400 Jahren angleichen, und den Gang der Geschichte
und die menschliche Zivilisation an
einem bestimmten Punkt festhalten.
Wenn die tiefe Bedeutung
von Qur’an und Sunna nicht
gesucht und nicht beachtet
wird, resultiert daraus geistige Stagnation. Religion und
Scharia erscheinen dann inakzeptabel, denn es entsteht
der Eindruck, als wolle die
Religion die Menschen von
heute jenen von vor 1400
Jahren angleichen, und den
Gang der Geschichte und
die menschliche Zivilisation
an einem bestimmten Punkt
festhalten.
Zu Beginn wurde bereits erwähnt,
dass es in allen Religionen und auch
im Islam Menschen gibt, deren Sicht
auf das Äußerliche beschränkt ist und
die die Interpretation der heiligen
Quellen für falsch ansehen. Das zuvor angeführte Beispiel hat verdeutlicht, dass selbst diejenigen, die die
heiligen Quellen als interpretierbar
ansehen, ein oberflächliches Verständnis haben. Auch eine solche
oberflächliche Interpretation verhindert, dass die tiefe Bedeutung und die
wahre Botschaft der heiligen Quellen
offenbar werden. Sie begnügen sich
mit einer oberflächlichen Interpretation der Bedeutung, anstatt eine Interpretation zu verfolgen, die die
tiefgründige Bedeutung der religiösen Lehren und der im Heiligen
Qur’an vorhandenen Begriffe herauskristallisiert. Diese Ziele und
Maßstäbe kann man nicht in der
äußerlichen wörtlichen Bedeutung
der Ausdrücke und Begriffe finden.
Vielmehr müssen diese Ziele und
Maßstäbe auf einer höheren Ebene
gesucht werden, die über der äußeren
und wörtlichen Bedeutung der Begriffe steht, und mit Hilfe der Vernunft und Zeugnissen, die außerhalb
der wörtlichen und äußeren Bedeutung der Begriffe stehen, muss die
tiefe Bedeutung identifiziert werden.
Im Grunde kann man keine genaue
und zuverlässige Interpretation vom
Heiligen Qur’an geben, wenn einzig
die äußerliche und wortwörtliche
Bedeutung der Begriffe betont wird.
Man kann nur zu einer zuverlässigen
Interpretation gelangen, wenn zunächst der in den religiösen Lehren
herrschende Geist und die Absichten
und Ziele, die in der tiefgründigen
Bedeutung der Begriffe zum Ausdruck kommen, herauskristallisiert
und erkannt werden. Das ist sicherlich ein schwieriges Unterfangen, das
eine profunde Kenntnis und ein hohes Bewusstsein voraussetzt, was
nicht jedem gegeben ist.
Gemäß dieser Sichtweise stellen wir
aufgrund einer genauen Untersuchung fest, dass ein Gebot, das im
Buch und in der Sunna enthalten ist,
der Anfangszeit des Islam angehörte
und in späteren Zeiten entbehrlich
ist; oder wir stellen fest, dass dieses
Gebot für eine bestimmte Situation
bestimmt ist und es nicht in jeder
Situation absolut notwendig und
verpflichtend ist.
Deshalb müssen die Gesamtheit des
Qur’ans und die erwähnten Regeln
und Methoden beachtet werden, bevor man die einzelnen Verse des
Qur’an interpretiert. Infolgedessen
sollen die Verse, die die grundlegende Absicht und die Ziele im Qur’an
erklären, erkannt, und die anderen
Verse mittels dieser Verse erklärt
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werden. Diese Verse sollen als Maßstab und Grundlage für die Interpretation der anderen Verse verwendet
werden.
Igtihad - Ein System für die Interpretation der heiligen islamischen
Quellen
Was bisher über die Methodologie
des Verstehens und der Interpretation
der islamischen Quellen gesagt wurde, wird insgesamt als Methode des
IºtihÁd bezeichnet. Die islamischen
Quellen dürfen nur diejenigen interpretieren, die sämtliche Voraussetzungen des IºtihÁd erfüllen. Andernfalls kann man nicht sicher sein, dass
die gegebene Interpretation eine
Interpretation im Sinne von Gott und
Seinem Propheten (s.a.s.) ist. Deshalb ist eine Interpretation unzulässig, wenn der Interpret die zuvor
genannte Voraussetzung nicht erfüllt.
Igtihad: ein historischer oder andauernder Prozess?
Das Prinzip, dass die Interpretation
der islamischen Quellen durch Anwendung der Methode des IºtihÁd
stattfinden soll, ist grundlegender
Natur, und abgesehen von einigen
unwichtigen Meinungsunterschieden,
wird dies von der Mehrheit der Muslime akzeptiert.
Es gibt jedoch einige islamische
Rechtsschulen, die den IºtihÁd allein
auf die ursprünglichen Adressaten
des Buches und der Sunna beschränken, d. h. diejenigen, die den Propheten des Islam (s.a.s.) direkt erlebt und
seine Worte gehört haben, und einige
Gelehrte des ersten Jahrhunderts
nach Erscheinen des Islam. Diejenigen jedoch, die nach ihnen lebten
und leben werden, haben keine Legitimation zum IºtihÁd. Das heißt, die
Vertreter dieser Ansicht lehnen eine
Fortsetzung des IºtihÁd ab, und folglich sollen die Interpretation und
jedes Verstehen vom Buch und der
Sunna ihrer Meinung nach im Rahmen des Verständnisses der ersten
Muslime stattfinden.
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Ist das ursprüngliche Verstehen der
Muslime heilig?
Die Schia glaubt gemäß den Lehren
der Imame (a.s.), die der Familie des
Propheten (s.a.s.) entstammen, dass
die Muslime, die zu Lebzeiten des
Propheten gelebt haben und folglich
in direkter Verbindung zum Propheten des Islam standen, möglicherweise ein besseres Verständnis vom
Qur’an hatten. Das bedeutet jedoch
nicht, dass ihr Verständnis „heilig“
und „unveränderlich“ ist, und dass
alle Muslime im Laufe der Geschichte das praktizieren sollen, was dem
Qur’anverständnis jener ersten Muslime entspricht, ohne die Richtigkeit
zu überprüfen.
Der Igtihad verleiht uns die
Möglichkeit, mit ausschließlich grundlegenden islamischen Maßstäben und Zielen
die islamischen Quellen den
veränderten neuen kulturellen, gesellschaftlichen und
geografischen Bedingungen
einer jeden Epoche gemäß
zu interpretieren.
In Wahrheit werden wir Muslime, die
wir nun 1500 Jahre nach dem Erscheinen des Islam leben, ebenso wie
die Muslime der damaligen Zeit,
direkt vom Qur’an angesprochen.
Wir müssen darum bemüht sein,
Qur’an und Sunna mittels Anwendung der Methode des IºtihÁd zu
interpretieren. Dabei sollen wir das
Verständnis der ersten Qur’anadressaten zu Hilfe nehmen. Allerdings
spricht kein Grund dafür, dass ihr
Verständnis besser wäre als das unsrige, oder dass wir zu keiner besseren
Interpretation vom Qur’an gelangen
können.
Genaue Untersuchungen machen
deutlich, dass die Interpretationen der
ersten Muslime und der Muslime, die
im ersten Jahrhundert nach dem Erscheinen des Islam lebten, von der
damaligen Kultur, den Stammestradi-
tionen und den geografischen Bedingungen, in denen sie lebten, beeinflusst waren. Diese Faktoren haben
ihre Interpretation vom Qur’an und
ihr Verständnis vom Islam beeinflusst, obwohl diese Kultur zuweilen
im direkten Widerspruch zu den
islamischen Lehren stand.
Zeitlichkeit des Igtihad (Die Rolle der
zeitlichen und örtlichen Veränderungen)
Für die Methode des IºtihÁd ist die
Berücksichtigung der Maßstäbe und
der notwendigen Prämissen für die
Interpretation der islamischen Quellen bedeutsam. Diese Maßstäbe und
Prämissen sind bekannt, und folglich
kann es zu jeder Zeit muslimische
Gelehrte geben, die unter Berücksichtigung der Bedingungen von Ort
und Zeit die islamischen Quellen
interpretieren können.
Es wurde bereits erwähnt, dass der
IºtihÁd die Interpretation der islamischen Quellen auf der Grundlage
bestimmter Methoden und Maßstäbe
ist, die vom Qur’an und der Sunna
bestätigt werden. Deshalb gibt es
keinen Grund dafür, den Prozess des
IºtihÁd als zeitlich zu bestimmen,
wonach nur einige Menschen, die vor
mehr als tausend Jahren gelebt haben, dazu berechtigt wären. Grundsätzlich ist gemäß der Sichtweise der
Schia eine grundlegende Voraussetzung des IºtihÁd die Betonung der
menschlichen Vernunft und die Berücksichtigung der Veränderlichkeit
von Zeit, Ort und den Sitten der unterschiedlichen Gesellschaften. Tatsächlich können die historischen,
geografischen, tribalistischen, ethnischen, kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen manche islamischen Gebote und die Interpretation
der religiösen Quellen beeinflussen.
Deshalb kann man den Prozess des
IºtihÁd in einem bestimmten historischen Zeitabschnitt nicht für beendet
erklären, sondern der Wert und die
Funktion des IºtihÁd liegt in seiner
historischen Dauerhaftigkeit begründet.
Der IºtihÁd verleiht uns die Möglichkeit, mit ausschließlich grundle-
genden islamischen Maßstäben und
Zielen die islamischen Quellen den
veränderten neuen kulturellen, gesellschaftlichen und geografischen
Bedingungen einer jeden Epoche
gemäß zu interpretieren. Zusammengefasst bedeutet das, dass uns die
Möglichkeit der Reinigung der islamischen Gebote und religiösen Interpretationen von den kulturellen und
gesellschaftlichen Einflüssen der
Anfangszeit des Islam gegeben wird,
sofern wir das Verständnis der ersten
Muslime nicht als heilig erklären.
Der Glaube an die Kontinuität des
IºtihÁª ist die Voraussetzung für jede
neue Interpretation des Islam gemäß
den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der neuen Welt. Abgesehen von
den Diskussionen über die Methode
der Interpretation der islamischen
Quellen in den verschiedenen
Rechtsschulen und der gegebenen
besonderen Funktion des IºtihÁd bei
der Interpretation der islamischen
Quellen und seiner historischen Kontinuität in der Sicht der Schia, bewirkte dies die Bildung der gesellschaftlichen Institution der religiösen
Autorität bei den Schiiten. Es wurde
festgestellt, dass der IºtihÁd ein dynamisches und kontinuierliches System ist, und es deshalb zu jeder Zeit
die Möglichkeit gibt, dass einige
religiöse Gelehrte diesen Rang erreichen. Die Muslime können auf gänzlich demokratische Weise aus den
Gelehrten, die die religiöse und wissenschaftliche Befähigung zur Interpretation der islamischen Quellen
haben und Rechtsgutachten erstellen
können, einen von ihnen zur religiösen Autorität wählen und in ihren
religiösen Angelegenheiten seine
Rechtsgutachten befolgen.
Es ist möglich, dass es in einem Zeitraum mehrere Gelehrte gibt, die hinsichtlich ein und derselben Angelegenheit unterschiedliche Rechtsgutachten erstellen, und die Muslime
können einen von ihnen zu ihrer
religiösen Autorität erwählen; d. h.
alle diese Gelehrten und Exegeten
sind ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit legitim.
Die Institution der religiösen Autorität ist eine gänzlich zivile Institution,
die auf zwei Säulen gründet:
1. Die Voraussetzungen und besonderen Fähigkeiten der Person des
Muºtahids (d. h. zum IºtihÁd befähigten Gelehrten).
2. Der Einfluss auf die Muslime,
die einen von diesen Gelehrten akzeptiert haben und sich in ihren religiösen Fragen nach ihm richten.
Der Glaube an die Kontinuität des Igtihad ist die Voraussetzung für jede neue Interpretation des Islam gemäß
den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der neuen
Welt.
Deshalb erkennen die Muslime in
diesen Gelehrten und religiösen Autoritäten in der Regel eine zivile
Macht gegenüber der offiziellen
staatlichen Macht, und weil diese
Gelehrten von der offiziellen Macht
unabhängig sind, konnten sie in speziellen historischen Zeitabschnitten
die staatliche Macht beeinflussen und
deren Vorgehensweisen ändern. Sie
haben eine besondere Befähigung
und Kapazität, unter den Muslimen
gesellschaftliche Bewegungen in
Gang zu setzen. In einigen islamischen Gesellschaften gibt es aufgrund des Glaubens an die zeitliche
Begrenztheit des IºtihÁd und die
absolute Legitimation der politischen
Macht keine Institution der religiösen
Autorität, die von der Staatsmacht
unabhängig ist und folglich sind
deren besonderen Funktionen auch
nicht zu sehen.
Wichtige Anmerkung
Abschließend soll angemerkt werden,
dass überall da, wo von den Unterschieden zwischen den islamischen
Rechtsschulen die Rede ist, dies
niemals in dem Sinne geschieht, dass
man die Besonderheiten aufzeigen
kann, mit denen man die ganzen
Unterschiede zwischen den Rechtsschulen exakt und einzeln deutlich
machen und eine Begrenzung und
völlige Trennung zwischen ihnen
erreichen kann.
Wenn von Unterschieden zwischen
den Rechtsschulen die Rede ist und
gefordert wird, dass die Unterschiede
und Verschiedenheiten zum Ausdruck gebracht werden, können diese
Forderungen nicht der Mehrheit der
Anhänger der jeweiligen Rechtsschule und der Mehrheit ihrer Gelehrten
zugeschrieben werden, und zwar
weil in jeder einzelnen Rechtsschule
viele Gelehrte, Rechtsgelehrte und
Exegeten gefunden werden, deren
konfessionellen Meinungen und
Ansichten den Auffassungen und
Ansichten ähneln, die in den
anderen Rechtsschulen diskutiert
werden.
So gibt es z. B. unter den Sunniten
die gängige Meinung, wonach schiitische Gelehrte anerkannt sind, und
viele der bei den Schiiten verbreiteten Ansichten betreffen die Akzeptanz der Gelehrten der anderen
Rechtsschulen; so wie vor vielen
Jahren der Scheich der Al-Azhar als
höchster Religionsgelehrter der Sunniten ein eindeutiges Rechtsgutachten erlassen hat, wonach die Anhänger aller Rechtsschulen die schiitischen Rechtsgelehrten an die Stelle
ihrer eigenen Rechtsgelehrten setzen
und nach deren Grundsätzen handeln
können.
Auch viele Gelehrte und Theologen
der
verschiedenen
islamischen
Rechtsschulen, die intellektuell und
aufgeklärt dem islamischen Recht
(Scharia) und der Exegese der
Qur’anverse die Achse der Vernunft
zu Grunde legen, haben die schiitische IºtihÁdtheorie akzeptiert und
handeln auf dieser Grundlage.
* Ayatollah Seyyed Abbas Hosseini
Ghaemmaghami ist islamischer Gelehrter und Theologe mit Schwerpunkt Islamische Philosophie und
Professor für Vergleichende Philosophie und Mystik.
2004 übernahm er die Leitung des
Islamischen Zentrums Hamburg und
ist ebenfalls Vorsitzender der Islamisch-Europäischen
Union
der
Schia-Gelehrten und Theologen.
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