Ost-westliche Begegnung in der Poesie Muhammad Iqbals

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Ghorbanali Askarian
Ost-westliche Begegnung in der Poesie
Muhammad Iqbals „Botschaft des Ostens“
als Antwort auf Goethes „West-östlichen Divan“
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
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Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
ISBN 978-3-89998-152-0
Als Dissertation zur Erlangung
des Doktorgrades
der Philosophischen Fakultät
der Universität Potsdam
vorgelegt von Ghorbanali Askarian
Erster Gutachter: Prof. Dr. Reinhart Meyer-Kalkus
Zweiter Gutachter: Dr. Stefan Goldmann
Potsdam 2009 (Disputation am. 6. Februar)
***
Meiner Frau und meinen Söhnen Saeed und Masoud in Dankbarkeit gewidmet
***
Mein herzlicher Dank gilt insbesondere dem Betreuer dieser Arbeit
Herrn Prof. Dr. Reinhart Meyer-Kalkus,
Wissenschaftskolleg zu Berlin/Institut für Germanistik, Universität Potsdam
sowie
Herrn Dr. Stefan Goldmann
Institut für Germanistik, Universität Potsdam,
Herrn Prof. Dr. Wolf-Dietrich Krause
Institut für Germanistik, Universität Potsdam
und
Herrn Prof. Dr. Friedrich Strack,
Universität Heidelberg
nicht zuletzt
der Goethe Gesellschaft in Weimar, die mir durch ein Stipendium den Aufenthalt in
Deutschland ermöglicht hat.
***
Vorbemerkung zur Transliteration
Die folgende Tabelle enthält die in dieser Arbeit von mir benutzten, phonetischen Umschriften der persischen Buchstaben. Ich habe oft die Form verwendet, die meiner Ansicht nach im
Deutschen leichter zu lesen ist:
Persische Buchstaben
in der Grundform
‫اﺁ‬
‫ب‬
‫پ‬
‫ت‬
‫ث‬
‫ج‬
‫چ‬
‫ح‬
‫خ‬
‫د‬
‫ذ‬
‫ر‬
‫ز‬
‫ژ‬
‫س‬
‫ش‬
‫ص‬
‫ض‬
‫ط‬
‫ظ‬
‫ع‬
‫غ‬
‫ف‬
‫ق‬
‫ﮎ‬
‫گ‬
‫ل‬
‫م‬
‫ن‬
‫و‬
‫ﻩ‬
‫ﯼ‬
Name
Umschrift
alef
be
pe
te
se
djsch
tsche
he
xe
dâl
zâl
re
ze
zhe
sîn
schîn
sâd
zâd
tâ
zâ
àin
ghain
fe
qâf
kâf
gâf
lâm
mîm
nûn
wâw
he; hâ
je: jâ
â
b
p
t
th
dsch; dj
tsch
h
kh
d
z
r
z
zh
s
sch
s
z
t
z
à
q; gh
f
q; gh
k
g
l
m
n
w; v; u; o; ou; ū; û
h
y; j; i, e, ī , î
Inhalt
1 EINLEITUNG .......................................................................................................................................... 7
2 IQBAL UND DIE PERSISCHE SPRACHE ....................................................................................... 13
2.1 DIE GRÜNDE FÜR SEINE HINWENDUNG ZUM PERSISCHEN .................................................................. 13
2.1.1 Die Rolle Rûmîs bei der Entscheidung Iqbals für das Persische als Medium seiner
Dichtung..................................................................................................................................... 15
2.1.2 Iqbals Ansicht über das Persische ............................................................................................. 19
2.2 DIE UMDEUTUNG UND ÄNDERUNG DER TRADITIONELLEN SPRACHBILDER DER PERSISCHMYSTISCHEN DICHTUNG ..................................................................................................................... 22
2.2.1 Das Gleichnis von Falter und Kerze.......................................................................................... 22
2.2.2 Rose, Nachtigall und Falke........................................................................................................ 24
2.2.3 Schenke und Wein ...................................................................................................................... 27
3 ZUR STRUKTUR DER “BOTSCHAFT DES OSTENS” UND DEREN ÄHNLICHKEITEN
MIT GOETHES “WEST-ÖSTLICHEM DIVAN”............................................................................. 29
3.1 ZUR GESAMTSTRUKTUR DER “BOTSCHAFT DES OSTENS” .................................................................. 29
3.2 ZUR FORM EINIGER GEDICHTE ........................................................................................................... 38
3.3 EINIGE BEMERKUNGEN ZU IQBALS STIL ............................................................................................. 50
4 VERSUCH EINER INHALTLICHEN ANALYSE DER “BOTSCHAFT DES OSTENS”
UNTER BERÜCKSICHTIGUNG DER GEMEINSAMKEITEN MIT GOETHES
“WEST-ÖSTLICHEM DIVAN” .......................................................................................................... 52
4.1 DAS BILD GOETHES IM WERK IQBALS ............................................................................................... 52
4.2 IQBALS POLITISCHE MOTIVE IN SEINER BOTSCHAFT DES OSTENS ...................................................... 77
4.3 INDIVIDUUM UND GESELLSCHAFT IN IQBALS BOTSCHAFT DES OSTENS ............................................. 84
5 ADAPTION DEUTSCHER DICHTER BEI IQBAL ......................................................................... 92
5.1
5.2
5.3
5.4
MAHOMETS-GESANG ......................................................................................................................... 92
HURI UND DICHTER .......................................................................................................................... 101
DAS SCHENKENBUCH ....................................................................................................................... 107
HEINES GEDICHT “FRAGEN” ............................................................................................................ 111
6 IBLÎS (SATAN) UND MEPHISTOPHELES .................................................................................... 115
7 LIEBE UND VERSTAND................................................................................................................... 128
7.1 LIEBE UND VERSTAND IM WERK IQBALS ......................................................................................... 128
7.2 LIEBE UND VERSTAND IN GOETHES “WEST-ÖSTLICHEM DIVAN” IM VERGLEICH MIT IQBALS
AUFFASSUNG DER LIEBE .................................................................................................................. 145
5
8 DIE CHARAKTERISIERUNG EUROPÄISCHER DICHTER UND DENKER
IM WERK IQBALS............................................................................................................................. 160
8.1 EINE BOTSCHAFT FÜR DEN WEISEN EUROPÄER ................................................................................ 160
8.2 CHARAKTERISIERUNG EINIGER EUROPÄISCHEN DICHTER UND DENKER IN IQBALS
„BOTSCHAFT DES OSTENS“ .............................................................................................................. 162
8.2.1 Nietzsche .................................................................................................................................. 162
8.2.2 Hegel........................................................................................................................................ 173
8.2.3 Marx......................................................................................................................................... 175
8.2.4 Weitere europäische Denker und Dichter in Iqbals Werk ....................................................... 181
9 ZUSAMMENFASSUNG ..................................................................................................................... 188
10 LITERATUR....................................................................................................................................... 192
10.1 PRIMÄRLITERATUR ......................................................................................................................... 192
10.1.1 Originalwerke Iqbals.............................................................................................................. 192
10.1.2 Deutsche Übersetzungen ........................................................................................................ 192
10.1.3 Goethes Werk und die in dieser Arbeit benützten Werke anderer deutschen Dichter
und Denker ............................................................................................................................. 193
10.2 SEKUNDÄRLITERATUR .................................................................................................................... 193
6
1 Einleitung
Die Geschichte der Begegnung des Abendlandes mit dem Morgenland umfasst mehr als
tausend Jahre, die oft von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt wurden. Man denke
an die arabische Herrschaft in Spanien und Süditalien, die Kreuzzüge und die Türkenkämpfe. 1
Diese Kampfhandlungen hatten aber auch geistige Ergebnisse zur Folge: Die Weisheit des
Ostens nahm dadurch ihren Weg nach Westen. Schon im Mittelalter begannen die Europäer,
sich mit der Literatur des Orients vertraut zu machen. Die Annäherung an die literarischen
Werke des Morgenlandes verfolgte zunächst das Ziel, die Lehre des Islam zu widerlegen, weil
sie als eine Bedrohung für die christliche Religion galt. Bereits im Jahre 1143 versuchte der
englische Mönch Robert von Ketton (Robertus Ketenensis) im Auftrag des Abtes von Cluny,
Petrus Venerabilis, eine lateinische Übersetzung des Koran zu unternehmen.2 Diese wurde,
wie die meisten späteren Übersetzungen dieses heiligen Buches, für „apologetische Zwecke
angefertigt und zur Refutation der angeblichen Irrlehren des Islam benutzt”.3
Man bezeichnet die Zeit vor 1100, im Hinblick auf die Kenntnisse der Europäer über den
Islam, als Zeitalter der Unwissenheit. Zwar hat es schon Kontakte zwischen Muslimen und
Christen gegeben, diese haben jedoch nicht dazu geführt, die Christen über den Islam
aufzuklären. So blieb der Islam für sie ein unbekannter und kulturell starker Feind, vor dem
man lieber fliehen sollte als sich ihm anzunähern. In dieser Zeit der Missverständnisse, also
im so genannten Zeitalter der Unwissenheit, ging man so weit zu behaupten: Mohammed sei
ein römischer Kardinal gewesen, der aus unbefriedigtem Ehrgeiz seine christlichen Brüder
vom rechten Glauben abbrachte.4 Diese Art der Begegnung mit der Lehre des Islam und mit
der von dieser Lehre stark geprägten orientalischen Dichtung dauerte bis zur Zeit der
Aufklärung.
1
Die Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen dem Osten und dem Westen ist vielfach von Historikern
und Orientalisten dargestellt und beschrieben worden. Eine kurze Skizze dieser Geschichte findet man u. a. in:
Schimmel, Annemarie: “West-Östliche Annäherungen, Europa in der Begegnung mit der islamischen Welt”,
Stuttgart, Berlin, Köln 1995. Vgl. auch Mommsen, Katharina: Goethe und der Islam, Leipzig 2001, S. 13 ff.
2
Vgl. ebd., S. 17.
3
Das Thema “Islam und Abendland” ist der Gegenstand zahlreicher Bücher. Hier sind vor allem die folgenden
Studien zu nennen: Fück, Johannes W.: Die arabischen Studien in Europa, Leipzig 1955; Altaner, Bertold:
Raymundus Lullus und der Sprachenkanon des Konzils von Vienne, in: Historisches Jahrbuch 53, 1953;
Schimmel, Annemarie: Raymundus Lullus und seine Auseinandersetzung mit dem Islam, in: Eine Heilige
Kirche 1953/54 Hefte 1; Golz, Jochen (Hrsg.): Goethes Morgenland-Fahrten. West-östliche Begegnungen,
Frankfurt 1999; Mommsen, Katharina: Goethe und der Islam, Frankfurt/Leipzig 2001. Schwarz, Hans-Günther:
Der Orient und die Ästhetik der Moderne, München 2003, Vgl. hier Schimmel, Annemarie: Ost-westliche
Dichtung, in: Muhammad Iqbal und die drei Reiche des Geistes, hrsg. v. Wolfgang Koehler, Hamburg 1977,
S.154.
4
Montgomery Watt, W. u. a. (hrsg.), Der Islam, Stuttgart, Berlin , Köln, Mainz 1980-90 Bd. 25,1, S. 18 (Die
Religionen der Menschheit. 25,1-3).
7
Die Aufklärung gab dem Abendland die Möglichkeit einer Neubewertung der Lehre des
Islam und damit auch der islamisch-orientalischen Dichtung. Man hat damit begonnen, sich
ein ziemlich klares, vorurteilsfreies Bild vom Orient anzueignen. Um der Entwicklung eines
solchen Bildes willen haben sich zahlreiche Orientalisten mit der Übersetzung der
literarischen und religiösen Texte aus dem Orient beschäftigt.
Im deutschsprachigen Raum war die Übertragung von S‘adis (gest. 1292) Gulistan, dem
persianischen Rosental, in die deutsche Sprache durch Adam Olearius im Jahre 1654 der erste
gelungene Schritt in diese Richtung.5 Das Interesse Herders an der orientalischen Dichtung
und insbesondere am Werk des S‘adi dürfte durch das Werk des Olearius und durch die
französischen Übersetzungen von S‘adis Dichtung geweckt worden sein. Herder hat auch
seinerseits dazu beigetragen, dass die Elemente der fremden Kulturen und vor allem der
orientalischen Kultur von den deutschen Dichtern in ihren Werken herangezogen wurden. Er
hat zweifellos die Neigung zu orientalischen Studien in Deutschland durch anregende
Arbeiten bestärkt. Man sollte aber auch die Schriften, Reisebeschreibungen und Übersetzungen anderer Europäer (Franzosen, Engländer und Italiener) wie Voltaire, George Sale,
Marco Polo, Johannes von Montvilla, Pietro Della Valle u. a., auf die Bedeutung ihrer Werke
für die Beschäftigung Europäer mit der Welt des Orients und der orientalischen Dichtung
Goethe in den Noten und Abhandlungen... hingewiesen hat, nicht außer Acht lassen.6 Die
romantische Schule, die sich die Märchenwelt des Ostens vertraut machte und sie aufnahm,
ist von Herders Ideen inspiriert worden. Für Herder war das Kennenlernen einer Nation durch
die Poesie leichter möglich als durch das Studium ihrer politischen und Kriegsgeschichte:
[...] So ist es mit der Poesie der Völker und Zeiten auf unserem Erdrunde; in jeder
Zeit und Sprache war sie der Inbegriff der Fehler und Vollkommenheiten einer
Nation, ein Spiegel ihrer Gesinnungen, der Ausdruck des Höchsten, nach welchem
sie strebte (oratio sensitiva animi perfecta.) Diese Gemälde (minder und mehr
vollkommene, wahre und falsche Ideale) gegen einander zu stellen, gibt ein
lehrreiches Vergnügen. In dieser Galerie verschiedener Denkarten, Anstrebungen
und Wünsche lernen wir Zeiten und Nationen gewiß tiefer kennen als auf dem
täuschenden trostlosen Wege der politischen und Kriegsgeschichte.7
Wohl hatten auch andere Dichter und Gelehrte wie Hammer, Goethe und Rückert diesen
Punkt vor Augen, wenn sie sich mit der Behandlung und Übersetzung der islamischen und
vor allem der persischen Dichtung beschäftigten. Die ernsthafte Erforschung des Orients
durch Poesie hat im deutschsprachigen Raum mit Hammers Übersetzungen der islamischpersischen Dichtung begonnen. Die deutsche Übersetzung von Hafis durch Hammer8 gab
Goethe die Gelegenheit, Hafis kennen zu lernen. Diese Bekanntschaft inspirierte Goethe zu
seinem West-östlichen Divan, mit dem er für den westlichen Leser einen sehr wichtigen
Schritt in Richtung der Vermittlung der Gedankenwelt des Orients getan hat. Schließlich
5
Vgl. Schimmel, A.: Mystische Dimensionen des Islam, Frankfurt/M u. Leipzig 1995 f., S. 22.
Mommsen, Katharina: Goethe und der Islam, Frankfurt/Leipzig 2001, S. 16 ff.
7
Johann Gottfried Herder Werke in zehn Bänden, hrsg. von Hans Dietrich Irmscher u. a., Frankfurt/M 1985, Bd.
7, Briefe zur Beforderung der Humanität, achte Sammlung, neuntes Fragment Nr. 107, S. 575 ff.
8
Hammer hat viele Texte und Bücher aus dem Persischen, Arabischen und Türkischen ins Deutsche übertragen,
z. B. Geschichte der schönen Redekünste Persiens, Wien 1818. Der Diwan des Mohammed Schemsed-din Hafis.
Aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt von Joseph v. Hammer, Stuttgart u. Tübingen 1812 ff.
6
8
erreichten diese Versuche durch freie Nachdichtungen und Übersetzungen Rückerts ihren
Höhepunkt.9
Die literarische Beziehung zwischen dem Morgen- und Abendland scheint mehrfach durch
die abendländischen Dichter und Denker aufgenommen und entwickelt worden zu sein. Es
waren ausschließlich, wie oben erwähnt, die westlichen Gelehrten, die sich mit der östlichen
Dichtung beschäftigt haben. Diese Beschäftigung wurde durch Goethes West-östlichen Divan
gekrönt, ein Werk, das meiner Ansicht nach zu den interessantesten Büchern gehört, welche
die poetische Beziehung zwischen Orient und Okzident zum Thema haben. Für diese
Tatsache gibt es mindestens zwei Gründe: Erstens ist Goethe ohne Zweifel der größte
deutsche Dichter, der sich mit der Poesie des Ostens beschäftigt hat; zweitens ist Goethes
Divan keine Übertragung der Gedichte eines oder mehrerer Dichter aus dem Orient, sondern
ein Buch, in dem die östlichen Motive neben den westlichen behandelt werden.
Nun stellt sich aber die Frage, ob auch Dichter des Orients sich mit der Poesie des
Abendlandes und vor allem Deutschlands beschäftigt haben? Hat jemand versucht, ein
ähnliches Werk wie Goethes Divan zu schaffen, das dem östlichen Leser die westliche Poesie
näher brächte? Das geschah tatsächlich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, in
persischer Sprache, durch die Stimme eines aus dem nordindischen Pandschab stammenden
Dichter-Philosophen, nämlich durch Muhammad Iqbal10. Es gibt zweifellos auch polemische
Schriften gegen das Christentum, die im Mittelalter von islamischen Gelehrten verfasst
worden sind. Mir sind aber auch europäische Werke bekannt, die im XIX. Jahrhundert in die
verschiedenen islamischen Sprachen übersetzt worden sind. Die Entstehung des Romans, der
Novelle und nicht zuletzt des Dramas in den islamischen Ländern ist ausschließlich den
europäischen Vorbildern zu verdanken, da diese Gattungen in den orientalischen Ländern die
Muster von England und Frankreich nachgeahmt haben. Trotzt alledem ist Iqbal zweifellos
der einzige Dichter des Orients, der versucht hat, zu einer Synthese des östlichen und
westlichen Gedankenguts zu gelangen.11
Iqbal schrieb eine Gedichtsammlung, die er als Antwort auf den Goetheschen Divan
bezeichnet hat. Wie Goethe beim Schaffen seines Divans von Hafis inspiriert war, ist Iqbals
Antwort durch Goethe angeregt worden. Iqbal, dessen Dichtung, wie wir in dieser Arbeit
sehen werden, voll von negativen Aussagen über die abendländische Zivilisation ist - er übt
immer wieder Kritik an westlichen Lebensformen und bezeichnet die Europäer gnadenlos als
Ausbeuter, vor denen sich die Muslime hüten sollten -, fand in Goethe eine prophetische
Gestalt, der er gern folgen wollte. Diese Verehrung Goethes hat ihn dazu gebracht, dem
Goetheschen Divan eine poetische Antwort gegenüberzustellen, die wie dieses Werk keine
Übersetzung der Dichtung irgendeines westlichen Dichters ist, sondern ein Buch, in dem die
9
Rückert hat wie Hammer viele Übersetzungen aus dem Persischen. Vgl. z. B. Rückert, Friedrich, Ausgewählte
Werke, hrsg. v. A. Schimmel Bd. 1. 2. Frankfurt/M 1988 und Der Koran. In der Übersetzung von Friedrich
Rückert, hrsg. v. Hartmut Bobzin, Würzburg 1995.
10
Vgl. Ingeborg H. Solbrig, Iowa: Die Rezeption des Gedichts “Mahomets-Gesang” bei Goethes Zeitgenossen
und in der modernen persischen Adaption Muhammad Iqbals (1923), in: Goethe Jahrbuch 1983, S.111.
11
Schimmel, A.: Ost-westliche Dichtung, in: Muhammad Iqbal und die drei Reiche des Geistes, hrsg. v.
Wolfgang Koehler, Hamburg 1977, S.159.
9
westlichen Motive und Persönlichkeiten neben den orientalischen bearbeitet und bewertet
sind. Meine Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, dieses Werk genau zu analysieren und die
Ansichten Iqbals über die Europäer und vor allem über Goethe und die anderen deutschen
Gelehrten herauszuarbeiten. Um den Einstieg in dieses Thema für den Leser leichter zu
machen, versuche ich zunächst, Iqbals Biographie zu skizzieren.
Iqbal gibt in seinem Frühwerk unterschiedliche Daten für seinen Geburtstag an12, nach der
zuverlässigsten Angabe wurde er am 9. November 1877 in Sailkot geboren. Diese kleine Stadt
liegt an den Vorbergen des Himalaja im nördlichen Pandschab und gehörte damals zu Indien.
Iqbals Familie stammte aus Kaschmir, und seine Vorfahren sollen Brahmanen gewesen sein.
Sein Vater war ein kleiner Geschäftsmann mit einem Hang zur Mystik. Iqbal studierte
zunächst am Gouvernement College in Lahore, wo er den Arabisten Sir Thomas Walker
Arnold kennen lernte, mit dessen Hilfe er nach England kommen konnte, wo er am Trinity
College Jura studierte. Im Juli 1907 ging Iqbal nach Heidelberg, später im November nach
München und reichte dort bei Friedrich Hommel eine Dissertation zum Thema The
Development of Metaphysics in Persia ein, für die er die Doktorwürde erhielt. Iqbal war also
ein in Europa geschulter Inder, dem die Welt des Abendlandes nicht unbekannt blieb, weil er
in England und Deutschland Philosophie studierte und mit den Werken berühmter
abendländischer Philosophen und Dichter wie Kant, Goethe, Hegel, Nietzsche, Emerson,
Wordworth, Bergson und anderer vertraut war.13 Seine Biographie und Lebensstationen sind
mehrfach durch europäische Gelehrte und Orientalisten wie etwa R. A. Nikolson und
Annemarie Schimmel untersucht worden. Auch sein Werk ist teilweise ins Deutsche,
Englische und in andere Sprachen übertragen worden. Es gibt aber auch zahlreiche Werke
über ihn auf Englisch, Urdu, Persisch und in anderen Sprachen, die von Einheimischen
verfasst worden sind.14 Im deutschsprachigen Raum haben vor allem Annemarie Schimmel
und Johann Christoph Bürgel versucht, Iqbal dem deutschen Leser vorzustellen. Schimmel
hat Iqbals Antwort auf Goethes West-Östlichen Divan, also payâmî maschriq (Botschaft des
Ostens), und einige andere Werke von ihm ins Deutsche übertragen und mit Anmerkungen
und Einleitungen versehen. Sie hat zudem Bücher und Artikel auf Englisch und Urdu über
Iqbal geschrieben und war als eine Kennerin Iqbals weltweit bekannt.15 Auch Bürgel hat
einige Urdu-Gedichte Iqbals ins Deutsche übertragen und einige Abhandlungen über Iqbals
Dichtung und Gedankengut geschrieben.16 Trotz alledem fehlt es immer noch an einer
12
Vgl. u. a. Schimmel, A.: Muhammad Iqbal Prophetischer Poet und Philosoph, München 1989, S. 12 ff.
In dem Abschnitt “Bild der Europäer” aus:“Die Botschaft des Ostens” charakterisiert Iqbal diese und viele
andere westliche Dichter und Denker und hat Gedichte mit deren Namen gekennzeichnet. Dies zeigt seine tiefen
Kenntnisse über das Leben und das Werk dieser Dichter und Philosophen. Die Art und Weise seiner
Charakterisierung der westlichen Dichter und Denker werde ich in dieser Arbeit ausführlich behandeln.
14
Von den zahlreichen Studien über Iqbals Leben und Werk in verschiedenen Sprachen sind die Untersuchungen
Annemarie Schimmels nennenswert. Sie versucht durch verschiedene umfangreiche Studien über Iqbal, ihn dem
westlichen Leser vorzustellen. Ihre Werke, wie “Muhammad Iqbal Prophetischer Poet und Philosoph” auf
Deutsch und “Gabriel’s Swing” auf Englisch, gehören zu den Standardwerken über Iqbal. Siehe die weiteren
Literaturangaben dieser Arbeit.
15
Für Schimmels Werke über Iqbal und ihre Übertragungen von Iqbals Werken ins Deutsche siehe die weiteren
Literaturangaben dieser Arbeit.
16
Siehe die Literatur dieser Arbeit.
13
10
umfangreichen Studie in deutscher Sprache, in der die Antwort auf Goethes West-östlichen
Divan analysiert und deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit dem Divan beleuchtet
und hervorgehoben werden. Dies hat mich dazu veranlasst, ein solches Unternehmen in
Angriff zu nehmen.
Zunächst versuche ich, die Beziehung Iqbals zur persischen Sprache zu beleuchten. Iqbal
hatte Urdu als Muttersprache, verfasste aber die Mehrheit seiner Gedichte auf Persisch.
Warum er persische Gedichte geschrieben hat, ist eine Frage, der ich im ersten Kapitel meiner
Arbeit nachgehen möchte. Das ist im Zusammenhang meiner Untersuchung darum wichtig,
weil sowohl Goethe als auch Iqbal von dem Wortschatz und den Motiven der persischen
Dichtung Gebrauch gemacht haben, wobei jeder diese Motive und Symbole nach seiner Art
zu deuten versuchte. Hier soll gezeigt werden, wie Iqbal die Symbole und Sprachbilder der
persischen Dichtung umgedeutet hat, weil diese ihm für seine dynamische Dichtung als
ungeeignet erschienen.
Um dem eigentlichen Ziel dieser Arbeit, der poetischen Begegnung beider Kulturen,
näherzukommen, soll dann eine sorgfältige Analyse der Botschaft des Ostens durchgeführt
werden, wobei die strukturellen und inhaltlichen Ähnlichkeiten und Unterschiede dieses
Werkes mit Goethes Divan herausgestellt werden sollen.
Die Themen, die Iqbal in seinem Werk und vor allem in der Botschaft des Ostens
behandelt hat, kann man folgendermaßen skizzieren: Iqbals Botschaft des Ostens ist ein Buch,
in dem er seine Meinung über die Beziehung zwischen dem Westen und dem Osten poetisch
zu äußern versucht. Seine Sicht der Europäer ist negativer Natur. Er bezeichnete sie mit dem
scheinbar neutralen Ausdruck der Franken17, mit dem diejenigen gemeint sind, von denen
nichts Gutes zu erhoffen ist. Doch steht er mehr oder weniger unter dem Einfluss der
europäischen Philosophen, darunter Kant, Hegel, Nietzsche, Bergson und anderen. Der
einzige Dichter Europas, von dem Iqbal so verzaubert war, dass er ihn immer lobte, ist
Goethe. Man kann diese besondere Verehrung Goethes in allen Schriften Iqbals über Europa
und Europäer erkennen, besonders aber in seiner Botschaft des Ostens, in der Goethe, ähnlich
wie Hafis in Goethes Divan, sehr hoch geschätzt wird. Aus diesem Grunde versuche ich
zunächst, die Aussagen und Gedichte Iqbals über Goethe in diesem und in seinen anderen
Schriften zu analysieren. So können wir uns das Bild, das Iqbal von Goethe gezeichnet hat,
veranschaulichen.
Iqbal ist in erster Linie ein politisch engagierter Dichter und Philosoph. Seine Dichtung
und seine Schriften stehen zweifellos im Dienste seiner politischen Ideen. Nach seiner
Ansicht sind die Muslime in einem tiefen Schlaf versunken gewesen, und er habe den Auftrag,
sie aus diesem Schlaf zu erwecken. Dafür gebrauchte er die Dichtung als Mittel zum Zweck.
Ich möchte seine politischen Motive, die er in seinem Werk und vor allem in der Botschaft
des Ostens zum Ausdruck gebracht hat, herausfinden und hervorheben.
17
Das persische Wort „frang“ ist eine negative Bezeichnung des Europas und davon ist das Wort „farangie, die
Franken“ abgeleitet, mit dem die Europäer bezeichnet werden. Diese negative Bezeichnung kann man wohl
darauf zurückführen, dass die Europäer von den Völkern des Orients immer als fremde Ausbeuter und
Kolonialisten angesehen wurden.
11
Ein wichtiges Thema der orientalischen Dichtung ist der Konflikt zwischen Liebe und
Verstand. In der Dichtung Iqbals ist diese Fragestellung besonders wichtig, weil er auch in
diesem Punkt einen Unterschied zwischen Westen und Osten machen möchte. Er sieht
nämlich die Abendländer als Vertreter des Verstandes und die Morgenländer als Befürworter
der Liebe schlechthin. Wie Iqbal dieses Thema behandelt hat und wie Goethe damit in seinem
Divan umgegangen ist, sind die weiteren Fragen, die in der vorliegenden Arbeit zu klären
sind.
Neben Goethe treten viele andere westliche Philosophen und Dichter im Werk Iqbals auf.
Er versucht besonders in dem Kapitel Bild der Europäer der Botschaft des Ostens aber auch
in seinem weiteren Werk, diese Dichter und Denker durch Gedichte zu charakterisieren. Mit
der Behandlung dieser Charakterisierungen schließe ich meine Arbeit ab.
12
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