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Neue Z}rcer Zeitung
FEUILLETON
Montag, 12.02.2001 Nr.35
25
Schauplatz Pakistan
Zwischen Vision und Wirklichkeit
Ein Land vergisst die Ideale seiner Gründer
Im Jahr 1930 hielt der Philosoph Muhammad
Iqbal in Allahabad eine Rede vor der Jahresversammlung der «All India Muslim League», die
die Muslime in Indien repräsentierte. In diesem
später als «Pakistan-Rede» bekannt gewordenen
Referat sprach Iqbal erstmals den Gedanken
eines eigenen Staatsgebildes für die indischen
Muslime an. Ein Gedanke, der bei seinen Zuhörern auf fruchtbaren Boden fiel: Die Muslime
in Indien fühlten sich zusehends als nicht entscheidungsberechtigte Minderheit, die Spannungen zwischen ihnen und der hinduistischen Mehrheit vertieften sich. Iqbal, geboren 1877 im nördlichen Punjab, beobachtete das Schicksal der
Muslime in Indien mit Sorge. Durch lange Aufenthalte in Europa mit der westlichen Gedankenwelt vertraut, äusserte er Kritik an der britischen
Kolonialherrschaft – zur «Rettung» der Muslime
erschien ihm die territoriale Teilung unumgänglich, wie er in der «Pakistan-Rede» darlegte:
«Selbstregierung innerhalb oder ausserhalb des
British Empire, die Bildung eines konsolidierten,
nordwestindischen muslimischen Staates scheint
mir die endliche Bestimmung der Muslime, zumindest derer in Nordwest-Indien, zu sein.»
Mit Recht also wird Iqbal als einer der geistigen Väter Pakistans angesehen. Die Verwirklichung seiner Vision erlebte der 1938 verstorbene
Philosoph allerdings nicht mehr: 1947 wurde das
«Land der Reinen» (so die Bedeutung des Wortes
«Pakistan») vom Rechtsanwalt und Politiker
Mohammad Ali Jinnah ins Leben gerufen. Jinnah, 1876 in Karachi geboren, konzipierte Pakistan als einen neuzeitlich orientierten, demokratisierten Staat, der für seine Bevölkerung auf sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Ebene gleichermassen sorgen könnte. 1948 stellte Jinnah als
erster Staatspräsident des jungen Landes fest:
«Auf jeden Fall wird Pakistan kein theokratischer
Staat, der von Priestern mit einer göttlichen Mission regiert wird. Hier leben viele Hindus oder
Christen – aber sie sind alle Pakistaner, sie werden dieselben Rechte und Privilegien wie alle
anderen Bürger geniessen.»
Womit Jinnah die Vision Iqbals auf einer pragmatischeren Ebene politisch zu verwirklichen
suchte. Auch Iqbal hatte keine Theokratie er-
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träumt, sondern einen Staat, in dem der Koran
seine Funktion als geistige Richtlinie und gesellschaftliche Grundlage erfüllen konnte. Denn, so
meinte er in seiner «Pakistan-Rede»: «Das religiöse Ideal des Islam ist organisch mit der sozialen Ordnung verbunden, die er geschaffen hat.»
Wobei es Iqbal nicht um einen fundamentalistisch
islamischen Staat ging, sondern um einen Staat, in
dem die islamische Ethik bestimmend sein sollte,
basierend auf den demokratischen Prinzipien der
Gleichheit, Solidarität und Freiheit. Den Gedanken einer eigenständigen Nation verstand Iqbal
nicht im westlichen Sinn. «Er entfernte sich vom
Konzept des territorialen Nationalismus», sagt
sein Sohn Javid, Senator im pakistanischen Kongress und ehemaliger Richter am Obersten Gerichtshof Pakistans: «Er liess die Muslime spüren,
dass sie eine andere Nationalität sind, weil sie
eine andere Weltsicht haben. Eine Nationalität
braucht eine Heimat. Iqbals Nationalismus ist auf
gemeinsamem spirituellen Streben gegründet.»
Spirituelle Demokratie
Das Konzept, das der Dichter-Philosoph verfolgte, basierte auf der Überzeugung, dass sich
der Islam als kulturelle Kraft nur auf einem eigenen Territorium entfalten, nur dort als geistige
Basis einer demokratisch organisierten Gesellschaft wirken könne. «Mein Vater sah die herausragendste Aufgabe des Islam darin, eine spirituelle Demokratie zu errichten», erklärt Javid
Iqbal. Diese sollte die Grundlage für jenen Fortschritt bilden, den der Philosoph in der islamischen Welt vermisste: «Er wollte, dass die ganze
muslimische Welt sich weiterentwickelt. Und er
fühlte, dass im Wettstreit zwischen der europäischen und der muslimischen Welt Europa voran
lag und dass wir aufholen müssten.»
Ein Gedankengang, mit der sich Iqbal in
Opposition zum traditionellen Islam begab.
«Seine eigene Gesellschaft war mental noch nicht
bereit, seine Gedanken zu akzeptieren», meint
Javid Iqbal. Auch der Philosoph selbst beklagte
immer wieder, dass die Leute, an die er sich
wandte, alt und dekadent seien. Javid Iqbal: «Er
hat sich immer als den Dichter von morgen betrachtet, der in die Zukunft sieht.» In dieser Zu-
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kunft, so hoffte Iqbal, werde der Islam bereit sein,
seine Rolle als dynamische, liberale und vorwärts
schauende Kraft auszufüllen.
Tatsächlich aber ist die Realität des Landes von
solchen Grundsätzen weit entfernt. Pakistan präsentiert sich heute als wirtschaftlich bankrottes
Drittweltland, in dem Korruption und Machtgier
politischer und religiöser Eliten blühen – internationale Organisationen haben Pakistan bereits
als das drittkorrupteste Land der Welt bezeichnet.
Sogenannte «Ehrenmorde» an Frauen sind nicht
selten, ein Blasphemiegesetz sanktioniert Gotteslästerung nach wie vor mit der Todesstrafe, und
1991 wurde die Scharia als oberstes Staatsrecht
verankert. Der muslimische Sozialwissenschafter
und Historiker Bassam Tibi fasst die Situation in
einem Satz zusammen: «Wenn Iqbal und Jinnah
heute noch unter uns wären, würden sie wohl
nicht in Pakistan leben wollen.»
Keine Chance für Pakistan?
Zahlreiche politische und militärische Führer
haben das Land in den letzten Jahrzehnten an
den Rand des Abgrundes geführt. Eine parlamentarische Demokratie wie von Jinnah konzipiert,
hatte keine Chance, sich zu entwickeln, nicht zuletzt auf Grund zahlreicher Verfassungsänderungen und der Tatsache, dass die Jurisdiktion beinahe ständig unter der Kontrolle der Exekutive
stand. Nachdem bereits Zulfikar Ali Bhutto in
den siebziger Jahren mit der Islamisierung Pakistans begonnen hatte, wollte der in den achtziger
Jahren regierende General Zia ul-Haq seine Position mit Hilfe der religiösen Oberschicht stärken –
der Islamismus gewann die Oberhand, liberale
Tendenzen
verstummten
zusehends.
Und
schliesslich tragen auch die unverändert feudalistischen Strukturen Pakistans dazu bei, die Entwicklung des Landes zu bremsen – die Feudalherren zeigen nur wenig Interesse daran, der breiten
Masse der Bevölkerung zu Bildung und Wohlstand zu verhelfen. Die Vision Iqbals einer muslimischen Nation auf der Basis von Wissen und
Fortschritt scheint in weite Ferne gerückt. Der
pakistanische Interim-Premierminister nach der
Entlassung der Regierung von Benazir Bhutto im
November 1996, Malik Meraj Khalid, fasste dies
in einem Satz zusammen: «Pakistan existiert ideologisch nicht mehr.»
«Für den Traum von Menschen wie Iqbal gibt
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es keine Erfüllung», sagt auch Javid Iqbal. Und
Muhammad Iqbal selbst schrieb schon 1910:
«Nationen werden geboren in den Herzen von
Dichtern; sie gedeihen und sterben in der Hand
von Politikern.» An einen finalen Fehlschlag
Pakistans will Javid Iqbal aber trotzdem nicht
glauben: «Wir gehen seit der Staatsgründung
durch eine schwierige Phase, aber das ist eine
Frage der Zeit. In Europa hat es mehrere Jahrhunderte gedauert, bis man aus dem Mittelalter
zur Aufklärung gekommen ist. Wir müssen durch
dieselben Erfahrungen gehen.» Javid Iqbal versucht, das Werk seines Vaters auf seine Art fortzusetzen: «Ich arbeite an den gleichen Prinzipien
wie er, allerdings konzentriere ich mich auf den
politischen und nicht auf den metaphysischen
Aspekt. Es gibt in Pakistan nach wie vor die Tendenz, alte islamische Gesetze zu ändern, um
modernen Ansprüchen zu genügen, und ich war
und bin diesbezüglich engagiert.» Engagiert ist
Javid Iqbal auch in der «United Religions»-Bewegung in den USA, die, nach dem Vorbild der
Vereinten Nationen, das Ideal einer allumfassenden Religiosität verfolgt: «Der Grundsatz ist einfach – man bleibt seiner eigenen Religion treu,
kennt und akzeptiert aber das Konzept anderer
Glaubensrichtungen.» Womit Javid Iqbal das
liberale Konzept seines Vaters weiterführt – und
bei den pakistanischen Islamisten vielfach auf
dieselbe Ablehnung stösst.
Keine Chance für Pakistan? Der derzeitige
Machthaber, General Musharraf, gibt sich zumindest den Anschein, den Fortschritt im Land vorantreiben zu wollen: Er kündigte an, eine Menschenrechtskommission einzusetzen, die Ehrenmorde an Frauen zu ahnden, das Blasphemiegesetz zu lockern und Kinderarbeit sowie Leibeigenschaft abzuschaffen. Womit der General bis
jetzt zumindest ein verbales Zeichen setzte, um
die ursprünglich von Iqbal und Jinnah entworfene Konzeption Pakistans wieder freizulegen.
«Iqbals zentrale Idee war, dass auf der Ebene des
Wissens alle Nationen fortschreiten sollten», fasst
Javid Iqbal zusammen. Pakistan ist diesem Anspruch seines geistigen Vaters bis jetzt einiges
schuldig geblieben.
Irene Binal
Blatt 2
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