MAT 07.01.10 Hören + Sprechen EINLEITUNG Hören und Sprechen sind die wichtigsten Kommunikationsmittel des Menschen. Ohne sie werden Vorlesungen, ja sogar Film und Fernsehen weitestgehend sinnlos, das Gespräch mit Freunden ist nicht mehr möglich. Das Gehör des Menschen erlaubt es, hochkomplexe, detaillierte Informationen aus der Umwelt zu extrahieren. In erheblich größerem Ausmaß als jeder andere Sinn ist das Gehör dabei für die menschliche Sprache und ihre Entwicklung verantwortlich. Der Hörverlust des Erwachsenen oder die angeborene Taubheit des Säuglings bedeuten eine kommunikative Katastrophe für den einzelnen. Der Betroffene gerät in eine für den Gesunden kaum nachvollziehbare Isolation, das Kind ist nur eingeschränkt bildungsfähig. Wegen seiner sozialen Bedeutung ist der Hörsinn der wichtigste Sinn des Menschen. Es ist daher eine zutiefst ärztliche Aufgabe, hör und sprachgeschädigten Kranken zu helfen. Das Ohr ist das empfindlichste Sinnesorgan des Menschen [i8]. Der adäquate Reiz ist Schall. Er gelangt durch den äußeren Gehörgang in das Trommelfell, welches als Membran den Gehörgang abschließt und die Grenze zum luftgefüllten Mittelohr bildet. Durch die Gehörknöchelchen des Mittelohrs wird der Schall auf das Innenohr übertragen. Im flüssigkeitsgefüllten Innenohr läuft die Schallenergie als Welle „Wanderwelle" - weiter. Aufgabe der Sinneszellen des Innenohrs ist es, dieses mechanische Schallsignal in ein körpereigenes, bioelektrisches bzw. biochemisches Signal zu überführen. Nach diesem Transduktionsprozeß gibt die Sinneszelle das Signal mittels eines Transmitters an den Hörnerv weiter. Der Nerv leitet die Information als Folge von Aktionspotentialen, jedoch mehrfach durch Synapsen unterbrochen, über die Hörbahn bis zur Großhirnrinde [5]. (Hz, Schwingungen pro Sekunde) gemessen. Ein Ton ist eine Sinusschwingung, die nur aus einer einzigen Frequenz besteht (Abb. 15-1). Subjektiv besteht ein Zusammenhang zwischen der Frequenz und der empfundenen Tonhöhe. Je höher die Schallfrequenz, desto höher empfinden wir auch den Ton. Reine Töne sind im täglichen Leben allerdings selten. Sie werden jedoch klinisch verwendet, um das Hörvermögen von Patienten zu prüfen. Musik besteht in der Regel nicht aus reinen Tönen, sondern aus Klängen. Dabeihandelt es sich zumeist um einen Grundton mit mehreren Obertönen, deren Frequenz ein ganzzahliges Vielfaches der Grundfrequenz beträgt. Die Schallereignisse des täglichen Lebens schließlich umfassen in wechselndem Ausmaß praktisch alle Frequenzen des Hörbereichs. Sie werden akustisch als Geräusch bezeichnet. Ein Schallereignis wird außer durch seinen Frequenzgehalt charakterisiert durch die Amplitude der entstehenden Druckschwankungen. Diesen Druck nennt man Schalldruck. Er wird wie jeder andere Druck in Pascal (1 Pa = 1 N/m2) gemessen. Der Schalldruckumfang, der vom Ohr verarbeitet werden kann, der dynamische Bereich des Ohrs, ist sehr weit. Bei 1000 Hz z. B. beträgt der eben hörbare Schalldruck 3,2 - 10-5 Pa und kann bis zur Schmerzgrenze etwa zweimillionenfach bis auf 63 Pa gesteigert werden. Für die Medizin ist das Dezibel die bedeutendste Maßeinheit des Schalls Aufgrund des großen dynamischen Bereichs des menschlichen Ohres (Abb. 15-2) muß man bei der Angabe des Schalldrucks mit umständlich großen Zahlen umgehen. Dies ist für den täglichen Gebrauch zu un- 5.1 Der Schall Adäquater Reiz für das Ohr ist der Schall. Die physikalische Beschreibung des Schalls heißt Akustik. Im Gegensatz dazu werden physiologische, biochemische und anatomische Vorgänge des Hörens als auditorisch oder auditiv bezeichnet. Das Ohr kann Schallwellen, winzige Druckschwankungen der Luft, verarbeiten Im täglichen Leben tritt Schall als Druckschwankungen in der Luft auf. Die Frequenz des Schalls wird in Hertz 1 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen praktisch. Daher wird in der Praxis ein anderes Maß verwendet, der Schalldruckpegel. Er wird in Dezibel (dB) angegeben und ergibt einfach anzuwendende Zahlenwerte zwischen o und ungefähr i2o dB. So wird im Kraftfahrzeugschein das Fahrgeräusch in dB angegeben. Die Bezeichnung „Pegel" besagt, daß der zu beschreibende Schalldruck PX in einem logarithmischen Verhältnis zu einem einheitlich festgelegten Bezugsschalldruck Po (2 - io-5 Pa) steht. Die genaue Definition des Schalldruckpegels lautet: L = 20 log PX/Po [dB] Wichtig ist das Verständnis, daß sich hinter wenigen Dezibel in Wirklichkeit eine Vervielfachung des physikalischen Schalldrucks verbirgt. So bedeuten 20 dB tatsächlich eine Verzehnfachung des Schalldrucks (Abb. i52). 8o dB meinen vier Verzehnfachungsschritte (80:20=4), also eine Steigerung um 104 = 10 000. Der Hörverlust eines Patienten von 8o dB bedeutet damit, daß dieser zur Wahrnehmung eines bestimmten Tons gegenüber einem Gesunden den 10 ooo fachen Schalldruck benötigt. Der Begriff des Pegels und damit eine dB-Skala werden vom Physiker übrigens nicht nur für den Schalldruck, sondern auch für andere Größen (z. B. elektrische Spannung) verwendet. Um Mißverständnisse zu vermeiden, wird daher dem Schalldruckpegel in dB der Zusatz SPL (sound pressure level) hinzugefügt. 2 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Zunehmender Schalldruck führt zu zunehmender Lautstärkeempfindung Zu den wichtigsten klinischen Untersuchungsverfahren des Gehörs zählt die Tonaudiometrie. Hierzu wird ein Gerät verwendet, das reine Töne erzeugt (Tonaudiometer). Diese Töne werden dem Untersuchten für jedes Ohr getrennt über einen Kopfhörer angeboten. Dabei wird der Schalldruck eines Tons von der untersuchten Person in einer bestimmten, subjektiven Lautstärke wahrgenommen. Tiefe Frequenzen werden als tiefe Töne, hohe Frequenzen als hohe Töne einpfunden. Bei gleichem physikalischen Schalldruck werden Töne zwischen 2000 und 5000 Hz jedoch lauter gehört als höher oder niederfrequente Schallsignale. Die subjektive Lautstärke ist also frequenz- abhängig. Will man, daß der Patient alle Töne gleich laut (isophon") hört, so muß man den Schalldruck frequenzabhängig ständig ändern. Kurven gleicher Lautstärkepegel (Isophone) verlaufen daher gekrümmt (Abb. 15-2). Sie werden in Phon angegeben und decken sich definitionsgemäß bei 1000 Hz mit der dB-Skala des Schalldruckpegels. Der menschliche Hörbereich umfaßt Frequenzen von 20 bis 16 000 Hz und Laustärkepegel zwischen 4 und 130 Phon. Der in Abb. 15-2 dargestellte menschliche Hörbereich wird als Hörfläche bezeichnet. In ihrer Mitte befindet sich der besonders wichtige Hauptsprachbereich. Er umfaßt die Frequenzen und Lautstärken der menschlichen Sprache. Erfaßt eine Hörstörung des Hauptsprachbereich, so hat dies eine für den Patienten schwerwiegende Einschränkung des Sprachverständnisses zur Folge (5-9). Die Schwellenaudiometrie mißt die Hörschwelle des Ohrs Klinisch wird das Tonaudiometer nahezu ausschließlich dazu verwendet, die Schalldruckpegel der niedrigsten Isophone zu bestimmen. Jeder Ton wird nämlich vom Untersuchten erst (oberhalb eines bestimmten, niedrigen Schalldruckpegels, der Hörsclnvelle, gehört. Deshalb spricht man auch von Schwellenaudiometrie. Die Hörschwelle ist frequenzabhängig und zwischen 2000 und 5000 Hz am niedrigsten. Sie stellt eine Isophone dar (4 Phon). Die gekrümmte Hörschwellenkurve (Abb.15-2) ist für den klinischen Alltag jedoch unpraktisch. Vielmehr hat man die beim Durchschnitt gesunder Jugendlicher meßbare Hörschwelle für alle Frequenzen bestimmt und willkürlich als 0 dB V (Hörverlust) bezeichnet. Die klinische Hörschwellenkurve wird als Gerade dargestellt (Abb.15-3), so daß für den medizinischen Alltag ein übersichtliches Bild entsteht. Diese Form der Darstellung heißt Tonaudiogramm. Leidet der Patient an einer Schwerhörigkeit, so bedeutet dies eine höhere Tonschwelle im Vergleich zu einem Gesunden. Im Audiogramm weicht die Meßlinie dann um einen bestimmten dB-Betrag von der normalen Hörschwelle nach unten ab. Verschließt ein Gesunder beide Ohren mit den Fingern, so beträgt diese Abweichung beispielsweise 20 dB. Man spricht dann von einem Hörverlust (HV) von 20 dB HV (Abb.15-3, B). Aber auch oberhalb der Hörschwelle (überschwellig") kann der Arzt Hörprüfungen durchführen. So werden die 'Töne bei hohem Schalldruckpegel unbehaglich (Unbehaglichkeitsschwelle) und sogar schmerzhaft (Schmerzschwelle). Man kann dies selbst in lauten Diskotheken erleben. Manche Krankheiten des Hörorgans sind mit einer Herabsetzung von Unbehaglichkeitsund Schmerzschwelle verbunden. Die Betroffenen empfinden Unbehaglichkeit und sogar Schmerz bereits bei normaler Sprache oder Musik [6). 3 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Abb.15-3.Tonschwellenaudiogramm. Die Schwelle bei Luftleitung (Kopfhörer) ist rot, die Schwelle bei der Knochenleitung ist gelb gezeichnet. A Normales Audiogramm. B Schalleitungsstörung von ca. 20 dB bei verschlossenenm Gehörgang. C Schallleitungsschwerhörigkeiten von 40 bis 50 dB bei Verlust von Gehörknöchelchen und Trommelfell. Da das, lnnenohr nicht betroffen ist, ist die Knochenleitungsschwelle normal (air-bone gap). D Hörverlust von 40 bis 50 dB nach einer Schädigung des Innenohrs. Weder durch die Luftleitung noch durch die Knochenleitung kann das lnnenohr den Schall mit normaler Schwelle wahrnehmen. Das Ohr verarbeitet Schallwellen, Kompressions- wellen oder Druckschwankungen der Luft. Die Druckschwankungen heißen Schalldruck. Klinisch wird der Pegel des Schalldrucks (Schalldruckpegel) verwendet, der von 0 etwa 120 dB reicht. Hinter wenigen dB verbirgt sich in Wirklichkeit eine Vervielfachung des Schalldrucks. Eine Zunahme des Schalldrucks führt zu zunehmender Lautstärkeempfindung. Die subjektive Lautstärkeempfindung ist frequenzabhängig zwischen 20 und 16000 Hz. Hörschwelle nennt man die geringste, gerade noch empfundene Lautstärke. Die Hörschwellenaudiometrie dient klinisch zur Erfassung des Hörvermögens in dB HV. 15.2 Die Schalleitung zum Innenohr Das Ohr des Menschen besteht aus dem äußeren Ohr, dem Mittel und dem Innenohr (Abb. 15-4). 4 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Der Schall gelangt durch die Luft des äußeren Gehörgangs bis zum Trommelfell (Luftleitung) und anschließen wird seine Energie durch Schwingenungen von Trommelfell und Gehör-knöchelchen bis zum ovalen Fenster des Innenohrs fortgeleitet. Gleichzeitig wird der niedrige Schallwellenwiderstand (Schallimpedanz) der Luft an die hohe Impedanz des flüssigkeitsgefüllten Innenohrs angepaßt. Das Innenohr kann aber auch Schwingenungen der Schädelknochen verarbeiten (Knochenleitung). Das Mittelohr ist eine Schallbrücke, um den hohen Schallwellenwiderstand des Innenohrs zu überwinden Im täglichen Leben gelangt der Schall durch die Luft des äußeren Gehörgangs auf das Trommelfell (Luftleitung). Im Mittelohr ist in das Trommelfell der Hammer eingelassen und über den Amboß mit dem Steigbügel verbunden (Abb. 15-5). Die Fußplatte des Steigbügels sitzt beweglich im ovalen Fenster zum Innenohr. Eine intakte und bewegliche Gehörknöchelchenkette ist Voraussetzung für eine normale Hörschwelle bei der Luftleitung. Krankhafte Veränderungen der Gehörknöchelchenkette führen zu einem im Tonaudiogramm meßbaren Hörverlust bei Luftleitung (Schalleitungsschwerhörigkeit). Sind Gehörknöchelchen und Trommelfell zerstört, muß der Luftschall direkt auf das flüssigkeitsgefüllte Innenohr auftreffen. Da der Schallwellenwiderstand (die Schallimpedanz) des Innenohrs aufgrund seiner Flüssigkeitsfüllung jedoch erheblich höher ist als der der Luft, wird dann der Schall an der Grenze zum Innenohr zu rund 98% reflektiert. Nur 2% der Schallenergie treten in das Innenohr ein und können vom Patienten wahrgenommen werden. Beim Gesunden hingegen wird die Schallenergie im Mittelohr nicht durch Luftdichteschwankungen, sondern durch Schwingungen (Vibrationen) des Trommelfells und der Gehörknöchelchen fortgeleitet. Die Gehörknöchelchen sind anatomisch nämlich so gebaut, daß sie die Reflexion von Schall verringern, so daß im Mittel 60% statt 2% (also 30 mal mehr) Schallenergie auf das Innenohr übertragen werden kann. Der Trommelfell-Gehörknöchelchen-Apparat paßt also die Impedanz der Luft an die Impedanz der Flüssigkeit des Innenohrs an. 5 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen 6 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen 7 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Diese Impedanzanpassung wird durch zwei Hauptmechanismen erzielt. Die Gehörknöchelchen wirken als Hebel. Dadurch übt die Steigbügelfußplatte auf das ovale Fenster eine größere Kraft aus, als die durch die Luft ursprünglich am Trommelfell erzeugte. Klinisch bedeutsamer ist es jedoch, daß die Fläche der Steigbügelplatte deutlich kleiner ist als die Fläche des Trommelfells. Da Druck = Kraft/Fläche ist, wird durch den Bau von Trommelfell und Gehörknöchelchen eine Druckerhöhung erreicht [11]. Zerstörungen oder Versteifungen der Gehörknöchelchenkette können mit mikrochirurgischen Techniken (Tympanoplastik) fast immer erfolgreich operiert werden. Dazu stehen dem Arzt künstliche Gehörknöchelchen aus Keramik, Titan oder Platin zur Verfügung. Ein künstlicher Steigbügel hat eine Größe von z. B. 4,25 x 0,4 mm und wiegt wenige Milligramm. Über Knochenleitung kann das Innenohr auch durch Schwingungen der Schädelknochen erregt werden Ein Ton kann nicht nur über die bisher besprochene Luftleitung ans Innenohr gebracht werden. Vielmehr kann ein schwingender Körper, etwa eine Stimmgabel, auf einen Schädelknochen aufgesetzt werden. Die dadurch im Knochen angeregte Schwingung wird unter Umgehung des Mittelohrs direkt bis zum Innenohr fortgeleitet, was als Knochenleitung bezeichnet wird. Die Knochenleitung spielt für die Hörvorgänge des täglichen Lebens nur eine untergeordnete Rolle. Sie wird jedoch vom Arzt zur Routineuntersuchung des Patienten wie auch für weitergehende diagnostische Maßnahmen ausgenutzt. So gehören zur klinischen Untersuchung eines Patienten die Stimmgabelversuche nach Rinne und Weber. Beim Rinne-Versuch werden die 8 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Luft- und die Knochenleitung an einem Ohr miteinander verglichen. Dazu wird der Fuß einer schwingenden Stimmgabel solange auf den Knochen des Mastoids (hinter dem Ohr) aufgesetzt, bis der Patient den Ton nicht mehr hört. Ein Gesunder hört den Ton wieder, wenn die Stimmgabel, ohne neu angeschlagen zu werden, anschließend vor das Ohr gehalten wird (Rinne positiv). Bei einer Schalleitungsschwerhörigkeit wird der Ton auch vor dem Ohr nicht mehr gehört (Rinne negativ). Der Weber-Versuch beruht auf dem beidohrigen Vergleich der Knochenleitung. Mit einer Stimmgabel wird in der Mitte der Stirn an der Haargrenze eine Schwingung der Schädelknochen angeregt. Ohrgesunde hören den Ton entweder in der Schädelmitte oder auf beiden Ohren gleich laut. Der einseitig Schalleitungsschwerhörige hört die Stimmgabel im kranken Ohr deutlich lauter. Ein Gesunder kann dies leicht an sich selbst überprüfen, indem er den Weber-Versuch durchführt und ein Ohr mit dem Finger zuhält. Er wird den Ton auf diesem Ohr hören. Für diese Lateralisation in das kranke Ohr bei einer Schalleitungsschwerhörigkeit wirken mehrere Faktoren synergistisch. Zum einen ist nicht nur der Schalltransport von außen nach innen, sondern auch von innen nach außen reduziert. Bei der Schalleitungsstörung geht dem Innenohr dadurch weniger Schallenergie verloren als beim Gesunden (Mach-Schallabflußtheorie). Zum zweiten ist das kranke Ohr auf einen geringeren Schalldruckpegel adaptiert, da wegen der Schalleitungsstörung weniger Umweltgeräusche an das Innenohr gelangen. Das Innenohr ist dadurch empfindlicher eingestellt als auf der gesunden Seite. Auch in der klinischen Tonschwellenaudiometrie wird die Knochenleitung ausgenutzt. Die oben geschilderte Tonaudiometrie (Abb. 15-3) der Luftleitung mittels Kopfhörer ist in der ärztlichen Praxis nämlich nur der erste Teil einer Untersuchung. Im zweiten Fall ersetzt der Arzt den Kopfhörer durch einen elektrischen Vibrator, der auf den Knochen des Processus mastoideus, getrennt für jede Seite, aufgesetzt wird. Dadurch wird auch die Knochenleitung tonaudiometrisch überprüft. Beim Gesunden stimmen die Werte von Luftleitung und Knochenleitung überein und liegen auf der Geraden für die Hörschwelle (Abb. i5-3). Liegt eine Schalleitungsschwerhörigkeit, etwa durch Schäden an den Gehörknöchelchen, vor, so ist die Schwelle bei der Messung der Luftleitung (Kopfhörer) verschlechtert (Abb. 15-3). Die Meßlinie weicht im Audiogramm nach unten ab. Die Knochenleitung (Vibrator) hingegen ist normal, also an der Hörschwelle, da die Schallenergie direkt unter Umgehung des Mittelohrs das gesunde Innenohr reizt. Bei einer Schalleitungsstörung ist daher eine Diskrepanz (air-bone gap) zwischen Luftleitung und Knochenleitung im Audiogramm sichtbar. 9 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Ohne Mittelohr würde 98 % des Schalls vom Ohr reflektiert und nicht aufgenommen werden. Ursache ist die viel höhere Impedanz des Innenohres im Vergleich zur Luft. Es ist also eine Impedanzanpassung erforderlich, für die Trommelfell und Gehörknöchelchen verantwortlich sind. Die Reflexion wird dadurch so drastisch verringert, daß 60 % der Schallenergie in das Innenohr eintreten kann. Aber auch ohne Mittelohr kann das Innenohr angeregt werden. Die Knochenleitung über die Schädelkalotte wird klinisch für Stimmgabeluntersuchungen und für Hörprüfungen genutzt. 15.3 Die Schalltransduktion im Innenohr Im Innenohr bildet das Schallsignal eine Wanderwelle in der zentralen Funktionseinheit der Schnecke, der Basilarmembran. Das Amplitudenmaximum der Wanderwelle entsteht in Abhängigkeit von der jeweiligen Reizfrequenz an einem bestimmten Ort entlang der Basilarmembran. Die Schwingung der Basilarmembran löst eine Abbiegung der Sinneshärchen der Rezeptorzellen (Haarzellen) aus, die sich auf der Basilarmembran im Corti-Organ befinden. Dadurch wird ein Prozeß eingeleitet, welcher das mechanische Schallsignal in elektrische und chemische Signale umwandelt (transduziert). Als dessen Folge geben innere Haarzellen einen afferenten Transmitter an die afferenten Fasern des Hörnervs ab. Äußere Haarzellen sind für die aktive Verstärkung des Wanderwellenmaximums und die Stimulation der inneren Haarzellen verantwortlich. schließend adäquat zu behandeln, sind allerdings Detailkenntnisse von Bau und Funktion des Innenohrs erforderlich. Das Schallsignal löst Schwingungen kochleärer Membranen aus Das Innenohr besteht aus zwei Hauptteilen. Die Cochlea (Hörschnecke) ist für die Schallverarbeitung, das vestibuläre Labyrinth für den Gleichgewichtssinn (Kap. 14) zuständig. Die Cochlea ist ein schlauchförmiges Organ, das in Form eines Schneckenhauses in zweieinhalb Windungen aufgerollt ist. Die kompliziert erscheinende Anatomie ist leichter zu verstehen, wenn man sich die Hörschnecke teilweise „entrollt" vorstellt wie in (Abb. 15-5). Dann erkennt man, daß die Cochlea aus drei übereinanderliegenden Kanälen (sog. Skalen) besteht (Abb. 15-6), von denen zwei, die Scala vestibuli und die Scala tympani, am sog. Helikotrema zusammenhängen. Gegen das Mittelohr sind sie durch die Steigbügelfußplatte am ovalen Fenster bzw. die Membran des runden Fensters abgegrenzt. Erkrankungen des Innenohrs führen zu einer Störung der Schallempfindung: kochleäre Schaltempfindungsschwerhörigkeit. Sie läßt sich bereits mit den bisher besprochenen Prüfmethoden diagnostizieren. Im Tonaudiogramm weichen die Meßlinien für Luft und Knochenleitung gleichermaßen nach unten ab, da die Schwelle verschlechtert ist. Aber die gefundenen Werte für Luft- und Knochenleitung stimmen überein, da die Schalleitung ja normal ist (Abb. 15-3). Der Stimmgabelversuch nach Rinne ist wie beim Gesunden positiv (Luftleitung ungestört). Beim Weber-Versuch hingegen hört der einseitig Schallempfindungsschwerhörige den über den Knochen geleiteten Ton im gesunden Ohr, weil die Schwelle im kranken Ohr erhöht ist. Um die mit diesen Mitteln erkannte Schallempfindungsstörung genauer zu diagnostizieren und an10 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Im Innenohr löst das Schallsignal Auf- und Abwärtsbewegungen der kochleären Membranen aus. Dadurch entstehen Scherbewegungen vor allem zwischen Tektorialmembran und Sinneshärchen. Sie führen zu Auslenkungen der Stereozilien - dem adäquatem Reiz der Sinneszellen. Es öffnen sich Transduktionsionenkanäle in den Stereozilien, wodurch K+-lonen aus der Endolymphe in die Zellen eintreten. Sie lösen das Rezeptorpotential aus. Dieses führt zur Freisetzung von Glutamat aus inneren Haarzellen. 15.4 Signaltransformation von der Hörnerven Sinneszelle zum Innere Haarzellen erregen den Hörnerv durch einen afferenten Transmitter Die durch die Abscherung der Stereozilien bewirkten Ionenströrne und Potentialänderungen innerer Haarzellen (nicht jedoch äußerer Haarzellen) setzen an ihrem unteren Ende einen Neurotransmitter frei (Abb.15-12). Dort befinden sich nämlich die afferenten Synapsen des Hörnervs (Abb. 15-7). Der afferente Transmitter zwischen innerer Haarzelle und afferenter Endigung ist nicht mit Sicherheit identifiziert, doch ist Glutamat sehr wahrscheinlich. Glutamat diffundiert durch den schmalen synaptischen Spalt und bindet an AMPA-Rezeptoren der Nervenzellmembran. Dadurch wird ein postsynaptisches Potential ausgelöst, das zu Nervenaktionspotentialen führt [17,18,19,241. Die Reizung der afferenten Nervenfasern und damit die Weitergabe der im Schallreiz enthaltenen Information erfolgt ausschließlich von den inneren Haarzellen. Interessanterweise haben die äußeren Haarzellen nämlich eine ganz andere Funktion. Sie wird später besprochen. Innenohr und Hörnerv produzieren klinisch meßbare Reizfolgepotentiale Rezeptorpotentiale (Abb. 15-1o) und Ionenkanäle an Haarzellen zu registrieren, ist schwierig und bisher nur bei Versuchstieren, nicht jedoch beim Menschen gelungen. Für klinische Untersuchungen am Menschen ist es aber möglich, feine Elektroden durch das Trommelfell hindurch auf die knöcherne Innenohrwand (das Promontorium) in der Nähe des runden Fensters und damit in die Nähe von Rezeptorzellen und Hörnerven aufzusetzen. Wird der Patient beschallt, so kann ein Potential, Mikrophonpotential genannt, abgeleitet werden (Abb.15-13). Der Name stammt von den ersten Messungen dieses Potentials an Säugetieren. Man kann nämlich an die Elektroden einen Verstärker mit Lautsprecher anschließen. Spricht man in das Ohr hinein und gibt die registrierten Potentiale nach weiterer Verstärkung auf einen Seite 268 Abb.15-13. Mikrofonpotential der Cochlea und Summenaktionspotential des Hörnervs nach einem extrem kurzen Schallreiz („Klick") bei Ableitung am Promontorium (nach 8) Lautsprecher, so hört man das gesprochene Wort ohne weiteres aus dem Lautsprecher. Das Ohr verhält sich also wie ein Mikrophon. Die Mikrophonpotentiale entstehen an den äußeren Haarzellen, der genaue Mechanismus ist aber noch ungeklärt. Wird das Ohr mit einem sehr kurzen Schallimpuls (Klick) gereizt, dann kann man mit der Promontoriumselektrode oder am runden Fenster eines Versuchstiers zusätzlich noch ein Summenaktionspotential (compound action potential, CAP) des N. acusticus ableiten. Es entsteht durch eine synchrone Erregung vieler afferenter Nervenfasern des Hörnervs. Die Ableitung derartiger Summenaktionspotentiale ist klinisch interessant, wenn mit objektiven Methoden die Hörfähigkeit eines Patienten geprüft werden soll. Bei ertaubten Patienten kann man andererseits eine gleichartige Promontoriumselektrode dazu verwenden, den Hörnerv elektrisch zu reizen. Sind der Nerv und auch das zentrale Hörsystem noch intakt, dann berichtet der Patient über Hörempfindungen, und man kann bei genauerer Untersuchung feststellen, ob sich der Patient für die Implantation einer elektronischen Hörprothese (sog. Cochleaimplantat) eignet, die anstelle der Cochlea die afferenten Hörnervenfasern erregen soll. Derartige Cochleaimplantate werden heute routinemäßig bei gehörlosen Erwachsenen und Kleinkindern eingesetzt. Kleinkinder lernen damit sogar ihre Muttersprache. 11 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Scala vestibuli und Scala tympani sind mit der aus dem Liquor stammenden Perilymphe gefüllt, einer Flüssigkeit, die sich ähnlich wie andere extrazelluläre Flüssigkeiten zusammensetzt, also viel Na' enthält. Zwischen diesen beiden Skalen liegt die Scala media. Diese wird durch die Reissner-Membran und das Corti-Organ von Scala vestibuli bzw. Scala tympani abgegrenzt (Abb. 15-6). Das Corti-Organ sitzt auf der Basilarmembran und enthält die Hörsinneszellen (Haarzellen). In der Scala media befindet sich die Endolymphe, eine auffällig K+-reiche Flüssigkeit, deren Zusammensetzung intrazellulären Flüssigkeiten ähnelt. Die Endolymphe wird durch die Stria vascularis, einen sehr gut durchbluteten Bereich der Cochleawand, produziert. Zur Freisetzung des Kaliums besitzen die marginalen Striazellen Kalium-Ionenkanäle. Wird das Ohr beschallt, so schwingt der Stapes mit der ovalen Fenstermembran, so daß die Schallenergie durch das ovale Fenster in die Perilymphe der Scala vestibuli eintritt. Die Flüssigkeit ist nicht kompressibel und weicht daher aus; dabei werden Reissner-Membran, Scala media, Corti-Organ und Basilarmembran nach unten gedrückt (Abb. 15-5: weißer Pfeil; Abb. 15-6: roter und weißer Pfeil). Dadurch wird auch die Flüssigkeit in der Scala tympani verdrängt. Diese ist ebenfalls inkompressibel, kann aber ausweichen, weil die Membran des runden Fensters gegen das Mittelohr gewölbt werden kann (Abb. 15-5). Im weiteren Verlauf einer Schallschwingung schließt sich die umgekehrte Bewegung an: Steigbügel und ovales Fenster werden wieder nach außen, die Reissner-Membran, Corti-Organ und die Basilarmembran nach oben, das runde Fenster nach innen bewegt. Da bei einem Schallereignis Schallschwingung auf Schallschwingung das ovale Fenster ein- und auslenken, führt dieser Vorgang zu einer ständigen Auf- und Abwärtsbewegung (Auslenkung) der Membranen und des Cörti-Organs des Innenohrs. Die große Empfindlichkeit des menschlichen Ohrs kann man ermessen, wenn man bedenkt, daß der eben wahrnehmbare Schalldruck im Innenohr zu Auslenkungen von etwa 1o-1° m, also ungefähr vom Durchmesser eines Wasserstoffatoms, führt. Relativbewegungen zwischen den kochleären Membranen scheren die Sinneshärchen der Haarzellen ab Im Querschnitt (Abb.15-6,15-7) sieht man auf die Basilarmembran sowie auf die Rezeptorzellen, die in Stützzellen eingebettet sind. Rezeptorzellen und Stützzellen nennt man Corti-Organ. Die Rezeptorzellen werden als Haarzellen bezeichnet, da sie an ihrem oberen Ende jeweils bis zu loo haarähnliche, submikroskopische Fortsätze, die Stereozilien (Sinneshärchen), besitzen. Der Mensch besitzt drei Reihen äußerer Haarzellen sowie eine Reihe innere Haarzellen (Abb. 15-7). Über ihnen befindet sich eine gelatinöse Masse, die Tektorialmembran (Abb.15-6,15-7), welche die Spitzen der längsten Stereozilien der äußeren Haarzellen soeben berührt. Dadurch befindet sich zwischen Tektorialmembran und Haarzellen ein schmaler mit Endolymphe gefüllter Spalt. Die oben geschilderte schallinduzierte Auf- und Abwärtsbewegung (Auslenkung) der kochleären Trennwand führt zu einer Relativbewegung (Scherbewegung) zwischen Tektorial- und Basilarmembran. Diese sind nämlich an unterschiedlichen übereinanderliegenden Orten parallel aufgehängt (Abb. 15-8). Wenn beide gleichzeitig ausgelenkt werden, entsteht eine Parallelverschiebung zwischen beiden Membranen. Weil die Tektorialmembran die Spitzen der längsten Stereozilien der äußeren Haarzellen berührt, kann sie bei dieser Relativbewegung die Stereozilien umbiegen (abscheren, auslenken, deflektieren) und dadurch die Sinneszellen adäquat reizen (Abb. 15-8). Die inneren Haarzellen hingegen haben keinen direkten Kontakt mit der Tektorialmembran. Abb. 15-7. Querschnitt durch das Corti-Organ. Das Schema zeigt die Anordnung von Sinneszellen und afferenten Nervenfasern Die äußeren Haarzellen haben Kontakt mit der Tektorialmembran, die inneren haarzellen haben keinen Kontakt. Dadurch werden die äußeren Haarzellen durch die Tektorialmembran gesteuert. Die inneren Haarzellen werden durch die äußeren gesteuert (Pfeil) 12 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Abb. 15-B. Erregungsmechanismus der Haarzellen. Schematischer Ausschnitt aus der Schneckentrennwand. Gezeigt ist die Anordnung der Haarzellen zwischen Tektorial- und Basilarmembran: A in Ruhe, äußere Haarzellen berühren die Tektorialmembran, innere berühren sie nicht; B bei Auslenkung der Schneckentrennwand. Die wanderwelleninduzierte Auslenkung der Schneckentrennwand - einschließlich Haarzelle - nach oben führt zu einer Deflexion der Stereozilien. Die Stereozilien der äußeren Haarzellen werden durch die Tektorialmembran deflektiert. Die Stereozilien der inneren Haarzellen schert der Sog der Endolymphströmung (Pfei4 ab Durch die Abscherung der Sinneshärchen wird derTransduktionsprozeß in den Haarzellen eingeleitet Haarzellen besitzen wie alle anderen Zellen ein Membranpotential. Befindet sich die Haarzelle in Ruhe, so beträgt das Ruhemembranpotential (Abb. i5-9) zwischen rund -4o mV (innere Haarzellen) und rund -7o mV (äußere Haarzellen). Eine Deflektion der Stereozilien infolge des Schallreizes führt zur Änderung des Membranpotentials. Diese Änderung heißt Rezeptorpotential (Abb. i5-io). Um das Rezeptorpotential sowohl bei einer physiologischen Erregung als auch bei bestimmten Formen von Schwerhörigkeiten verstehen zu können, müssen an dieser Stelle zwei elektrophysiologische und elektrochemische Besonderheiten des Innenohrs, die einzigartig im Körper sind, eingeführt werden (Abb. i5-9). Sie betreffen die Scala media. Die Scala media enthält Endolymphe mit einer ungewöhnlich hohen extrazellulären Kaliumkonzentration von ca. 140 mmol/1 und ist gegenüber den übrigen Extrazellulärräumen des Körpers stark positiv geladen (etwa +85 mV). Dieses ständig vorhandene Potential heißt endokochleäres Potential. Es wird - wie die hohe K+-Konzentration - von der Stria vascularis erzeugt. Die Zilien der Haarzellen grenzen an den Endolymphraum mit seinem Potential von +85 mV. Da das Abb. 15-9. Endokochleäres Potential. Die Scala media mit positivem endokochleärem Potential und auffällig hoher Kaliumkonzentration in der Endolymphe. Das apikale Ende der Haarzellen ragt in die Scala media hinein. Beim Transduktionsvorgang öffnet die Haarzelle lonenkanäle, so daß aufgrund der elektrochemischen Potentialdifferenz vermutlich Kaliumionen aus der Scala media in die Haarzelle einströmen Ruhemembranpotential bei äußeren Haarzellen -70 mV, bei inneren Haarzellen -4o mV beträgt, errechnet sich für die Zilienoberfläche eine transmembranale Potentialdifferenz von ca. i25-155 inV. Weil die K+-Konzentration in der Endolymphe mit 140 mmol/1 etwa der intrazellulären K+-Konzentration entspricht, errechnet sich nach der Nernst-Gleichung (Kap. i) ein chemisches K+-Gleichgewichtspotential von o mV. Das bedeutet, Abb. 15-10. Potentialmessungen an Haarzellen mit Mikroelektroden. Schnelle positive und negative Potentialabweichungen vorn -70-mV-Wert bei Beschallung. Diese Potentialänderungen heißen Rezeptorpotentiale [nach 22] 13 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen daß die gesamte elektrische transmembranale Potentialdifferenz als treibende Kraft für einen K+-Einstrom in die Zelle zur Verfügung steht. Für den Transduktionsprozeß wird angenommen, daß eine Abscherung der Zilien die Öffnung von Ionenkanälen an der Spitze der Haarzelle (z. B. in den Zili2n) hervorruft. Interessanterweise ziehen kleine Fäden von den Spitzen der meisten Stereozilien zur Wandung der dahinterstehenden Zilie (sog. Tip links: Abb. i5-ii). Werden die Stereozilien in Erregungsrichtung deflektiert, so werden die Tip links gespannt. Man stellt sich vor, daß durch den Zug K+-durchlässige Kanäle geöffnet werden und daß durch diese Kanäle K+-Ionen aus der Abb. 15-11. Tip links. A Rasterelektronenmikroskopie der Tip links. Man sieht Fäden, die von der Spitze eines Stereoziliums zum dahinterstehenden Stereozilium ziehen (Abb. Dr. Koitchev, Tübingen). B Eine akustische Reizung führt zu einer Anspannung der Spitzenfäden (Tip links), die zur Öffnung von lonenkanälen in den Spitzen von Stereozilien führen soll. C Eine Hemmung erlaubt eine Entspannung der Spitzenfäden mit Schluß von lonenkanälen (nach 14) Endolymphe in die Haarzelle einströmen und zu deren Depolarisation ist mit intrazellulär eingestochenen Mikroelektroden während eines Schallreizes tatsächlich meßbar. Zur Repolarisation besitzt die Zelle kaliumspezifische Ionenkanäle an ihrer seitlichen Zellmembran. Mit Hilfe von winzigen Patch-clamp-Elektroden können derartige Ionenkanäle direkt in der Zellmembran lebender äußerer Haarzellen untersucht werden (Abb. 15-10). Eine Depolarisation der Haarzelle öffnet diese Kanäle. Dadurch können K+-Ionen die Haarzelle durch die seitliche Zellmembran wieder verlassen, und das Membranpotential wird wieder angehoben [12,15,17,22]. Manche Medikamente, z. B. Schleifendiuretika (harntreibende Arzneimittel), können als Nebenwirkung die Stria vascularis blockieren. Durch den Zusammenbruch des endolymphatischen Potentials kann die Transduktion nicht mehr stattfinden, so daß eine Schwerhörigkeit entsteht. Abb. 15-12. Transduktionschritte von Haarzellen. Das Schallsignal führt zu einer Deflektion des Haarbündels, wodurch sich apikale lonenkanäle öffnen. Kaliumionen strömen in die Zelle. Die Folge ist eine Depolarisation der Zelle. Die Depolarisation führt (in inneren Haarzellen) zur Freisetzung des afferenten Transmitters (vermutlich Glutamat), wodurch die afferenten Nervenfasern stimuliert werden. Bei äußeren Haarzellen führt sie zur Kontraktion der Zellen. Gleichzeitig steigert die Depolarisation die Öffnungswahrscheinlichkeit von kaliumspezifischen Kanälen in der laterobasalen Zellwand (in äußeren Haarzellen sind es z. B.Typ-C-Kanäle). Sie erlauben die Repolarisation der Zelle. Äußere Haarzellen elongiern, innere beenden die Transmitterfreisetzung 14 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Im Innenohr löst das SchaIIsignal Auf- und Abwartsbewegungen der kochleären Membranen aus. Dadurch entstehen Scherbewegungen vor allem zwischen Tektorialmembran und Sinneshärchen. Sie führen zu Auslenkungen der Stereozilien-dem adäquatem Reiz der Sinneszellen. Es offnen sich Transduktionsionenkanäle in den Stereozllien, wodurch K--lo nen aus der Endolymphe In die Zellen eintreten. Slelösen das Rezeptorpotentlalaus.Dlese• führt zur Freisetzung von Glutamat aus inne reu Haarzellen. 15.4 Signaltransformation von der Sinneszelle zum Hörnerven Innere Haarzellen erregen den Hörnerv durch einen afferenten Trausmitter Die durch die Abscherung de, Stereozilien bewirkten Iomenströme lind Potentialänderungen innerer Haartrieben (nicht jedoch äußerer Haarzellen) setzen an ihrem unteren Ende einen Neurotransmitter frei (A66.15-1z). Dort befinden sich nämlich die affermmwn Synopsen des Hörnervs (Abb. 15-7). Der afferente Transmitter zwischen innerer Haarzelle und afareuter Emdigung ist nicht mit Sicherheit identifiziert, doch ist Glutamat sehr wahrscheinlich- Glutamat diffundiert durch den schmalen synoptischen Spalt und bindet an AMPA-Rezeptoren der Nervenzellmembran. Dadurch wird ein postsynoptisches Potential ausgelöst, das zu Nervenaktionspotentialen führt [17,18,19,241 Die Reizung der, afferenten Nervenfasern und damit die Weitergabe der im Sahal/reiz enthaltenen Information erfolgtausschließlicl, von den inneren Haarzellen. Interessanterweise haben die änßerul Haarzellen nämlich eine ganz andere Punktion. Sie wird später besprochen. Innenohr und Hörnerv produzieren klinisch meßbare Reizfolgepotentiale Rezeptorpotentiale (A66.15-10) und lonenkanäle an Ilaarzellen zu registrieren, ist schwierig und bisher nur bei Verauchaticren, nichljedoch beim Menschen geüungen. Für klinische Untersuchungen am Menschen ist es aber möglich, feine Elektroden durch das Trommelfell hindurch auf die knöcherne Inmwnohrwand (das Prommmtarium) in der Nähe des runden Fensters und damit in die Nähe von Rezeplorzellen und Hörnerven aufzusetzen. Wird de, Patient beschallt, so kann ein Potential, Mikrophonpotential genannt, abgeleitet werden (Abb. r5-rj). Der Name stammt von den ersten Messungen dieses Putentials an Säugetieren. Man kann nämlich an die Elektroden einen Verstärker mit Lautsprecher anschließen. Spricht man in das Ohr hinein und gibt dre registrierten Potentiale nach weiterer Verstärkung auf einen Lautsprecher, so hört man das gesprochene Wort ohne weiteres aus dem Lautsprecher. Das Ohr verhält sich also wie ein Mikrophon. Die Mikrophonpotentiale entstehen an de, äußeren Haarzellen, der genaue Mw chanismus ist aber nach ungeklärt Abb.15-13. Mikrononmtenual der, Cochlea und Smmmocktlons potential de, Hdnnerve nach einem extrem kurzen Schallreiz („klick“) bei AbleitungamPromontorium (nach 8) Wird das Ohr mit einem sehr kurzen Schallimpuls (Klick) gereizt, dann kann man mit der Promontoriumselektrode oder atn runden Fenster eines Versuchstiers zusätzlich noch ein Sammenaktianspotential (cmmpnund nennt, potential, CAP) des N. acusticus ab leiten. Es entsteht durch eine synchrone Erregung vieler mirerenter Nervenfasern de, Hörnervs. Die Ablcilunp, derartiger Summenaktiotlspotetltiale ist klmisdh interessant, wenn mit objektiven Methoden die hnlähigkeit eines Patienten geprüft werden soll. Bei ertaubten Patienten kann man andererseits eine gleichartige Promontoriumselektrode dazu verwenden, den Hörnerv eiekIrisch zu reizen. Sind de, Nerv und auch das „am, Hörsystem „ab intakt, dann berichtet der Patient über Hörempfindungen, und man kann bei Amts, .... um,„,bring feststellen, ob sich der Patient für die Implamtetion einer elektronischen 1lörprothese (sog. Cochleaimplantat) eignet, die anstelle der Coclllea die afferenlen Hörnervenfasernerregen soll. Derartige Cochleaimplantate werden heute routinemäßig bei gehörlosen Erwachsenen und Kleinkindern eingesetzt. Kleinkinder lernen damit sogar ihre Muttersprache. 15 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Das von inneren Haarzellen freigesetzte Glutamat löst ein postsynaptisches Potential in afferenten Hörnervenfasern aus, das zu Nervenaktionspotentialen führt. Die elektrischen Phänomene im Innenohr führen zu klinisch meßbaren Reizfolgepotentialen: dem Mikrophonpotential und dem Summenaktionspotential. Auch kann der Hörnerv klinisch elektrisch gereizt werden, um z. B. die Indikation für ein Cochleaimplantat zu stellen. 15.5 Frequenzselektivität: Grundlage des Sprachverständnisses Die hohe Frequenzselektivität des Ohrs beruht auf verstärkten Wanderwellen entlang der kochleären Membranen Das gesunde Ohr hat eine erstaunlich gute Fähigkeit, Tonhöhen zu unterscheiden, wenn die Töne sukzessiv angeboten werden. Bei iooo Hz können Änderungen um 0,3 %, also 3 Hz wahrgenommen werden (Frequenzunterschiedsschwelle). Ist diese Schwelle verschlechtert, kann der Kranke Sprache kaum noch verstehen. Für die Ausbildung dieser sog. Frequenzselektivität besitzt die Cochlea einen zweistufigen Mechanismus. Für die Beschreibung der ersten Stufe erhielt Georg von Bekesy 1961 den Nobelpreis [2]. Erklingt ein Ton, werden Reissner-Membran, Tektorialmembran, Corti-Organ und Basilarmembran in die bereits geschilderten ständigen Auf- und Abwärtsbewegungen, also in Vibrationen versetzt. Um nicht alle Membranen nennen zu müssen, spricht man häufig auch vereinfachend von Vibrationen der Basilarmembran, meint jedoch alle genannten kochleären Membranen. Diese Vibrationen bleiben nun nicht auf den Bereich in unmittelbarer Nähe von Steigbügel und rundem Fenster beschränkt, sondern bilden an der Basilarmembran eine Welle aus, die von der Schneckenbasis bis zur Schneckenspitze wandert, ähnlich einer Welle an einem horizontal aufgespannten Seil. Die Welle heißt daher auch Wanderwelle (Abb. t5-i4). Die Wanderwelle hat eine wichtige Eigenschaft. Sie wandert nicht gleichmäßig von der Basis zur Spitze der Schnecke. Vielmehr nimmt ihre Amplitude in einem ersten Schritt etwas zu, wird in einem zweiten Schritt bis zu tausendfach zu einer hohen Welle mit sehr scharfer Spitze und nimmt im weiteren Verlauf plötzlich wieder ab. Diese Verstärkung ist bei niedrigen und mittleren Schalldrücken besonders auffällig. Die scharfe Spitze der Wanderwelle stimuliert dann innere Haarzellen, die nach dem o. g. Transduktionsprozeß den afferenten Transmitter an die afferenten Hörnervenfasern weitergeben. Abb. 15-14. Die Wanderwelle in den kochleären Membranen. Die Wanderwelle startet nahe den Fenstermembranen und läuft die Basilarmembran entlang in Richtung Schneckenspitzeln Abhängigkeit von derjeweiligen Frequenz des Schallsignals bilden die kochleären Membranen ein Amplitudenmaximum an einem jeweils eng umschriebenen Ort aus (nach 26) Äußere Haarzellen verstärken die Wanderwelle tausendfach In den vorhergehenden Abschnitten wurden bisher die Funktionen der inneren Haarzellen beschrieben. Doch welche Aufgabe haben die äußeren Haarzellen, deren Zahl sogar dreimal so hoch ist? Bei vielen Innenohrschwerhörigen ist die scharfe Frequenzabstimmung der Cochlea (tuning) nicht mehr vorhanden. Als Folge leiden die Betroffenen insbesondere an einer Einschränkung der Sprachverständlichkeit, da bei ihnen das Frequenzunterscheidungsvermögen gestört ist. Anstieg 16 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen und Abfall des Amplitudenmaximums sind so flach, daß sich das Wellenmaximum für eine bestimmte Frequenz breit und unscharf auf der Basilarmembran abbildet. Nur der erste Schritt des Wanderwellenmechanismus funktioniert noch. Der zweite Schritt, die drastische Verstärkung, die zur scharfen Spitze und damit zur Frequenzselektivität führt, fehlt. Dieser grundlegende Unterschied ist auf den Ausfall der äußeren Haarzellen zurückzuführen. Bei niedrigem Schalldruck erzeugen die äußeren Haarzellen zusätzliche mikromechanische Schwingungen in der Reizfrequenz. Äußere Haarzellen können sich bis zu 20 ooomal pro Sekunde (2o kHz) verkürzen und verlängern (Abb. 15-15). Dadurch wirken sie wie Servomotoren, die nach dem ersten Schritt der Wanderwelle diese im zweiten Schritt bis zu tausendfach verstärken. Die zusätzliche Schwingungsenergie entsteht nur an dem jeweils frequenzcharakteristischen, eng umschriebenen Ort der Basilarmembran. Nur dort werden jeweils einige wenige (wahrscheinlich ca. 50) äußere Haarzellen durch die Tektorialmembran gereizt, die zusätzlich erzeugte Schwingungsenergie wird scharf lokalisiert an die inneren Haarzellen abgegeben: Die Wanderwelle wird in dem sehr eng umschriebenen Bereich verstärkt Die Frequenzselektivität des Ohres ist die Grundlage des menschlichen Sprachverständnisses. Sie ist vor allem auf das Ortsprinzip zurückzuführen. Beim Ortsprinzip wird die Wanderwelle durch äußere Haarzellen an einem frequenzspezifischen Ort entlang der Cochlea plötzlich bis zu 1000 fach verstärkt und entwickelt gleichzeitig eine extrem scharfe Spitze. Diese erlaubt die Frequenzunterscheidung und führt zu Reizung der inneren Haarzellen. Diese geben das Signal an den Hörnerven weiter. Schädigungen der Cochlea Schallempfindungsschwerhörigkeit führen zur Wie schon gesagt, führen Schädigungen des Innenohrs zu einer Schallempfindungsschwerhörigkeit. Solche Schäden werden z. B. durch Medikamente (Aminoglykosidantibiotika) oder durch Lärm verursacht. Dabei gehen Haarzellen, insbesondere äußere Haarzellen, zugrunde. Dadurch wird die Mechanik der Basilarmembranbewegungen gestört. Infolge dieser Störung steigt die Hörschwelle an, und die Frequenzselektivität nimmt ab. Insbesondere Lärmschäden sind in der heutigen Zeit sehr häufig, da Lärm allgegenwärtig ist. Es handelt sich dabei um Schädigungen des Innenohrs, also kochleäre Schallempfindungsstörungen, an denen allein in Deutschland 12 Mio. Kranke leiden. Neuerdings werden sie mit elektronischen Hörimplantaten, die den kochleären Verstärkungsprozeß teilweise ersetzen, behandelt. Eine besondere Form der Schallempfindungsstörung ist die sog. Altersschwerhörigkeit (Presbyakusis). Obwohl man vom Namen her vermuten könnte, daß es sich ausschließlich um eine Alterserscheinung handelt, beruht sie doch zum Teil auf chronischen Lärmschäden. Bei der Altersschwerhörigkeit sind insbesondere die hohen Frequenzen betroffen. Manchmal liegen neben den Innenohrschädigungen bei alten Menschen aber auch Hörstörungen vom sog. retrokochleären Typ vor, bei denen zentrale Verarbeitungsprozesse gestört sind. Abb.15-15. Die Motilität äußerer Haarzellen als Grundlage des kochleären Verstärkers. A Haarzelle in Ruhe; B stimulierte äußere Haarzelle: die Haarzelle verkürzt sich; C anschließend elongiert die Haarzelle. Die Längenänderungen „pumpen" mechanische Energie in die Wanderwelle, wodurch diese tausendfach verstärkt und die Endolymphströmung unter der Tektorialmembran so stark wird, daß die inneren Haarzellen gereizt werden. (Abb: Dr. R. Zimmermann,Tübingen, nach (26-28) Die Endolymphströmung unter der Tektorialmembran (Pfeil in Abb. 15-7 und 15-8) nimmt plötzlich massiv zu, wodurch die ortsspezifischen inneren Haarzellen gereizt werden. (Die schwache Endolymphstörung ohne Verstärkung durch die äußeren Haarzellen reicht bis 6o dB SPL nicht aus, die inneren Haarzellen zu stimulieren.) Die inneren Haarzellen transduzieren das verstärkte Signal und geben es transsynaptisch an den Hörnerv weiter. Durch diesen kochleären Verstärkungsprozeß wird die hohe Frequenzselektivität des gesunden Ohrs, die Voraussetzung für das Sprachverständnis ist, erreicht [26,27,28]. 17 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen 15.6 Informationsübertragung und Verarbeitung im ZNS Die von der Haarzelle als Folge des Transduktionsprozesses ausgelöste Transmitterfreisetzung wird in Form einer neuronalen Erregung über Hörnerv, Hirnstamm und Hörbahn bis zum auditorischen Kortex im Temporallappen weitergeleitet. Dabei sind wenigstens 5-6 hintereinander geschaltete, durch Synapsen verbundene Neurone beteiligt. Sie besitzen Kollaterale und Interneurone, die zu einer ausgedehnten neuronalen Vernetzung des auditorischen Systems führen. Die durch einen Schallreiz im Verlauf dieser Neurone hintereinander ausgelösten (evozierten) Aktionspotentiale werden klinisch zur Diagnostik ausgenutzt (Abb. 15-16). Man Abb. 15.-16 Akustisch evozierte Potentiale, In der Evoked response audimetry (ERA) genannten Untersuchung werden klinisch die elektrophysiologischen Vorgänge in Cochlea, Hörnerv und Hörbahn bestimmt. Bei nur einer Schallreizung und einer messung ergibt sich ein dem EEG ähnliches Bild, das die akustisch evozierte Antwort vollständig überlagert. Werden Schallreizung und Messung 2000mal hintereinander durchgeführt, dann können durch computerunterstützte rechnerische Mitteilung die spezifischen Reizantworten (Wellen) aus der unspezifischen Hirnaktivität im EEG herausgehoben werden. Hier gezeigt sind die klinisch wichtigen schnellen Hörnerven und Hirnstammpoteintiale. Die Wellen I-V entstehen vermutlich im Verlauf der hintereinandergeschalteten Neurone der Hörbahn. So wird Beispielsweise die Welle I dem Hörnerv zugeordnet (nach 13) B. von 2000 Potentialen) die spezifische akustische Reizantwort von Hörnerv und Hörbahn aus der unspezifischen Hirnaktivität im EEG herausgehoben werden (Abb.15-16). Unter zahlreichen meßbaren Potentialen werden die nach 2-12 ms auftretenden schnellen Hörnerven- und Hirnstammpotentiale zur Diagnostik retrokochleärer Hörstörungen ausgenutzt. Diagnostisch bedeutsam sind Verspätungen (Latenzzeitverlängerung) der einzelnen Potentiale. Der Hörnerv überträgt die transduzierten Signale aus der Cochlea ins ZNS Der N. cochlearis verläßt das Ohr durch den inneren Gehörgang zum Kleinhirnbrückenwinkel. Seine afferenten Fasern teilen sich und ziehen im Hirnstamm zum Nucleus cochlearis ventralis bzw. zum Nucleus cochlearis dorsalis, um dort zum zweiten Neuron umgeschaltet zu werden. Der Hörnerv besteht aus einer großen Zahl afferenter sowie teilweise auch efferenter (d. h. aus dem Gehirn kommender) Nervenfasern. 90 % der afferenten Nervenfasern haben nur eine Synapse mit einer einzigen, nämlich einer inneren Haarzelle. An das Gehirn werden also im wesentlichen Informationen von den inneren Haarzellen weitergeleitet. Da jede Haarzelle nach dem Ortsprinzip (s. oben) einer ganz bestimmten Tonfrequenz zugeordnet ist, wird die mit einer bestimmten Haarzelle synaptisch verbundene Hörnervenfaser bei Beschallung des Ohrs mit dieser ganz bestimmten Frequenz optimal erregt. Diese Frequenz heißt charakteristische Frequenz (Bestfrequenz) einer Einzelfaser. Die Zeitdauer eines Schallreizes wird durch die Zeitdauer der Aktivierung der Nervenfasern kodiert, die Höhe des Schalldruckpegels durch die Entladungsrate verschlüsselt (Abb.15-17). Allerdings kann eine einzelne Nervenfaser eine bestimmte Entladungsrate nicht überschreiten, sondern erreicht ab einem bestimmten Schalldruck einen Sättigungsbereich. Trotzdem kann die Information nach höherer Lautstärke spricht von der Evoked response audiometry (ERA). Es ist die wichtigste diagnostische Methode zur Unterscheidung zwischen einer kochleären und einer retrokochleären Empfindungsschwerhörigkeit. Als retrokochleär („hinter der Cochlea") bezeichnet man Erkrankungen, die etwa den Hörnerv zwischen Innenohr und Hirnstamm schädigen (z. B. Kleinhirnbrückenwinkeltumoren). Darüber hinaus wird die ERA zur Abklärung einer Säuglings- oder frühkindlichen Schwerhörigkeit sowie bei Zuständen völliger Bewußtlosigkeit (Kopfverletzung, Koma) routinemäßig angewendet [10]. Dem Patienten werden Schallreize angeboten, die im Elektroenzephalogramm (EEG, Kap. 6) zu einer Veränderung der Hirnaktivität führen. Die Abweichungen sind aber so klein, daß die einzelne Reizantwort im EEG vom Rauschen völlig überdeckt wird. Mit Hilfe eines Computers kann jedoch durch rechnerische Mittelung zahlreicher evozierter Einzelpotentiale (z. 18 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen weitergegeben werden (Abb. 15-17), da dann eine zunehmende Zahl benachbarter Fasern aktiviert wird (Rekrutierung). Jedes Innenohr ist mit beiden Hirnhälften verbunden Ähnlich wie die ersten Neurone verhalten sich die zweiten Neurone, die vom ventralen Nucleus cochlearis ausgehen. Ein Teil zieht zur oberen Olive der gleichen Seite, ein Teil kreuzt zur oberen Olive der anderen Seite (Abb. 15-18). Ebenso kreuzen die afferenten Fasern vom dorsalen Kern zum Nucleus lemnisci lateralis der Gegenseite. Im zweiten Neuron verläuft damit ein Teil der Fasern ipsilateral, ein wesentlicher Teil der zentralen Hörbahn kreuzt jedoch auf die kontralaterale Seite. Dadurch ist jedes Innenohr mit der rechten und der linken Hörrinde verbunden. Außerdem können in den Nervenzellen des Olivenkomplexes erstmals im Verlauf der Hörbahn binaurale (von beiden Ohren aufgenommene) akustische Signale miteinander verglichen werden. Die höheren Neurone verlaufen von der oberen Olive zum Teil auf der gleichen Seite, zum Teil auf der Gegenseite nach jeweils neuer Umschaltung zum Colliculus inferior und anschließend zum Corpus geniculatum mediale. Schließlich ziehen die Afferenzen als Hörstrahlung (Radiatio acustica) zur primären Hörrinde (Heschl-Querwindung) des Temporallappens. Die höheren Neurone sind hochspezialisiert und reagieren nur auf jeweils spezifische Schallmuster Die einfache Kodierung des ersten und von Teilen des zweiten Neurons wandelt sich grundlegend ab dem dorsalen Nucleus cochlearis und weiter zunehmend mit jedem höheren Neuron. Zwar wird das Ortsprinzip bis zum auditorischen Kortex beibehalten, das heißt, daß bestimmte Schallfrequenzen an bestimmten Orten der Hörrinde oder der auditorischen Kerne repräsentiert sind. Zusätzlich besitzen jedoch beispielsweise einige vom dorsalen Nucleus cochlearis ausgehende Neurone kollaterale Verschaltungen, die teils exzitatorisch, teils inhibitorisch wirksam sind (On-off-Neurone). Die Folge ist, daß einzelne Neurone des dorsalen Cochleariskerns bei Schallreiz stets gehemmt werden. Eine grundsätzliche Eigenschaft der höheren Neurone der Hörbahn ist es, nicht auf reine Sinustöne, sondern auf bestimmte Eigenschaften eines Schallmusters (z. B. Sprachmuster) zu reagieren. So können Hirnläsionen, wie sie etwa bei einem apoplektischen Insult (Schlaganfall) auftreten können, selektiv das Sprachverständnis stören, ohne daß das Unterscheidungsvermögen für Tonfrequenzen reduziert sein muß. So gibt es Fasern, die bei einer bestimmten Schallfrequenz aktiviert, durch höhere oder tiefere Töne jedoch gehemmt werden. Auch gibt es Neurone, die auf eine Frequenzzunahme, und . 19 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Abb. 15-18. Schematische Darstellung der zentralen Hörbahn nahme, und solche, die auf eine Frequenzabnahme (Frequenzmodulation) reagieren, wobei zusätzlich der Grad der Modulation von Bedeutung sein kann. Andere Zellen sprechen nur auf die Amplitudenänderung eines Tons an. Diese Spezialisierung von Neuronen auf bestimmte Eigenschaften eines Schallmusters ist im auditorischen Kortex noch ausgeprägter. Neurone können hochspezialisiert auf den Beginn oder das Ende, auf eine Mindestzeitdauer oder eine mehrfache Wiederholung, auf bestimmte Frequenz- oder Amplitudenmodulationen eines Schallreizes sein. Man nimmt daher an, daß diese bis zur Hörrinde zunehmende Spezialisierung der Neurone auf bestimmte Eigenschaften des Schallreizes es erlaubt, Muster innerhalb des Schallreizes herauszuarbeiten und für die kortikale Beurteilung vorzubereiten (Informationsverarbeitung). Das gesprochene Wort oder Musik bestehen aus derartigen Mustern, die wir trotz eines Störschalls (z. B. Umgebungsgeräusche) erkennen können [9,11,13,21]. Hochspezialisierte höhere Neurone ermöglichen auch das räumliche Hören Die Richtung einer Schallquelle kann geortet werden. Diese auditorische Raumorientierung geschieht durch das zentrale Hörsystem. Dort finden sich in bestimmten Bereichen, etwa der oberen Olive oder dem Colliculus inferior, auf Raumorientierung hochspezialisierte Neurone, welche die von den beiden Ohren ankommenden Folgen von Aktionspotentialen miteinander vergleichen. Dazu müssen zunächst einmal beide Ohren einigermaßen normal hören (binaurales Hören). In der Regel liegen Schallquellen nicht genau in der durch den Abb. 15-19 Die Laufzeitdifferenz eines Tons zwischen beiden Ohren wird im zentralen auditorischen System verarabeitet und dient der lateralen Schallquellenlokalisation Kopf definierten Mittelebene (Mediansagittalebene), sondern irgendwie seitlich. Dann ist die Schallquelle von einem Ohr weiter entfernt als vom anderen. Der Schall trifft dadurch am entferntesten Ohr später und leiser ein (Abb. 15-19). Das auditorische System ist dabei in der Lage, Intensitätsunterschiede von nur i dB und Laufzeitunterschiede bis hinab zu 3 – 10-5 s sicher zu beurteilen. Eine derartig minimale Schallverstärkung tritt bei einer Abweichung der Schallquelle von 3 ° von der Mittellinie auf (13). Stereoanlagen nutzen diese psychophysisch und neurophysiologisch nachgewiesenen Laufzeit- und Intensitätsdifferenzen zur Bildung eines räumlichen Höreindrucks aus. Wird über Lautsprecher oder Kopfhörer das Schallsignal einseitig verspätet oder leiser angeboten, so wird die Schallquelle zur Gegenseite lokalisiert. Eine einseitige Schallverspätung (ungleicher Abstand von den Lautsprechern) kann durch Schalldruckerhöhung am anderen Lautsprecher ausgeglichen werden. Laufzeit- und Intensitätsdifferenzen erlauben zwar die Bestimmung des Raumwinkels, nicht jedoch die Entscheidung, ob sich die Schallquelle oben, unten, vorne oder hinten befindet. Hierzu ist die Form der Ohrmuschel, die eine Richtcharakteristik besitzt, bedeutsam. Je nachdem, in welchem Winkel das Schallsignal auf die Ohrmuschel auftrifft, wird es minimal verformt. Offenbar können diese dadurch modulierten („verzerrten") Schallmuster zentral erkannt und ebenfalls zur Bildung eines Raumeindrucks verwandt werden. Das beidohrige Hören spielt darüber hinaus noch eine wichtige Rolle bei der Schallanalyse in verrauschter Umgebung (z. B. Sprache bei einer Party). Das Gehirn benutzt hier Intensitäts- und Laufzeitunterschiede zwischen den verschiedenen Schallquellen aus, um die Konzentration auf einen bestimmten Sprecher zu ermöglichen. 20 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Da Schallsignale in der Regel durch andere Quellen gestört sind, ist diese Funktion des zentralen Hörsystems sehr wichtig. Daher sollten Schwerhörige mit notwendigen Hörhilfen möglichst beiderseitig ausgestattet sein. Über wenigstens 5-6 hintereinander geschaltete Neuronen werden die Informationen des Schallsignals bis zum auditorischen Kortex weitergeleitet. In den Folgen der Aktionspotentiale des Hörnervs ist die im Schallreiz enthaltene Information durch die frequenzspezifische Herkunft (Ortsprinzip) der Nervenfaser, die Zeitdauer der Aktivierung sowie die Entladungsrate und den Zeitpunkt der Aktionspotentiale verschlüsselt. Höhere Neurone sind zunehmend auf hochkomplexe Schallmuster (z. B. Sprachmuster) spezialisiert. Sie können dadurch bestimmte Eigenschaften des Schallreizes (z. B. sprachliche Informationen) herausarbeiten und für die kortikale Beurteilung vorbereiten. Auch für das räumliche Hören gibt es hochspezialisierte zentrale Neurone. Sie nutzen Intensitätsunterschiede und Laufzeitenunterschiede zwischen der Reizung des rechten und des linken Ohrs aus. 15.7 Stimme und Sprache Die Sprache des Menschen ist einmalig in der Natur. An ihr sind im wesentlichen vier Organsysteme beteiligt: • Der Kehlkopf erzeugt Schall. Dieser Schall heißt Stimme. Die. Stimmerzeugung des Kehlkopfs wird Phonation genannt. • Der Mund-Rachen-Raum formt aus dem vom Kehlkopf angebotenen Schall verständliche Vokale und Konsonanten. Dieser Mechanismus heißt Artikulation. • Phonation des Kehlkopfs und Artikulation des Mund-Rachen-Raums werden zentral durch das motorische Sprachzentrum des Gehirns gesteuert. • Zur Entwicklung der Sprache beim Kind wie zu ihrer ständigen Kontrolle auch beim Erwachsenen ist die physiologische Hörfunktion erforderlich. Man spricht daher auch vom Hör-SprachKreis. Er umfaßt die ungestörte Funktion des Ohrs, der Hörbahn, der Sprachwahrnehmung im sensorischen Sprachzentrum (Wernicke) sowie die Integration von Psyche und Intelligenz. Der Kreis geht weiter zur motorischen Steuerung der Phonation des Kehlkopfs und der Artikulation des Mund-Rachen-Raums. Sie beginnt in dem als motorische Sprachregion (Broca) bezeichneten Gebiet des Temporallappens des Gehirns und erreicht über mehrere Neurone den Kehlkopf sowie den Mund-Rachen-Raum. Ist der Hör-SprachKreis an einer Stelle durch eine Erkrankung unterbrochen, so ist die Sprache gestört oder fehlt. Gehörlose Kinder entwickeln (ohne Therapie (Cochlea Implant) und ohne pädagogische Förderung) keine Lautsprache. Die Stimme ist Schall, der vom Kehlkopf erzeugt wird Die Phonation (Stimmbildung) läuft im Kehlkopf ab. Dabei wird Schall erzeugt. Physikalische Grundlage ist eine oszillierende Bewegung der Stimmlippen. Verliert ein Mensch seinen Kehlkopf, so verliert er seine Stimme, nicht jedoch die Fähigkeit zu sprechen. So sind kehlkopflose Patienten in der Lage, flüsterähnlich zu sprechen (Pseudoflüstern). Die Stimmlippen erzeugen Schall durch Bernoulli-Schwingungen Zur Schallerzeugung besitzt der Kehlkopf zwei Stimmlippen (Stimmbänder). Der Arzt kann sie ohne Belastung des Patienten mit einem Spiegel oder eine Endoskop (Lupenlaryngoskop, Abb. 15-20) gut beobachten. Dabei schaut der Untersucher durch Mund und Abb. 15-20. Untersuchung des Kehlkopf mit dem Lupenlaryngoskop 21 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen Pharynx des Patienten rechtwinklig nach unten in den Kehlkopf. Anatomisch bestehen die Stimmlippen jeweils aus einem längs verlaufenden Muskelstrang (M. vocalis) zwischen Aryknorpel (Stellknorpel) und Schildknorpel. Die Mm. vocales sind von Schleimhaut bedeckt, die gegenüber dem Muskel verschieblich ist. Der luftdurchlassende Spalt (Abb. 15-20, 15-21) zwischen den Stimmlippen heißt Glottis (Stimmritze). Die Phonation ist an die Atmung gekoppelt. Sie wird durch eine Exspiration eingeleitet. Im Gegensatz zur normalen Ausatmung wird zur Stimmbildung aber die Glottis durch die Mm. arytenoidei, die Mm. cricoarytenoidei lateralis und die Mm. thyreoarytenoidei laterales (Abb. 15-21) fast verschlossen. Dadurch bildet die Glottis einen Engpaß im Exspirationstrakt (Abb. 15-20). In diesem Engpaß ist die Strömungsgeschwindigkeit der ausgeatmeten Luft erheblich höher als in der darunter liegenden Trachea oder in dem darüber liegenden Mund- und Pharynxraum. Mit der zunehmenden Strömungsgeschwindigkeit steigt die kinetische Energie (1/2 mv2) des strömenden Gases. Die dazu notwendige Arbeit wird der Atemarbeit entnommen, bei der ein bestimmtes Gasvolumen entlang eines Druckgefälles bewegt wird. Wegen der Zunahme der kinetischen Energie der Luft bei zunehmender Strömungsgeschwindigkeit nimmt der Druck im strömenden Atemgas ab, er wird im Bereich der Glottis also geringer. Wegen dieses Druckabfalls nähern sich die Stimmlippen einander. Dadurch wird der Spalt noch enger, so daß die Strömungsgeschwindigkeit noch weiter zunehmen muß, womit wiederum der Druck weiter abfällt. Dieser Prozeß führt schließlich dazu, daß sich die Stimmlippen ganz schließen und der Luftstrom plötzlich unterbrochen wird. Zu diesem Zeitpunkt kann der subglottische Druck die Stimmritze wieder auseinanderpressen. Es entsteht wieder ein Luftstrom mit ungleicher Geschwin- Abb. 15-21. Zugrichtungen der inneren Kehlkopfmuskeln und des M. cricothyreoideus. Die Blickrichtung entspricht dem lupenlarnyngoskopischen Bild aus Abb. 15-20. Stimmlippenspannung: M. cricothyreoideus (1) und M. vocalis (2). Glottisschluß: M. Thyreorytenoideus lateralis (3). M. cricoarytenoideus lateralis (4), M. interarytenoideus (5). Glottisöffnung: M. cricoarytenoideus posterior (6). Aus digkeitsverteilung, und der Zyklus beginnt von neuem. Die entstehenden Stimmlippenschwingungen werden als Bernoulli-Schwingungen bezeichnet, da sie den Bernoullischen Gesetzen folgen. Im Rhythmus dieser Schwingungen wird der Luftstrom ständig verändert, wodurch ein hörbares Klanggemisch entsteht, das reich an Obertönen ist. Der subglottische Druck bestimmt vorwiegend den Schalldruck der Stimme Mit Hilfe der Kehlkopfmuskulatur und der prälaryngealen Muskulatur können die Bernoulli-Schwingungen der Stimmlippen willkürlich gesteuert und dadurch die gewünschte Stimmfrequenz und Lautstärke erzeugt werden. Hierzu kann die Kehlkopfmuskulatur die Weite der Glottis und die Spannung der Stimmlippen variieren und dadurch die Schwingungsfähigkeit der Stimmbänder beeinflussen (myoelastische Theorie der Stimmlippenschwingungen). Die Atemmuskulatur kann schließlich den subglottischen Druck verändern. Der abgestrahlte Schalldruck der Stimme steigt mit dem subglottischen Druck. Bei Patienten mit einer beiderseitigen Lähmung des N. recurrens stehen beide Stimmlippen im Abstand von etwa i mm still. Die Fähigkeit, Frequenz und Lautstärke zu verändern, geht durch die Lähmung weitgehend verloren. Die Folge ist eine leise, monotone, kaum modulationsfähige Stimme. Der maximale Schalldruckpegel, den ungeschulte Sprecher erzeugen können, beträgt in i m Entfernung etwa 75 dB SPL, bei ausgebildeten Sängern bis zu 108 dB SPL. Der subglottische Druck beträgt bei ruhiger Atmung etwa 2 cmH20 (196 Pa) über dem Atmosphärendruck. Durch Schluß der Glottis, Kontraktion des M. vocalis in der Stimmlippe sowie durch die Atemmuskulatur kann ein Druck bis zu 16 cmH2O (1570 Pa) erreicht werden. Mit der Spannung der Stimmlippen steigt die Stimmfrequenz Die Frequenz der Stimme („Tonhöhe") ist abhängig von der Frequenz der Stimmlippenschwingungen. Der durchschnittliche Stimmumfang beträgt 1,3-2,5 Oktaven. Die Grundfrequenz des vom Kehlkopf erzeugten Klanggemischs hängt in hohem Maß von der muskulär erzeugten Spannung der Stimmlippen, in geringerem Maß vom subglottischen Druck ab. Mit zunehmender Spannung der Stimmlippen und/oder zunehmendem subglottischen Druck kann die Druckfrequenz der Stimme willkürlich erhöht werden. Unter laryngoskopischer Beobachtung zeigt sich zudem, daß beträchtliche Ausund Abwärtsbewegungen der Glottis mit Tonhöhenänderungen einhergehen. Dabei kann der M. cricothyreoideus den Schildknorpel nach vorne kippen (Abb. i5-2i) und ihn dadurch von den Stellknorpeln entfernen, wodurch die Stimmlippen noch stärker angespannt werden können. Durch die Kombination dieser und weite- (1) 22 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen rer Parameter ist eine Vielzahl von Schwingungsabläufen bei der Schallerzeugung des Kehlkopfs möglich. Die endgültige, individuell unterschiedliche Länge der Stimmlippen beim Erwachsenen führt zu einem unterschiedlichen Grundschwingungsverhalten beim einzelnen Menschen. Dem entsprechen die Stimmgatttungen Baß, Bariton und Tenor beim Mann sowie Alt, Mezzosopran und Sopran bei der Frau. Muskuläre Propriozeptoren und auditorische Rückkoppelung erlauben es, die Stimme zu kontrollieren Zwei Kontrollmechanismen erlauben es, einen bestimmten „Ton" mit gewünschter Frequenz und Schalldruck willkürlich zu treffen: Zum einen sind es die Propriozeptoren in Kehlkopfmuskeln und Schleimhaut; wichtiger ist jedoch die Kontrolle durch das Gehör. Beim lauten Sprechen oder beim Singen findet sich 0,3-0,5 s vor der Phonation eine elektromyographisch nachweisbare Muskelaktivitätsänderung (präphonatorische Muskeleinstellung). Offenbar können erlernte Bewegungsabfolgen der Stimmlappen subkortikal programmiert werden, wie dies auch bei manuellen Fertigkeiten möglich ist. Andererseits differieren unter beidohriger Geräuschbelastung selbst bei Sängern die Stimmeinsätze um bis zu 1,5 Halbtöne, so daß angenommen werden kann, daß die präphonatorische Muskeleinstellung nur eine relativ grobe Annäherung ergibt. Vielmehr ist es die auditive Rückkopplung, die bei intaktem Hör-Sprach-Kreis die exakte Kontrolle des Kehlkopfs für die Erzeugung von Frequenz und Druck des gewünschten Schallsignals ermöglicht. Das Ansatzrohr formt verständliche Laute aus dem Schallsignal des Kehlkopfs Die Artikulation erfolgt mit wenigen Ausnahmen in den gesamten Hohlraum zwischen Stimmlippenebene und Mundbzw. Nasenöffnung. Nach dem Vorbild von Blasinstrumenten werden diese Räume Ansatzrohr genannt. Es umfaßt den supraglottischen Larynx, die drei Pharynxetagen, die Mundhöhle sowie die Nasenhaupthöhlen. Die Form des Ansatzrohrs kann durch die Rachen-, Gaumen-, Zungen-, Kauund mimische Gesichtsmuskulatur willkürlich verändert werden. Dadurch ist physikalisch eine verstellbare Resonanz dieser Hohlräu me möglich (Abb.15-22). Sie ist neben weiteren Mechanismen der physikalische Grundmechanismus, der aus dem angebotenen Schallsignal des Kehlkopfs verständliche Vokale und Konsonanten formt. Bei Verlust des Kehlkopfs kann mit Hilfe einer künstlichen Schallquelle (z. B. einer Stimmprothese oder eines elektronischen Vibrators) ein Schallsignal im Hypopharynx erzeugt werden. Die künstliche Stimmbildung kann vom Patienten genutzt werden, im unverändert normalen Ansatzrohr eine laute und leidlich verständliche Sprache zu bilden. Je nach Bedarf bewegen sich die „Artikulationsorgane" Uvula, weicher Gaumen, Zungenrücken, Zungenrand, Zungenspitze sowie Lippen und formen an Zähnen, Alveolarkamm, Gaumen sowie im Nasenraum Vokale und Konsonanten. Die komplexen Schallwellen eines Sprachsignals können klinisch durch einen Sonographen mittels Filtern nach Frequenz, Schalldruck sowie in Abhängigkeit von der Zeit zerlegt werden. Dabei erweisen sich Vokale als Klänge, die aus einem Grundton (Stimme) und bestimmten harmonischen Obertönen bestehen und einen periodischen Schwingungsverlauf besitzen. Diese im Ansatzrohr durch Resonanz verstärkten Frequenzen sind für jeden Vokal spezifisch und erlauben die Identifikation etwa eines „e" oder „i". Sie entstehen dadurch, daß bei der Produktion bestimmter Vokale das Ansatzrohr etwa durch die Stellung der Zunge eine bestimmte Konfiguration erhält, so daß aus physikalischen Gründen ganz bestimmte Resonanzeigenschaften entstehen. Das Ansatzrohr wird durch die Stimme zur Resonanz angeregt, die so entstehenden Resonanzfrequenzen nennt man Formanten eines Vokals. Das „e" etwa ist charakterisiert durch Formantfrequenzen von ca. 5oo Hz, Hz und 2400 Hz, unabhängig von seiner Grundfrequenz, d. h. unabhängig von der Frequenz der Stimmlippenschwingungen. Das „i" besitzt Formantfrequenzen von 3oo Hz, 2ooo Hz und 310o Hz. Stimmlose Konsonanten (f, ss, p, t, k) hingegen sind Geräusche. Sie entstehen bei nichtschwingenden Stimmlippen durch Verengen im Ansatzrohr, die eine Luftströmung erzwingen und damit zur Wirbelbildung Anlaß geben. Ein Kehlkopfloser kann mit Hilfe solcher Wirbelbildungen, die ein Rauschen darstellen, noch immer das Ansatzrohr zur Abgabe von Resonanzschwingungen im Formantbereich anregen und damit die Pseudoflüstersprache produzieren. Der Kehlkopf erzeugt Schall, der Stimme genannt wird (Phonation). Der Schall wird durch Bernoulli-Schwingungen der Stimmlippen erzeugt. Der Schalldruck der Stimme hängt dabei wesentlich vom subglottischen Druck ab. Die Spannung der Stimmlippen bestimmt die Stimmfrequenz.Verständliche Laute werden aus dem Schallsignal erst im Ansatzrohr erzeugt (Artikulation). Beteiligt sind Rachen-, Gaumen-, Zungen-, Kau- und Gesichtsmuskulatur. Phonation und Artikulation werden zentral durch das motorische Sprachzentrum des Gehirns gesteuert. 15.8 Literatur Weiterführende Lehr- und Handbücher 23 MAT 07.01.10 Hören + Sprechen 1. Becker W, Naumann HH, Pfaltz CR (1996) Hals-NasenOhren-Heilkunde. Thieme, Stuttgart 2. Békésy G von (1960) Experiments in Hearing. McGraw Hill, New York 3. 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