Wesensschau, Gottesschau, intellektuelle Anschauung und Intuition – zur historischen Entwicklung des Begriffsfeldes visueller Erkenntnismetaphorik Rebecca Paimann, Ruhr-Universität Bochum, Abstract: Der Begriff ‚Wesensschau’ wird meist ausschließlich als Terminus der Phänomenologie Husserls verstanden, obwohl seiner Verwendung in der modernen Philosophie eine vielfältige Geschichte dieses Begriffs in Antike und Mittelalter vorausgeht. Die Einschränkung der Wesensschau auf ein methodisches Instrumentarium ist deshalb erst der Abschluß einer Entwicklung, die bereits mit der Philosophie Platons anhebt, um im Neuplatonismus ihre Fortsetzung zu finden. Die intellektuelle Intuition bei Proklos, die Gottesschau bei Augustinus oder bei Thomas von Aquin sowie die intellektuelle Anschauung bei Fichte oder Schelling müssen hier ebenso mitbedacht werden wie die über Husserl hinausgehenden, seine Philosophie verändernden oder radikalisierenden Ansätze innerhalb der phänomenologischen Bewegung, wie sie bei Scheler, Heidegger oder Sartre zu finden sind. Die vorliegende Untersuchung versucht, die Hauptstationen der Geschichte der Wesensschau äußerst knapp zu skizzieren, um damit die Kontinuität und Evolution dieses Begriffs gleichermaßen aufzuweisen. The term ’Wesensschau’ (envisagement) is often understood as belonging exclusively to Husserl’s phenomenology. But this reduction ignores the preceding history of this term in antiquity and in the Middle Ages. Husserl’s phenomenological transformation of the ’Wesensschau’ into an instrument of his philosophical method is only the last step within a development which has its beginning in Plato’s philosophy and is continued in Neoplatonism. Intellectual intuition (Proclus), ’visio dei per essentiam’ (Augustinus, Aquinas), and intellectual view (Fichte, Schelling) are as much parts of this development as for example Scheler’s, Heidegger’s or Sartre’s different modifications of Husserl’s standpoint. This article tries to give an outline of the history of the ’Wesensschau’ to prove equally the continuity and the evolution of this term. Gemeinhin wird der Begriff ‚Wesensschau’1 in nahezu vollständiger Ausschließlichkeit als ein methodisches Element der Phänomenologie Husserls verstanden, das im besten Falle eine geringe Ausstrahlungskraft auf die Arbeiten der Schüler und Nachfolger dieses Autors besaß. Zuzugeben ist, daß Husserl sein Konzept der Wesensschau oder der Ideation fast gänzlich 1 Vgl. zur historischen Entwicklung des Begriffsfeldes etwa K.-H. Lembeck: „Wesensschau“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 12, hrsg. von J. Ritter, K. Gründer und G. Gabriel (Basel 2004) Sp. 655-659. – H. K. Kohlenberger: „Anschauung Gottes“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 1, hrsg. von J. Ritter und K. Gründer (Basel 1971) Sp. 347-349. © Res Cogitans 2010 no. 7, vol. 1, 170-215 unabhängig von der philosophischen Tradition entwickelte, indem er diesen Begriff aus seinem vornehmlich religiös-theologischen Rahmen herauslöste und mit ihm ein methodisches Instrumentarium schuf, das seine Phänomenologie insgesamt auf ihrem Weg zu den ‚Sachen selbst’ bzw. den zugrundeliegenden Bewußtseinstatsachen prägt. Zuzugeben ist aber auch, daß das Konzept der Wesensschau sich – obgleich nicht immer schon exakt unter diesem Namen – bereits in früheren philosophischen Werken findet, wenn man darunter eine sich nicht immer verstandesmäßig, sondern teilweise auch intuitiv vollziehende Schau von Wesen, Ideen oder Bedeutungen versteht, die oftmals in Verbindung mit einer Wesensänderung des derart Schauenden einhergeht. Eine solche Wesensschau ist oftmals untrennbar von einer Schau des Wesens Gottes, einem intuitiven Begreifen seines Seins und Wirkens, woraus allererst ein gelingendes, wissendes, ja bewußtes Leben resultieren kann. Derart sind Wesens- und Gottesschau lange Zeit hindurch nahezu deckungsgleich gewesen. Auf den folgenden Seiten soll nun der Versuch unternommen werden, die Hauptstationen der Geschichte des in sich komplexen und durchaus nicht immer einheitlichen Begriffsfeldes von Wesensschau, Gottesschau, intellektueller Anschauung und Intuition knapp zu umreißen, um auf diese Weise eine gewisse Grundkontinuität in bezug auf eben dieses Begriffsfeld von Platon bis zur Phänomenologie sichtbar werden zu lassen. Bereits in der PLATONISCHEN PHILOSOPHIE findet sich in mehreren Dialogen die Schilderung eines spezifischen geistigen Aktes, der mittels einer bestimmten Art des Sehens oder der Schau zur alles verändernden Einsicht in das Wesen der Ideen führt, wobei sich der Weg zur Schau des Schönen im Symposion als besonders bedeutsam erweist. Bereits der zentrale Terminus ‚Idee’ weist sprachlich auf eine visuelle Wurzel hin, sofern er eine Ableitung aus dem Verb ‚ἰδεῖν/idein’ (sehen, schauen) darstellt, d.h., das Prinzip aller Dinge und der Erkenntnis impliziert eine enge Bindung an eine spezifische Fähigkeit des Sehens und der Sichtbarkeit.2 Das an und für sich Schöne ist immer dasselbe, 2 Entsprechend versuchen auch spätere Philosophen in Weiterführung der Platonischen Ideenkonzeption, dieser visuellen Konnotation Ausdruck zu verleihen, indem sie ‚Idee’ etwa wie Fichte als ‚Hinsicht’ oder ‚Gesicht’ übersetzen (vgl. beispielsweise J. G. Fichte: (System der) Sittenlehre (1812). In: SW XI, 31 und 42-43 – GA II,13, 308 und 334) oder indem sie wie Heidegger einen besonderen Schwerpunkt auf die Sehensmetaphorik legen (vgl. zum Beispiel M. Heidegger: Platon: Sophistes. In: GA 19, 392-398, 548-549 oder 566-569). 171 und an ihm hat alle Schönheit von Einzeldingen teil, deren Erfahrung den Betrachter mittels der Einsicht in die schönen Sitten und Kenntnisse zur Erkenntnis des Schönen selbst führen kann. Erst diese Schau des Schönen verleiht dem menschlichen Leben überhaupt einen Sinn3, wodurch sich schon hier die Kopplung der Schau des Wesens mit der Wesensveränderung des derart Schauenden andeutet. Diese Wesensveränderung beruht letztlich auf dem engen Konnex zwischen der Schau resp. der Schau des Schönen und der sich offenbarenden Wahrheit4 – womit zugleich das Grundthema aller Philosophie angesprochen ist: die Frage nach der Wahrheit. Gerade in der Weise, wie sich die Philosophie dem Wahren nähert, es sich aneignet, muß sie sich notwendig aufgrund der Besonderheit ihres Anliegens einer eigenen Erkenntnisart bedienen, die sich von der Gebundenheit an die Sinne und der mit ihnen einhergehenden Täuschungsgefahr unabhängig macht. Die philosophierende Seele muß sich von der Verfallenheit an die Sinne, an das Wahrnehmbare und Sichtbare lösen, um nur durch ihre eigene Leistung das Denkbare und Unsichtbare zu schauen.5 Der Philosoph muß die Unabhängigkeit von leiblichen Zwängen und Verfälschungen auch zu Lebzeiten zumindest erstreben, obwohl hier die Umstände einer völlig irrtumsfreien Erkenntnis des Wahren stets hinderlich sein werden, da erst die gänzliche Leib- und Sinnenfreiheit – geradezu Sinnenerlösung – das Wissen um das Wahre und sein Wesen gestattet: „[...] es ist uns wirklich ganz klar, daß, wenn wir je etwas rein erkennen wollen, wir uns von ihm [= dem Leib] losmachen und mit der Seele selbst die Dinge selbst schauen müssen“6. Was unter dieser Schau genauer zu verstehen ist und wie sie vor sich gehen könnte, davon gibt Platon den Lebenden und damit immer noch Leibgebundenen in seinem Höhlengleichnis eine Ahnung, demzufolge ja die Fesseln des Leiblich-Irdischen zugunsten der Erkenntnis der Idee des Guten wenigstens im Bild abgeworfen werden können. Indem die Seele nämlich den schatten- und fehlerhaften Bereich der Höhle verläßt, kann sie aufsteigen in den Bereich der Erkenntnis, in welchem sie zuletzt unter allem Erkennbaren und 3 4 5 6 Vgl. Platon: Symposion, 211d. Vgl. Platon: Symposion, 211e-212a. Vgl. Platon: Phaidon, 83a-b. Platon: Phaidon, 66e. (Alle zitierten Übersetzungen der Dialoge Platons sind von F. Schleiermacher.) 172 mit größter Mühe die Idee des Guten erblickt, die zugleich die Ursache des Richtigen und Schönen ist, weil sie allein Wahrheit und Vernunft hervorbringt, so daß „diese sehen muß, wer vernünftig handeln will“7. Auch hier ergibt sich also der aus dem Symposion bereits bekannte notwendige Zusammenhang zwischen der Schau der Ideen und Wesenheiten mit der Wahrheit als dem anzustrebenden und allein legitimierten Erkenntnisziel. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es der durch das und im Höhlengleichnis bildlich und somit konkret dargestellten Aufstiegsbewegungen des Erkennens, das sich aus der Dunkelheit der Unwissenheit kommend erst allmählich an den Anblick des „glänzendsten unter dem Seienden“8, den des Guten, gewöhnen kann. Dieses vernünftige Schauen der Idee des Guten und der Wahrheit führt nicht zuletzt zur echten Wissenschaft, was Platon wiederum anhand eines Gleichnisses und seiner Auslegung verständlich macht, nämlich im Gleichnis vom göttlichen Seelenwagen im Phaidros. Hier ist zu lesen: „Das farblose, gestaltlose, stofflose, wahrhaft seiende Wesen, das nur der Seele Führer, die Vernunft, zum Beschauer hat und um das das Geschlecht der wahrhaften Wissenschaft ist, nimmt jenen Ort ein. Da nun Gottes Verstand sich von unvermischter Vernunft und Wissenschaft nährt, wie auch der jeder Seele [...] – so freuen sie [= die Seelen] sich, das wahrhaft Seiende wieder einmal zu erblicken, und nähren sich an der Beschauung des Wahren [...].“9 Wer die Wahrheit geschaut hat und dabei zugleich dem Wesen der Vernunft gerecht geworden ist, der hat Einblicke in die Ideen des Guten und Schönen gewonnen, die ihn auch dazu befähigen, den Gedanken einer echten, diesen Namen verdienenden, ebenfalls auf Wahrheit beruhenden Wissenschaft zu realisieren. Hierbei muß allerdings unbedingt beachtet werden, daß die Schau der Wahrheit gerade keine Wesensschau mehr ist, sondern daß vielmehr die Wahrheit als Bedingung der Möglichkeit der Schau der Ideen zu gelten hat, sofern diese seiend sind. Wird bereits im Sonnengleichnis das Sehen ganz selbstverständlich als Abbild des Denkens eingeführt, so konkretisiert Platon an einer späteren Stelle der Politeia, daß der Dialektiker, mithin der Philosoph im eigentlichen Sinne – 7 8 9 Platon: Politeia, 517c; vgl. hierzu auch insgesamt 517a-c. Platon: Politeia, 518c; vgl. ebenfalls 532c. Platon: Phaidros, 247c-d. 173 den Platon zuvor als „schaulustig nach der Wahrheit“ beschrieben hat10 –, das Auge der Seele11, wie er dies nennt, zu gebrauchen versteht. Das dialektische Denken bedeutet demnach eine besondere Form und Kompetenz des SehenKönnens. Folgerichtig definiert auch der Phaidros die Dialektik als die Fähigkeit, Dinge auf eine Idee hin zusammenzuschauen und damit die bestehenden Wesensverhältnisse zu sehen.12 Bei Platon steht sonach die Schau des Guten und seines Wesens in einem unauflösbaren Konnex mit der Wahrheitssuche und der Wahrheitserkenntnis durch das vernünftige, sich auf sich selbst besinnende Denken. Zugleich wird an ihr die notwendige Verbindung von Freiheit und Philosophie deutlich, denn nur die von allen weltlichen Bindungen freie Seele, wie sie im Gleichnis idealtypisch dargestellt werden kann, ist zur Einsicht in das Wahre, Gute und Schöne als den drei großen Themen der Philosophie fähig. Im Gegensatz zu Platon findet sich bei ARISTOTELES kein ausgeführtes, umfängliches Konzept der Wesensschau, wenigstens nicht in derselben Deutlichkeit wie bei seinem Lehrer. Dies mag seinen Grund in der anderen Auffassung von Wissenschaft haben, die von Aristoteles insbesondere in der Richtung entwickelt wird, in der sich heute die Naturwissenschaften bewegen. Dadurch veranlaßt, betont er vor allem die große Bedeutung der Sinnesempfindungen, unter denen die Sehkraft sich als zentral erweist13, was seine Fortsetzung in der empirischen Erforschung der umgebenden Welt findet, die nur unter der Voraussetzung eines gelingenden Sehens vonstatten gehen kann. Von noch größerer Wichtigkeit als das aufnehmende Sehen erweist sich allerdings auch bei Aristoteles die darauf folgende oder auch teilweise unabhängige begriffliche Erfassung der Wirklichkeit. Dadurch wird die ablehnende Haltung Platons gegenüber Leibesempfindungen zwar in hohem Maße relativiert, aber doch nicht völlig aufgegeben. Denn erst das ordnende Denken kann zu Wesensdefinitionen gelangen, ohne die kein umfassendes Erkenntnisgefüge entstehen kann.14 Insofern Aristoteles unter Wesen bzw. Substanz (οὐσία/ousia oder τὸ τί ἦν εἶναι/to ti en einai) also nicht nur das den 10 11 12 13 14 Vgl. Platon: Politeia, 475e und 479e. Vgl. Platon: Politeia, 533d. Vgl. Platon: Phaidros, 265c-d. Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 980a21ff. Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 1030a-b. 174 Sinnen begegnende Einzelwesen versteht, sondern auch das stofflose, zeitlose und formale Seinsprinzip von Dingen, verlagert er die Erkenntnis des Wesens in den begrifflichen Bereich und macht damit dieses begriffliche Wesen zum eigentlichen Gegenstand des Wissens.15 Unter diesen Voraussetzungen erweist sich Aristoteles zwar durchaus als ein Denker der Wesensproblematik, allerdings nicht als einer, der sich hinsichtlich des weltlichen Wissens des Instrumentariums der Wesensschau bedient.16 Ein der Wesensschau vergleichbares Vorgehen läßt sich nur dort vermuten, wo sich Aristoteles dem Gottesproblem zuwendet. Denn in diesem Zusammenhang beschäftigt er sich wenigstens mit folgendem Argument (ohne daß daraus jedoch schon auf eine vollständige Übernahme desselben in das eigene Philosophieren geschlossen werden dürfte): „Es gibt nämlich auch ein Argument über die Gottheit, das folgendermaßen verläuft: nachdem – so lautet es – Gott alle Güter hat und sich selbst genügt, womit wird er sich beschäftigen? Er wird doch nicht schlafen? Antwort: er wird (in geistiger Schau) einen Gegenstand betrachten; denn dies ist die schönste und angemessenste Beschäftigung.“17 So kennt Aristoteles also zweifellos das Erkenntnismittel der geistigen Schau, die zum Wesen des Gegenstandes vorzudringen vermag; er erwähnt dieses Mittel allerdings lediglich in Verbindung mit der Gottesthematik, die für ihn immer auch eine Abgrenzung zwischen göttlichem und menschlichem Bereich voraussetzt. In die Aufstellung und das Funktionieren der nicht-göttlichen Begriffssysteme wirkt das Instrumentarium der geistigen Schau indes nur sehr begrenzt hinein, ja Aristoteles scheint hier eine unterschiedlich wertende Position einzunehmen, die von der Erschauung eines Begriffs mittels einer Definition bis zu einer Stellung der Wirklichkeit über alle möglichen Begriffssysteme reicht.18 Bei jeder dieser Positionen bleibt allerdings die Bedeutung des Begriffs für die Erkenntnis insgesamt erhalten. Hierbei gilt: Indem der Begriff erfaßt wird, wird auch das Wesen eines, wie auch immer gearteten, Gegenstandes erkannt, d.h., der Begriffs- und der Gegenstandsinhalt kommen zur Deckung. Durch Begriffserkenntnis ist 15 16 17 18 Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 1043a und 1030b5. Vgl. aber J. Hirschberger: Geschichte der Philosophie. Band I: Altertum und Mittelalter (Freiburg 21 1989) 180-181. Aristoteles: Magna moralia II,15, 1212b33 (Übersetzung von F. Dirlmeier). Vgl. Aristoteles: Analytica posteriora, II,7, 92a-b auf der einen und II,13, 97b auf der anderen Seite. 175 beifolgend die Einsicht in das Verhältnis der Wesenheiten untereinander gegeben, wodurch wiederum die obersten Gesetze der Logik und des Denkens, wie die des Widerspruchs oder des ausgeschlossenen Dritten, zugänglich werden.19 Festzuhalten bleibt also insgesamt, daß Aristoteles sich zwar der Wesensschau nicht als eines herausragenden Erkenntnismittels bedient, daß er sich aber einer Verbindung zwischen der Erkenntnis Gottes, im doppelten Sinne eines genitivus subiectivus und obiectivus, wenigstens bewußt war. Damit findet sich schon bei ihm eine Nähe zwischen der Wesensschau oder der geistigen Schau und der Gottesfrage, die bei Aristoteles’ Nachfolgern und ganz ausgeprägt in der mittelalterlichen Philosophie zu größerer Vertiefung und Bedeutung gelangt. Dennoch zeigt sich zunächst der Einfluß Platons als der entscheidendere, was an einer kurzen Betrachtung der Wesensschau als Hinführung zur Schau des Einen bei PLOTIN sichtbar zu werden vermag. Bei Plotin tritt die Lehre von der Wesensschau in Form der Auseinandersetzung mit der Intuition bzw. der Schau des Geistes auf. Hierbei geht er wieder auf Platon zurück, dessen Skepsis gegenüber der leibgebundenen Erkenntnis Plotin übernimmt, um von ihr eine intuitive Erkenntnis des Geistes zu unterscheiden, die er jedoch auf die Weise verständlich zu machen sucht, daß er eine gewisse Parallelität zwischen der geistigen Schau und dem Wahrnehmungsakt des Sehens aufweist, ohne daß beide identifiziert werden dürften. Denn während die Seele beim leiblichen Sehen aus sich heraus in die Gegenstandssphäre übergeht, erkennt der Geist bei seiner intuitiven Schau nicht nur das Wesen aller ihm gegebenen Gegenstände, sondern er wird auch zur Selbsterkenntnis des eigenen Wesens befähigt. Auch wenn mit der geistigen Schau derart ein hoher Erkenntnisstandpunkt gegeben ist, so ist es dennoch nicht der höchste, der allein dem Einen vorbehalten bleibt, das auch noch vom schauenden Denken unabhängig ist. Denn das Wesen ist immer noch eine seiende und als solche zu schauende Entität, 19 Ob daraus hingegen geschlossen werden darf, bei Aristoteles basiere die Erkenntnis des Wesens der Dinge nicht auf dem diskursiven Denken, sondern auf einer unmittelbaren Schau, wie von R. Messner in Schauendes und begriffliches Erkennen nach Duns Skotus. Mit kritischer Gegenüberstellung zur Erkenntnislehre von Kant und Aristoteles (Freiburg 1942) 378 behauptet, muß zumindest bezweifelt werden. 176 während das überseiende Eine nicht mehr geschaut und deshalb nicht wesenhaft und mit positiven Bestimmungen erfaßt werden kann. Für den Geist jedoch erweist sich seine spezielle, unkörperliche Art des Sehens als zentrales Erkenntnismedium, denn mittels ihrer gelingt es ihm sogar, das jenseits des Sinnlichen Liegende zu denken, womit die Sehkraft des Geistes erst eigentlich zur sehenden wird. Erst indem der Geist diese sehende Sehkraft erlangt, wird er überhaupt Geist – und zwar zu demjenigen Geist, der sich ständig konstituiert und in seinem schauenden Denken erst zu Wesenheit und echtem Denken wird; denn vorher war er noch nicht das wirkliche Denken, da er noch kein Gedachtes besaß, und er war noch nicht wirklich Geist, da er noch nicht gedacht hatte.20 Dadurch, daß der Geist in diesem Schauen erst er selbst geworden ist, vermag er auch die Seele zu erheben, die dann als gleichfalls schauende mit dem Geist eins wird. Hierzu bedarf es wiederum des Guten, das Geist und Seele erst zu einer Einheit macht, indem es über ihnen schwebt und ihnen seliges Gewahren und Schauen („µακαρίαν διδοὺς αἴσθησιν καί θέαν/makarian didous aisthesin kai thean“) verleiht.21 Da die Seele solcherart zum Geist geworden ist22, kann sie sich zweier Erkenntniskräfte bedienen: zunächst einer denkenden, die zur Selbsterkenntnis führt, und dann einer intuitiv aufnehmenden Erkenntniskraft23, wie sie auch der Geist besitzt und welche die Erkenntnis der nicht in ihr liegenden Wesenheiten zum Resultat hat. Schon an diesem Verhältnis zwischen Seele und Geist wird die letztlich entscheidende Verbindung dieser beide kennzeichnenden Wesensschau deutlich: der Bezug auf das Eine, der trotz der diskursiven und intuitiven Unerfaßbarkeit desselben den Geist erst zu dem macht, was er sein soll, zum das Eine erahnenden Denken. Dieser Konnex zwischen Geist und Einem ist möglich, obwohl beide nicht identisch sind, obwohl das Eine eben nicht der Geist ist. Denn in seinem für weitere Erkenntniszwecke angenommenen Gerichtetsein auf sich selbst erblickt das Eine sich; und dieses Selbsterblicken ist nach Plotin gerade der denkende Geist.24 Die Schau des Einen bedeutet 20 21 22 23 24 Vgl. Plotin: Enn. V 3,11,10-16 und V 3,11,1-3. Vgl. Plotin: Enn. VI 7,35,38. Vgl. Plotin: Enn. VI 7,35,1-5. Vgl. Plotin: Enn. VI 7,35,21-22: „ἐπιβολῇ τινι καὶ παραδοχῇ/epibole tini kai paradoche“. Vgl. Plotin: Enn. V 1,7,1-6. 177 demgemäß die letzte, größtmögliche Nähe zum Einen vor dem Identischwerden mit ihm. Diese komplexe Beziehung zwischen dem Einen, dem Geist und der Seele ist nicht nur die Bedingung aller Erkenntnis und Einsicht, sondern auch der Philosophie selbst, deren herausragendes Thema das Eine ist, so daß Philosophieren und der Versuch, das Eine zu denken, geradezu synonym sind. Dieses Denken des Einen kann sich allerdings nicht der üblichen und sonst auch erfolgreichen Erkenntnis- und Wahrnehmungsformen bedienen, sondern es ist auf die Schau des Einen („ὁρῶσα [...] τῷ ἕν/horosa [...] to hen“25) angewiesen.26 Philosophieren bedeutet also, daß die Seele zum Geist werden muß, der allein mit seiner obersten Schicht und frei von aller Sinnlichkeit dazu in der Lage ist, das Eine zu schauen. Um hierbei nicht Täuschungen durch die Sinne zu erliegen, muß der Geist selbst sich in Reinheit darauf besinnen, was in seinem wahren Erkenntnishorizont liegt, nämlich das vor ihm Liegende, das ihm selbst Angehörende oder das aus ihm Hervorkommende.27 Speziell an der Bestimmung des möglichen geistigen Erkenntnisbereichs fällt eine grundsätzliche Differenz zwischen Platon und dem sonst in vielem mit ihm übereinstimmenden Plotin auf: Während bei Platon die vernünftige Wahrheitsschau in unmittelbarem Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Erkenntnis steht, geht das auf das Eine ausgerichtete Philosophiekonzept Plotins davon aus, daß dasselbe im Gegensatz zu den übrigen Denkgegenständen nicht auf dem Wege des wissenschaftlichen Erkennens zugänglich werden kann, sondern nur vermöge einer Gegenwärtigkeit, die von höherer Art ist als die Wissenschaften. Während bei Platon das vernünftige Schauen als Bedingung des Erkennens der Wahrheit und ihres Wesens in den wissenschaftlichen Bereich mündet und ihn bedingt, muß sich bei Plotin der das Eine schauende Geist von der Wissenschaft abwenden, um zur wertvolleren Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen – eine Aufnahme bzw. Wiederaufnahme der Wissenschaft ist für Plotin nicht das Ziel, sondern höchstens ein Nebenprodukt der Tätigkeit der Seele, die sich nach ihrer schauenden Vereinigung mit dem Geist in einer geradezu ekstatischen 25 26 27 Plotin: Enn. VI 9,3,11-12. Vgl. Plotin: Enn. VI 9,3,10-13. Vgl. Plotin: Enn. VI 9,3,23-37, besonders 34-37. 178 Erfahrung wieder von diesem trennen muß.28 Damit der Bereich der Sinneswahrnehmungen, der Alltagsklugheit und der Wissenschaft verlassen werden kann, um zum geistig Wertvollsten, der versuchsweisen Annäherung an das Eine, aufzusteigen, muß der Weg der Philosophie eingeschlagen werden, die in ihrem Reden und Schreiben nur ein defizitäres Mittel erkennt, um überhaupt zum Einen hinzuleiten und aufzuwecken aus den Begriffen zum Schauen.29 Der Vollzug dieser Schau ist dann nicht mehr die Sache einer allgemeinen Philosophie, sondern er basiert auf der freien, nur ihm selbst zuzuordnenden Willensentscheidung des Einzelnen30 und vollzieht sich im Modus des Schweigens. Eine solch individuelle Entscheidung muß der Philosophie zugrunde liegen; und dies nicht zuletzt deshalb, weil mit der schauend-intuitiven Wesenserkenntnis, die das Eine wenigstens intendiert, immer auch die Selbsterkenntnis verbunden ist, die zwar die geistige Schau gerade strikt vom Einen trennt, die aber zugleich die einzige Möglichkeit bedeutet, sich dem Einen überhaupt anzunähern. Die geistige Wesensschau bleibt bei Plotin auf diese Weise einerseits notwendig defizitär, andererseits unverzichtbar.31 Eine vergleichbare Situation wie bei Plotin findet sich auch in den Werken des Neuplatonikers PROKLOS, welcher der Wesensschau ebenfalls eine gewissermaßen zwiespältige Stellung innerhalb des Erkenntnis- und Wissenschaftsbereichs zuspricht. Denn sie fördert zwar den Erkenntnisaufstieg der Seele, indem sie dieser ein Wissen vom Seienden und von sich selbst ermöglicht, aber sie kann – gerade aufgrund dieser Bindung an das Seiende – nicht den Zugang zum Wissen des Einen eröffnen, so daß ihr das höchste Prinzip verschlossen bleibt. Die Intellektualisierung der Seele in der intuitiven Wesensschau32 wird von Proklos schon begrifflich in große Nähe zu Platons Phaidros gerückt, der für die gesamte neuplatonische Anknüpfung an Platons 28 29 30 31 32 Vgl. Plotin: Enn. VI 9,4,1-3. Vgl. Plotin: Enn. VI 9,4,13-14: „καὶ ἀνεγείροντες ἐκ τῶν λόγων ἐπὶ τὴν θέαν/kai anegeirontes ek ton logon epi ten thean“. Vgl. Plotin: Enn. VI 9,4,11-17. – Diese Willensentscheidung wird später bei Proklos zur Erfahrung eines bloßen Gnadenerweises herabgestuft. In beiden Fällen zeigt sich jedoch klar, daß der Erkenntnisform der Schau in der Frühzeit ihres Gebrauchs stets eine sittliche und voluntaristische Komponente eignet. Zum Zusammenhang zwischen Plotins schauender Vernunfterkenntnis und der auf ihn folgenden Geschichte der Wesensschau vgl. J. König: Der Begriff der Intuition (Halle/Saale 1926) 40. Vgl. etwa Proklos: In Timaeum I 400,20 und In Parmenidem 649,25. 179 Aussagen zur geistigen Schau bzw. zur Wesensschau von ausschlaggebender Bedeutung ist. So ordnet sich etwa Proklos’ Konzept der Epoptie, das ebenfalls die Durchführung einer vom Empirischen freien Erkenntnisbewegung beinhaltet, in diese Bezüge eines noch über der Dialektik anzusiedelnden Schauens der Seele ein.33 Ebenso wie bei Plotin ergibt sich auch bei Proklos durch das Instrumentarium der Wesensschau eine Abhängigkeitsrelation der Seele vom Geist – und ebenso wie bei Platon resultiert aus der geistigen Schau ein spezielles Wissen, das eine der Bedingungen für Wissenschaft darstellt. Denn durch den Vollzug der Wesensschau („τῆς οὐσίας θεωρίαν/tes ousias theorian“34) begibt sich die Seele unter die Leitung durch den Geist, d.h., sie erhebt sich auf eine höhere Erkenntnisstufe, durch die sie erst in den Besitz des wahren Wissens gelangen kann. Dieses Wissen – auf der Grundlage der Epoptie und einer mystischen Schau35 erlangt – bildet die Voraussetzung aller überempirischen und nicht mehr sinnenverhafteten Erkenntnis und damit auch eine Bedingung für die Philosophie selbst und ihren Versuch, das Eine und die sich an dieses anschließende Stufenordnung der Welt zu erfassen. Die Wesensschau erweist sich unter dieser umfassenden Zielsetzung als doppelt strukturiert bzw. zweifach ausgerichtet: Zum einen wird mittels ihrer die Natur des Geistes durch die Seele antizipiert und bestimmbar, die in einer anschauenden Gerichtetheit auf die Wesenheiten besteht, durch deren Realisierung allein sicheres Wissen und wissenschaftliche Erkenntnis möglich sind („τοῦ νοῦ φύσις πρὸς τὴν τῶν εἰδῶν θεωρίαν/tou nou phytis pros ten ton eidon theorian“36); zum anderen wird der Gegenstand der geistigen Tätigkeit zusammen mit der Art, wie er zu betrachten ist, begreifbar, nämlich die Ideen, die mit Hilfe der intellektuellen Intuition auf eine gerade nicht mehr diskursive Weise, wie sie der seelischen Erkenntnis sonst eignet, anzuschauen sind („νοερᾶς ἐπιβολῆς θεάσασθαι/noeras epiboles theasasthai“37). 33 34 35 36 37 Interessanterweise verwendet Platon den Begriff der ‚ἐποπτεία/epopteia’ ausschließlich in den für sein eigenes Wesensschaukonzept zentralen Dialogen Symposion und Phaidros. Proklos: Theologia Platonica IV, 13,43,16 (Saffrey und Westerink). Vgl. Proklos: Theologia Platonica IV, 9. Vgl. Proklos: In Parmenidem 897,20-21. Vgl. Proklos: In Parmenidem 880,21-22. – Während demnach bei Proklos intellektuelle Anschauung, Intuition und Wesensschau noch eng verbunden sind, wird sich hier bei späteren Autoren eine 180 Die Aussagen Proklos’ zur Wesensschau sind demnach insgesamt als eine begriffliche und inhaltliche Weiterführung der Ansätze bei Platon und Plotin zu bewerten, ohne daß sich eine gegenüber diesen einschneidende Veränderung ergäbe. Festzuhalten bleibt daher die Einbindung des Konzepts der Wesensschau in einen methodischen, wissenschaftlichen Erkenntnisrahmen.38 Während bei Platon, bei Plotin und bei Proklos der methodische Aspekt der geistigen Schau oder der Wesensschau mit seinen Verbindungen zur Wissenschaft und Philosophie im Vordergrund steht, findet sich bei PS.DIONYSIOS AREOPAGITA eine Wiederaufnahme des Kontextes, innerhalb dessen Aristoteles sich mit der Berechtigung einer solchen Schau – zumindest historisch – auseinandersetzt: die Erfahrung und Erkenntnis Gottes bzw. des Göttlichen. Auch Dionysios nimmt ein Vermögen an, das über dem vernünftigen und begrifflichen Erfassen anzusiedeln ist und dessen sich die Theologie bedienen muß, wenn überhaupt die Möglichkeit einer Gotteslehre realisiert werden können soll. Indem Gott über allen Wesen steht, ist er mit den Mitteln, die sonst zur Erfassung der Wesenheiten dienen – und zwar Verstand (διάνοια/dianoia), Vernunft (φρόνησις/phronesis) und Geist (νοῦς/nous oder νόησις/noesis) –, nicht zugänglich und nicht zugänglich zu machen. Dennoch offenbart sich das Göttliche in seiner Güte und Gerechtigkeit dem aufnehmenden Geist – allerdings auf besondere Weise, die nicht mit seinen normalerweise angewandten Erkenntnisinstrumenten übereinkommt, nämlich in Form einer ausgezeichneten Schau, die selbstverständlich nicht mit der empirischen, sinnlichen Wahrnehmung zu verwechseln ist.39 Obwohl sich Gott oder das Eine dem diskursiven und meinenden Denken entziehen – und hier bestehen durchaus Zusammenhänge mit den drei von Ammonios unterschiedenen Erkenntnisvermögen der Seele, die sich in ein intuitives, ein diskursives und ein doxastisches Vermögen aufteilen lassen, wobei zwischen 38 39 begriffliche Aufspaltungstendenz feststellen lassen, indem sie die jeweils gemeinten Erkenntnisbestrebungen für sich betrachten und ihrer Unterschiedenheit gemäß behandeln. Zur Vervollständigung seien hier noch einige prägnante Stellen aus den Werken des Proklos angeführt, die sich mit der Behandlung der besonderen Weise der seelisch-geistigen Schau, der Epibole und der Epoptie beschäftigen: Theologia Platonica I, 1-4; II, 11; IV, 20-26; V, 17 sowie In Parmenidem 617 und 620. Vgl. Ps.-Dionysios Areopagita: De divinis nominibus, hrsg. von B. R. Suchla. In: Corpus Dionysiacum, Reihe: Patristische Texte und Studien, Band 33 (Berlin/New York 1990): „κατὰ τὴν ἀναλογίαν ἑκάστου τῶν νοῶν ἀνακαλύπτεται τὰ θεῖα/kata ten analogian ton noon anakalyptetai ta theia“ (588 A). 181 dem triadisch verfaßten Seelensubjekt und dem entsprechenden Erkenntnisobjekt eine analoge Mannigfaltigkeit von Beziehungen herrscht40 –, ja obwohl auch eine begriffliche Annäherung an das Eine über bloße Negationen oder gar Hypernegationen nie hinausgelangen kann, weil Gott im besten Falle als das Unsagbare, Undenkbare, Unnennbare anzudenken ist41, so bleibt doch als letzter Zugang zu Gott die von ihm selbst verstattete, wortlose Schau. Wissen und Erkennen des göttlichen Wesens bleiben unmöglich, da Gott wiederum negativ als unwesentlich bzw. als überwesentlich angenommen werden muß. Doch dem wahren (heiligen) Gottsucher kann sich, basierend auf der Gnade eines überwesentlichen Strahlens Gottes („θεοφανείας/theophaneias“)42, die Möglichkeit zur göttlichen oder Gottesschau eröffnen. Da sich jedoch das in einer solchen Schau Gesehene weder dem eigenen noch dem fremden Denken vermitteln läßt, muß das Erkenntnisstreben mit heiliger Scheu des Geistes das Wesen Gottes in seiner Verborgenheit unerforscht lassen.43 Erst nach dem Tod, wenn – wie Ps.-Dionysios Areopagita aus dem Lukas-Evangelium zitiert – „wir sein werden wie die Engel, Söhne Gottes, weil wir Söhne der Auferstehung sind“, wird der unsterblichen Seele in heiliger Schau die Erscheinung Gottes gegenwärtig sein.44 Bis sich aber solche Jenseitshoffnung und -gewißheit erfüllt, muß auf der Unaussprechlichkeit und gedanklichen Unbegreiflichkeit des göttlichen Wesens beharrt werden, das nur wenigen Auserwählten in seiner Güte die Schau seiner selbst vergönnt, während die anderen Gläubigen sich nur mit der Unnennbarkeit und negativen Unbestimmtheit Gottes begnügen müssen. Denn für sie gilt, daß das sich allem Wahrnehmen, Erkennen und Denken entziehende Wesen Gottes weder als Vernunft, Macht, Geist oder Leben noch als Sein gefaßt werden darf.45 Auf solche Weise ist auch die Frage nach einem geeigneten Namen für das Göttliche nur negativ zu bescheiden und auf die begriffliche Eigenschaftslosigkeit des Einen zurückzuführen. 40 41 42 43 44 45 Vgl. Ammonios: In Analytica priora 24,31 und 2,10. Vgl. Ps.-Dionysios Areopagita: De divinis nominibus 109 (588 B). Vgl. Ps.-Dionysios Areopagita: De divinis nominibus 110 (588 C-589 A). Vgl. Ps.-Dionysios Areopagita: De divinis nominibus 111 (589 A-B). Vgl. Ps.-Dionysios Areopagita: De divinis nominibus 114 (592 C). Vgl. Ps.-Dionysios Areopagita: De divinis nominibus 117 (593 C). 182 Insgesamt ist von Dionysios die Wesens- oder Gottesschau – in Weiterführung des späten Neuplatonismus und hier insbesondere von Proklos – mit all ihren Einschränkungen aus dem methodisch-wissenschaftlichen Bereich in den der Religion und Theologie verlagert worden, womit sich bereits eine das gesamte Mittelalter durchziehende und hier immer wieder begegnende Tendenz ankündigt: Es gibt nur ein Wesen, dessen Unerforschbarkeit allein durch eine ausgezeichnete, intuitiv-ekstatische Schau ansatzweise erfaßt werden kann, d.i. Gott. Das Ergebnis einer solchen Schau ist nicht mehr, wie bei Platon, die Wissenschaft, sondern die dem begrifflichen Denken entzogene Bestätigung eines nie angezweifelten Glaubens. Diese Verbindung von Gotteserkenntnis und Wesensschau findet sich schon bei AUGUSTINUS, der sich hierbei auf eine Auslegung des zweiten Korintherbriefs (12,2-4) stützt und damit eine Textstelle in Exegese und Diskussion betont, die für den Zusammenhang der Schau Gottes und seines Wesens bis hin zu Meister Eckhart von zentraler Bedeutung sein wird. Augustinus unterscheidet drei Arten des menschlichen Schauens: eine erste Erkenntnisweise durch die Augen, also die empirische, sinnliche Wahrnehmung; eine zweite Erkenntnisweise durch die Vorstellungen, mittels derer auch etwas Abwesendes vergegenwärtigt werden kann; und eine dritte durch den Schauakt der Vernunft, der jene Dinge betrifft, für die es keine Abbilder gibt, da jedes Abbild hier wieder die Dinge selbst wären. Er bezeichnet diese Weisen des Schauens als corporale, als spirituale und als intellectuale Erkenntnis.46 Hierbei unterscheidet Augustinus jedoch streng zwischen dem geistigen Erspüren der Gegenwart Gottes, wie sie dem Gläubigen zuteil werden kann, und der Wesensschau Gottes, wie sie nur Moses mit einigen Einschränkungen und Paulus als den bedeutendsten Propheten zuzusprechen ist. Augustinus nimmt demzufolge eine Einteilung der Propheten vor: Der geringere Prophet kann lediglich Phantasiebilder in der Vorstellung hervorbringen, während der größte Prophet diese Bilder nicht nur deuten kann – wie die mittlere Prophetenklasse –, sondern sie selbst im Geist sieht, um ihre Bedeutung anschließend mittels der Vernunft zu ermessen.47 Diesen 46 47 Vgl. Aurelius Augustinus: Psychologie und Mystik (De Genesi ad Litteram). Übersetzung und Einleitung von M. E. Korger und H. U. von Balthasar (Einsiedeln 1960) 36-38 (VI, 15-VII, 16). Vgl. Aurelius Augustinus: Psychologie und Mystik (De Genesi ad Litteram) 40 (VIII, 19). 183 Prophetenklassen analog sind auch die Stufen der Schau zu verstehen, die eine aufsteigende Bewegung anfangend von der leibhaften über die geisthafte hin zur einsichthaften Schau markieren.48 Allein in dieser dritten Weise kann Gott geschaut werden49, aber sie konnte nur den beiden größten Propheten zuteil werden. Denn Gottesschau ist für Augustinus – wie später für Dionysios – abhängig von der Gnade Gottes, die dieser nur den Menschen gewährt, die innerhalb der Offenbarungsgeschichte von zentralem Rang für die Entstehung und den Aufbau der christlichen Kirche sind. Im Gegensatz zur Erkenntnisund Wissenschaftsbegründung der Wesensschau insbesondere bei Platon erhält die Gottesschau bei Augustinus einen geschichtlichen und praktischen Sinn – der wiederum die einzige Möglichkeit der Vermittlung des Wesens Gottes an die weniger prophetisch begabten und begnadeten Gläubigen ist. Wie schon bei Augustinus, so findet sich auch bei THOMAS VON AQUIN eine Verbindung zwischen der Reflexion auf die Wesensschau (visio/cognitio/ spectatio/contemplatio essentiae (Dei)) und einer detaillierten Auslegung des zweiten Korintherbriefs (12,2). Gleich Augustinus geht auch Thomas hierbei von der Frage aus, ob Paulus wirklich das Wesen Gottes geschaut hat oder ob ihm nur eine bildhafte Schau zuteil geworden ist. Um zu einer Antwort zu gelangen, unterscheidet Thomas eine dreifache Weise, in welcher der menschliche Geistgrund durch Gott selbst zur Schau der göttlichen Wahrheit entrückt wird: (1) eine gleichnishafte Schau durch die Einbildungskraft (Petrus), (2) eine vom Verstand geleitete Schau der göttlichen Wahrheit (David) und (3) eine Wesensschau Gottes (Moses und Paulus).50 Thomas differenziert weiter nach der Rangfolge der Erkenntniskräfte eine überweltliche Schau (visio supermundana corporalis), eine Schau der Einbildungskraft (visio imaginaria) und eine geisthafte Schau (visio intellectualis)51, womit sich bei ihm nicht nur eine Aufnahme der Augustinischen Unterscheidung, sondern auch derjenigen des Ps.-Dionysios Areopagita sowie der triadisch verfaßten Seelenstruktur des 48 49 50 51 Vgl. Aurelius Augustinus: Psychologie und Mystik (De Genesi ad Litteram) 46-47 (XII, 25) und 7073 (XXIV, 50-51 und XXV, 52). Vgl. Aurelius Augustinus: Psychologie und Mystik (De Genesi ad Litteram) 77 (XXVIII, 56). Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe in 30 Bänden (Salzburg/Leipzig 1934-1938) Buch II, Quaestio 175, Band 23, 117. – Im Gegensatz zu Augustinus rechnet daher Thomas Moses ebenso unter die größten Propheten wie Paulus. Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae, Buch II, Quaestio 175, Band 23, 119. 184 Ammonios findet. Wie für Dionysios ist auch für Thomas die Schau der göttlichen Wesenheit erst nach der Auferstehung möglich, wenn zwar der Verstand noch arbeitet, die Abhängigkeit von den körperlichen Sinnenbildern aber überwunden ist. Denn es gilt: „Oportet autem, cum intellectus hominis elevatur ad altissimam Dei essentiae visionem, ut tota mentis intentio illuc advocetur [...].“52 Alle genannten Unterscheidungen und Bestimmungen finden sich bei Thomas auch außerhalb des Rahmens von 2. Kor. 12,2. So greift er immer wieder auf die verschiedenen Ausprägungen der Schau als Schau des Vorstellungsvermögens, als sinnenhafte Schau oder als geistige Schau zurück53, wobei die Verbindung der visio intellectualis mit dem Verstand und ihre Abgetrenntheit von der körperlichen Sinnlichkeit stets betont werden. Hierbei erhält sich auch die Zuordnung der Wesensschau zu einem Stand der Seligen und Heiligen, dem einzig die Gnade der unmittelbaren Erkenntnis Gottes gewährt wird, in der allein die göttliche Wesenheit mit dem schauenden Geist eins wird („essentia divina unitur menti beatae“54). Die Schau (des Wesens) Gottes gehört für Thomas von Aquin also zur Verstandeserkenntnis, deren Wahrheit unmittelbar einsichtig ist. Wer Gott einmal in seiner Wahrheit geschaut hat, ist nicht mehr auf einen – selbst wieder auf Autoritätsgründen aufbauenden – Glauben angewiesen, sondern er hat ein Gotteswissen erlangt, das unabhängig von den Sinnen, aber auch vom willensbedingten Schluß ist. Hiermit eröffnet Thomas eine dritte Dimension der Wesens- und Gottesschau, nämlich die der Wahrheit und des Strebens nach ihr. Bei Platon mündet die geistige Schau in das wissenschaftliche Forschen und Erkennen, bei Dionysios wird die Wesens- oder Gottesschau zur Sache eines nicht mehr beweisbaren und über jeden Beweis erhabenen Glaubens – und bei Thomas schließlich wird die visio essentiae zur Bedingung der Möglichkeit und zum Garanten von Wahrheit. Wissenschaft bzw. wissenschaftliche Methode, ein alle Zweifel auflösender Glaube und die Erkenntnis der Wahrheit als der Wahrheit Gottes erweisen sich so als die drei Grundbedeutungen der Wesensschau. Sie werden bei Thomas in der Weise verbunden, daß bei ihm 52 53 54 Thomas von Aquin: Summa Theologiae, Buch II, Quaestio 175, Band 23, 122. Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae, Buch I, Quaestio 57, Band 4, 1-2. Thomas von Aquin: Summa Theologiae, Buch III, Quaestio 9, Band 25, 3. 185 Wissen und Glaube in die beiden übergeordnete Dimension der Wahrheit aufgehoben werden, so daß sich statt eines Mangels und Widerspruchs ein – schon nahezu dialektisch anmutender – philosophischer Gewinn ergibt, indem er die Grund- und Zentralfrage aller Philosophie nach der Wahrheit vorantreibt und damit zu einem nicht nur theologischen, sondern auch philosophischen Fortschritt führt.55 Eine besondere Form der Wesensschau findet sich innerhalb der Intellekttheorie des DIETRICH VON FREIBERG – besonders deshalb, weil die Folgen derselben noch über den Zustand der Erkenntnis des wahren Wesens Gottes hinausgehen und statt dessen zu einer denkenden Einung mit Gott führen, so daß die Veränderung des in dieser Weise Schauenden durch die Schau noch deutlicher in ihren Auswirkungen auf das Individuum sichtbar wird als bei den bisher betrachteten Konzepten. Da seine Intellekttheorie als Zentrum seiner Theologie angesehen werden kann, erweist sich die Bedeutung der visio beatifica schon vor diesem Hintergrund: Als Prinzipienerkenntnis führt die Wesensschau zur Einung mit dem absoluten Prinzip, mit Gott.56 Die visio gehört weder dem Bereich der Sinnlichkeit noch dem der Vorstellung an, sondern erlaubt ein Denken Gottes, in dem Gott sich als lebendige Einheit mitteilt. In dieser Selbstmitteilung erkennt sich das Denken als Erkennendes, es erkennt sich als diese Selbstmitteilung, d.h., es begreift hierdurch Gott in seinem Wesen. Durch den Vollzug dieser Intellektschau kommt demnach die Einung des Denkens mit Gott zustande.57 Bei Dietrich findet daher eine Gebietsaufteilung statt: Während der Vollzug der Wesensschau eher dem religiösen, theologischen Bereich mit entscheidenden Konsequenzen für den Einzelnen zuzurechnen ist, bildet seine Intellekttheorie selbst, folglich unabhängig vom tatsächlichen Wirken des Intellekts, einen Bestandteil der philosophischen Auseinandersetzung mit der 55 56 57 Vgl. zur Wesensschau bei Thomas von Aquin etwa E. Stein: „Husserls Phänomenologie und die Philosophie des hl. Thomas von Aquino. Versuch einer Gegenüberstellung“. In: Husserl, hrsg. von H. Noack (Darmstadt 1973) 61-96, besonders 77-85. Stein weist hier Verbindungen und Parallelen zwischen Thomas und Husserl auf, deren Wesensschaukonzepte ihr durchaus vergleichbar erscheinen. Vgl. Dietrich von Freiberg: De visione beatifica. Hrsg. von B. Mojsisch. In: Ders.: Opera omnia, Band I: Schriften zur Intellekttheorie. Mit einer Einleitung von K. Flasch, hrsg. von B. Mojsisch (Hamburg 1977) 3.2.9.11.,7. Vgl. Dietrich von Freiberg: De visione beatifica 4.1.,3. – Vgl. dazu insgesamt: B. Mojsisch: Die Theorie des Intellekts bei Dietrich von Freiberg. Reihe: Beihefte zu Dietrich von Freiberg: Opera Omnia, Beiheft 1 (Hamburg 1977) 83-86. 186 Gottesthematik. Während bei Thomas von Aquin eine Vereinigung der nicht zuletzt erkenntnistheoretisch relevanten Gebiete von Wissenschaft, Glaube und Wahrheit zu beobachten ist, führt die Beschäftigung Dietrichs mit der visio beatifica zum Aufweis einer möglichen Verhältnisbestimmung nicht nur von Theologie (Religion) und Philosophie, sondern auch der Bereiche von Theorie und Praxis. Damit deutet sich schon ein Charakteristikum späterer Konzepte der Wesensschau an, die ebenfalls zu einer praktisches Tun bzw. Handeln und theoretisches Erkennen verbindenden philosophischen Einstellung gelangen wollen – ein Programm, das sich beispielsweise bei Fichte oder Schelling im Zusammenhang mit der intellektuellen Anschauung ergibt oder noch deutlicher in der Durchführung und den Auswirkungen der Wesensschau bei Husserl. Wie bereits Augustinus und Thomas von Aquin erweist sich auch MEISTER ECKHART in direkter Anknüpfung an diese beiden Autoren sowie unter Einbeziehung der Auslegung Ps.-Dionysios Areopagitas als Interpret der Wesensschau vor dem Hintergrund des zweiten Korintherbriefs. Hier folgt er ganz Thomas, indem er vier Arten der Entrückung (Ekstase) bzw. der Schau unterscheidet: (1) die Entrückung der Willensrichtung (Ekstase der Liebe), (2) die innere Schau von Phantasiebildern (Johannes, Petrus), (3) die geistige Schau (Adam) und (4) die Schau der Wesenheit Gottes durch den Geist (Paulus).58 Wie bei dieser Aufteilung so bleibt auch die weitergehende Beschäftigung Meister Eckharts mit der Thematik der Wesensschau von historischen Bezügen einerseits und von der textlichen Auseinandersetzung mit der Bibel oder mit philosophisch-theologischen Schriften andererseits bestimmt. So begegnet der Begriff der scientia visionis im Zusammenhang mit Thomas von Aquins Zuschreibung eines Wissens um die Gedanken und Gefühle der Herzen zu Gott; oder Eckhart erörtert einige Aussagen des Maimonides.59 Als Summe seiner Textauslegungen kann die Einsicht Eckharts gelten, daß die Wesensschau Gottes dem geschaffenen Intellekt aus rein natürlichen Kräften unmöglich, mittels übernatürlicher Kräfte jedoch möglich ist. In dem Ausdruck 58 59 Vgl. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Hrsg. und übersetzt von E. Benz, B. Decker und J. Koch. 4. Band: Sermones (Stuttgart 1956) sermo XXII, 202-203. – Zur mystischen Anschauung insgesamt vgl. E. Conze: Der Satz vom Widerspruch. Zur Theorie des dialektischen Materialismus (Hamburg 1932) Nr. 15-24. Vgl. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Abteilung: Die lateinischen Werke. Hrsg. von A. Zimmermann und L. Sturlese. Band II (Stuttgart/Berlin/Köln 1992) 89 oder 225. 187 „visio dei per essentiam“ findet sich hierbei eine der sicherlich prägnantesten lateinischen Formulierungen des Wesensschaubegriffs im Mittelalter.60 Ebenso wie schon einige seiner Vorgänger so legt auch Meister Eckhart besonderes Gewicht auf die Bibelexegese; in ihrem Umfeld finden sich einige Aussagen zur Wesensschau, die ihren Ausgang vom Gleichnisbegriff nehmen. Von Gott selber darf man sich kein Gleichnis machen, da dem Unendlichen, Unermeßlichen, Unsichtbaren kein sichtbares Gleichnis und dem Unerschaffenen nicht die Gestalt eines Bildes gegeben werden kann. Gott kann dementsprechend nicht in sich, sondern nur in gewissen Erscheinungen geschaut werden (Theophanie). Die göttliche Wesenheit ist demnach einerseits durch Gleichnisse nicht zu schauen. Andererseits hat Gott Gen. 1,26 zufolge den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis gemacht. Schöpfer und Geschöpf sind sich deshalb sowohl ähnlich als auch unähnlich; eine in Worten ausdrückbare adäquate Gottesschau gibt es jedoch nicht.61 Insgesamt fügt Eckhart der mittelalterlichen Wesensschaudeutung keine grundsätzlich neuen inhaltlichen Aspekte hinzu. Dennoch liefert er einige prägnante Formulierungen in seiner Vertiefung des Thomasischen Denkens. Ähnlich wie zuvor Dietrich von Freiberg ist auch NIKOLAUS VON KUES um die Vermittlung der Wesensschau an den Einzelnen, ja auch an Nichttheologen bemüht. In seinen Schriften versucht er, eine Anleitung zu geben, die den Leser zum einen von der Abhängigkeit an das sinnlich gegebene Wahrnehmbare befreit und ihn zum anderen zum Aufstieg zur einfachen geistigen Schau (intellectualitatem simplicem) freimacht, so daß er das Wesen Gottes und der universalen Einheit des Seins erfassen kann.62 Dazu muß der Gottsuchende den einfachen Akt der geistigen Schau erlernen, der weder von der Vorstellung noch vom Verstand geleistet werden kann.63 Zwar gilt auch hier, daß nur im göttlichen Erkennen, durch das jedes Seiende sein Sein hat, die Wahrheit aller Dinge in ihrem Wesen erreicht wird, aber auch einem 60 61 62 63 Vgl. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Abteilung: Die lateinischen Werke, Band II, 226. Vgl. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Abteilung: Die lateinischen Werke. Band II, 109-110. Vgl. Nicolaus de Cusa: De docta ignorantia. Die belehrte Unwissenheit. Buch I. Übersetzt und mit Vorwort und Anmerkungen versehen von P. Wilpert (Hamburg 41994) 8,1-10. Vgl. Nicolaus de Cusa: De docta ignorantia. Die belehrte Unwissenheit, I, 29,12-14. 188 geschaffenen Geist mit seinem ihm eignenden ganz anderen Erkenntnisvermögen kommt es zu, die Wahrheit in ihrem Wesen geistig erkennen zu können. Denn je gottähnlicher eine Intelligenz ist, um so besser kann sie sich der Wesenswahrheit und -wirklichkeit annähern.64 Aufgrund dieser Gottähnlichkeit allein ist es möglich, in Gott das zu erfassen, was in der Schöpfung äußerlich sichtbar wird; d.h., Wesensschau und empirisches Sehen stehen durchaus in einer Beziehung, die – am schwächsten ausgedrückt durch ein Analogieverhältnis – in jedem Fall der Erkenntnis und der tieferen Einsicht in das Wesen des Wahrnehmbaren dient, womit sich auf dieser Ebene bereits eine erste deutliche Parallele zur phänomenologischen Wesensschau und den mit ihr verbundenen Erkenntnisintentionen ergibt.65 Allerdings ist die Richtung des Erkennens bei beiden Weisen des Sehens völlig verschieden, indem dem sinnlichen Wahrnehmen das Begreifen, der Schau des Geistes (visio mentis) jedoch die Loslösung vom Begreifen und damit der Überstieg zum Unbegreiflichen zuzuordnen ist. Durch sein Sehen-Können ist der Geist zum Können-Selbst, zu Gott, hingeordnet. Nur auf dem Fundament dieser Möglichkeit des Innewerdens des höchsten, reinsten Könnens gewinnt der Geist seine Gottähnlichkeit, die sich vor allem darin äußert, daß der Geist in sich dieses Sein-Können betrachtet, so daß alles, wie bereits im Neuplatonismus, des Geistes wegen da ist, der Geist aber dazu da ist, das Können-Selbst zu schauen.66 Wie schon bei Dietrich von Freiberg erweist sich also auch bei Nikolaus von Kues die Wesensschau als einzige Möglichkeit der Einung mit Gott, ohne daß diese Einung allerdings ein völliges Einswerden implizierte – die bloße Gottähnlichkeit dokumentiert eine stets unaufhebbare Differenz, die schon dadurch nicht in Identität umschlagen kann, daß der Geist sich selbst lediglich als Erscheinungsweise des unvergänglichen Können-Selbst als des dreieinigen Gottes sieht.67 Gleich seinen Vorgängern macht auch der Cusaner auf den Konnex zwischen 64 65 66 67 Vgl. Nicolaus de Cusa: De coniecturis. Mutmaßungen. Übersetzt und mit Einführung und Anmerkungen hrsg. von J. Koch und W. Happ. Lateinisch-deutsch (Hamburg 1971) 55,7-10. Vgl. Nicolaus de Cusa: Trialogus de possest. Das Können-Ist. In: Ders.: Philosophisch-theologische Schriften. Hrsg. und eingeführt von L. Gabriel, übersetzt und kommentiert von D. und W. Dupré. Lateinisch-deutsch. Drei Bände (Wien 1964-1967) II, 272-273. (Alle folgenden Belegstellen zu Nikolaus von Kues beziehen sich auf die Bände dieser Ausgabe, sofern nichts anderes angegeben ist.) Vgl. Nicolaus de Cusa: De apice theoriae. Der Gipfel der Schau, II, 372-373 und 378-381. Vgl. Nicolaus de Cusa: De apice theoriae. Der Gipfel der Schau, II, 382-385. 189 Wahrheit und Schau aufmerksam, wobei sich hier die soeben konstatierte Verschiedenheit von Gott und Geist nochmals deutlich zeigt: Dem Geist wird erst in der Schau Gewißheit; die Wahrheit der Schöpfung und ihres Urhebers wird in dieser visio zugänglich. Gott hingegen steht über Gewißheit und Wahrheit, die er ja selbst ist; er sieht alles in einem einzigen und unsagbaren Blick, weil er die Schau des Schauens (visionum visio) ist, so daß sein Sehen Definieren und Schaffen ist.68 Zu erwähnen ist im Hinblick auf die Wesensschau unbedingt die einzige explizit mystische Schrift des Cusaners De visione dei (1453). Der Gedankengang dieses Textes hebt mit der Ikone des Allsehers an, in welchem Zusammenhang bereits eine Ableitung des Begriffes theos (Gott) von theoria (Ich sehe) durchgeführt wird. Diese Ikone schaut alle Betrachter an, gleichgültig aus welcher Perspektive diese jene ins Auge fassen; auch beim Wechsel des Blickwinkels folgt der Blick dem der Ikone. Daraus zieht Nikolaus den allgemeinen Schluß: Gottes Sehen ist das Erschaffen schlechthin. Alles ist, weil Gott es durch seinen Blick hervorbringt. Sein Sehen ist visio absoluta, die sich im Sehen jedes Einzelbetrachters kontrahiert, wobei Sehen und Gesehenwerden zusammenfallen. Gott ist daher das letzte Ziel des menschlichen Erkenntnisstrebens resp. Sehens, kann aber qua Vernunft nicht mehr faßbar werden, weil diese an der „Mauer des Paradieses“69, an der coincidentia oppositorum, ihr Ende findet. Notwendig wird deshalb das Überspringen dieser Mauer und das Eintreten in die Dunkelheit. Erst dann, wenn Gott nicht mehr als schaffender und auch nicht mehr als erschaffbarer Schöpfer gesehen wird, sondern als absolute Unendlichkeit70, wird er tatsächlich unverhüllt anschaubar (visio in tenebra71). Bei Nikolaus von Kues deutet sich demgemäß insgesamt eine Unterscheidung an, die für die Philosophie der Moderne relevant werden wird; gemeint ist die Differenz zwischen dem auf Anschauung rekurrierenden 68 69 70 71 Vgl. Nicolaus de Cusa: De Non-Aliud. Das Nichtandere, II, 530-531 und 546-549. – Genau diese Bestimmungen spricht später noch Kant dem göttlichen, seinssetzenden Verstand zu, über den jedoch keine definitiven Aussagen getroffen werden können, da seine Erkenntnis sich dem endlichen Verstand entzieht, dessen Kategorien auffälligerweise weder definiert werden können noch als schaffende, hervorbringende Gedanken aufzufassen sind. Vgl. Nicolaus de Cusa: De visione dei. Die Schau Gottes. In: Ders.: Opera omnia, c. 9-13 und c. 17. Vgl. Nicolaus de Cusa: De visione dei. Die Schau Gottes. In: Ders.: Opera omnia, n. 67-69. Vgl. Nicolaus de Cusa: De possest. Das Können-Ist. In: Ders.: Opera omnia, n. 73-75. 190 Verstand des endlichen Denkens, dem keine setzende Schöpferkraft zukommt, und dem anschauenden, in der Anschauung seinssetzenden Verstand Gottes. Finden sich diese beiden Weisen der Verbindung von Anschauung und Denken bei Kant noch in einem Gegensatzverhältnis, das zur vieldiskutierten Bereichstrennung zwischen Erscheinung und Ding an sich Anlaß bietet, so unternimmt die klassische deutsche Philosophie teilweise im Anschluß an, teilweise in Abgrenzung von Kant den Versuch der Versöhnung beider Bereiche durch die Zusprechung der sogenannten intellektuellen Anschauung an den endlichen Verstand, die eine neue Wahrheitsgrundlage garantieren soll.72 Diese nachkantische Diskussion um die intellektuelle Anschauung, die vornehmlich von Fichte und Schelling in ihrer Frühphilosophie vertreten wird, nimmt derart unter anderem in der Cusanischen Philosophie und deren visioKonzept ihren Anfang. Um Wahrheit geht es sowohl den transzendentalen Idealisten als auch Nikolaus, der stets – wie schon vor ihm mit besonderer Prägnanz Thomas von Aquin – auf die Einsicht in die Wahrheit durch die Wesensschau als intuitio veritatis hinweist, obwohl er zugleich auf deren Weltverhaftetheit beharrt.73 Deshalb ist das Sein des Geschöpfes aufgrund seiner Begrenztheit das Sehen und Gesehen-werden Gottes. Das Schaffen Gottes wiederum ist sein Sein, das sich als Unendlichkeit in absoluter Weise zu allen Dingen verhält. Nur in ihrer sich gewissermaßen selbst übersteigenden Schau vermag deshalb die Vernunft den dreieinigen Gott zu fassen, auch wenn sie sich als Geist in notwendiger Trennung von ihm befindet. Die Schau Gottes ergreift somit dessen Wirken als sein Sehen – im Aufeinandertreffen beider Sehweisen, nämlich der endlichvernünftig-geistigen Sehweise auf der einen und der göttlich-schöpferischen Sehweise auf der anderen Seite, entsteht mithin die Wahrheit, die Gott schon immer ist, ohne ihrer zu bedürfen, und die der Mensch immer erst noch ergreifen muß, ohne ihrer und Gottes je vollständig habhaft werden zu können.74 72 73 74 Gemeinsam ist der Schau als Wesensschau oder als intellektuelle Anschauung, daß beide auf Wahrheit abzielen und hierbei jeweils als höchste Erkenntnisform aufgefaßt werden. Vgl. Nicolaus de Cusa: De filiatione Dei. Die Gotteskindschaft, II, 612-613. Vgl. Nicolaus de Cusa: De filiatione Dei. Die Gotteskindschaft, III, 110-111, 134-137, 144-145, 158159 und 168-175. – Gerade an dieser Thematik der Gottesschau wird ein mit der Wesensschau eng verbundenes Begriffsfeld sichtbar, das das mittelalterliche Denken noch weitaus stärker prägt als die 191 Die Seele ist somit nach Nikolaus von Kues die begriffliche Wahrheit des Erkennbaren, da sie als vernünftige Seele wahrer Begriff ist; in ihrer intuitiven Schau sieht sie demnach, daß sie in sich den ganzen Begriff der Welt hat.75 In ihrer Schau des Wesens und des Wesens Gottes gewinnt die vernünftige Seele demzufolge die Welt zumindest als Begriff. Die Gemeinsamkeit zwischen diesem Relationsgefüge aus Wesenseinsicht, Vernunft, Begriffsdenken und Welt bei Nikolaus von Kues und dem allumfassenden Logikkomplex Hegels, der für sich in Anspruch nimmt, Darstellung Gottes zu sein, „wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“76, liegt nahezu auf der Hand, womit sich eine weitere Parallele zwischen dem Denken des Cusaners und dem des sogenannten deutschen Idealismus nach Kant ergibt. Mittels dieser geradezu vorausweisenden Position schließt Nikolaus von Kues die Tradition des Gedankens der Wesensschau im Mittelalter ab und eröffnet die Perspektive auf das neuzeitliche Denken, das immer weniger rein theologisch-religiös und dafür immer stärker erkenntnistheoretisch-methodisch geprägt sein wird. Ein erster wichtiger Vertreter dieser erkenntnistheoretischen Richtung ist zweifelsohne B. DE SPINOZA, in dessen Tractatus de intellectus emendatione das Konzept der Wesensschau eine ganz neue Bedeutung gewinnt. In Aufnahme des Cartesischen Intuitionsbegriffs sowie der Platonischen Vorstellung einer in Stufen immer weiter fortschreitenden Erkenntnis gelangt Spinoza zu seiner vor allem methodisch relevanten Theorie der Wesensschau, die von ihm innerhalb seiner Differenzierung verschiedener Erkenntnis- bzw. Wahrnehmungsarten ausgeführt wird. In der genannten Schrift unterscheidet Spinoza vier derartige Wahrnehmungsweisen, von denen die vierte insbesondere in Abgrenzung von der Sinnenerkenntnis als Wesenseinsicht oder Wesensschau gefaßt werden kann. Denn mittels ihrer und ihres rein rationalen Fundaments wird das Begreifen einer Sache aus ihrer Wesenheit oder aus der Erkenntnis ihrer 75 76 Schau des Wesens, was sich beispielsweise in den Schriften des Gregor von Nyssa, des Scotus Eriugena oder auch bei Clarenbaldus von Arras und Richard und Hugo von St. Viktor zeigt. Hier ist allerdings nicht der Ort, dem Begriff der Gottesschau in allen Details nachzugehen. (Vgl. A. H. Armstrong: „Gottesschau (visio beatifica)”. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Hrsg. von T. Klauser. Band 12 (Stuttgart 1983) Sp. 1-19, wo sich auch noch weitere Literaturangaben finden.) Vgl. Nicolaus de Cusa: De aequalitate. Die Gleichheit, III, 370-373. G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. In: GW 21, 34. 192 nächsten Ursache möglich.77 So wie in der Ethik (II, def. II und X) festgestellt wird, daß das Wesen eines Dinges das ist, wodurch das Ding als solches gesetzt wird, ohne das es also weder gedacht noch sein kann, so gilt auch hier, daß eine Sache nur durch ihre Wesenheit wahrgenommen wird. Allein diese erkennende Art der Wahrnehmung umfaßt nach Spinoza das adäquate Wesen („essentiam rei adaequatam“78), ohne daß hierbei die Gefahr des Irrtums bestünde. Wenn eine Vorstellung nämlich etwas Wirkliches ist, so kommt ihr auch eine eigentümliche Wesenheit zu, durch die sie erkennbar wird. Die Gewißheit ist die objektive Wesenheit selbst; sie ist die Art, wie der Mensch die formale Wesenheit empfindet, sie ist die Gewißheit selbst. Durch den Irrtumsausschluß und die dadurch garantierte Wahrheit der Wesenserkenntnis ist allein die Reflexion ausgezeichnet. Hierbei unterscheidet Spinoza mehrere Reflexionsweisen: Das Reflexionswissen, das es von der Vorstellung des vollkommensten Wesens gibt, ist vorzüglicher als die reflexive Erkenntnis der übrigen Vorstellungen, d.h., jene Methode wird die vollkommenste sein, die nach der Richtschnur der gegebenen Vorstellung des vollkommensten Wesens zeigt, wie der Geist zu leiten sei.79 Eine Sache kann nur durch ihre Wesenheit im Rückgriff auf die Wesenserkenntnis Gottes begriffen werden.80 Bei Spinoza gehen demgemäß der theologische Aspekt der Wesensschau, der für das mittelalterliche Denken von entscheidender Bedeutung war, und der für die Neuzeit dominierend werdende erkenntnistheoretische und methodische Aspekt dieses Kognitionsinstrumentariums Hand in Hand, wobei die vornehmlich bei Dietrich von Freiberg hervorgetretene Betonung der Individualität – das Individuum ergreift das Wesen einzelner Seiender – bei ihm erhalten bleibt. Die Gotteserkenntnis fungiert hier zum einen als Bedingung der Möglichkeit aller Wesenserkenntnis und zum anderen als Ziel aller Wissensund Wahrheitsbestrebungen. Die intuitiv-reflexive Wesensschau ist allerdings nicht auf sie eingeschränkt, sondern umfaßt das gesamte Gebiet der Sach- und Dingerkenntnis. Eben hierin erweist sich das Vorgehen Spinozas schon als dem Husserls ähnlich – wenigstens was den Umfang des durch die Wesensschau zu 77 78 79 80 Vgl. B. de Spinoza: Tractatus de intellectus emendatione. In: Ders.: Opera. Lateinisch und Deutsch, hrsg. von K. Blumenstock (Darmstadt 1989) II, 16-17. B. de Spinoza: Tractatus de intellectus emendatione, II, 18-19 sowie 22-23. Vgl. B. de Spinoza: Tractatus de intellectus emendatione, II, 26-29. Vgl. B. de Spinoza: Tractatus de intellectus emendatione, II, 70-71. 193 erschließenden Feldes angeht. In diesem Sinne kann Spinoza als erster moderner Vertreter der Wesensschaumethode gelten, die, wie oben gesagt, immer weniger den von Aristoteles betonten theologischen und immer mehr den von Platon akzentuierten ontologisch-erkenntnistheoretischen Interessen dient. Schon aus diesem Grund – und dies sei wenigstens anmerkungsartig erwähnt – fällt die vision beatifique bei Leibniz aus dem Rahmen der neuzeitlichen Theorie der Wesensschau heraus. Denn Leibniz verbindet sie mit der Erkenntnis Gottes, die wegen der Unendlichkeit Gottes nie vollständig sein kann, ohne sie dabei dem Bereich der Dingerkenntnis zu öffnen.81 Diese Gott zugeordnete Unendlichkeit wird nachfolgend bei Husserl zur Unendlichkeit des Dings bzw. der Dingerkenntnis, dessen Einheit als eidos in der Wesensschau erfaßt wird. Hiervon ausgehend läßt sich daher von einer Säkularisierung der Unendlichkeit oder einer Logifizierung des Wesens in der Geschichte der Wesensschaumethode sprechen. Die philosophischen Entwürfe und Systeme nach Spinoza bis hin zu Hegel vernachlässigen das Phänomen der Wesensschau weitgehend, sie erörtern es wenigstens nicht unter diesem Namen und wenden sich statt dessen der teilweise vergleichbaren intellektuellen Anschauung82 zu, wobei auch hier eine zwischen Ablehnung und Anerkennung bzw. Nutzbarmachung schwankende Situation zu konstatieren ist. Da Wesensschau und intellektuelle Anschauung nicht als völlig identisch einzustufen sind, seien hier nur wenige andeutende Bemerkungen zu letzterer gemacht. Während die intellektuelle Anschauung für Kant lediglich einen hinsichtlich des endlichen Verstandes negativen Sinn besitzt, indem sie allein Gott in seinem Schöpfertum zugesprochen werden kann83, vertreten Fichte und Schelling in ihren frühen Werken die intellektuelle Anschauung als eine solche Gegenstandserkenntnis, der im Gegensatz zur Diskursivität des Verstandes Unmittelbarkeit zukommt. Deshalb wird sich gerade Hegel entschieden gegen eine solche intellektuelle Anschauung wenden. 81 82 83 Vgl. G. W. Leibniz: Principes de la Nature et de la grace, fondé en raison. In: Ders.: Philosophische Schriften. Hrsg. von H. H. Holz (Frankfurt am Main 1996) I, 436-439. Vgl. J. König: Der Begriff der Intuition, a.a.O., 62-90. Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 68, A 68/B 93, B 148-149 oder A 286-289/B 342-346. 194 Für J. G. FICHTE84 ist die intellektuelle Anschauung das „dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Actes, wodurch ihm das Ich entsteht“85, wobei die Existenz dieser Anschauung nicht beweisbar, sondern lediglich als Faktum des Bewußtseins praktisch anwendbar ist. Damit wird die Freiheit zur Bedingung der intellektuellen Anschauung, die derart nicht nur als methodisches Instrument des Philosophierens, sondern vielmehr als Bestandteil des sittlichen Tuns begriffen werden muß.86 Durch die Betonung der sittlichen Relevanz der intellektuellen Anschauung auch und besonders für das ausführende Subjekt kommt hier ein Element zum Tragen, das schon für das Wesensdenken Platons kennzeichnend war: Die auf der Basis der Wesensschau oder der intellektuellen Anschauung gewonnenen Einsichten bewirken nicht nur eine Veränderung des Erkenntnisstandes, sondern auch einen Wesenswandel des ausführenden Individuums. Bei Fichte geht dieser Veränderungsprozeß so weit, daß durch die neue Einstellung der Wissenschaftslehre die Philosophie und die Philosophierenden selbst den Weg zu einer – explizit auch im moralischen Sinne zu verstehenden – besseren Welt beschreiten. Eine Vergleichsmöglichkeit mit der Wesensschau ergibt sich dementsprechend gerade durch die umfassendere Perspektive, in die Fichte die intellektuelle Anschauung – verbunden mit seinem den Auslöser der frühen Wissenschaftslehren bildenden Konzept der Tathandlung – stellt: Wesensschau und intellektuelle Anschauung betonen beide die Veränderungskraft der entsprechenden Art des Schauens für das Leben des ausführenden Individuums; und beide heben – man denke hier an Spinoza – den erkenntnisrelevanten und den methodologischen Aspekt der jeweils nichtsinnlichen Anschauungsweisen hervor.87 Sogar der vormals in seiner 84 85 86 87 Vgl. J. Barion: Die intellektuelle Anschauung bei J. G. Fichte und Schelling und ihre religionsphilosophische Bedeutung (Würzburg 1929). – J. Stolzenberg: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung (Stuttgart 1986). – A. Philonenko: „Die intellektuelle Anschauung bei Fichte“. In: Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes. Hrsg. von K. Hammacher (Hamburg 1981) 91-106. J. G. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre. In: SW I, 463 – GA I,4, 216. Vgl. J. G. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre. In: SW I, 467-468 – GA I,4, 219-221. Auf die enge Verbindung zwischen intellektueller Anschauung und Wesensanschauung macht Fichte selbst in seinen Logik-Vorlesungen aus dem Jahr 1812 aufmerksam. Vgl. hierzu J. G. Fichte: Ueber das Verhältniß der Logik zur Philosophie oder transcendentale Logik bzw. Vom Unterschiede 195 Bedeutsamkeit nicht zu unterschätzende theologische Aspekt der Wesensschau findet sich, obgleich weniger zentral, im Denken Fichtes wieder, indem die intellektuelle Anschauung auch eine unmittelbare Erfassung Gottes ermöglicht. So geht Fichte noch in seinen späteren Schriften von einem rein geistigen Erfassen des Absoluten aus.88 Die Gemeinsamkeiten zwischen der intellektuellen Anschauung bei Fichte und dem bisher begegnenden Wesensschauphänomen liegen insofern auf der Hand, denn sowohl die Wesensschau als auch die intellektuelle Anschauung betonen den Aspekt der Schau, die sie jeweils als Wortbestandteil enthalten. Durch seine extreme Betonung des Freiheitsmoments im intellektuellen Anschauen, auf dem letztlich die ganze Wissenschaftslehre und Philosophie gründen, erweitert Fichte jedoch den Rahmen der Wesensschau, die so nicht mehr als Gnadenerweis wie bei Augustinus oder Thomas von Aquin, sondern als Beweis einer philosophischen Erkenntnisfähigkeit zu werten ist. Die intellektuelle Anschauung des Kantischen Ansatzes wird hiermit gleichermaßen vermenschlicht und dem wahren Erkenntnisstreben zugänglich, was sein Pendant unter anderem in der Aufwertung der symbolischen Erkenntnis bei Maimon89 findet oder auch in der Aufwertung des Anschauens der schaffenden Natur durch das geistige Tun bei Goethe. Zur Grundlage der philosophischen Erkenntnis erklärt auch der frühe F. W. J. von SCHELLING – in Anlehnung an Fichte und nicht zuletzt an Spinoza, mit dem gemeinsam er die intellektuelle Anschauung als den höchsten dem Denken erreichbaren Punkt auf dem Weg zur Erkenntnis Gottes erachtet – die intellektuelle Anschauung90, die ihm die Vereinigung von Sein und Denken bedeutet und bei ihm ebenfalls auf dem Postulat eines absolut freien Handelns beruht.91 Wie schon Fichte stellt Schelling einen Bezug zwischen der intellektuellen Anschauung und der Erkenntnis des Absoluten oder Gottes 88 89 90 91 zwischen der Logik und der Philosophie selbst, als Grundriss der Logik und Einleitung in die Philosophie. In: SW IX, 275-276 und 287 – GA II,14, 307 und 315-316. Vgl. J. G. Fichte: Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre. In: SW V, 418 und 438-439 – GA I,9, 68-69 und 85-86. Vgl. S. Maimon: Gesammelte Werke. Hrsg. von V. Verra, II, 265-270. Vgl. M. Adam: Die intellektuelle Anschauung bei Schelling in ihrem Verhältnis zur Methode der Intuition bei Bergson (Patschkau 1926). – J. R. Richter: ‚Intuition’ und ‚Intellektuelle Anschauung’ bei Schelling und Bergson (Ohlau 1929). Vgl. F. W. J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus. In: SW I, 3, 369. 196 her92, der allerdings mit der Veränderung der Konzeption des Absoluten zu einem persönlichen Gott in der Freiheitslehre hinfällig wird. Die Vergleichbarkeit von intellektueller Anschauung und Wesensschau, wie sie schon bei Fichte sichtbar wurde, bestätigt sich demnach durch die Ausführungen Schellings nochmals. Sie ähneln mit ihrer Erklärung der Unmittelbarkeit der intellektuellen Anschauung der Betonung des intuitiven Erkennens bei Schopenhauer93 wenigstens entfernt, der an vielen Stellen seines Werks der intellektuellen Anschauung als Vernunft-Anschauung94 seine negativ-kritische Aufmerksamkeit widmet. In seiner Ablehnung der intellektuellen Anschauung stimmt Schopenhauer (ausnahmsweise einmal) mit Hegel überein, der sie ebenfalls als willkürlich verwirft, obwohl er durchaus eine Erkenntnis des Wesens durch Anschauung annimmt.95 Die Vergleichbarkeit der gewiß nicht unproblematischen intellektuellen Anschauung mit der Wesensschau dürfte aus diesen wenigen Anmerkungen trotz der zugegebenermaßen vorhandenen, obzwar nicht unüberbrückbaren Begriffsdifferenz hervorgegangen sein. Deswegen darf dieses recht spezielle Instrumentarium der intellektuellen Anschauung mit einigem Recht als eine Vertretung des Wesensschauterminus in der klassischen deutschen Philosophie von Fichte bis Schopenhauer gelten. Die Rückkehr des Begriffs der Wesensschau selbst ist im Werk K. C. F. KRAUSEs zu beobachten, der die Wesenschauung zu einem methodischen Zentralmoment seines Denkens macht.96 Hierbei sind es vor allem zwei Themenkreise, die in engen Zusammenhang mit der Wesensschau gebracht werden und die beide bereits in dieser Verbundenheit aus dem mittelalterlichen Denken vertraut sind: Gott und Individuum bzw. Ich. Sowohl Gott selbst als auch die endlichen Wesen können in der reinen Anschauung des Wesentlichen erfaßt werden. Hierbei stehen beide Erkenntnisgegenstände in einer 92 93 94 95 96 Vgl. F. W. J. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie. In: SW I, 4, 129. Vgl. G. Lehmann: Die intellektuelle Anschauung bei Schopenhauer (Bern 1906). Vgl. A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. In: A. Schopenhauers Werke in fünf Bänden. Hrsg. von L. Lütkehaus (Zürich 1988) zum Beispiel I, 59-60. Vgl. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. In: GW 9, 195; Wissenschaft der Logik. In: GW 21, 63. Vgl. K.-M. Kodalle: „Gewißheit als absolutes Wahrheitsereignis. Das Konzept der ‚Wesenschau’ in der Metaphysik Karl Christian Friedrich Krauses“. In: Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832). Studien zu seiner Philosophie und zum Krausismo. Hrsg. von K.-M. Kodalle (Hamburg 1985) 53-71. 197 ausgezeichneten Relation: Das Wesentliche in Gott ist nämlich das Ur- oder Erstwesentliche, und das Urwesentliche eines jeden endlichen Wesens ist daher als ein begrenztes Teilwesentliches im Urwesentlichen Gottes zu begreifen. Die eine Wesensschauung bedingt folglich die andere, das Wesen des einen (also Gottes) die des anderen (nämlich der endlichen Wesen).97 In seinen Vorlesungen über das System der Philosophie erweitert Krause das Feld der Wesensschau um einen Aspekt, der schon für die Platonische und die Aristotelische Philosophie bedeutsam war, ohne sich doch auf allen nachfolgenden Stufen der Auseinandersetzung in seiner Relevanz für die Philosophie insgesamt zu erhalten: um den Aspekt der Wissenschaftlichkeit, der ja das gesamte transzendentalphilosophische und transzendentalidealistische Denken von Kant an prägt und nicht nur für Fichte, Schelling, Hegel, Reinhold oder Kiesewetter von entscheidender Bedeutung ist, sondern auch für die gesamte Phänomenologie Husserls mit ihrer Absicht, die sogenannte Erste Philosophie zur ersten und führenden Wissenschaft, zum Garanten für Wissenschaftlichkeit generell zu machen. Dieses Wissenschaftsinteresse Krauses geht einher mit seiner Behandlung des Ich, das sich selbst zum wissenschaftlichen Gegenstand macht, wobei auch hier die Parallelität besonders zu Fichte nicht zu übersehen ist. Die Gewißheit aller anderen Wissenschaften – etwa der Mathematik – ist nach Krause durch die Gewißheit des Ich vermittelt, wozu es der Erfassung der Grundwesenheit des Ich in reiner Wahrnehmung bedarf – ein Gedanke, der die Zentralstellung der intellektuellen Vorstellung des Ich der transzendentalen Apperzeption bei Kant wieder aufnimmt und weiterführt.98 Als problematisch erweist sich allerdings hier, daß Krause das Ich als Wesen versteht, ohne den Wesensbegriff selbst zu definieren und aufzuklären, den er lediglich in Form eines Postulats einführt, dessen Gedanke von jedem Philosophierenden selbst gefaßt werden müsse.99 Auf diese Weise entzieht sich das Wesen als das Absolute, das begriffen werden soll, der allgemeinen Verständlichkeit, so daß die Wesensschau ebenso zu einer Gabe an die philosophischen Sonntagskinder zu werden droht wie die intellektuelle Anschauung bei Fichte, Schelling oder 97 98 99 Vgl. K. C. F. Krause: Das Urbild der Menschheit (Leipzig ³1903) 3 und 325. Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 423. Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie (Göttingen 1828) 49. 198 Reinhold. Daß der Anfang einer Grundlegungsbewegung mit einem Postulat gemacht werden kann, hat etwa Fichte mit seiner Wissenschaftslehre von 1794 bewiesen. Daß diesem Postulat aber keine generelle, nicht einmal eine intuitive, sondern nur eine zufällige Verstehbarkeit anhaftet, macht ein solches Vorgehen zumindest schwierig. Dennoch muß anerkannt werden, daß Krause diese Schwierigkeit auf sich nimmt, um der Zirkelhaftigkeit eines Anfangs zu entgehen, der seinen Inhalt bereits voraussetzt. Denn ein positiver Zirkel, wie er aus Fichtes oder später etwa aus Heideggers Philosophie bekannt ist, kommt für Krause offenbar nicht in Frage. Für die Wesenheit kann es deshalb Krause zufolge keine Definition geben, weil eine solche Definition immer schon eine gedankliche Erklärung der Wesenheit voraussetzte.100 So gilt nur sehr allgemein und geradezu tautologisch: „Wesenheit ist das, was ein Wesen west und ist“101. Um trotz seiner terminologischen Offenheit einen Zugang zum Wesen zu finden, bedarf es nach Krause der Wesenschauung als einer besonderen Art der Erkenntnis. Da Gott und Wesen hierbei gleichbedeutend aufzufassen sind, geht es der Wesenschauung nicht um die Erkenntnis des endlichen Individuellen, sondern um die Erkenntnis Gottes, die diejenige des Endlichen mitbefaßt. In diesem Wesenschauen werden darum nicht nur Gott und Welt wirklich, sondern auch die Wissenschaft.102 Wissenschaft besteht für Krause somit in der Erkenntnis des Verhältnisses des Ich bzw. des endlichen Vernunftwesens und der Welt zum Wesen, zu Gott, mittels der reinen und ganzen Wesenschauung.103 Die Orientierung des allgemeinen Charakters von Wissenschaft am Vorbild von Mathematik und Naturwissenschaft wird damit von Krause in einer Weise aufgebrochen, die eine Erweiterung des Wissenschaftsverständnisses hin zu Kultur- und Geisteswissenschaft zumindest erahnen läßt und auch deren Fundiertheit im philosophischen Wissen von vornherein festlegt. Wie schon Fichte die Verbindung von intellektueller Anschauung sowie von Philosophie und Freiheit betont, so kettet auch Krause die Freiheit des Ich als Grund seiner Selbstbestimmung zum Guten eng an die Wesenschauung, 100 101 102 103 Dem entspricht die von Kant betonte Unmöglichkeit einer Definition der Kategorien. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 172. Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 226. Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 248. 199 wobei er indes Grund und Ursache der Freiheit in Gott sieht. Dieser Zusammenhang ist deshalb um so faßlicher, da ja Wesen und Gott gleichzusetzen sind, so daß gilt: Das Wesen ist Grund und Ursache der Wesensschau. Auch die Metaebene gewinnt hierdurch an Klarheit, denn nach Krause ist Gott als das Wesen Grund und Ursache meines Gottbewußtseins, was ebenfalls in der Wesenschauung erkannt wird.104 Hierbei gilt nicht nur, daß Gott sich dem Menschen in der Wesenschauung zu erkennen gibt, sondern auch, daß damit zugleich alle auf dem Weg der Wesensschau Gottes erworbenen Begriffe wissenschaftlich abgesichert werden. Derart erfährt alle besondere Wissenschaft ihre Begründung in der Wesenschauung.105 Mit der Wesensschau ist also nicht nur Wissenschaftlichkeit, sondern auch eine aufsteigende Erkenntnisbewegung verbunden. Die endliche Erkenntnis erlangt daher für Krause auch Gottähnlichkeit – ein schon von früher behandelten Autoren in Verbindung mit der Wesensschau häufig verwendetes Prädikat –, weil und insofern sie zwei Richtungen aufweist: (a) die synthetische Ausführung der Wesenschau; (b) die Erforschung des unmittelbar gegebenen Endlichen.106 Außerdem werden erst innerhalb der Wesenschauung Deduktion, Intuition und Konstruktion als Vereinigung der beiden anderen möglich.107 Mit Krauses Ausführungen liegen die modernen Entwicklungslinien der Wesensschau schon in weitreichenden Ansätzen vor. Sowohl die Intuitionslehre Bergsons als auch die phänomenologische Wesensschaulehre Husserls finden hier eine zeitlich vorausliegende Parallele, die insonderheit für Husserl am Methodenaspekt (wozu gerade die synthetische Ausführung beiträgt) und an der Richtung auf die endlichen Dinge manifest wird108 – neben der Grundgemeinsamkeit eines Strebens nach Verwissenschaftlichung der Philosophie109, auch wenn dies auf durchaus unterschiedliche Weise umgesetzt wird. 104 105 106 107 108 109 Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 258. Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 305, 310 und 313. Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 323. Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 338. Vgl. P. Janssen: „Schau als Methode bei Krause und Husserl“. In: Karl Christian Friedrich Krause. Hrsg. von K.-M. Kodalle, a.a.O., 42-52. Vgl. K. C. F. Krause: Der Begriff der Philosophie. Aus dem handschriftlichen Nachlaß des Verfassers, hrsg. von P. Hohlfeld und A. Wünsche (Leipzig 1893) 108. 200 Im Gegensatz zur auch inhaltlichen Übereinstimmung zwischen Krause und Husserl erweist sich die Parallelität mit H. BERGSON als vorwiegend nominal-begrifflich, indem sie ihren Ausgang vom beiderseits eingesetzten Begriff der Intuition nimmt. Eben diese Intuitionslehre ist es, die Bergson für den Kontext der Wesensschaubetrachtung, nicht direkt für die Begriffsentwicklung selbst, interessant macht. Ganz grundsätzlich stellt Bergson – etwa in seinem Vortrag „Die philosophische Intuition“ – eine gewisse Verbindung zwischen dem Wesen der Philosophie und ihrem Aktcharakter her, die ihn zumindest als einen am Rande der Thematik der Wesensschau sich bewegenden Autor ausweist. Philosophieren ist für Bergson immer ein einfacher Akt; er entspringt geradezu aus dem Geist der Vereinfachung und führt damit zum Wesentlichen.110 Diesem Bezug zum Wesentlichen, zuvor nicht Erkannten, eventuell sogar Fremden oder Ich-Fremden, dient vorrangig die intuitive Erkenntnisweise, die Bergson zur philosophischen Methode erhebt, was der modernen Entwicklungsrichtung des Begriffs der Wesensschau korrespondiert. Hierbei ordnet er die Intuition dem insbesondere durch die Zeit geprägten lebensphilosophischen Gesamtzusammenhang ein; denn um von der Begrifflichkeit zur unmittelbaren Schau, vom Relativen zum Absoluten zu gelangen, darf man sich nicht außerhalb der Zeit begeben, sondern muß sich in die wahre Dauer zurückversetzen und die Wirklichkeit, die ihr Wesen ist, wieder ergreifen.111 Aufgrund dieses regelrecht virtuosen Umgangs der Intuition mit den zeitlichen Modi kann sie als direkte Schau des Geistes durch den Geist erfaßt werden112 – allerdings eine Schau, die Bergson in bewußter Abgrenzung gegen Schelling und damit gegen die Theorie der intellektuellen Anschauung entwickelt. Als solcherart direkte Schau und unmittelbares Bewußtsein unterscheidet sich die Intuition kaum von dem ihr koinzidierenden Gegenstand, so daß Bergson auf der Ebene der Lebensphilosophie nahezu die Überwindung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes gelingt – aber eben nur nahezu, da Ich und Ichfremdes letztlich einander doch unvermittelt gegenüberstehen, obgleich ihr 110 111 112 Vgl. H. Bergson: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Übersetzt von L. Kottje, mit einer Einführung hrsg. von F. Kottje (Meisenheim am Glan 1948) 145. Vgl. H. Bergson: Denken und schöpferisches Werden, 43. Vgl. H. Bergson: Denken und schöpferisches Werden, 44. 201 Abstand voneinander minimal geworden ist, ohne daß eine durch das Denken vollzogene und zu leistende Vermittlungs- und Identifizierungsbewegung, wie etwa die spekulative Dialektik Hegels sie bieten will, ausgeführt und bis zur letzten Einheit gebracht würde. Die Intuition erfaßt zwar den Geist, die Dauer, die reine Veränderung, aber wegen ihrer Zeitlichkeitsgebundenheit mangelt ihr das den transzendentalen Idealismus von Kant an prägende Streben nach Einheit oder, wie Hegel sagt, nach Versöhnung. Nur durch den Strom der Zeit entsteht Einheitlichkeit, wenn auch keine Einheit; und in ihm ergreift sich der Gegenstand der Metaphysik, der Geist, in der Methode der Intuition.113 In dieser expliziten Verbindung von Intuition und Methode ist die hauptsächliche Übereinstimmung zwischen Bergson und Husserl zu sehen, in dessen Phänomenologie das Instrumentarium der Wesensschau von größter Bedeutsamkeit – auch im Vergleich zur bisher betrachteten Geschichte dieses Begriffs – sein wird. Bei E. HUSSERL finden sich ein radikaler Bruch mit der Tradition der Wesensschau und ein Neuansatz zur Verwendung dieses Terminus, insofern bei ihm die theologische Dimension desselben aufgegeben wird – und zwar zugunsten einer reinen Methodisierung der Wesensschau, die als Instrument einer auf eidetisch-phänomenologische Einsichten abzielenden Philosophie eingesetzt wird.114 Zugleich finden sich bei Husserl mannigfache inhaltliche Übereinstimmungen und Koinzidenzen mit seinen Vorgängern. So ist beispielsweise mit der Betonung der Relevanz der Wesensschau als Bestandteil des philosophischen Forschens und seines methodischen Vorgehens eine Kongruenz zwischen Platon und Husserl zu beobachten, denn auch für ersteren mündet die Wesensschau in Wissenschaft und dient damit nicht nur einem allgemeinen, sondern auch ganz besonders dem philosophischen Erkenntnisstreben, das durch sein methodisches Fundament für sich wissenschaftliche Sicherheit beanspruchen kann. Hier kann es nun nicht darum gehen, der Husserlschen Wesensschautheorie in all ihren Details gerecht zu werden – dazu bedürfte es umfangreicherer, teilweise schon geleisteter 113 114 Vgl. H. Bergson: Denken und schöpferisches Werden, 46-49. Hierbei erweist Husserl sich auch als unabhängig von seinem Lehrer Brentano, bei dem sich der Begriff der Wesensschau nicht findet, obwohl er den Wesensbegriff – insbesondere im Zusammenhang seiner Aristoteles-Interpretationen – im Rückgang auf den griechischen Terminus ‚οὐσία/ousia’ thematisiert. 202 Sonderuntersuchungen.115 Statt dessen sollen die Hauptzüge dieser Theorie insoweit angesprochen werden, als sie das Eigenständige und Neue des Husserlschen Ansatzes innerhalb der in diesem Aufsatz nachzuzeichnenden Entwicklungsstationen des Begriffs der Wesensschau zum Ausdruck bringen. Schon in den Logischen Untersuchungen gewinnt der Terminus ‚Ideation’ für das zu diesem Zeitpunkt noch primär eidetisch geprägte phänomenologische Forschen Husserls eigene Relevanz116, das sich bis zu den Ideen I zu einem überaus komplexen Methodenapparat steigert. Indem es der Phänomenologie um einen unverstellten, von allen Vormeinungen und allen Seinssetzungen freien Zugang zu den Dingen und zu den ihnen innewohnenden apriorischen Strukturen geht, bedarf sie eines eigenen methodischen Vorgehens, das ausgehend von einem konkreten oder auch einem Phantasiegegenstand durch beständige Variation des Ausgangsmaterials das innerhalb des Variationsprozesses sich Gleichbleibende, mithin das Wesen, zu erkennen gibt. Die Wesensschau als Methode der eidetischen Variation, die ihrerseits Bestandteil des reduktiven Verfahrens der Phänomenologie ist, führt also zum Eidos als einem neuen Gegenstand, der auf besondere Weise angeschaut und dadurch zum Bewußtseinsphänomen werden kann.117 Auf dieser Methode der Wesensschau gründen nach Husserl auch die eidetischen oder Wesenswissenschaften118, wie etwa Logik, Mathematik oder phänomenologische Philosophie. Indem diese Wissenschaften rein eidetisch verfahren, verwirklichen sie das praktische Ideal exakter methodischer Wissenschaft.119 Wesens- und empirische Wissenschaften differieren also stark voneinander, wobei Husserl jedoch ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis der 115 116 117 118 119 Vgl. hierzu beispielsweise J. Geyser: „Über Begriffe und Wesensschau“. In: Philosophisches Jahrbuch 39 (1926) 8-44 und 128-151. – J. König: Der Begriff der Intuition, a.a.O., 290-367. – H.-H. Grundwaldt: Über die Phänomenologie Husserls mit besonderer Berücksichtigung der Wesensschau und der Forschungsmethode des Galileo Galilei (Berlin 1927). – A. Reinach: Was ist Phänomenologie? Mit einem Vorwort von H. Conrad-Martius (München 1951) 25 und 50-53. – G. Ebel: Untersuchungen zu einer realistischen Grundlegung der phänomenologischen Wesensschau (Diss., München 1964). – J.-J. Meister: Wesen und Bewußtsein. Untersuchungen zum Begriff des Wesens und der Wesensschau bei Edmund Husserl (Diss., München 1967). – K.-H. Lembeck: Einführung in die phänomenologische Philosophie (Darmstadt 1994) 31-35. Vgl. E. Husserl: Logische Untersuchungen. In: Hua XIX/2, 765. Vgl. E. Husserl: Ideen I. In: Hua III/1, 13-16. Reine Anschauung als Wesenserschauung ist für Husserl eine methodische Grundlage der Phänomenologie, die aus diesem Grund eben keine Tatsachen-, sondern eine Wesenswissenschaft ist. (Vgl. E. Husserl: Aufsätze und Vorträge (1911–1921). In: Hua XXV, 110.) Vgl. E. Husserl: Ideen I. In: Hua III/1, 21. 203 letzteren von den eidetischen Wissenschaften konstatiert120, das sich noch dadurch verstärkt, daß generell alle Einzeldisziplinen von der einen Grundbzw. Grundlegungswissenschaft, der Phänomenologie, und ihrer transzendentalen Ausprägung abhängen, wenn sie für sich den Charakter der Wissenschaftlichkeit beanspruchen wollen. Auch Erfahrung und Urteil thematisiert die Methode der Wesenserschauung, derweil hier zum einen der Variationscharakter derselben noch stärker herausgearbeitet wird, so daß die Bestimmung des Wesens als eines notwendig Invarianten ausnehmend deutlich faßbar wird, und zum anderen der Konnex zwischen dem allgemeinen Eidos und der Idee im Platonischen Sinne seinen Ausdruck findet.121 Auf diese Weise stellt Husserl selbst die Verbindung zum ersten Denker der Wesensschau als Methode, mithin zu Platon, her, mit dem gemeinsam er die Schau der Ideen anstrebt, die wie bei jenem durch ihre Durchführung sowohl den derart Schauenden und seine Erkenntnis verändert als auch der Wahrheitsfindung und Wissenschaftlichkeit der Philosophie dient. Durch das mit der Wesensschau verbundene Wahrheitsinteresse ergibt sich nicht nur eine Gemeinsamkeit zwischen Husserl und Platon, sondern auch zwischen Husserl und Thomas von Aquin, der die visio essentiae als Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit begreift, so daß in seinem Denken die drei immer wieder auftretenden Bedeutungen und Bezugspunkte der Wesensschau – Wissenschaft, Glaube und Wahrheit – erstmals zusammenlaufen, um dann in der Folgezeit einzeln oder paar- bzw. gruppenweise bei fast allen Wesensschaureflexionen wiederum hervorzutreten. Die bei Platon und Thomas vorliegenden Ansätze werden somit von Husserl zwar nicht bewußt in sein Forschen aufgenommen, finden aber in ihm doch ihre sachnotwendige Fortsetzung. Auch ein anderes Motiv, das häufig mit der Ausführung der Wesensschau verbunden auftrat – etwa bei Fichte oder Krause –, findet sich bei Husserl wieder: das der Freiheit. Denn im Gegensatz zur Erfahrung von Individuellem erweist sich in der Erschauung der Wesen die Freiheit des Schauenden, der sich im freien Erzeugen der 120 121 Vgl. E. Husserl: Ideen I. In: Hua III/1, 22. Vgl. E. Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Hrsg. von L. Landgrebe, mit Nachwort und Register von L. Eley (Hamburg 1985) 411. 204 Variationsmannigfaltigkeit seiner eigenen denkerischen Unabhängigkeit bewußt werden kann122 ; durch Freiheit wird Einheit aus Unendlichkeit produziert. In seiner Phänomenologischen Psychologie verdeutlicht Husserl wiederum zwei weitere, bisher nur angesprochene Aspekte der Wesensschau: ihren Bezug zum Apriori und ihre mögliche Bindung an die freie Phantasietätigkeit. Um die methodische Variation ausführen zu können, die zum Eidos als dem Invarianten führt, ist der Einsatz der Phantasie als Medium der Variation unabdingbar, die in beständiger Orientierung am Ausgangs- oder Urbild immer neue ähnliche Bilder, als Phantasiebilder, schafft, die erst das Wesen als Idee zu erkennen geben. Zusätzlich gesteigert wird die für die Phänomenologie insgesamt feststellbare außergewöhnliche Relevanz der Phantasie noch dadurch, daß zum Anfangspunkt der Wesensforschung nicht nur ein Erfahrungsgegenstand, sondern ebensogut ein Phantasieprodukt dienen kann.123 Die derart erzielten Wesenheiten dienen in ihrer Feststellung invarianter Grundstrukturen nicht nur der Gewinnung einer reinen Allgemeinheit, sondern ebenfalls der Erschauung des Apriori, mithin der jedwedem Erkennen als Bedingung seiner Möglichkeit innewohnenden Ordnung.124 Die Wesensschau eröffnet somit den Zugang zu den aller Erfahrung zugrundeliegenden Formen, d.h. zu Raum, Zeit und Kausalität, die sich gerade dadurch als erfahrungsunabhängig erweisen. Husserl erzielt mithin durch das Mittel der Wesensschau einen Beweis nicht nur der Notwendigkeit der Annahme reiner Anschauungs- und Begriffsformen, sondern darüber hinaus der transzendentalen Wendung der Philosophie als Bedingung ihrer Wissenschaftlichkeit, so daß er als Weiterführer des Kantischen Ansatzes angesehen werden muß.125 Mit den gegebenen Anmerkungen zu Husserl sind weder all seine Aussagen zur Wesensschau verarbeitet, noch konnten alle relevanten Texte herangezogen werden – man denke nur an seinen Logos- oder an die Kaizo122 123 124 125 Vgl. E. Husserl: Erfahrung und Urteil, 416. Vgl. E. Husserl: Phänomenologische Psychologie. In: Hua IX, 72-73. Vgl. E. Husserl: Phänomenologische Psychologie. In: Hua IX, 86-87. Zum Begriff der Wesensschau bei Husserl vgl. auch T. W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien. Hrsg. von G. Adorno und R. Tiedemann (Frankfurt am Main 1990) 102-103, wo Adorno über die Bezüge zwischen Husserl und Kant hinaus auch auf eine Parallelität zwischen Erstgenanntem und Freud aufmerksam macht. 205 Artikel oder einige Passagen der Formalen und transzendentalen Logik. Dennoch bieten sie Einblick in das Neue, wenngleich auch Traditionsgebundene des Husserlschen Wesensschaukonzepts. Indem und weil Husserl den theologischreligiösen Aspekt der Wesensschau als Gottesschau, wie er im gesamten Mittelalter, besonders deutlich bei Nikolaus von Kues, im Vordergrund stand, völlig ausblendet und dafür dem methodischen Moment der eidetischen Variation den Vorzug gibt, geht er den Weg der Logifizierung der Philosophie konsequent zu Ende. Die Befreiung der Philosophie von theologischen Prämissen und die Betonung der Selbständigkeit der Methode und damit ihrer selbst entlasten die Philosophie nicht nur von Einwänden teleologischer Vorbelastetheit, wie sie zum Beispiel gegen Descartes oder Berkeley mit ihren Versuchen eines Gottesbeweises erhoben werden können, sondern dienen auch dem Beweis der Wissenschaftlichkeit dieser Disziplin, die damit auch zum Garanten der Wissenschaftlichkeit der Einzeldisziplinen wird. Die Verselbständigung der Methode innerhalb der Phänomenologie und ihre nahezu vollständige Identifizierung mit der Philosophie insgesamt heben die Wesensschau als Bestandteil dieser Methode auf ein zuvor nicht erreichtes Niveau, so daß offen zutage tritt, weshalb sie meist ausschließlich mit der phänomenologischen Forschung in Verbindung gebracht wird. Die Terminologie der Wesensschau bleibt auch nach Husserl im 20. Jahrhundert von Bedeutung – und dies nicht nur bei Schülern und phänomenologischen Nachfolgern Husserls, auf die sogleich noch einzugehen sind wird. – Bei A. N. WHITEHEAD beispielsweise ist im Gegensatz zu Husserl wieder eine Rückkehr zur Verbindung von Wesensschau und Gotteserkenntnis festzustellen. Allerdings wird bei ihm der Terminus ‚Vision’ bzw. ‚Wesensschau’ (envisagement) nicht mehr dem Gottsuchenden, sondern Gott selbst beigelegt, um Gottes Unabhängigkeit von den als unrein zu erachtenden intellektuellen Denkvorgängen anzuzeigen.126 Die Wesensschau Gottes, d.h. als von Gott ausgeführt, erweist sich auch bei Whiteheads Theorie der ‚eternal objects’ als zeitlosen Gegenständen als bedeutsam, die zwar in Abgrenzung gegen die Platonischen Ideen, aber doch in engem Zusammenhang mit ihnen so benannt 126 Vgl. A. N. Whitehead: Process and Reality. An Essay in Cosmology. Hrsg. von D. R. Griffin und D. W. Sherburne (New York/London 1978) 34. – So kann die Wesensschau seit Platon auch als Inbegriff der Reinheit und Vollständigkeit der Erkenntnis gelten. 206 werden. Indem Gott eine vollständige Wesensschau (complete envisagement) dieser zeitlosen Gegenstände eignet, ergibt sich seine Unabhängigkeit vom gegebenen Geschichtsverlauf, der zwar die Urnatur Gottes voraussetzt, ohne daß umgekehrt Gott auf ihn angewiesen wäre. Da die wirklichen Einzelwesen (actual entities) nicht über diese umfassende Wesensschau verfügen, ist ihre Erkenntnissphäre begrenzt und geschichtsabhängig.127 Das Neue an Whiteheads Theorie ist sonach die Art der Verbindung Gottes mit der Wesensschau: In ihr wird nicht mehr Gott aus der Perspektive des endlichen Wesens geschaut, sondern Gott selbst schaut in ihr die zeitlosen Gegenstände, was zugleich als Weiterführung Platonischen Gedankenguts, besonders des Phaidros, zu verstehen ist. Während in früheren, vor allem in den mittelalterlichen Ansätzen die Wesensschau als eventuell begrenzter Zugang zu Gott aufgefaßt wurde, ist sie bei Whitehead zum unbegrenzten Wissen Gottes um die ‚Ideen’ geworden – ein trennender Faktor zwischen der endlichmenschlichen Sphäre und derjenigen Gottes bleibt sie in beiden Fällen, wenn auch jeweils aus entgegengesetzten Richtungen gedacht. Anders sieht es in dieser Hinsicht bei den direkten Nachfolgern Husserls aus, die die Methode der Wesensschau in ihren (phänomenologischen) Fortsetzungen seiner Arbeiten beibehalten. So kommt dieser Methode etwa in den Untersuchungen M. SCHELERs eine bedeutsame Stellung zu. Ebenso wie Husserl betont auch Scheler das Zufällige und die Abhängigkeit von der Phantasie am Anfang der Wesensschau bzw. des ideierenden Aktes, der irgendeine beliebige Tatsache zu einem Exempel für eine an ihr erfaßbare essentielle Struktur machen kann. Durch diesen Ausgang von Beispielen werden die wesenhaften Beschaffenheiten und Aufbauformen der Welt und ihrer Wesensregionen zugänglich. Und die derart gewonnenen Einsichten gelten in unendlicher Allgemeinheit von allen möglichen Dingen desselben Wesens und für alle möglichen geistigen Subjekte, die über dasselbe Material nachdenken, ja sie gelten für alle möglichen Welten, mithin a priori.128 Scheler nimmt hier sonach die Vorstellung Husserls vom Wesen als dem Invarianten, das die Grundstrukturen der Welt und der Welterkenntnis offenbart und die 127 128 Vgl. A. N. Whitehead: Process and Reality, 44. Vgl. M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos (Bern/München 81975) 50-51. 207 dafür erforderlichen apriorischen Denkformen an die Hand gibt, wieder auf.129 Ebenso folgt er Husserl in der Feststellung der Relevanz der Wesensschau für die positiven Wissenschaften und deren Wissenschaftlichkeit sowie für die philosophische Metaphysik, die freilich für ihn – in Anlehnung an Hegel und in Weiterführung seines Denkens – die Aufgabe und das Ziel der Erkenntnis des absolut seienden Seins hat, so daß Wesenserkenntnisse schließlich ‚Fenster ins Absolute’ genannt werden können.130 Scheler bewegt sich hier in einem sehr weiten philosophisch-historischen Rahmen, innerhalb dessen besonders der Einfluß von Leibniz hervorsticht. Denn die Wesenseinsichten gelten nicht nur für alle möglichen Welten, d.h., sie erfüllen nicht nur ein von Leibniz her bekanntes logisches Kriterium, das die notwendige Voraussetzung wahrer Behauptungen darstellt, sondern durch das Mittel der Wesensschau wird zugleich die Monadenlehre Leibniz’ in einer Weise erweitert, die es erlaubt, davon zu sprechen, daß den Monaden in ihrem ideierenden Tun Fenster entstehen, mit deren Hilfe sich ihnen die Welt und eben die genannten möglichen Welten auf absolute Weise eröffnen. Diese Veränderung der Monadenlehre Leibniz’, die auch eine Revision der Anknüpfung Husserls an diesen Denker impliziert, hat ihren Grund wohl in der Unabhängigkeit des Schelerschen Ansatzes von religiös-theologischen Intentionen, welche die Konzeption einer prästabilierten Harmonie durch die Gnade Gottes überflüssig macht. Scheler läßt nur noch die Vernunft als Fähigkeit zur Bildung immer neuer Denk-, Anschauungs-, Liebes- und Wertungsformen zu.131 Im Gegensatz zu Husserl vertritt Scheler gleichwohl einen andersgearteten Realitätsbezug des ideierenden Aktes. Für ihn ist das Realitätserlebnis der Widerstandserfahrung der menschlichen Vorstellung wegen der Welt nicht nach-, wohl aber vorgeordnet. Deshalb kann die Ideation nicht nur die Zurückhaltung des Existenzurteils sein, sondern sie ist als versuchsweise Aufhebung des Realitätsmomentes selbst zu begreifen. Zum Vollzug der 129 130 131 Auf den Zusammenhang zwischen Wesensschau und Apriorität geht auch N. Hartmann in seinen Grundzügen einer Metaphysik der Erkenntnis (Berlin ³1941) ein. In diesem Buch findet sich zudem eine Theorie der Intuition (502-504), die stark methodisch geprägte Züge aufweist. Hartmann wendet sich zudem der Phänomenologie und ihrer Aktanalyse zu, die er etwa auf S. 523-524 kritisiert. Vgl. M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 51. Vgl. M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 52. 208 Wesensschau ist daher auch für Scheler der freie Wille des Geistes erforderlich, der den Zugang zum Wirklichsein des Wirklichen anstrebt.132 Die Hauptdifferenz zu Husserl und die Neuerung des Schelerschen Wesensschaubegriffs ist wohl in der ethischen Perspektive der Wesenserkenntnis zu sehen. Bekanntermaßen vertritt Scheler das Konzept einer materialen, auf Tatsachen beruhenden Ethik, die im Gegensatz zur formalen Ethik frei von Induktion ist und trotz ihres Tatsachenbezugs nicht willkürlich, sondern a priori ist in dem Sinne, daß ihre Sätze evident sind und durch Beobachtung und Induktion weder nachgewiesen noch widerlegt werden können. A priori sind mithin jene Sätze, die durch den Gehalt einer unmittelbaren Anschauung zur Selbstgegebenheit kommen – und eine derartige Anschauung ist nach Scheler als Wesensschau oder als phänomenologische Anschauung bzw. Erfahrung zu begreifen.133 Die Wesensschau ist notwendig, um einen vorgegebenen Gehalt überhaupt beobachten zu können, woraus die Unabhängigkeit des Gehalts der Wesensschau von dem aller möglichen Beobachtung und Induktion resultiert, was eben die unabdingbare Voraussetzung für eine gelingende Ethik ist.134 Diese Ethik ist die urteilsmäßige Formulierung dessen, was in der Sphäre der sittlichen Erkenntnis gegeben ist. Sie ist philosophische Ethik, wenn sie sich auf den apriorischen Gehalt des in der sittlichen Erkenntnis evident Gegebenen beschränkt.135 Das Neue an Schelers Bestimmung und Verwendung der Wesensschau kommt genau in diesem ethischen Aspekt der phänomenologisch-philosophischen Forschung zum Ausdruck, durch den er insbesondere den Husserlschen Ansatz erweitert und variiert, mit dem gemeinsam er dennoch am Methodenprimat der Ideation festhält.136 Am Methodencharakter orientiert sich auch die Untersuchung der Wesensschau bei M. HEIDEGGER, der streng zwischen der naturwissenschaftlichen und der phänomenologischen Analyse differenziert, die 132 133 134 135 136 Vgl. M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 54-56. Vgl. M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. Hrsg. mit einem Anhang von M. Scheler (Bern/München 51966) 67-68. Vgl. M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 69. Vgl. M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 88. Vgl. zu einem besonderen Aspekt der Wesensschau bei Scheler: B. Lorscheid: Das Leibphänomen. Eine systematische Darbietung der Schelerschen Wesensschau des Leiblichen in der Gegenüberstellung zu leibontologischen Auffassungen der Gegenwartsphilosophie (Bonn 1962). 209 beide jeweils ganz verschiedenen Objektbereichen und Seinsgebieten zuzurechnen sind. Da die Phänomenologie Bewußtseinsforschung ist und ihre Forschungsgegenstände nicht primär der Natur entlehnt, kann auf sie auch nicht die Methode der naturwissenschaftlichen Befragung angewandt werden. Die ihr als Eidetik angemessene Methode ist daher allein die Wesenserschauung, die einzig den Anforderungen der Bewußtseinsbetrachtung genügt. Allein sie ist dazu in der Lage, diejenigen idealen Zusammenhänge aufzuweisen, die zum Entstehen von Wissenschaft erforderlich sind, weil nur sie eine gesicherte Basis des Erkennens bilden.137 Heidegger weist mit besonderer Schärfe auf die Zusammengehörigkeit des methodischen Instruments der Wesensschau mit der transzendentalen und bewußtseinsmäßigen Wende in der Phänomenologie Husserls hin, indem er auf die Entwicklung der Wesensschau bei Husserl aufmerksam macht, die in den Logischen Untersuchungen zunächst nur ansatzweise gegeben und dann erst mit der Behandlung des transzendentalen Bewußtseins in vollem Umfang vorhanden ist.138 Da Heidegger gerade hinsichtlich der Transzendentalität des Bewußtseins vom Husserlschen Weg abweicht – was etwa der Ansatz von Sein und Zeit beweist –, kann seine Einstellung zur Wesensschau nur als eine historische Auseinandersetzung und nicht zuletzt als eine durch seine Vorlesungstätigkeit bedingte Rezeption der Phänomenologie Husserls gewertet werden, aber nicht als selbständige und produktive Fortsetzung der Intentionen seines Lehrers, wie sie sich bei Scheler ergab. Dies bedeutet natürlich nicht, daß Heidegger auch nicht der phänomenologischen Bewegung zuzurechnen wäre – so vielgestaltig, divergent und in sich widersprüchlich diese auch sein mag. Zum Abschluß der Darstellung der bisherigen Entwicklungsgeschichte des Begriffs der Wesensschau in ihren Hauptetappen sei noch in aller Kürze und keineswegs erschöpfend auf die Verwendung dieses Terminus in der französischen Phänomenologie verwiesen, die sich ebenfalls selbstredend auf Husserl und seine Methode bezieht. Hierzu sei eine kleine Auswahl von Autoren knapp präsentiert. 137 138 Vgl. M. Heidegger: Einführung in die phänomenologische Forschung. In: GA 17, 70. Vgl. M. Heidegger: Einführung in die phänomenologische Forschung. In: GA 17, 80. 210 J.-P. SARTRE139 geht bei seiner Analyse der Erscheinung, die er mit dem Wesen identifiziert, das als Band in der Erscheinungsreihe selbst Erscheinung ist, so daß ein Wechselverhältnis zwischen Wesen und Erscheinung festgestellt werden kann, auf die Wesensschauuntersuchungen bei Husserl ein. In der aufgrund der Wesensschau vorliegenden Intuition der Wesen manifestiert sich Sartre zufolge das phänomenale Sein.140 In seiner Ontologisierung der Phänomenologie und des Erscheinungsbegriffs ist eine deutliche Differenz zwischen Sartre und Husserl zu erkennen, die gleichwohl in eine gewisse Nähe zu Heideggers Ansatz führt, woran sich nochmals das angesprochene Auseinanderfallen der phänomenologischen Bewegung dokumentiert. Hier fügt sich auch das Werk von M. MERLEAU-PONTY ein, der sich, wie Husserl in seinem Spätwerk, gegenüber den Wissenschaften kritisch äußert, weil sie die natürliche, lebensweltliche Einstellung des Menschen vergessen und so auch nicht zu wahrer, wesenhafter Einsicht hinsichtlich ihres Untersuchungsgegenstands, nämlich des Menschen, gelangen können141 – wozu, wie man in Analogie wird schließen dürfen, allein die echte, nämlich die phänomenologische Wesensschau fähig ist. Auf diese Weise erhält die Wesensschau auch bei Merleau-Ponty, ebenso wie zuvor bei Husserl, besonderes Gewicht im Hinblick auf die Wissenschaften; vorrangig für die Psychologie wird sie unentbehrlich, da sie zu ihrer Erneuerung und ihrem Fortschritt beitragen kann.142 Die Wesensschau bei Husserl ist als Verständlichmachung des Sinnes oder des Wesens zu begreifen, auf das sich das Bewußtsein richtet. Als Erfahrung wird die Wesensschau zur konkreten Erkenntnis, die jedoch wegen ihrer Unabhängigkeit von jedweder Individualität als allgemeines und für alle geltendes Wissen zu bezeichnen ist.143 Die Wesensschau begründet folglich eine zugleich konkrete und philosophische, an jeweils meine eigene Erfahrung gebundene und dennoch für eine gewisse Universalität zureichende Erkenntnismethode, deren Grundlage die 139 140 141 142 143 Vgl. J. E. Atwell: „Sartre’s conception of action and his utilization of ‚Wesensschau’”. In: Man and World 5/2 (1972) 143-156. Vgl. J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Hrsg. von T. König, deutsch von H. Schöneberg und T. König (Reinbek bei Hamburg 1991) 11. Vgl. M. Merleau-Ponty: Sinn und Nicht-Sinn (München 2000) 125. Vgl. M. Merleau-Ponty: Vorlesungen I. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch ein Vorwort von A. Métreaux (Berlin/New York 1973) 143. Vgl. M. Merleau-Ponty: Vorlesungen I, 144. 211 Wahrnehmung ist.144 Wie Husserl betont auch Merleau-Ponty den Ausgang der Wesensschau von einem Konkreten, das durch Variation seiner einzelnen Gesichtspunkte zum Invarianten als dem Wesen des Phänomens führt.145 Eine eigene Auseinandersetzung mit Husserls Wesensschaubegriff findet sich auch bei E. LEVINAS, der die Wesensintuition zu den generellen Entdeckungen der Phänomenologie rechnet; vor allem deshalb, da die auf ihr beruhenden eidetischen Wahrheiten von der Faktizität des individuellen Gegenstandes unabhängig sind und nicht auf Induktion beruhen – eine Forderung, die so aus der Ethik Schelers bekannt ist. Die Wesensschau wird derart zum Garanten für klare, deutliche und evidente Erkenntnis, wodurch das schon von Husserl in seiner Bedeutsamkeit erkannte Cartesische Erkenntnisideal eine erneute Fortsetzung erfährt.146 Den Zusammenhang zwischen den mit Hilfe der eidetischen Intuition vorgehenden Wissenschaften und den mittels ihrer gefundenen apriorischen Einsichten betont Levinas ebenfalls, wobei es aber nur der Phänomenologie möglich ist, den Sinn der Objektivität der wissenschaftlichen Sätze zu erkennen, da sie allein das untersucht, was alle anderen Wissenschaften unhinterfragt voraussetzen.147 Ebenso wie bei Levinas findet sich bei P. RICOEUR eine eigene Auslegung der Husserlschen Phänomenologie, die unter anderem Hinweise zum Verständnis der Wesensschau beinhaltet. So kennzeichnet Ricoeur die Phänomenologie mit ihrem Methodenapparat, in welchem die eidetische Reduktion eine herausgehobene Position einnimmt, insgesamt und ein wenig pauschalisierend als Wesensphilosophie. Die Zentralstruktur der Intentionalität wird hierbei von ihm als schöpferisches Sehen interpretiert148, wodurch zwar die fundamentale Stellung des individuellen Bewußtseins nicht aufgehoben, aber doch um den Aspekt des Schöpfertums erweitert wird, der bei den mittelalterlichen Autoren immer in Beziehung auf Gott auftrat, der erst dem endlichen Geschöpf die Gnade der Wesensschau und damit einhergehend der Erkenntnis der Schöpfung zuteil werden läßt. Durch Einführung eben dieses 144 145 146 147 148 Vgl. M. Merleau-Ponty: Vorlesungen I, 157-159. Vgl. M. Merleau-Ponty: Vorlesungen I, 161. Vgl. E. Levinas: „Über die ‚Ideen’ Edmund Husserls“. In: Husserl. Hrsg. von H. Noack (Darmstadt 1973) 91. Vgl. E. Levinas: „Über die ‚Ideen’ Edmund Husserls“, 93, 95 und 98. Vgl. P. Ricoeur: „Husserl und der Sinn der Geschichte“. In: Husserl, a.a.O., 235-236. 212 schöpferischen Gedankenguts erweitert Ricoeur die phänomenologische Wesensschau gewissermaßen philosophiehistorisch nach vorne, so daß obendrein eine noch weiterreichende Verbindung mit dem Anfang der Geschichte der Wesensschau bei Platon in greifbare Nähe rückt. Die gedankliche Auseinandersetzung mit Husserl bildet endlich auch bei J.-F. LYOTARD den Hintergrund für einige Anmerkungen zur Wesensschau und zur imaginären Variation, die beide auf unmittelbarer Intuition beruhen und deshalb keinerlei metaphysischen Charakter mehr aufweisen. Die Betonung der Relevanz der Wesensschau für das phänomenologische Forschen geht bei Lyotard einher mit der Erkenntnis, daß die letzte Rechtsquelle für jederlei vernünftige Aussage im Sehen allgemein liegt, sonach im originär gebenden Bewußtsein.149 Diese Betonung des Sehens ist als ein verbindendes Merkmal der französischen Phänomenologie bei vielen ihrer Vertreter zu beobachten – man denke hier beispielsweise an Sartres Analyse des Blicks oder an MerleauPontys Interpretation der Wahrnehmung.150 Insgesamt hat sich somit gezeigt, daß die Thematik der Wesensschau nur dann innerhalb der französischen Phänomenologie von Wichtigkeit ist, wenn die Untersuchungen direkt auf Husserl Bezug nehmen, ja wenn gar explizit in das Husserlsche Denken eingeführt werden soll. Durch das Auseinanderfallen der phänomenologischen Bewegung und durch die Ausbildung neuer Forschungsschwerpunkte – zum Beispiel der Hermeneutik bei Heidegger, der Ontologie bei Sartre, der Soziologie bei Schütz oder der Philosophie des Anderen bei Ricoeur – wird auch eine Verschiebung der Gewichte auf methodischem Gebiet vollzogen, so daß die besondere Relevanz des eidetischen Forschens verdrängt wird durch neue, andersartige Ansätze. Die vorausgegangenen Analysen haben deutlich werden lassen, daß mit dem Begriffsfeld der Wesensschau zentrale Probleme und Zielsetzungen im 149 150 Vgl. J.-F. Lyotard: Die Phänomenologie. Aus dem Französischen von K. Schulze, mit einem Nachwort von C. von Wolzogen (Hamburg 1993) 21-22. Doch auch über die französische Phänomenologie hinaus kommt der visuellen Thematik und Begriffswahl in der phänomenologischen Richtung der Philosophie insgesamt große Bedeutung zu, was etwa die auffällige Wortwahl Heideggers belegt, der sich häufig Vokabeln aus dem Bereich des Sehens aneignet; so deutet er den Begriff der platonischen Idee als Hin-sicht oder die Dialektik bei Platon als Hinblick auf ein zugrundeliegendes genos. – Im Werk Derridas fehlt die Wesensschau ebenso wie die eidetische Variationsmethode, was dadurch zu erklären ist, daß bei der Hinwendung zu Schrift und Sprache die Notwendigkeit und die Legitimation der Wesensschau entfallen. 213 Bereich der Epistemologie berührt und versuchsweise begründet werden. Der Erkenntnistheorie geht es bekanntermaßen auch darum, zusammen mit der ihr sicherlich verwandtesten Disziplin, nämlich der Metaphysik, Fragen einer Letztbegründung und der Möglichkeiten einer unhintergehbaren Fundierung auf dem Gebiet der Philosophie zu stellen und einer Lösung zuzuführen. Auch in dieser disziplinären Hinsicht hat sich die Wesensschau samt der ihr nahestehenden Begriffe ‚Gottesschau’, ‚intellektuelle Anschauung’ oder ‚Intuition’ als übergreifende Instanz und als verbindendes Methodeninstrument erwiesen. Mit diesem Terminus ‚Wesensschau’ manifestiert sich auf eine geradezu teleologisch zu nennende Weise die erste, wenngleich nie vollständig einholbare Aufgabe der Erkenntnislehre, die darin besteht, eine Ebene der Unmittelbarkeit, der Unhintergehbarkeit, der Unbezweifelbarkeit und der Unverfälschtheit, mithin in einem Wort: der Ursprünglichkeit eines tragfähigen Seins- und Wahrheitsverhältnisses des Subjekts zu erreichen und damit einhergehend plausibel und einsichtig zu machen. Dementsprechend ergibt sich stets ein Bezug zwischen der Anwendung des basalen Aktes der Wesensschau und der – durchaus verschieden gearteten – Vorstellung eines Absoluten, das der solcherart Schauende als ontologischen und prinzipientheoretischen Zielpunkt intendiert. In der umgekehrten Perspektive ist es dann überdies nicht selten so, daß dem Absoluten bzw. Gott ebenfalls eine spezielle Form des Blickens oder Schauens zugeordnet wird, welcher zugleich schöpferische Potenz zuerkannt wird, woraus sich ein Spiegelverhältnis zwischen Erkennendem und Erkenntnisbedingung ergibt. Aus der engen Verbindung zwischen dem Anspruch einer völlig adäquaten Sacherkenntnis, sei es derjenigen Gottes oder auch eines einfachen empirischen Gegenstandes, und der Wesensschau erwachsen die zwei offenkundig gewordenen Möglichkeiten des Umgangs mit diesem Erkenntniswerkzeug und seiner konträren Bewertung – einerseits wird die Wesensschau oft mit der Signatur der Wissenschaftlichkeit oder zumindest der wissenschaftlichen Absicherung versehen, andererseits haftet ihr häufig der Ruch der Irrationalität und mystischen Unnachvollziehbarkeit an. Schon an diesem enormen Spektrum der Anwendungs- und Bezugsmöglichkeiten der Wesensschau – vom Ding bis zum Absoluten – zeigt sich nochmals von der 214 Seite der Objektivität her, daß mit diesem Terminus methodische und epistemologische Grundlegungsfragen und Letztbegründungsprobleme berührt werden. In einem Versuch der Ausdehnung des natürlichen Sehens, folglich desjenigen Sinnes, dem immer schon die größte Nähe zu den Dingen und ihrer Erkennbarkeit bescheinigt wurde, streben das Verstehen und das Wissen danach, sich gleichzeitig zu transzendieren und dadurch in einem letzten Akt zu vollenden. Deswegen kann die Anwendung des philosophischen Werkzeugs der Wesensschau als ein Kennzeichen für die Absicht gelten, die Differenz zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden oder sie wenigstens zu verringern. Die Möglichkeit einer Fortsetzung der Geschichte der Wesensschau ist somit aufgrund der mannigfaltigen, allein schon rein historisch sichtbar gewordenen Bezugspunkte und dank der damit einhergehenden Deutungsvarianten durchaus als gegeben anzusehen. Denn dies hat die Untersuchung der Hauptstationen der Wesensschauentwicklung von Platon bis zur Phänomenologie gezeigt: Der Terminus ‚Wesensschau’ ist in sich derart vielschichtig, er verbindet so viele philosophische Grundthemen – wie etwa Wahrheit, Wissenschaft, Freiheit, Gott und Erkenntnis –, und er nimmt durch sein Inhalt und Methode, Sachhaltigkeit und Begriff gleichermaßen umspannendes Wesen eine so bedeutsame Position ein, daß seine gänzliche Aufgabe für die Weiterführung des philosophischen Denkens kaum zu erwarten ist. 215