Wesensschau, Gottesschau, intellektuelle Anschauung und Intuition

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Wesensschau, Gottesschau, intellektuelle Anschauung und
Intuition – zur historischen Entwicklung des Begriffsfeldes
visueller Erkenntnismetaphorik
Rebecca Paimann, Ruhr-Universität Bochum,
Abstract: Der Begriff ‚Wesensschau’ wird meist ausschließlich als
Terminus der Phänomenologie Husserls verstanden, obwohl seiner
Verwendung in der modernen Philosophie eine vielfältige Geschichte
dieses Begriffs in Antike und Mittelalter vorausgeht. Die Einschränkung
der Wesensschau auf ein methodisches Instrumentarium ist deshalb erst
der Abschluß einer Entwicklung, die bereits mit der Philosophie
Platons anhebt, um im Neuplatonismus ihre Fortsetzung zu finden. Die
intellektuelle Intuition bei Proklos, die Gottesschau bei Augustinus oder
bei Thomas von Aquin sowie die intellektuelle Anschauung bei Fichte
oder Schelling müssen hier ebenso mitbedacht werden wie die über
Husserl hinausgehenden, seine Philosophie verändernden oder
radikalisierenden Ansätze innerhalb der phänomenologischen
Bewegung, wie sie bei Scheler, Heidegger oder Sartre zu finden sind.
Die vorliegende Untersuchung versucht, die Hauptstationen der
Geschichte der Wesensschau äußerst knapp zu skizzieren, um damit die
Kontinuität und Evolution dieses Begriffs gleichermaßen aufzuweisen.
The term ’Wesensschau’ (envisagement) is often understood as
belonging exclusively to Husserl’s phenomenology. But this reduction
ignores the preceding history of this term in antiquity and in the Middle
Ages. Husserl’s phenomenological transformation of the ’Wesensschau’
into an instrument of his philosophical method is only the last step
within a development which has its beginning in Plato’s philosophy and
is continued in Neoplatonism. Intellectual intuition (Proclus), ’visio dei
per essentiam’ (Augustinus, Aquinas), and intellectual view (Fichte,
Schelling) are as much parts of this development as for example
Scheler’s, Heidegger’s or Sartre’s different modifications of Husserl’s
standpoint. This article tries to give an outline of the history of the
’Wesensschau’ to prove equally the continuity and the evolution of this
term.
Gemeinhin wird der Begriff ‚Wesensschau’1 in nahezu vollständiger
Ausschließlichkeit als ein methodisches Element der Phänomenologie Husserls
verstanden, das im besten Falle eine geringe Ausstrahlungskraft auf die
Arbeiten der Schüler und Nachfolger dieses Autors besaß. Zuzugeben ist, daß
Husserl sein Konzept der Wesensschau oder der Ideation fast gänzlich
1
Vgl. zur historischen Entwicklung des Begriffsfeldes etwa K.-H. Lembeck: „Wesensschau“. In:
Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 12, hrsg. von J. Ritter, K. Gründer und G. Gabriel
(Basel 2004) Sp. 655-659. – H. K. Kohlenberger: „Anschauung Gottes“. In: Historisches Wörterbuch
der Philosophie. Band 1, hrsg. von J. Ritter und K. Gründer (Basel 1971) Sp. 347-349.
© Res Cogitans 2010 no. 7, vol. 1, 170-215
unabhängig von der philosophischen Tradition entwickelte, indem er diesen
Begriff aus seinem vornehmlich religiös-theologischen Rahmen herauslöste und
mit ihm ein methodisches Instrumentarium schuf, das seine Phänomenologie
insgesamt auf ihrem Weg zu den ‚Sachen selbst’ bzw. den zugrundeliegenden
Bewußtseinstatsachen prägt. Zuzugeben ist aber auch, daß das Konzept der
Wesensschau sich – obgleich nicht immer schon exakt unter diesem Namen –
bereits in früheren philosophischen Werken findet, wenn man darunter eine
sich nicht immer verstandesmäßig, sondern teilweise auch intuitiv vollziehende
Schau von Wesen, Ideen oder Bedeutungen versteht, die oftmals in Verbindung
mit einer Wesensänderung des derart Schauenden einhergeht. Eine solche
Wesensschau ist oftmals untrennbar von einer Schau des Wesens Gottes, einem
intuitiven Begreifen seines Seins und Wirkens, woraus allererst ein gelingendes,
wissendes, ja bewußtes Leben resultieren kann. Derart sind Wesens- und
Gottesschau lange Zeit hindurch nahezu deckungsgleich gewesen.
Auf den folgenden Seiten soll nun der Versuch unternommen werden, die
Hauptstationen der Geschichte des in sich komplexen und durchaus nicht
immer einheitlichen Begriffsfeldes von Wesensschau, Gottesschau,
intellektueller Anschauung und Intuition knapp zu umreißen, um auf diese
Weise eine gewisse Grundkontinuität in bezug auf eben dieses Begriffsfeld von
Platon bis zur Phänomenologie sichtbar werden zu lassen.
Bereits in der PLATONISCHEN PHILOSOPHIE findet sich in mehreren
Dialogen die Schilderung eines spezifischen geistigen Aktes, der mittels einer
bestimmten Art des Sehens oder der Schau zur alles verändernden Einsicht in
das Wesen der Ideen führt, wobei sich der Weg zur Schau des Schönen im
Symposion als besonders bedeutsam erweist. Bereits der zentrale Terminus ‚Idee’
weist sprachlich auf eine visuelle Wurzel hin, sofern er eine Ableitung aus dem
Verb ‚ἰδεῖν/idein’ (sehen, schauen) darstellt, d.h., das Prinzip aller Dinge und
der Erkenntnis impliziert eine enge Bindung an eine spezifische Fähigkeit des
Sehens und der Sichtbarkeit.2 Das an und für sich Schöne ist immer dasselbe,
2
Entsprechend versuchen auch spätere Philosophen in Weiterführung der Platonischen
Ideenkonzeption, dieser visuellen Konnotation Ausdruck zu verleihen, indem sie ‚Idee’ etwa wie
Fichte als ‚Hinsicht’ oder ‚Gesicht’ übersetzen (vgl. beispielsweise J. G. Fichte: (System der)
Sittenlehre (1812). In: SW XI, 31 und 42-43 – GA II,13, 308 und 334) oder indem sie wie Heidegger
einen besonderen Schwerpunkt auf die Sehensmetaphorik legen (vgl. zum Beispiel M. Heidegger:
Platon: Sophistes. In: GA 19, 392-398, 548-549 oder 566-569).
171
und an ihm hat alle Schönheit von Einzeldingen teil, deren Erfahrung den
Betrachter mittels der Einsicht in die schönen Sitten und Kenntnisse zur
Erkenntnis des Schönen selbst führen kann. Erst diese Schau des Schönen
verleiht dem menschlichen Leben überhaupt einen Sinn3, wodurch sich schon
hier die Kopplung der Schau des Wesens mit der Wesensveränderung des
derart Schauenden andeutet. Diese Wesensveränderung beruht letztlich auf
dem engen Konnex zwischen der Schau resp. der Schau des Schönen und der
sich offenbarenden Wahrheit4 – womit zugleich das Grundthema aller
Philosophie angesprochen ist: die Frage nach der Wahrheit. Gerade in der
Weise, wie sich die Philosophie dem Wahren nähert, es sich aneignet, muß sie
sich notwendig aufgrund der Besonderheit ihres Anliegens einer eigenen
Erkenntnisart bedienen, die sich von der Gebundenheit an die Sinne und der
mit ihnen einhergehenden Täuschungsgefahr unabhängig macht. Die
philosophierende Seele muß sich von der Verfallenheit an die Sinne, an das
Wahrnehmbare und Sichtbare lösen, um nur durch ihre eigene Leistung das
Denkbare und Unsichtbare zu schauen.5 Der Philosoph muß die
Unabhängigkeit von leiblichen Zwängen und Verfälschungen auch zu
Lebzeiten zumindest erstreben, obwohl hier die Umstände einer völlig
irrtumsfreien Erkenntnis des Wahren stets hinderlich sein werden, da erst die
gänzliche Leib- und Sinnenfreiheit – geradezu Sinnenerlösung – das Wissen um
das Wahre und sein Wesen gestattet: „[...] es ist uns wirklich ganz klar, daß,
wenn wir je etwas rein erkennen wollen, wir uns von ihm [= dem Leib]
losmachen und mit der Seele selbst die Dinge selbst schauen müssen“6.
Was unter dieser Schau genauer zu verstehen ist und wie sie vor sich
gehen könnte, davon gibt Platon den Lebenden und damit immer noch
Leibgebundenen in seinem Höhlengleichnis eine Ahnung, demzufolge ja die
Fesseln des Leiblich-Irdischen zugunsten der Erkenntnis der Idee des Guten
wenigstens im Bild abgeworfen werden können. Indem die Seele nämlich den
schatten- und fehlerhaften Bereich der Höhle verläßt, kann sie aufsteigen in den
Bereich der Erkenntnis, in welchem sie zuletzt unter allem Erkennbaren und
3
4
5
6
Vgl. Platon: Symposion, 211d.
Vgl. Platon: Symposion, 211e-212a.
Vgl. Platon: Phaidon, 83a-b.
Platon: Phaidon, 66e. (Alle zitierten Übersetzungen der Dialoge Platons sind von F. Schleiermacher.)
172
mit größter Mühe die Idee des Guten erblickt, die zugleich die Ursache des
Richtigen und Schönen ist, weil sie allein Wahrheit und Vernunft hervorbringt,
so daß „diese sehen muß, wer vernünftig handeln will“7. Auch hier ergibt sich
also der aus dem Symposion bereits bekannte notwendige Zusammenhang
zwischen der Schau der Ideen und Wesenheiten mit der Wahrheit als dem
anzustrebenden und allein legitimierten Erkenntnisziel. Um dieses Ziel zu
erreichen, bedarf es der durch das und im Höhlengleichnis bildlich und somit
konkret dargestellten Aufstiegsbewegungen des Erkennens, das sich aus der
Dunkelheit der Unwissenheit kommend erst allmählich an den Anblick des
„glänzendsten unter dem Seienden“8, den des Guten, gewöhnen kann.
Dieses vernünftige Schauen der Idee des Guten und der Wahrheit führt
nicht zuletzt zur echten Wissenschaft, was Platon wiederum anhand eines
Gleichnisses und seiner Auslegung verständlich macht, nämlich im Gleichnis
vom göttlichen Seelenwagen im Phaidros. Hier ist zu lesen: „Das farblose,
gestaltlose, stofflose, wahrhaft seiende Wesen, das nur der Seele Führer, die
Vernunft, zum Beschauer hat und um das das Geschlecht der wahrhaften
Wissenschaft ist, nimmt jenen Ort ein. Da nun Gottes Verstand sich von
unvermischter Vernunft und Wissenschaft nährt, wie auch der jeder Seele [...] –
so freuen sie [= die Seelen] sich, das wahrhaft Seiende wieder einmal zu
erblicken, und nähren sich an der Beschauung des Wahren [...].“9 Wer die
Wahrheit geschaut hat und dabei zugleich dem Wesen der Vernunft gerecht
geworden ist, der hat Einblicke in die Ideen des Guten und Schönen
gewonnen, die ihn auch dazu befähigen, den Gedanken einer echten, diesen
Namen verdienenden, ebenfalls auf Wahrheit beruhenden Wissenschaft zu
realisieren. Hierbei muß allerdings unbedingt beachtet werden, daß die Schau
der Wahrheit gerade keine Wesensschau mehr ist, sondern daß vielmehr die
Wahrheit als Bedingung der Möglichkeit der Schau der Ideen zu gelten hat,
sofern diese seiend sind.
Wird bereits im Sonnengleichnis das Sehen ganz selbstverständlich als
Abbild des Denkens eingeführt, so konkretisiert Platon an einer späteren Stelle
der Politeia, daß der Dialektiker, mithin der Philosoph im eigentlichen Sinne –
7
8
9
Platon: Politeia, 517c; vgl. hierzu auch insgesamt 517a-c.
Platon: Politeia, 518c; vgl. ebenfalls 532c.
Platon: Phaidros, 247c-d.
173
den Platon zuvor als „schaulustig nach der Wahrheit“ beschrieben hat10 –, das
Auge der Seele11, wie er dies nennt, zu gebrauchen versteht. Das dialektische
Denken bedeutet demnach eine besondere Form und Kompetenz des SehenKönnens. Folgerichtig definiert auch der Phaidros die Dialektik als die Fähigkeit,
Dinge auf eine Idee hin zusammenzuschauen und damit die bestehenden
Wesensverhältnisse zu sehen.12
Bei Platon steht sonach die Schau des Guten und seines Wesens in einem
unauflösbaren Konnex mit der Wahrheitssuche und der Wahrheitserkenntnis
durch das vernünftige, sich auf sich selbst besinnende Denken. Zugleich wird
an ihr die notwendige Verbindung von Freiheit und Philosophie deutlich, denn
nur die von allen weltlichen Bindungen freie Seele, wie sie im Gleichnis
idealtypisch dargestellt werden kann, ist zur Einsicht in das Wahre, Gute und
Schöne als den drei großen Themen der Philosophie fähig.
Im Gegensatz zu Platon findet sich bei ARISTOTELES kein ausgeführtes,
umfängliches Konzept der Wesensschau, wenigstens nicht in derselben
Deutlichkeit wie bei seinem Lehrer. Dies mag seinen Grund in der anderen
Auffassung von Wissenschaft haben, die von Aristoteles insbesondere in der
Richtung entwickelt wird, in der sich heute die Naturwissenschaften bewegen.
Dadurch veranlaßt, betont er vor allem die große Bedeutung der
Sinnesempfindungen, unter denen die Sehkraft sich als zentral erweist13, was
seine Fortsetzung in der empirischen Erforschung der umgebenden Welt
findet, die nur unter der Voraussetzung eines gelingenden Sehens vonstatten
gehen kann. Von noch größerer Wichtigkeit als das aufnehmende Sehen erweist
sich allerdings auch bei Aristoteles die darauf folgende oder auch teilweise
unabhängige begriffliche Erfassung der Wirklichkeit. Dadurch wird die
ablehnende Haltung Platons gegenüber Leibesempfindungen zwar in hohem
Maße relativiert, aber doch nicht völlig aufgegeben. Denn erst das ordnende
Denken kann zu Wesensdefinitionen gelangen, ohne die kein umfassendes
Erkenntnisgefüge entstehen kann.14 Insofern Aristoteles unter Wesen bzw.
Substanz (οὐσία/ousia oder τὸ τί ἦν εἶναι/to ti en einai) also nicht nur das den
10
11
12
13
14
Vgl. Platon: Politeia, 475e und 479e.
Vgl. Platon: Politeia, 533d.
Vgl. Platon: Phaidros, 265c-d.
Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 980a21ff.
Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 1030a-b.
174
Sinnen begegnende Einzelwesen versteht, sondern auch das stofflose, zeitlose
und formale Seinsprinzip von Dingen, verlagert er die Erkenntnis des Wesens
in den begrifflichen Bereich und macht damit dieses begriffliche Wesen zum
eigentlichen Gegenstand des Wissens.15 Unter diesen Voraussetzungen erweist
sich Aristoteles zwar durchaus als ein Denker der Wesensproblematik,
allerdings nicht als einer, der sich hinsichtlich des weltlichen Wissens des
Instrumentariums der Wesensschau bedient.16
Ein der Wesensschau vergleichbares Vorgehen läßt sich nur dort
vermuten, wo sich Aristoteles dem Gottesproblem zuwendet. Denn in diesem
Zusammenhang beschäftigt er sich wenigstens mit folgendem Argument (ohne
daß daraus jedoch schon auf eine vollständige Übernahme desselben in das
eigene Philosophieren geschlossen werden dürfte): „Es gibt nämlich auch ein
Argument über die Gottheit, das folgendermaßen verläuft: nachdem – so lautet
es – Gott alle Güter hat und sich selbst genügt, womit wird er sich
beschäftigen? Er wird doch nicht schlafen? Antwort: er wird (in geistiger Schau)
einen Gegenstand betrachten; denn dies ist die schönste und angemessenste
Beschäftigung.“17 So kennt Aristoteles also zweifellos das Erkenntnismittel der
geistigen Schau, die zum Wesen des Gegenstandes vorzudringen vermag; er
erwähnt dieses Mittel allerdings lediglich in Verbindung mit der
Gottesthematik, die für ihn immer auch eine Abgrenzung zwischen göttlichem
und menschlichem Bereich voraussetzt. In die Aufstellung und das
Funktionieren der nicht-göttlichen Begriffssysteme wirkt das Instrumentarium
der geistigen Schau indes nur sehr begrenzt hinein, ja Aristoteles scheint hier
eine unterschiedlich wertende Position einzunehmen, die von der Erschauung
eines Begriffs mittels einer Definition bis zu einer Stellung der Wirklichkeit
über alle möglichen Begriffssysteme reicht.18 Bei jeder dieser Positionen bleibt
allerdings die Bedeutung des Begriffs für die Erkenntnis insgesamt erhalten.
Hierbei gilt: Indem der Begriff erfaßt wird, wird auch das Wesen eines, wie
auch immer gearteten, Gegenstandes erkannt, d.h., der Begriffs- und der
Gegenstandsinhalt kommen zur Deckung. Durch Begriffserkenntnis ist
15
16
17
18
Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 1043a und 1030b5.
Vgl. aber J. Hirschberger: Geschichte der Philosophie. Band I: Altertum und Mittelalter (Freiburg
21
1989) 180-181.
Aristoteles: Magna moralia II,15, 1212b33 (Übersetzung von F. Dirlmeier).
Vgl. Aristoteles: Analytica posteriora, II,7, 92a-b auf der einen und II,13, 97b auf der anderen Seite.
175
beifolgend die Einsicht in das Verhältnis der Wesenheiten untereinander
gegeben, wodurch wiederum die obersten Gesetze der Logik und des Denkens,
wie die des Widerspruchs oder des ausgeschlossenen Dritten, zugänglich
werden.19
Festzuhalten bleibt also insgesamt, daß Aristoteles sich zwar der
Wesensschau nicht als eines herausragenden Erkenntnismittels bedient, daß er
sich aber einer Verbindung zwischen der Erkenntnis Gottes, im doppelten
Sinne eines genitivus subiectivus und obiectivus, wenigstens bewußt war. Damit
findet sich schon bei ihm eine Nähe zwischen der Wesensschau oder der
geistigen Schau und der Gottesfrage, die bei Aristoteles’ Nachfolgern und ganz
ausgeprägt in der mittelalterlichen Philosophie zu größerer Vertiefung und
Bedeutung gelangt.
Dennoch zeigt sich zunächst der Einfluß Platons als der entscheidendere,
was an einer kurzen Betrachtung der Wesensschau als Hinführung zur Schau
des Einen bei PLOTIN sichtbar zu werden vermag. Bei Plotin tritt die Lehre von
der Wesensschau in Form der Auseinandersetzung mit der Intuition bzw. der
Schau des Geistes auf. Hierbei geht er wieder auf Platon zurück, dessen Skepsis
gegenüber der leibgebundenen Erkenntnis Plotin übernimmt, um von ihr eine
intuitive Erkenntnis des Geistes zu unterscheiden, die er jedoch auf die Weise
verständlich zu machen sucht, daß er eine gewisse Parallelität zwischen der
geistigen Schau und dem Wahrnehmungsakt des Sehens aufweist, ohne daß
beide identifiziert werden dürften. Denn während die Seele beim leiblichen
Sehen aus sich heraus in die Gegenstandssphäre übergeht, erkennt der Geist bei
seiner intuitiven Schau nicht nur das Wesen aller ihm gegebenen Gegenstände,
sondern er wird auch zur Selbsterkenntnis des eigenen Wesens befähigt. Auch
wenn mit der geistigen Schau derart ein hoher Erkenntnisstandpunkt gegeben
ist, so ist es dennoch nicht der höchste, der allein dem Einen vorbehalten
bleibt, das auch noch vom schauenden Denken unabhängig ist. Denn das
Wesen ist immer noch eine seiende und als solche zu schauende Entität,
19
Ob daraus hingegen geschlossen werden darf, bei Aristoteles basiere die Erkenntnis des Wesens der
Dinge nicht auf dem diskursiven Denken, sondern auf einer unmittelbaren Schau, wie von R. Messner
in Schauendes und begriffliches Erkennen nach Duns Skotus. Mit kritischer Gegenüberstellung zur
Erkenntnislehre von Kant und Aristoteles (Freiburg 1942) 378 behauptet, muß zumindest bezweifelt
werden.
176
während das überseiende Eine nicht mehr geschaut und deshalb nicht
wesenhaft und mit positiven Bestimmungen erfaßt werden kann.
Für den Geist jedoch erweist sich seine spezielle, unkörperliche Art des
Sehens als zentrales Erkenntnismedium, denn mittels ihrer gelingt es ihm sogar,
das jenseits des Sinnlichen Liegende zu denken, womit die Sehkraft des Geistes
erst eigentlich zur sehenden wird. Erst indem der Geist diese sehende Sehkraft
erlangt, wird er überhaupt Geist – und zwar zu demjenigen Geist, der sich
ständig konstituiert und in seinem schauenden Denken erst zu Wesenheit und
echtem Denken wird; denn vorher war er noch nicht das wirkliche Denken, da
er noch kein Gedachtes besaß, und er war noch nicht wirklich Geist, da er noch
nicht gedacht hatte.20 Dadurch, daß der Geist in diesem Schauen erst er selbst
geworden ist, vermag er auch die Seele zu erheben, die dann als gleichfalls
schauende mit dem Geist eins wird. Hierzu bedarf es wiederum des Guten, das
Geist und Seele erst zu einer Einheit macht, indem es über ihnen schwebt und
ihnen seliges Gewahren und Schauen („µακαρίαν διδοὺς αἴσθησιν καί
θέαν/makarian didous aisthesin kai thean“) verleiht.21 Da die Seele solcherart
zum Geist geworden ist22, kann sie sich zweier Erkenntniskräfte bedienen:
zunächst einer denkenden, die zur Selbsterkenntnis führt, und dann einer
intuitiv aufnehmenden Erkenntniskraft23, wie sie auch der Geist besitzt und
welche die Erkenntnis der nicht in ihr liegenden Wesenheiten zum Resultat hat.
Schon an diesem Verhältnis zwischen Seele und Geist wird die letztlich
entscheidende Verbindung dieser beide kennzeichnenden Wesensschau
deutlich: der Bezug auf das Eine, der trotz der diskursiven und intuitiven
Unerfaßbarkeit desselben den Geist erst zu dem macht, was er sein soll, zum
das Eine erahnenden Denken. Dieser Konnex zwischen Geist und Einem ist
möglich, obwohl beide nicht identisch sind, obwohl das Eine eben nicht der
Geist ist. Denn in seinem für weitere Erkenntniszwecke angenommenen
Gerichtetsein auf sich selbst erblickt das Eine sich; und dieses Selbsterblicken
ist nach Plotin gerade der denkende Geist.24 Die Schau des Einen bedeutet
20
21
22
23
24
Vgl. Plotin: Enn. V 3,11,10-16 und V 3,11,1-3.
Vgl. Plotin: Enn. VI 7,35,38.
Vgl. Plotin: Enn. VI 7,35,1-5.
Vgl. Plotin: Enn. VI 7,35,21-22: „ἐπιβολῇ τινι καὶ παραδοχῇ/epibole tini kai paradoche“.
Vgl. Plotin: Enn. V 1,7,1-6.
177
demgemäß die letzte, größtmögliche Nähe zum Einen vor dem
Identischwerden mit ihm.
Diese komplexe Beziehung zwischen dem Einen, dem Geist und der Seele
ist nicht nur die Bedingung aller Erkenntnis und Einsicht, sondern auch der
Philosophie selbst, deren herausragendes Thema das Eine ist, so daß
Philosophieren und der Versuch, das Eine zu denken, geradezu synonym sind.
Dieses Denken des Einen kann sich allerdings nicht der üblichen und sonst
auch erfolgreichen Erkenntnis- und Wahrnehmungsformen bedienen, sondern
es ist auf die Schau des Einen („ὁρῶσα [...] τῷ ἕν/horosa [...] to hen“25)
angewiesen.26 Philosophieren bedeutet also, daß die Seele zum Geist werden
muß, der allein mit seiner obersten Schicht und frei von aller Sinnlichkeit dazu
in der Lage ist, das Eine zu schauen. Um hierbei nicht Täuschungen durch die
Sinne zu erliegen, muß der Geist selbst sich in Reinheit darauf besinnen, was in
seinem wahren Erkenntnishorizont liegt, nämlich das vor ihm Liegende, das
ihm selbst Angehörende oder das aus ihm Hervorkommende.27
Speziell an der Bestimmung des möglichen geistigen Erkenntnisbereichs
fällt eine grundsätzliche Differenz zwischen Platon und dem sonst in vielem
mit ihm übereinstimmenden Plotin auf: Während bei Platon die vernünftige
Wahrheitsschau in unmittelbarem Zusammenhang mit der wissenschaftlichen
Erkenntnis steht, geht das auf das Eine ausgerichtete Philosophiekonzept
Plotins davon aus, daß dasselbe im Gegensatz zu den übrigen
Denkgegenständen nicht auf dem Wege des wissenschaftlichen Erkennens
zugänglich werden kann, sondern nur vermöge einer Gegenwärtigkeit, die von
höherer Art ist als die Wissenschaften. Während bei Platon das vernünftige
Schauen als Bedingung des Erkennens der Wahrheit und ihres Wesens in den
wissenschaftlichen Bereich mündet und ihn bedingt, muß sich bei Plotin der
das Eine schauende Geist von der Wissenschaft abwenden, um zur
wertvolleren Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen – eine Aufnahme bzw.
Wiederaufnahme der Wissenschaft ist für Plotin nicht das Ziel, sondern
höchstens ein Nebenprodukt der Tätigkeit der Seele, die sich nach ihrer
schauenden Vereinigung mit dem Geist in einer geradezu ekstatischen
25
26
27
Plotin: Enn. VI 9,3,11-12.
Vgl. Plotin: Enn. VI 9,3,10-13.
Vgl. Plotin: Enn. VI 9,3,23-37, besonders 34-37.
178
Erfahrung wieder von diesem trennen muß.28 Damit der Bereich der
Sinneswahrnehmungen, der Alltagsklugheit und der Wissenschaft verlassen
werden kann, um zum geistig Wertvollsten, der versuchsweisen Annäherung an
das Eine, aufzusteigen, muß der Weg der Philosophie eingeschlagen werden,
die in ihrem Reden und Schreiben nur ein defizitäres Mittel erkennt, um
überhaupt zum Einen hinzuleiten und aufzuwecken aus den Begriffen zum
Schauen.29 Der Vollzug dieser Schau ist dann nicht mehr die Sache einer
allgemeinen Philosophie, sondern er basiert auf der freien, nur ihm selbst
zuzuordnenden Willensentscheidung des Einzelnen30 und vollzieht sich im
Modus des Schweigens. Eine solch individuelle Entscheidung muß der
Philosophie zugrunde liegen; und dies nicht zuletzt deshalb, weil mit der
schauend-intuitiven Wesenserkenntnis, die das Eine wenigstens intendiert,
immer auch die Selbsterkenntnis verbunden ist, die zwar die geistige Schau
gerade strikt vom Einen trennt, die aber zugleich die einzige Möglichkeit
bedeutet, sich dem Einen überhaupt anzunähern. Die geistige Wesensschau
bleibt bei Plotin auf diese Weise einerseits notwendig defizitär, andererseits
unverzichtbar.31
Eine vergleichbare Situation wie bei Plotin findet sich auch in den Werken
des Neuplatonikers PROKLOS, welcher der Wesensschau ebenfalls eine
gewissermaßen zwiespältige Stellung innerhalb des Erkenntnis- und
Wissenschaftsbereichs zuspricht. Denn sie fördert zwar den Erkenntnisaufstieg
der Seele, indem sie dieser ein Wissen vom Seienden und von sich selbst
ermöglicht, aber sie kann – gerade aufgrund dieser Bindung an das Seiende –
nicht den Zugang zum Wissen des Einen eröffnen, so daß ihr das höchste
Prinzip verschlossen bleibt. Die Intellektualisierung der Seele in der intuitiven
Wesensschau32 wird von Proklos schon begrifflich in große Nähe zu Platons
Phaidros gerückt, der für die gesamte neuplatonische Anknüpfung an Platons
28
29
30
31
32
Vgl. Plotin: Enn. VI 9,4,1-3.
Vgl. Plotin: Enn. VI 9,4,13-14: „καὶ ἀνεγείροντες ἐκ τῶν λόγων ἐπὶ τὴν θέαν/kai anegeirontes ek ton
logon epi ten thean“.
Vgl. Plotin: Enn. VI 9,4,11-17. – Diese Willensentscheidung wird später bei Proklos zur Erfahrung
eines bloßen Gnadenerweises herabgestuft. In beiden Fällen zeigt sich jedoch klar, daß der
Erkenntnisform der Schau in der Frühzeit ihres Gebrauchs stets eine sittliche und voluntaristische
Komponente eignet.
Zum Zusammenhang zwischen Plotins schauender Vernunfterkenntnis und der auf ihn folgenden
Geschichte der Wesensschau vgl. J. König: Der Begriff der Intuition (Halle/Saale 1926) 40.
Vgl. etwa Proklos: In Timaeum I 400,20 und In Parmenidem 649,25.
179
Aussagen zur geistigen Schau bzw. zur Wesensschau von ausschlaggebender
Bedeutung ist. So ordnet sich etwa Proklos’ Konzept der Epoptie, das ebenfalls
die Durchführung einer vom Empirischen freien Erkenntnisbewegung
beinhaltet, in diese Bezüge eines noch über der Dialektik anzusiedelnden
Schauens der Seele ein.33
Ebenso wie bei Plotin ergibt sich auch bei Proklos durch das
Instrumentarium der Wesensschau eine Abhängigkeitsrelation der Seele vom
Geist – und ebenso wie bei Platon resultiert aus der geistigen Schau ein
spezielles Wissen, das eine der Bedingungen für Wissenschaft darstellt. Denn
durch den Vollzug der Wesensschau („τῆς οὐσίας θεωρίαν/tes ousias
theorian“34) begibt sich die Seele unter die Leitung durch den Geist, d.h., sie
erhebt sich auf eine höhere Erkenntnisstufe, durch die sie erst in den Besitz des
wahren Wissens gelangen kann. Dieses Wissen – auf der Grundlage der
Epoptie und einer mystischen Schau35 erlangt – bildet die Voraussetzung aller
überempirischen und nicht mehr sinnenverhafteten Erkenntnis und damit auch
eine Bedingung für die Philosophie selbst und ihren Versuch, das Eine und die
sich an dieses anschließende Stufenordnung der Welt zu erfassen. Die
Wesensschau erweist sich unter dieser umfassenden Zielsetzung als doppelt
strukturiert bzw. zweifach ausgerichtet: Zum einen wird mittels ihrer die Natur
des Geistes durch die Seele antizipiert und bestimmbar, die in einer
anschauenden Gerichtetheit auf die Wesenheiten besteht, durch deren
Realisierung allein sicheres Wissen und wissenschaftliche Erkenntnis möglich
sind („τοῦ νοῦ φύσις πρὸς τὴν τῶν εἰδῶν θεωρίαν/tou nou phytis pros ten
ton eidon theorian“36); zum anderen wird der Gegenstand der geistigen
Tätigkeit zusammen mit der Art, wie er zu betrachten ist, begreifbar, nämlich
die Ideen, die mit Hilfe der intellektuellen Intuition auf eine gerade nicht mehr
diskursive Weise, wie sie der seelischen Erkenntnis sonst eignet, anzuschauen
sind („νοερᾶς ἐπιβολῆς θεάσασθαι/noeras epiboles theasasthai“37).
33
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37
Interessanterweise verwendet Platon den Begriff der ‚ἐποπτεία/epopteia’ ausschließlich in den für sein
eigenes Wesensschaukonzept zentralen Dialogen Symposion und Phaidros.
Proklos: Theologia Platonica IV, 13,43,16 (Saffrey und Westerink).
Vgl. Proklos: Theologia Platonica IV, 9.
Vgl. Proklos: In Parmenidem 897,20-21.
Vgl. Proklos: In Parmenidem 880,21-22. – Während demnach bei Proklos intellektuelle Anschauung,
Intuition und Wesensschau noch eng verbunden sind, wird sich hier bei späteren Autoren eine
180
Die Aussagen Proklos’ zur Wesensschau sind demnach insgesamt als eine
begriffliche und inhaltliche Weiterführung der Ansätze bei Platon und Plotin zu
bewerten, ohne daß sich eine gegenüber diesen einschneidende Veränderung
ergäbe. Festzuhalten bleibt daher die Einbindung des Konzepts der
Wesensschau in einen methodischen, wissenschaftlichen Erkenntnisrahmen.38
Während bei Platon, bei Plotin und bei Proklos der methodische Aspekt
der geistigen Schau oder der Wesensschau mit seinen Verbindungen zur
Wissenschaft und Philosophie im Vordergrund steht, findet sich bei PS.DIONYSIOS AREOPAGITA eine Wiederaufnahme des Kontextes, innerhalb
dessen Aristoteles sich mit der Berechtigung einer solchen Schau – zumindest
historisch – auseinandersetzt: die Erfahrung und Erkenntnis Gottes bzw. des
Göttlichen. Auch Dionysios nimmt ein Vermögen an, das über dem
vernünftigen und begrifflichen Erfassen anzusiedeln ist und dessen sich die
Theologie bedienen muß, wenn überhaupt die Möglichkeit einer Gotteslehre
realisiert werden können soll. Indem Gott über allen Wesen steht, ist er mit den
Mitteln, die sonst zur Erfassung der Wesenheiten dienen – und zwar Verstand
(διάνοια/dianoia), Vernunft (φρόνησις/phronesis) und Geist (νοῦς/nous oder
νόησις/noesis) –, nicht zugänglich und nicht zugänglich zu machen. Dennoch
offenbart sich das Göttliche in seiner Güte und Gerechtigkeit dem
aufnehmenden Geist – allerdings auf besondere Weise, die nicht mit seinen
normalerweise angewandten Erkenntnisinstrumenten übereinkommt, nämlich
in Form einer ausgezeichneten Schau, die selbstverständlich nicht mit der
empirischen, sinnlichen Wahrnehmung zu verwechseln ist.39 Obwohl sich Gott
oder das Eine dem diskursiven und meinenden Denken entziehen – und hier
bestehen durchaus Zusammenhänge mit den drei von Ammonios
unterschiedenen Erkenntnisvermögen der Seele, die sich in ein intuitives, ein
diskursives und ein doxastisches Vermögen aufteilen lassen, wobei zwischen
38
39
begriffliche Aufspaltungstendenz feststellen lassen, indem sie die jeweils gemeinten
Erkenntnisbestrebungen für sich betrachten und ihrer Unterschiedenheit gemäß behandeln.
Zur Vervollständigung seien hier noch einige prägnante Stellen aus den Werken des Proklos
angeführt, die sich mit der Behandlung der besonderen Weise der seelisch-geistigen Schau, der
Epibole und der Epoptie beschäftigen: Theologia Platonica I, 1-4; II, 11; IV, 20-26; V, 17 sowie In
Parmenidem 617 und 620.
Vgl. Ps.-Dionysios Areopagita: De divinis nominibus, hrsg. von B. R. Suchla. In: Corpus
Dionysiacum, Reihe: Patristische Texte und Studien, Band 33 (Berlin/New York 1990): „κατὰ τὴν
ἀναλογίαν ἑκάστου τῶν νοῶν ἀνακαλύπτεται τὰ θεῖα/kata ten analogian ton noon anakalyptetai ta
theia“ (588 A).
181
dem triadisch verfaßten Seelensubjekt und dem entsprechenden
Erkenntnisobjekt eine analoge Mannigfaltigkeit von Beziehungen herrscht40 –,
ja obwohl auch eine begriffliche Annäherung an das Eine über bloße
Negationen oder gar Hypernegationen nie hinausgelangen kann, weil Gott im
besten Falle als das Unsagbare, Undenkbare, Unnennbare anzudenken ist41, so
bleibt doch als letzter Zugang zu Gott die von ihm selbst verstattete, wortlose
Schau. Wissen und Erkennen des göttlichen Wesens bleiben unmöglich, da
Gott wiederum negativ als unwesentlich bzw. als überwesentlich angenommen
werden muß. Doch dem wahren (heiligen) Gottsucher kann sich, basierend auf
der Gnade eines überwesentlichen Strahlens Gottes („θεοφανείας/theophaneias“)42, die Möglichkeit zur göttlichen oder Gottesschau eröffnen.
Da sich jedoch das in einer solchen Schau Gesehene weder dem eigenen
noch dem fremden Denken vermitteln läßt, muß das Erkenntnisstreben mit
heiliger Scheu des Geistes das Wesen Gottes in seiner Verborgenheit
unerforscht lassen.43 Erst nach dem Tod, wenn – wie Ps.-Dionysios Areopagita
aus dem Lukas-Evangelium zitiert – „wir sein werden wie die Engel, Söhne
Gottes, weil wir Söhne der Auferstehung sind“, wird der unsterblichen Seele in
heiliger Schau die Erscheinung Gottes gegenwärtig sein.44 Bis sich aber solche
Jenseitshoffnung und -gewißheit erfüllt, muß auf der Unaussprechlichkeit und
gedanklichen Unbegreiflichkeit des göttlichen Wesens beharrt werden, das nur
wenigen Auserwählten in seiner Güte die Schau seiner selbst vergönnt,
während die anderen Gläubigen sich nur mit der Unnennbarkeit und negativen
Unbestimmtheit Gottes begnügen müssen. Denn für sie gilt, daß das sich allem
Wahrnehmen, Erkennen und Denken entziehende Wesen Gottes weder als
Vernunft, Macht, Geist oder Leben noch als Sein gefaßt werden darf.45 Auf
solche Weise ist auch die Frage nach einem geeigneten Namen für das
Göttliche nur negativ zu bescheiden und auf die begriffliche
Eigenschaftslosigkeit des Einen zurückzuführen.
40
41
42
43
44
45
Vgl. Ammonios: In Analytica priora 24,31 und 2,10.
Vgl. Ps.-Dionysios Areopagita: De divinis nominibus 109 (588 B).
Vgl. Ps.-Dionysios Areopagita: De divinis nominibus 110 (588 C-589 A).
Vgl. Ps.-Dionysios Areopagita: De divinis nominibus 111 (589 A-B).
Vgl. Ps.-Dionysios Areopagita: De divinis nominibus 114 (592 C).
Vgl. Ps.-Dionysios Areopagita: De divinis nominibus 117 (593 C).
182
Insgesamt ist von Dionysios die Wesens- oder Gottesschau – in
Weiterführung des späten Neuplatonismus und hier insbesondere von Proklos
– mit all ihren Einschränkungen aus dem methodisch-wissenschaftlichen
Bereich in den der Religion und Theologie verlagert worden, womit sich bereits
eine das gesamte Mittelalter durchziehende und hier immer wieder begegnende
Tendenz ankündigt: Es gibt nur ein Wesen, dessen Unerforschbarkeit allein
durch eine ausgezeichnete, intuitiv-ekstatische Schau ansatzweise erfaßt werden
kann, d.i. Gott. Das Ergebnis einer solchen Schau ist nicht mehr, wie bei
Platon, die Wissenschaft, sondern die dem begrifflichen Denken entzogene
Bestätigung eines nie angezweifelten Glaubens.
Diese Verbindung von Gotteserkenntnis und Wesensschau findet sich
schon bei AUGUSTINUS, der sich hierbei auf eine Auslegung des zweiten
Korintherbriefs (12,2-4) stützt und damit eine Textstelle in Exegese und
Diskussion betont, die für den Zusammenhang der Schau Gottes und seines
Wesens bis hin zu Meister Eckhart von zentraler Bedeutung sein wird.
Augustinus unterscheidet drei Arten des menschlichen Schauens: eine erste
Erkenntnisweise durch die Augen, also die empirische, sinnliche
Wahrnehmung; eine zweite Erkenntnisweise durch die Vorstellungen, mittels
derer auch etwas Abwesendes vergegenwärtigt werden kann; und eine dritte
durch den Schauakt der Vernunft, der jene Dinge betrifft, für die es keine
Abbilder gibt, da jedes Abbild hier wieder die Dinge selbst wären. Er
bezeichnet diese Weisen des Schauens als corporale, als spirituale und als
intellectuale Erkenntnis.46 Hierbei unterscheidet Augustinus jedoch streng
zwischen dem geistigen Erspüren der Gegenwart Gottes, wie sie dem
Gläubigen zuteil werden kann, und der Wesensschau Gottes, wie sie nur Moses
mit einigen Einschränkungen und Paulus als den bedeutendsten Propheten
zuzusprechen ist. Augustinus nimmt demzufolge eine Einteilung der Propheten
vor: Der geringere Prophet kann lediglich Phantasiebilder in der Vorstellung
hervorbringen, während der größte Prophet diese Bilder nicht nur deuten kann
– wie die mittlere Prophetenklasse –, sondern sie selbst im Geist sieht, um ihre
Bedeutung anschließend mittels der Vernunft zu ermessen.47 Diesen
46
47
Vgl. Aurelius Augustinus: Psychologie und Mystik (De Genesi ad Litteram). Übersetzung und
Einleitung von M. E. Korger und H. U. von Balthasar (Einsiedeln 1960) 36-38 (VI, 15-VII, 16).
Vgl. Aurelius Augustinus: Psychologie und Mystik (De Genesi ad Litteram) 40 (VIII, 19).
183
Prophetenklassen analog sind auch die Stufen der Schau zu verstehen, die eine
aufsteigende Bewegung anfangend von der leibhaften über die geisthafte hin
zur einsichthaften Schau markieren.48 Allein in dieser dritten Weise kann Gott
geschaut werden49, aber sie konnte nur den beiden größten Propheten zuteil
werden. Denn Gottesschau ist für Augustinus – wie später für Dionysios –
abhängig von der Gnade Gottes, die dieser nur den Menschen gewährt, die
innerhalb der Offenbarungsgeschichte von zentralem Rang für die Entstehung
und den Aufbau der christlichen Kirche sind. Im Gegensatz zur Erkenntnisund Wissenschaftsbegründung der Wesensschau insbesondere bei Platon erhält
die Gottesschau bei Augustinus einen geschichtlichen und praktischen Sinn –
der wiederum die einzige Möglichkeit der Vermittlung des Wesens Gottes an
die weniger prophetisch begabten und begnadeten Gläubigen ist.
Wie schon bei Augustinus, so findet sich auch bei THOMAS VON AQUIN
eine Verbindung zwischen der Reflexion auf die Wesensschau (visio/cognitio/
spectatio/contemplatio essentiae (Dei)) und einer detaillierten Auslegung des
zweiten Korintherbriefs (12,2). Gleich Augustinus geht auch Thomas hierbei
von der Frage aus, ob Paulus wirklich das Wesen Gottes geschaut hat oder ob
ihm nur eine bildhafte Schau zuteil geworden ist. Um zu einer Antwort zu
gelangen, unterscheidet Thomas eine dreifache Weise, in welcher der
menschliche Geistgrund durch Gott selbst zur Schau der göttlichen Wahrheit
entrückt wird: (1) eine gleichnishafte Schau durch die Einbildungskraft (Petrus),
(2) eine vom Verstand geleitete Schau der göttlichen Wahrheit (David) und (3)
eine Wesensschau Gottes (Moses und Paulus).50 Thomas differenziert weiter
nach der Rangfolge der Erkenntniskräfte eine überweltliche Schau (visio
supermundana corporalis), eine Schau der Einbildungskraft (visio imaginaria)
und eine geisthafte Schau (visio intellectualis)51, womit sich bei ihm nicht nur
eine Aufnahme der Augustinischen Unterscheidung, sondern auch derjenigen
des Ps.-Dionysios Areopagita sowie der triadisch verfaßten Seelenstruktur des
48
49
50
51
Vgl. Aurelius Augustinus: Psychologie und Mystik (De Genesi ad Litteram) 46-47 (XII, 25) und 7073 (XXIV, 50-51 und XXV, 52).
Vgl. Aurelius Augustinus: Psychologie und Mystik (De Genesi ad Litteram) 77 (XXVIII, 56).
Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe
in 30 Bänden (Salzburg/Leipzig 1934-1938) Buch II, Quaestio 175, Band 23, 117. – Im Gegensatz zu
Augustinus rechnet daher Thomas Moses ebenso unter die größten Propheten wie Paulus.
Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae, Buch II, Quaestio 175, Band 23, 119.
184
Ammonios findet. Wie für Dionysios ist auch für Thomas die Schau der
göttlichen Wesenheit erst nach der Auferstehung möglich, wenn zwar der
Verstand noch arbeitet, die Abhängigkeit von den körperlichen Sinnenbildern
aber überwunden ist. Denn es gilt: „Oportet autem, cum intellectus hominis
elevatur ad altissimam Dei essentiae visionem, ut tota mentis intentio illuc
advocetur [...].“52
Alle genannten Unterscheidungen und Bestimmungen finden sich bei
Thomas auch außerhalb des Rahmens von 2. Kor. 12,2. So greift er immer
wieder auf die verschiedenen Ausprägungen der Schau als Schau des
Vorstellungsvermögens, als sinnenhafte Schau oder als geistige Schau zurück53,
wobei die Verbindung der visio intellectualis mit dem Verstand und ihre
Abgetrenntheit von der körperlichen Sinnlichkeit stets betont werden. Hierbei
erhält sich auch die Zuordnung der Wesensschau zu einem Stand der Seligen
und Heiligen, dem einzig die Gnade der unmittelbaren Erkenntnis Gottes
gewährt wird, in der allein die göttliche Wesenheit mit dem schauenden Geist
eins wird („essentia divina unitur menti beatae“54).
Die Schau (des Wesens) Gottes gehört für Thomas von Aquin also zur
Verstandeserkenntnis, deren Wahrheit unmittelbar einsichtig ist. Wer Gott
einmal in seiner Wahrheit geschaut hat, ist nicht mehr auf einen – selbst wieder
auf Autoritätsgründen aufbauenden – Glauben angewiesen, sondern er hat ein
Gotteswissen erlangt, das unabhängig von den Sinnen, aber auch vom
willensbedingten Schluß ist. Hiermit eröffnet Thomas eine dritte Dimension
der Wesens- und Gottesschau, nämlich die der Wahrheit und des Strebens nach
ihr. Bei Platon mündet die geistige Schau in das wissenschaftliche Forschen und
Erkennen, bei Dionysios wird die Wesens- oder Gottesschau zur Sache eines
nicht mehr beweisbaren und über jeden Beweis erhabenen Glaubens – und bei
Thomas schließlich wird die visio essentiae zur Bedingung der Möglichkeit und
zum Garanten von Wahrheit. Wissenschaft bzw. wissenschaftliche Methode,
ein alle Zweifel auflösender Glaube und die Erkenntnis der Wahrheit als der
Wahrheit Gottes erweisen sich so als die drei Grundbedeutungen der
Wesensschau. Sie werden bei Thomas in der Weise verbunden, daß bei ihm
52
53
54
Thomas von Aquin: Summa Theologiae, Buch II, Quaestio 175, Band 23, 122.
Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae, Buch I, Quaestio 57, Band 4, 1-2.
Thomas von Aquin: Summa Theologiae, Buch III, Quaestio 9, Band 25, 3.
185
Wissen und Glaube in die beiden übergeordnete Dimension der Wahrheit
aufgehoben werden, so daß sich statt eines Mangels und Widerspruchs ein –
schon nahezu dialektisch anmutender – philosophischer Gewinn ergibt, indem
er die Grund- und Zentralfrage aller Philosophie nach der Wahrheit vorantreibt
und damit zu einem nicht nur theologischen, sondern auch philosophischen
Fortschritt führt.55
Eine besondere Form der Wesensschau findet sich innerhalb der
Intellekttheorie des DIETRICH VON FREIBERG – besonders deshalb, weil die
Folgen derselben noch über den Zustand der Erkenntnis des wahren Wesens
Gottes hinausgehen und statt dessen zu einer denkenden Einung mit Gott
führen, so daß die Veränderung des in dieser Weise Schauenden durch die
Schau noch deutlicher in ihren Auswirkungen auf das Individuum sichtbar wird
als bei den bisher betrachteten Konzepten. Da seine Intellekttheorie als
Zentrum seiner Theologie angesehen werden kann, erweist sich die Bedeutung
der visio beatifica schon vor diesem Hintergrund: Als Prinzipienerkenntnis
führt die Wesensschau zur Einung mit dem absoluten Prinzip, mit Gott.56 Die
visio gehört weder dem Bereich der Sinnlichkeit noch dem der Vorstellung an,
sondern erlaubt ein Denken Gottes, in dem Gott sich als lebendige Einheit
mitteilt. In dieser Selbstmitteilung erkennt sich das Denken als Erkennendes, es
erkennt sich als diese Selbstmitteilung, d.h., es begreift hierdurch Gott in
seinem Wesen. Durch den Vollzug dieser Intellektschau kommt demnach die
Einung des Denkens mit Gott zustande.57
Bei Dietrich findet daher eine Gebietsaufteilung statt: Während der
Vollzug der Wesensschau eher dem religiösen, theologischen Bereich mit
entscheidenden Konsequenzen für den Einzelnen zuzurechnen ist, bildet seine
Intellekttheorie selbst, folglich unabhängig vom tatsächlichen Wirken des
Intellekts, einen Bestandteil der philosophischen Auseinandersetzung mit der
55
56
57
Vgl. zur Wesensschau bei Thomas von Aquin etwa E. Stein: „Husserls Phänomenologie und die
Philosophie des hl. Thomas von Aquino. Versuch einer Gegenüberstellung“. In: Husserl, hrsg. von H.
Noack (Darmstadt 1973) 61-96, besonders 77-85. Stein weist hier Verbindungen und Parallelen
zwischen Thomas und Husserl auf, deren Wesensschaukonzepte ihr durchaus vergleichbar erscheinen.
Vgl. Dietrich von Freiberg: De visione beatifica. Hrsg. von B. Mojsisch. In: Ders.: Opera omnia,
Band I: Schriften zur Intellekttheorie. Mit einer Einleitung von K. Flasch, hrsg. von B. Mojsisch
(Hamburg 1977) 3.2.9.11.,7.
Vgl. Dietrich von Freiberg: De visione beatifica 4.1.,3. – Vgl. dazu insgesamt: B. Mojsisch: Die
Theorie des Intellekts bei Dietrich von Freiberg. Reihe: Beihefte zu Dietrich von Freiberg: Opera
Omnia, Beiheft 1 (Hamburg 1977) 83-86.
186
Gottesthematik. Während bei Thomas von Aquin eine Vereinigung der nicht
zuletzt erkenntnistheoretisch relevanten Gebiete von Wissenschaft, Glaube und
Wahrheit zu beobachten ist, führt die Beschäftigung Dietrichs mit der visio
beatifica zum Aufweis einer möglichen Verhältnisbestimmung nicht nur von
Theologie (Religion) und Philosophie, sondern auch der Bereiche von Theorie
und Praxis. Damit deutet sich schon ein Charakteristikum späterer Konzepte
der Wesensschau an, die ebenfalls zu einer praktisches Tun bzw. Handeln und
theoretisches Erkennen verbindenden philosophischen Einstellung gelangen
wollen – ein Programm, das sich beispielsweise bei Fichte oder Schelling im
Zusammenhang mit der intellektuellen Anschauung ergibt oder noch deutlicher
in der Durchführung und den Auswirkungen der Wesensschau bei Husserl.
Wie bereits Augustinus und Thomas von Aquin erweist sich auch
MEISTER ECKHART in direkter Anknüpfung an diese beiden Autoren sowie
unter Einbeziehung der Auslegung Ps.-Dionysios Areopagitas als Interpret der
Wesensschau vor dem Hintergrund des zweiten Korintherbriefs. Hier folgt er
ganz Thomas, indem er vier Arten der Entrückung (Ekstase) bzw. der Schau
unterscheidet: (1) die Entrückung der Willensrichtung (Ekstase der Liebe), (2)
die innere Schau von Phantasiebildern (Johannes, Petrus), (3) die geistige Schau
(Adam) und (4) die Schau der Wesenheit Gottes durch den Geist (Paulus).58
Wie bei dieser Aufteilung so bleibt auch die weitergehende Beschäftigung
Meister Eckharts mit der Thematik der Wesensschau von historischen Bezügen
einerseits und von der textlichen Auseinandersetzung mit der Bibel oder mit
philosophisch-theologischen Schriften andererseits bestimmt. So begegnet der
Begriff der scientia visionis im Zusammenhang mit Thomas von Aquins
Zuschreibung eines Wissens um die Gedanken und Gefühle der Herzen zu
Gott; oder Eckhart erörtert einige Aussagen des Maimonides.59 Als Summe
seiner Textauslegungen kann die Einsicht Eckharts gelten, daß die
Wesensschau Gottes dem geschaffenen Intellekt aus rein natürlichen Kräften
unmöglich, mittels übernatürlicher Kräfte jedoch möglich ist. In dem Ausdruck
58
59
Vgl. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Hrsg. und übersetzt von E. Benz, B.
Decker und J. Koch. 4. Band: Sermones (Stuttgart 1956) sermo XXII, 202-203. – Zur mystischen
Anschauung insgesamt vgl. E. Conze: Der Satz vom Widerspruch. Zur Theorie des dialektischen
Materialismus (Hamburg 1932) Nr. 15-24.
Vgl. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Abteilung: Die lateinischen Werke.
Hrsg. von A. Zimmermann und L. Sturlese. Band II (Stuttgart/Berlin/Köln 1992) 89 oder 225.
187
„visio dei per essentiam“ findet sich hierbei eine der sicherlich prägnantesten
lateinischen Formulierungen des Wesensschaubegriffs im Mittelalter.60
Ebenso wie schon einige seiner Vorgänger so legt auch Meister Eckhart
besonderes Gewicht auf die Bibelexegese; in ihrem Umfeld finden sich einige
Aussagen zur Wesensschau, die ihren Ausgang vom Gleichnisbegriff nehmen.
Von Gott selber darf man sich kein Gleichnis machen, da dem Unendlichen,
Unermeßlichen, Unsichtbaren kein sichtbares Gleichnis und dem
Unerschaffenen nicht die Gestalt eines Bildes gegeben werden kann. Gott kann
dementsprechend nicht in sich, sondern nur in gewissen Erscheinungen
geschaut werden (Theophanie). Die göttliche Wesenheit ist demnach einerseits
durch Gleichnisse nicht zu schauen. Andererseits hat Gott Gen. 1,26 zufolge
den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis gemacht. Schöpfer und
Geschöpf sind sich deshalb sowohl ähnlich als auch unähnlich; eine in Worten
ausdrückbare adäquate Gottesschau gibt es jedoch nicht.61
Insgesamt fügt Eckhart der mittelalterlichen Wesensschaudeutung keine
grundsätzlich neuen inhaltlichen Aspekte hinzu. Dennoch liefert er einige
prägnante Formulierungen in seiner Vertiefung des Thomasischen Denkens.
Ähnlich wie zuvor Dietrich von Freiberg ist auch NIKOLAUS VON KUES
um die Vermittlung der Wesensschau an den Einzelnen, ja auch an
Nichttheologen bemüht. In seinen Schriften versucht er, eine Anleitung zu
geben, die den Leser zum einen von der Abhängigkeit an das sinnlich gegebene
Wahrnehmbare befreit und ihn zum anderen zum Aufstieg zur einfachen
geistigen Schau (intellectualitatem simplicem) freimacht, so daß er das Wesen
Gottes und der universalen Einheit des Seins erfassen kann.62 Dazu muß der
Gottsuchende den einfachen Akt der geistigen Schau erlernen, der weder von
der Vorstellung noch vom Verstand geleistet werden kann.63 Zwar gilt auch
hier, daß nur im göttlichen Erkennen, durch das jedes Seiende sein Sein hat, die
Wahrheit aller Dinge in ihrem Wesen erreicht wird, aber auch einem
60
61
62
63
Vgl. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Abteilung: Die lateinischen Werke,
Band II, 226.
Vgl. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Abteilung: Die lateinischen Werke.
Band II, 109-110.
Vgl. Nicolaus de Cusa: De docta ignorantia. Die belehrte Unwissenheit. Buch I. Übersetzt und mit
Vorwort und Anmerkungen versehen von P. Wilpert (Hamburg 41994) 8,1-10.
Vgl. Nicolaus de Cusa: De docta ignorantia. Die belehrte Unwissenheit, I, 29,12-14.
188
geschaffenen Geist mit seinem ihm eignenden ganz anderen
Erkenntnisvermögen kommt es zu, die Wahrheit in ihrem Wesen geistig
erkennen zu können. Denn je gottähnlicher eine Intelligenz ist, um so besser
kann sie sich der Wesenswahrheit und -wirklichkeit annähern.64 Aufgrund
dieser Gottähnlichkeit allein ist es möglich, in Gott das zu erfassen, was in der
Schöpfung äußerlich sichtbar wird; d.h., Wesensschau und empirisches Sehen
stehen durchaus in einer Beziehung, die – am schwächsten ausgedrückt durch
ein Analogieverhältnis – in jedem Fall der Erkenntnis und der tieferen Einsicht
in das Wesen des Wahrnehmbaren dient, womit sich auf dieser Ebene bereits
eine erste deutliche Parallele zur phänomenologischen Wesensschau und den
mit ihr verbundenen Erkenntnisintentionen ergibt.65 Allerdings ist die Richtung
des Erkennens bei beiden Weisen des Sehens völlig verschieden, indem dem
sinnlichen Wahrnehmen das Begreifen, der Schau des Geistes (visio mentis)
jedoch die Loslösung vom Begreifen und damit der Überstieg zum
Unbegreiflichen zuzuordnen ist.
Durch sein Sehen-Können ist der Geist zum Können-Selbst, zu Gott,
hingeordnet. Nur auf dem Fundament dieser Möglichkeit des Innewerdens des
höchsten, reinsten Könnens gewinnt der Geist seine Gottähnlichkeit, die sich
vor allem darin äußert, daß der Geist in sich dieses Sein-Können betrachtet, so
daß alles, wie bereits im Neuplatonismus, des Geistes wegen da ist, der Geist
aber dazu da ist, das Können-Selbst zu schauen.66 Wie schon bei Dietrich von
Freiberg erweist sich also auch bei Nikolaus von Kues die Wesensschau als
einzige Möglichkeit der Einung mit Gott, ohne daß diese Einung allerdings ein
völliges Einswerden implizierte – die bloße Gottähnlichkeit dokumentiert eine
stets unaufhebbare Differenz, die schon dadurch nicht in Identität umschlagen
kann, daß der Geist sich selbst lediglich als Erscheinungsweise des
unvergänglichen Können-Selbst als des dreieinigen Gottes sieht.67 Gleich
seinen Vorgängern macht auch der Cusaner auf den Konnex zwischen
64
65
66
67
Vgl. Nicolaus de Cusa: De coniecturis. Mutmaßungen. Übersetzt und mit Einführung und
Anmerkungen hrsg. von J. Koch und W. Happ. Lateinisch-deutsch (Hamburg 1971) 55,7-10.
Vgl. Nicolaus de Cusa: Trialogus de possest. Das Können-Ist. In: Ders.: Philosophisch-theologische
Schriften. Hrsg. und eingeführt von L. Gabriel, übersetzt und kommentiert von D. und W. Dupré.
Lateinisch-deutsch. Drei Bände (Wien 1964-1967) II, 272-273. (Alle folgenden Belegstellen zu
Nikolaus von Kues beziehen sich auf die Bände dieser Ausgabe, sofern nichts anderes angegeben ist.)
Vgl. Nicolaus de Cusa: De apice theoriae. Der Gipfel der Schau, II, 372-373 und 378-381.
Vgl. Nicolaus de Cusa: De apice theoriae. Der Gipfel der Schau, II, 382-385.
189
Wahrheit und Schau aufmerksam, wobei sich hier die soeben konstatierte
Verschiedenheit von Gott und Geist nochmals deutlich zeigt: Dem Geist wird
erst in der Schau Gewißheit; die Wahrheit der Schöpfung und ihres Urhebers
wird in dieser visio zugänglich. Gott hingegen steht über Gewißheit und
Wahrheit, die er ja selbst ist; er sieht alles in einem einzigen und unsagbaren
Blick, weil er die Schau des Schauens (visionum visio) ist, so daß sein Sehen
Definieren und Schaffen ist.68
Zu erwähnen ist im Hinblick auf die Wesensschau unbedingt die einzige
explizit mystische Schrift des Cusaners De visione dei (1453). Der Gedankengang
dieses Textes hebt mit der Ikone des Allsehers an, in welchem Zusammenhang
bereits eine Ableitung des Begriffes theos (Gott) von theoria (Ich sehe)
durchgeführt wird. Diese Ikone schaut alle Betrachter an, gleichgültig aus
welcher Perspektive diese jene ins Auge fassen; auch beim Wechsel des
Blickwinkels folgt der Blick dem der Ikone. Daraus zieht Nikolaus den
allgemeinen Schluß: Gottes Sehen ist das Erschaffen schlechthin. Alles ist, weil
Gott es durch seinen Blick hervorbringt. Sein Sehen ist visio absoluta, die sich
im Sehen jedes Einzelbetrachters kontrahiert, wobei Sehen und
Gesehenwerden zusammenfallen. Gott ist daher das letzte Ziel des
menschlichen Erkenntnisstrebens resp. Sehens, kann aber qua Vernunft nicht
mehr faßbar werden, weil diese an der „Mauer des Paradieses“69, an der
coincidentia oppositorum, ihr Ende findet. Notwendig wird deshalb das
Überspringen dieser Mauer und das Eintreten in die Dunkelheit. Erst dann,
wenn Gott nicht mehr als schaffender und auch nicht mehr als erschaffbarer
Schöpfer gesehen wird, sondern als absolute Unendlichkeit70, wird er tatsächlich
unverhüllt anschaubar (visio in tenebra71).
Bei Nikolaus von Kues deutet sich demgemäß insgesamt eine
Unterscheidung an, die für die Philosophie der Moderne relevant werden wird;
gemeint ist die Differenz zwischen dem auf Anschauung rekurrierenden
68
69
70
71
Vgl. Nicolaus de Cusa: De Non-Aliud. Das Nichtandere, II, 530-531 und 546-549. – Genau diese
Bestimmungen spricht später noch Kant dem göttlichen, seinssetzenden Verstand zu, über den jedoch
keine definitiven Aussagen getroffen werden können, da seine Erkenntnis sich dem endlichen
Verstand entzieht, dessen Kategorien auffälligerweise weder definiert werden können noch als
schaffende, hervorbringende Gedanken aufzufassen sind.
Vgl. Nicolaus de Cusa: De visione dei. Die Schau Gottes. In: Ders.: Opera omnia, c. 9-13 und c. 17.
Vgl. Nicolaus de Cusa: De visione dei. Die Schau Gottes. In: Ders.: Opera omnia, n. 67-69.
Vgl. Nicolaus de Cusa: De possest. Das Können-Ist. In: Ders.: Opera omnia, n. 73-75.
190
Verstand des endlichen Denkens, dem keine setzende Schöpferkraft zukommt,
und dem anschauenden, in der Anschauung seinssetzenden Verstand Gottes.
Finden sich diese beiden Weisen der Verbindung von Anschauung und Denken
bei Kant noch in einem Gegensatzverhältnis, das zur vieldiskutierten
Bereichstrennung zwischen Erscheinung und Ding an sich Anlaß bietet, so
unternimmt die klassische deutsche Philosophie teilweise im Anschluß an,
teilweise in Abgrenzung von Kant den Versuch der Versöhnung beider
Bereiche durch die Zusprechung der sogenannten intellektuellen Anschauung
an den endlichen Verstand, die eine neue Wahrheitsgrundlage garantieren soll.72
Diese nachkantische Diskussion um die intellektuelle Anschauung, die
vornehmlich von Fichte und Schelling in ihrer Frühphilosophie vertreten wird,
nimmt derart unter anderem in der Cusanischen Philosophie und deren visioKonzept ihren Anfang.
Um Wahrheit geht es sowohl den transzendentalen Idealisten als auch
Nikolaus, der stets – wie schon vor ihm mit besonderer Prägnanz Thomas von
Aquin – auf die Einsicht in die Wahrheit durch die Wesensschau als intuitio
veritatis hinweist, obwohl er zugleich auf deren Weltverhaftetheit beharrt.73
Deshalb ist das Sein des Geschöpfes aufgrund seiner Begrenztheit das Sehen
und Gesehen-werden Gottes. Das Schaffen Gottes wiederum ist sein Sein, das
sich als Unendlichkeit in absoluter Weise zu allen Dingen verhält. Nur in ihrer
sich gewissermaßen selbst übersteigenden Schau vermag deshalb die Vernunft
den dreieinigen Gott zu fassen, auch wenn sie sich als Geist in notwendiger
Trennung von ihm befindet. Die Schau Gottes ergreift somit dessen Wirken als
sein Sehen – im Aufeinandertreffen beider Sehweisen, nämlich der endlichvernünftig-geistigen Sehweise auf der einen und der göttlich-schöpferischen
Sehweise auf der anderen Seite, entsteht mithin die Wahrheit, die Gott schon
immer ist, ohne ihrer zu bedürfen, und die der Mensch immer erst noch
ergreifen muß, ohne ihrer und Gottes je vollständig habhaft werden zu
können.74
72
73
74
Gemeinsam ist der Schau als Wesensschau oder als intellektuelle Anschauung, daß beide auf
Wahrheit abzielen und hierbei jeweils als höchste Erkenntnisform aufgefaßt werden.
Vgl. Nicolaus de Cusa: De filiatione Dei. Die Gotteskindschaft, II, 612-613.
Vgl. Nicolaus de Cusa: De filiatione Dei. Die Gotteskindschaft, III, 110-111, 134-137, 144-145, 158159 und 168-175. – Gerade an dieser Thematik der Gottesschau wird ein mit der Wesensschau eng
verbundenes Begriffsfeld sichtbar, das das mittelalterliche Denken noch weitaus stärker prägt als die
191
Die Seele ist somit nach Nikolaus von Kues die begriffliche Wahrheit des
Erkennbaren, da sie als vernünftige Seele wahrer Begriff ist; in ihrer intuitiven
Schau sieht sie demnach, daß sie in sich den ganzen Begriff der Welt hat.75 In
ihrer Schau des Wesens und des Wesens Gottes gewinnt die vernünftige Seele
demzufolge die Welt zumindest als Begriff. Die Gemeinsamkeit zwischen
diesem Relationsgefüge aus Wesenseinsicht, Vernunft, Begriffsdenken und
Welt bei Nikolaus von Kues und dem allumfassenden Logikkomplex Hegels,
der für sich in Anspruch nimmt, Darstellung Gottes zu sein, „wie er in seinem
ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes
ist“76, liegt nahezu auf der Hand, womit sich eine weitere Parallele zwischen
dem Denken des Cusaners und dem des sogenannten deutschen Idealismus
nach Kant ergibt. Mittels dieser geradezu vorausweisenden Position schließt
Nikolaus von Kues die Tradition des Gedankens der Wesensschau im
Mittelalter ab und eröffnet die Perspektive auf das neuzeitliche Denken, das
immer weniger rein theologisch-religiös und dafür immer stärker
erkenntnistheoretisch-methodisch geprägt sein wird.
Ein erster wichtiger Vertreter dieser erkenntnistheoretischen Richtung ist
zweifelsohne B. DE SPINOZA, in dessen Tractatus de intellectus emendatione das
Konzept der Wesensschau eine ganz neue Bedeutung gewinnt. In Aufnahme
des Cartesischen Intuitionsbegriffs sowie der Platonischen Vorstellung einer in
Stufen immer weiter fortschreitenden Erkenntnis gelangt Spinoza zu seiner vor
allem methodisch relevanten Theorie der Wesensschau, die von ihm innerhalb
seiner Differenzierung verschiedener Erkenntnis- bzw. Wahrnehmungsarten
ausgeführt wird. In der genannten Schrift unterscheidet Spinoza vier derartige
Wahrnehmungsweisen, von denen die vierte insbesondere in Abgrenzung von
der Sinnenerkenntnis als Wesenseinsicht oder Wesensschau gefaßt werden
kann. Denn mittels ihrer und ihres rein rationalen Fundaments wird das
Begreifen einer Sache aus ihrer Wesenheit oder aus der Erkenntnis ihrer
75
76
Schau des Wesens, was sich beispielsweise in den Schriften des Gregor von Nyssa, des Scotus
Eriugena oder auch bei Clarenbaldus von Arras und Richard und Hugo von St. Viktor zeigt. Hier ist
allerdings nicht der Ort, dem Begriff der Gottesschau in allen Details nachzugehen. (Vgl. A. H.
Armstrong: „Gottesschau (visio beatifica)”. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Hrsg. von T.
Klauser. Band 12 (Stuttgart 1983) Sp. 1-19, wo sich auch noch weitere Literaturangaben finden.)
Vgl. Nicolaus de Cusa: De aequalitate. Die Gleichheit, III, 370-373.
G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. In: GW 21, 34.
192
nächsten Ursache möglich.77 So wie in der Ethik (II, def. II und X) festgestellt
wird, daß das Wesen eines Dinges das ist, wodurch das Ding als solches gesetzt
wird, ohne das es also weder gedacht noch sein kann, so gilt auch hier, daß eine
Sache nur durch ihre Wesenheit wahrgenommen wird. Allein diese erkennende
Art der Wahrnehmung umfaßt nach Spinoza das adäquate Wesen („essentiam
rei adaequatam“78), ohne daß hierbei die Gefahr des Irrtums bestünde. Wenn
eine Vorstellung nämlich etwas Wirkliches ist, so kommt ihr auch eine
eigentümliche Wesenheit zu, durch die sie erkennbar wird. Die Gewißheit ist
die objektive Wesenheit selbst; sie ist die Art, wie der Mensch die formale
Wesenheit empfindet, sie ist die Gewißheit selbst. Durch den Irrtumsausschluß
und die dadurch garantierte Wahrheit der Wesenserkenntnis ist allein die
Reflexion ausgezeichnet. Hierbei unterscheidet Spinoza mehrere
Reflexionsweisen: Das Reflexionswissen, das es von der Vorstellung des
vollkommensten Wesens gibt, ist vorzüglicher als die reflexive Erkenntnis der
übrigen Vorstellungen, d.h., jene Methode wird die vollkommenste sein, die
nach der Richtschnur der gegebenen Vorstellung des vollkommensten Wesens
zeigt, wie der Geist zu leiten sei.79 Eine Sache kann nur durch ihre Wesenheit
im Rückgriff auf die Wesenserkenntnis Gottes begriffen werden.80
Bei Spinoza gehen demgemäß der theologische Aspekt der Wesensschau,
der für das mittelalterliche Denken von entscheidender Bedeutung war, und der
für die Neuzeit dominierend werdende erkenntnistheoretische und
methodische Aspekt dieses Kognitionsinstrumentariums Hand in Hand, wobei
die vornehmlich bei Dietrich von Freiberg hervorgetretene Betonung der
Individualität – das Individuum ergreift das Wesen einzelner Seiender – bei ihm
erhalten bleibt. Die Gotteserkenntnis fungiert hier zum einen als Bedingung der
Möglichkeit aller Wesenserkenntnis und zum anderen als Ziel aller Wissensund Wahrheitsbestrebungen. Die intuitiv-reflexive Wesensschau ist allerdings
nicht auf sie eingeschränkt, sondern umfaßt das gesamte Gebiet der Sach- und
Dingerkenntnis. Eben hierin erweist sich das Vorgehen Spinozas schon als dem
Husserls ähnlich – wenigstens was den Umfang des durch die Wesensschau zu
77
78
79
80
Vgl. B. de Spinoza: Tractatus de intellectus emendatione. In: Ders.: Opera. Lateinisch und Deutsch,
hrsg. von K. Blumenstock (Darmstadt 1989) II, 16-17.
B. de Spinoza: Tractatus de intellectus emendatione, II, 18-19 sowie 22-23.
Vgl. B. de Spinoza: Tractatus de intellectus emendatione, II, 26-29.
Vgl. B. de Spinoza: Tractatus de intellectus emendatione, II, 70-71.
193
erschließenden Feldes angeht. In diesem Sinne kann Spinoza als erster
moderner Vertreter der Wesensschaumethode gelten, die, wie oben gesagt,
immer weniger den von Aristoteles betonten theologischen und immer mehr
den von Platon akzentuierten ontologisch-erkenntnistheoretischen Interessen
dient.
Schon aus diesem Grund – und dies sei wenigstens anmerkungsartig
erwähnt – fällt die vision beatifique bei Leibniz aus dem Rahmen der
neuzeitlichen Theorie der Wesensschau heraus. Denn Leibniz verbindet sie mit
der Erkenntnis Gottes, die wegen der Unendlichkeit Gottes nie vollständig sein
kann, ohne sie dabei dem Bereich der Dingerkenntnis zu öffnen.81 Diese Gott
zugeordnete Unendlichkeit wird nachfolgend bei Husserl zur Unendlichkeit des
Dings bzw. der Dingerkenntnis, dessen Einheit als eidos in der Wesensschau
erfaßt wird. Hiervon ausgehend läßt sich daher von einer Säkularisierung der
Unendlichkeit oder einer Logifizierung des Wesens in der Geschichte der
Wesensschaumethode sprechen.
Die philosophischen Entwürfe und Systeme nach Spinoza bis hin zu
Hegel vernachlässigen das Phänomen der Wesensschau weitgehend, sie
erörtern es wenigstens nicht unter diesem Namen und wenden sich statt dessen
der teilweise vergleichbaren intellektuellen Anschauung82 zu, wobei auch hier
eine zwischen Ablehnung und Anerkennung bzw. Nutzbarmachung
schwankende Situation zu konstatieren ist. Da Wesensschau und intellektuelle
Anschauung nicht als völlig identisch einzustufen sind, seien hier nur wenige
andeutende Bemerkungen zu letzterer gemacht.
Während die intellektuelle Anschauung für Kant lediglich einen
hinsichtlich des endlichen Verstandes negativen Sinn besitzt, indem sie allein
Gott in seinem Schöpfertum zugesprochen werden kann83, vertreten Fichte
und Schelling in ihren frühen Werken die intellektuelle Anschauung als eine
solche Gegenstandserkenntnis, der im Gegensatz zur Diskursivität des
Verstandes Unmittelbarkeit zukommt. Deshalb wird sich gerade Hegel
entschieden gegen eine solche intellektuelle Anschauung wenden.
81
82
83
Vgl. G. W. Leibniz: Principes de la Nature et de la grace, fondé en raison. In: Ders.: Philosophische
Schriften. Hrsg. von H. H. Holz (Frankfurt am Main 1996) I, 436-439.
Vgl. J. König: Der Begriff der Intuition, a.a.O., 62-90.
Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 68, A 68/B 93, B 148-149 oder A 286-289/B 342-346.
194
Für J. G. FICHTE84 ist die intellektuelle Anschauung das „dem
Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Actes,
wodurch ihm das Ich entsteht“85, wobei die Existenz dieser Anschauung nicht
beweisbar, sondern lediglich als Faktum des Bewußtseins praktisch anwendbar
ist. Damit wird die Freiheit zur Bedingung der intellektuellen Anschauung, die
derart nicht nur als methodisches Instrument des Philosophierens, sondern
vielmehr als Bestandteil des sittlichen Tuns begriffen werden muß.86 Durch die
Betonung der sittlichen Relevanz der intellektuellen Anschauung auch und
besonders für das ausführende Subjekt kommt hier ein Element zum Tragen,
das schon für das Wesensdenken Platons kennzeichnend war: Die auf der Basis
der Wesensschau oder der intellektuellen Anschauung gewonnenen Einsichten
bewirken nicht nur eine Veränderung des Erkenntnisstandes, sondern auch
einen Wesenswandel des ausführenden Individuums. Bei Fichte geht dieser
Veränderungsprozeß so weit, daß durch die neue Einstellung der
Wissenschaftslehre die Philosophie und die Philosophierenden selbst den Weg
zu einer – explizit auch im moralischen Sinne zu verstehenden – besseren Welt
beschreiten.
Eine Vergleichsmöglichkeit mit der Wesensschau ergibt sich
dementsprechend gerade durch die umfassendere Perspektive, in die Fichte die
intellektuelle Anschauung – verbunden mit seinem den Auslöser der frühen
Wissenschaftslehren bildenden Konzept der Tathandlung – stellt: Wesensschau
und intellektuelle Anschauung betonen beide die Veränderungskraft der
entsprechenden Art des Schauens für das Leben des ausführenden
Individuums; und beide heben – man denke hier an Spinoza – den
erkenntnisrelevanten und den methodologischen Aspekt der jeweils
nichtsinnlichen Anschauungsweisen hervor.87 Sogar der vormals in seiner
84
85
86
87
Vgl. J. Barion: Die intellektuelle Anschauung bei J. G. Fichte und Schelling und ihre
religionsphilosophische Bedeutung (Würzburg 1929). – J. Stolzenberg: Fichtes Begriff der
intellektuellen Anschauung (Stuttgart 1986). – A. Philonenko: „Die intellektuelle Anschauung bei
Fichte“. In: Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes.
Hrsg. von K. Hammacher (Hamburg 1981) 91-106.
J. G. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Zweite Einleitung in die
Wissenschaftslehre. In: SW I, 463 – GA I,4, 216.
Vgl. J. G. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Zweite Einleitung in die
Wissenschaftslehre. In: SW I, 467-468 – GA I,4, 219-221.
Auf die enge Verbindung zwischen intellektueller Anschauung und Wesensanschauung macht Fichte
selbst in seinen Logik-Vorlesungen aus dem Jahr 1812 aufmerksam. Vgl. hierzu J. G. Fichte: Ueber
das Verhältniß der Logik zur Philosophie oder transcendentale Logik bzw. Vom Unterschiede
195
Bedeutsamkeit nicht zu unterschätzende theologische Aspekt der Wesensschau
findet sich, obgleich weniger zentral, im Denken Fichtes wieder, indem die
intellektuelle Anschauung auch eine unmittelbare Erfassung Gottes ermöglicht.
So geht Fichte noch in seinen späteren Schriften von einem rein geistigen
Erfassen des Absoluten aus.88
Die Gemeinsamkeiten zwischen der intellektuellen Anschauung bei Fichte
und dem bisher begegnenden Wesensschauphänomen liegen insofern auf der
Hand, denn sowohl die Wesensschau als auch die intellektuelle Anschauung
betonen den Aspekt der Schau, die sie jeweils als Wortbestandteil enthalten.
Durch seine extreme Betonung des Freiheitsmoments im intellektuellen
Anschauen, auf dem letztlich die ganze Wissenschaftslehre und Philosophie
gründen, erweitert Fichte jedoch den Rahmen der Wesensschau, die so nicht
mehr als Gnadenerweis wie bei Augustinus oder Thomas von Aquin, sondern
als Beweis einer philosophischen Erkenntnisfähigkeit zu werten ist. Die
intellektuelle Anschauung des Kantischen Ansatzes wird hiermit gleichermaßen
vermenschlicht und dem wahren Erkenntnisstreben zugänglich, was sein
Pendant unter anderem in der Aufwertung der symbolischen Erkenntnis bei
Maimon89 findet oder auch in der Aufwertung des Anschauens der schaffenden
Natur durch das geistige Tun bei Goethe.
Zur Grundlage der philosophischen Erkenntnis erklärt auch der frühe F.
W. J. von SCHELLING – in Anlehnung an Fichte und nicht zuletzt an Spinoza,
mit dem gemeinsam er die intellektuelle Anschauung als den höchsten dem
Denken erreichbaren Punkt auf dem Weg zur Erkenntnis Gottes erachtet – die
intellektuelle Anschauung90, die ihm die Vereinigung von Sein und Denken
bedeutet und bei ihm ebenfalls auf dem Postulat eines absolut freien Handelns
beruht.91 Wie schon Fichte stellt Schelling einen Bezug zwischen der
intellektuellen Anschauung und der Erkenntnis des Absoluten oder Gottes
88
89
90
91
zwischen der Logik und der Philosophie selbst, als Grundriss der Logik und Einleitung in die
Philosophie. In: SW IX, 275-276 und 287 – GA II,14, 307 und 315-316.
Vgl. J. G. Fichte: Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre. In: SW V, 418 und
438-439 – GA I,9, 68-69 und 85-86.
Vgl. S. Maimon: Gesammelte Werke. Hrsg. von V. Verra, II, 265-270.
Vgl. M. Adam: Die intellektuelle Anschauung bei Schelling in ihrem Verhältnis zur Methode der
Intuition bei Bergson (Patschkau 1926). – J. R. Richter: ‚Intuition’ und ‚Intellektuelle Anschauung’
bei Schelling und Bergson (Ohlau 1929).
Vgl. F. W. J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus. In: SW I, 3, 369.
196
her92, der allerdings mit der Veränderung der Konzeption des Absoluten zu
einem persönlichen Gott in der Freiheitslehre hinfällig wird. Die
Vergleichbarkeit von intellektueller Anschauung und Wesensschau, wie sie
schon bei Fichte sichtbar wurde, bestätigt sich demnach durch die
Ausführungen Schellings nochmals. Sie ähneln mit ihrer Erklärung der
Unmittelbarkeit der intellektuellen Anschauung der Betonung des intuitiven
Erkennens bei Schopenhauer93 wenigstens entfernt, der an vielen Stellen seines
Werks der intellektuellen Anschauung als Vernunft-Anschauung94 seine
negativ-kritische Aufmerksamkeit widmet. In seiner Ablehnung der
intellektuellen Anschauung stimmt Schopenhauer (ausnahmsweise einmal) mit
Hegel überein, der sie ebenfalls als willkürlich verwirft, obwohl er durchaus eine
Erkenntnis des Wesens durch Anschauung annimmt.95
Die Vergleichbarkeit der gewiß nicht unproblematischen intellektuellen
Anschauung mit der Wesensschau dürfte aus diesen wenigen Anmerkungen
trotz der zugegebenermaßen vorhandenen, obzwar nicht unüberbrückbaren
Begriffsdifferenz hervorgegangen sein. Deswegen darf dieses recht spezielle
Instrumentarium der intellektuellen Anschauung mit einigem Recht als eine
Vertretung des Wesensschauterminus in der klassischen deutschen Philosophie
von Fichte bis Schopenhauer gelten.
Die Rückkehr des Begriffs der Wesensschau selbst ist im Werk K. C. F.
KRAUSEs zu beobachten, der die Wesenschauung zu einem methodischen
Zentralmoment seines Denkens macht.96 Hierbei sind es vor allem zwei
Themenkreise, die in engen Zusammenhang mit der Wesensschau gebracht
werden und die beide bereits in dieser Verbundenheit aus dem mittelalterlichen
Denken vertraut sind: Gott und Individuum bzw. Ich. Sowohl Gott selbst als
auch die endlichen Wesen können in der reinen Anschauung des Wesentlichen
erfaßt werden. Hierbei stehen beide Erkenntnisgegenstände in einer
92
93
94
95
96
Vgl. F. W. J. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie. In: SW I, 4, 129.
Vgl. G. Lehmann: Die intellektuelle Anschauung bei Schopenhauer (Bern 1906).
Vgl. A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. In: A. Schopenhauers Werke in fünf
Bänden. Hrsg. von L. Lütkehaus (Zürich 1988) zum Beispiel I, 59-60.
Vgl. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. In: GW 9, 195; Wissenschaft der Logik. In: GW
21, 63.
Vgl. K.-M. Kodalle: „Gewißheit als absolutes Wahrheitsereignis. Das Konzept der ‚Wesenschau’ in
der Metaphysik Karl Christian Friedrich Krauses“. In: Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832).
Studien zu seiner Philosophie und zum Krausismo. Hrsg. von K.-M. Kodalle (Hamburg 1985) 53-71.
197
ausgezeichneten Relation: Das Wesentliche in Gott ist nämlich das Ur- oder
Erstwesentliche, und das Urwesentliche eines jeden endlichen Wesens ist daher
als ein begrenztes Teilwesentliches im Urwesentlichen Gottes zu begreifen. Die
eine Wesensschauung bedingt folglich die andere, das Wesen des einen (also
Gottes) die des anderen (nämlich der endlichen Wesen).97
In seinen Vorlesungen über das System der Philosophie erweitert Krause das Feld
der Wesensschau um einen Aspekt, der schon für die Platonische und die
Aristotelische Philosophie bedeutsam war, ohne sich doch auf allen
nachfolgenden Stufen der Auseinandersetzung in seiner Relevanz für die
Philosophie insgesamt zu erhalten: um den Aspekt der Wissenschaftlichkeit, der
ja das gesamte transzendentalphilosophische und transzendentalidealistische
Denken von Kant an prägt und nicht nur für Fichte, Schelling, Hegel, Reinhold
oder Kiesewetter von entscheidender Bedeutung ist, sondern auch für die
gesamte Phänomenologie Husserls mit ihrer Absicht, die sogenannte Erste
Philosophie zur ersten und führenden Wissenschaft, zum Garanten für
Wissenschaftlichkeit generell zu machen.
Dieses Wissenschaftsinteresse Krauses geht einher mit seiner Behandlung
des Ich, das sich selbst zum wissenschaftlichen Gegenstand macht, wobei auch
hier die Parallelität besonders zu Fichte nicht zu übersehen ist. Die Gewißheit
aller anderen Wissenschaften – etwa der Mathematik – ist nach Krause durch
die Gewißheit des Ich vermittelt, wozu es der Erfassung der Grundwesenheit
des Ich in reiner Wahrnehmung bedarf – ein Gedanke, der die Zentralstellung
der intellektuellen Vorstellung des Ich der transzendentalen Apperzeption bei
Kant wieder aufnimmt und weiterführt.98 Als problematisch erweist sich
allerdings hier, daß Krause das Ich als Wesen versteht, ohne den Wesensbegriff
selbst zu definieren und aufzuklären, den er lediglich in Form eines Postulats
einführt, dessen Gedanke von jedem Philosophierenden selbst gefaßt werden
müsse.99 Auf diese Weise entzieht sich das Wesen als das Absolute, das
begriffen werden soll, der allgemeinen Verständlichkeit, so daß die
Wesensschau ebenso zu einer Gabe an die philosophischen Sonntagskinder zu
werden droht wie die intellektuelle Anschauung bei Fichte, Schelling oder
97
98
99
Vgl. K. C. F. Krause: Das Urbild der Menschheit (Leipzig ³1903) 3 und 325.
Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 423.
Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie (Göttingen 1828) 49.
198
Reinhold. Daß der Anfang einer Grundlegungsbewegung mit einem Postulat
gemacht werden kann, hat etwa Fichte mit seiner Wissenschaftslehre von 1794
bewiesen. Daß diesem Postulat aber keine generelle, nicht einmal eine intuitive,
sondern nur eine zufällige Verstehbarkeit anhaftet, macht ein solches Vorgehen
zumindest schwierig. Dennoch muß anerkannt werden, daß Krause diese
Schwierigkeit auf sich nimmt, um der Zirkelhaftigkeit eines Anfangs zu
entgehen, der seinen Inhalt bereits voraussetzt. Denn ein positiver Zirkel, wie
er aus Fichtes oder später etwa aus Heideggers Philosophie bekannt ist, kommt
für Krause offenbar nicht in Frage. Für die Wesenheit kann es deshalb Krause
zufolge keine Definition geben, weil eine solche Definition immer schon eine
gedankliche Erklärung der Wesenheit voraussetzte.100 So gilt nur sehr allgemein
und geradezu tautologisch: „Wesenheit ist das, was ein Wesen west und ist“101.
Um trotz seiner terminologischen Offenheit einen Zugang zum Wesen zu
finden, bedarf es nach Krause der Wesenschauung als einer besonderen Art der
Erkenntnis. Da Gott und Wesen hierbei gleichbedeutend aufzufassen sind, geht
es der Wesenschauung nicht um die Erkenntnis des endlichen Individuellen,
sondern um die Erkenntnis Gottes, die diejenige des Endlichen mitbefaßt. In
diesem Wesenschauen werden darum nicht nur Gott und Welt wirklich,
sondern auch die Wissenschaft.102 Wissenschaft besteht für Krause somit in der
Erkenntnis des Verhältnisses des Ich bzw. des endlichen Vernunftwesens und
der Welt zum Wesen, zu Gott, mittels der reinen und ganzen
Wesenschauung.103 Die Orientierung des allgemeinen Charakters von
Wissenschaft am Vorbild von Mathematik und Naturwissenschaft wird damit
von Krause in einer Weise aufgebrochen, die eine Erweiterung des
Wissenschaftsverständnisses hin zu Kultur- und Geisteswissenschaft zumindest
erahnen läßt und auch deren Fundiertheit im philosophischen Wissen von
vornherein festlegt.
Wie schon Fichte die Verbindung von intellektueller Anschauung sowie
von Philosophie und Freiheit betont, so kettet auch Krause die Freiheit des Ich
als Grund seiner Selbstbestimmung zum Guten eng an die Wesenschauung,
100
101
102
103
Dem entspricht die von Kant betonte Unmöglichkeit einer Definition der Kategorien.
K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 172.
Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 226.
Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 248.
199
wobei er indes Grund und Ursache der Freiheit in Gott sieht. Dieser
Zusammenhang ist deshalb um so faßlicher, da ja Wesen und Gott
gleichzusetzen sind, so daß gilt: Das Wesen ist Grund und Ursache der
Wesensschau. Auch die Metaebene gewinnt hierdurch an Klarheit, denn nach
Krause ist Gott als das Wesen Grund und Ursache meines Gottbewußtseins,
was ebenfalls in der Wesenschauung erkannt wird.104 Hierbei gilt nicht nur, daß
Gott sich dem Menschen in der Wesenschauung zu erkennen gibt, sondern
auch, daß damit zugleich alle auf dem Weg der Wesensschau Gottes
erworbenen Begriffe wissenschaftlich abgesichert werden. Derart erfährt alle
besondere Wissenschaft ihre Begründung in der Wesenschauung.105 Mit der
Wesensschau ist also nicht nur Wissenschaftlichkeit, sondern auch eine
aufsteigende Erkenntnisbewegung verbunden. Die endliche Erkenntnis erlangt
daher für Krause auch Gottähnlichkeit – ein schon von früher behandelten
Autoren in Verbindung mit der Wesensschau häufig verwendetes Prädikat –,
weil und insofern sie zwei Richtungen aufweist: (a) die synthetische Ausführung
der Wesenschau; (b) die Erforschung des unmittelbar gegebenen Endlichen.106
Außerdem werden erst innerhalb der Wesenschauung Deduktion, Intuition und
Konstruktion als Vereinigung der beiden anderen möglich.107
Mit Krauses Ausführungen liegen die modernen Entwicklungslinien der
Wesensschau schon in weitreichenden Ansätzen vor. Sowohl die
Intuitionslehre Bergsons als auch die phänomenologische Wesensschaulehre
Husserls finden hier eine zeitlich vorausliegende Parallele, die insonderheit für
Husserl am Methodenaspekt (wozu gerade die synthetische Ausführung
beiträgt) und an der Richtung auf die endlichen Dinge manifest wird108 – neben
der Grundgemeinsamkeit eines Strebens nach Verwissenschaftlichung der
Philosophie109, auch wenn dies auf durchaus unterschiedliche Weise umgesetzt
wird.
104
105
106
107
108
109
Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 258.
Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 305, 310 und 313.
Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 323.
Vgl. K. C. F. Krause: Vorlesungen über das System der Philosophie, 338.
Vgl. P. Janssen: „Schau als Methode bei Krause und Husserl“. In: Karl Christian Friedrich Krause.
Hrsg. von K.-M. Kodalle, a.a.O., 42-52.
Vgl. K. C. F. Krause: Der Begriff der Philosophie. Aus dem handschriftlichen Nachlaß des
Verfassers, hrsg. von P. Hohlfeld und A. Wünsche (Leipzig 1893) 108.
200
Im Gegensatz zur auch inhaltlichen Übereinstimmung zwischen Krause
und Husserl erweist sich die Parallelität mit H. BERGSON als vorwiegend
nominal-begrifflich, indem sie ihren Ausgang vom beiderseits eingesetzten
Begriff der Intuition nimmt. Eben diese Intuitionslehre ist es, die Bergson für
den Kontext der Wesensschaubetrachtung, nicht direkt für die
Begriffsentwicklung selbst, interessant macht. Ganz grundsätzlich stellt Bergson
– etwa in seinem Vortrag „Die philosophische Intuition“ – eine gewisse
Verbindung zwischen dem Wesen der Philosophie und ihrem Aktcharakter her,
die ihn zumindest als einen am Rande der Thematik der Wesensschau sich
bewegenden Autor ausweist. Philosophieren ist für Bergson immer ein
einfacher Akt; er entspringt geradezu aus dem Geist der Vereinfachung und
führt damit zum Wesentlichen.110 Diesem Bezug zum Wesentlichen, zuvor
nicht Erkannten, eventuell sogar Fremden oder Ich-Fremden, dient vorrangig
die intuitive Erkenntnisweise, die Bergson zur philosophischen Methode
erhebt, was der modernen Entwicklungsrichtung des Begriffs der Wesensschau
korrespondiert. Hierbei ordnet er die Intuition dem insbesondere durch die
Zeit geprägten lebensphilosophischen Gesamtzusammenhang ein; denn um
von der Begrifflichkeit zur unmittelbaren Schau, vom Relativen zum Absoluten
zu gelangen, darf man sich nicht außerhalb der Zeit begeben, sondern muß sich
in die wahre Dauer zurückversetzen und die Wirklichkeit, die ihr Wesen ist,
wieder ergreifen.111 Aufgrund dieses regelrecht virtuosen Umgangs der Intuition
mit den zeitlichen Modi kann sie als direkte Schau des Geistes durch den Geist
erfaßt werden112 – allerdings eine Schau, die Bergson in bewußter Abgrenzung
gegen Schelling und damit gegen die Theorie der intellektuellen Anschauung
entwickelt.
Als solcherart direkte Schau und unmittelbares Bewußtsein unterscheidet
sich die Intuition kaum von dem ihr koinzidierenden Gegenstand, so daß
Bergson auf der Ebene der Lebensphilosophie nahezu die Überwindung des
Subjekt-Objekt-Gegensatzes gelingt – aber eben nur nahezu, da Ich und
Ichfremdes letztlich einander doch unvermittelt gegenüberstehen, obgleich ihr
110
111
112
Vgl. H. Bergson: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Übersetzt von L. Kottje,
mit einer Einführung hrsg. von F. Kottje (Meisenheim am Glan 1948) 145.
Vgl. H. Bergson: Denken und schöpferisches Werden, 43.
Vgl. H. Bergson: Denken und schöpferisches Werden, 44.
201
Abstand voneinander minimal geworden ist, ohne daß eine durch das Denken
vollzogene und zu leistende Vermittlungs- und Identifizierungsbewegung, wie
etwa die spekulative Dialektik Hegels sie bieten will, ausgeführt und bis zur
letzten Einheit gebracht würde. Die Intuition erfaßt zwar den Geist, die Dauer,
die reine Veränderung, aber wegen ihrer Zeitlichkeitsgebundenheit mangelt ihr
das den transzendentalen Idealismus von Kant an prägende Streben nach
Einheit oder, wie Hegel sagt, nach Versöhnung. Nur durch den Strom der Zeit
entsteht Einheitlichkeit, wenn auch keine Einheit; und in ihm ergreift sich der
Gegenstand der Metaphysik, der Geist, in der Methode der Intuition.113 In
dieser expliziten Verbindung von Intuition und Methode ist die hauptsächliche
Übereinstimmung zwischen Bergson und Husserl zu sehen, in dessen
Phänomenologie das Instrumentarium der Wesensschau von größter
Bedeutsamkeit – auch im Vergleich zur bisher betrachteten Geschichte dieses
Begriffs – sein wird.
Bei E. HUSSERL finden sich ein radikaler Bruch mit der Tradition der
Wesensschau und ein Neuansatz zur Verwendung dieses Terminus, insofern
bei ihm die theologische Dimension desselben aufgegeben wird – und zwar
zugunsten einer reinen Methodisierung der Wesensschau, die als Instrument
einer auf eidetisch-phänomenologische Einsichten abzielenden Philosophie
eingesetzt wird.114 Zugleich finden sich bei Husserl mannigfache inhaltliche
Übereinstimmungen und Koinzidenzen mit seinen Vorgängern. So ist
beispielsweise mit der Betonung der Relevanz der Wesensschau als Bestandteil
des philosophischen Forschens und seines methodischen Vorgehens eine
Kongruenz zwischen Platon und Husserl zu beobachten, denn auch für
ersteren mündet die Wesensschau in Wissenschaft und dient damit nicht nur
einem allgemeinen, sondern auch ganz besonders dem philosophischen
Erkenntnisstreben, das durch sein methodisches Fundament für sich
wissenschaftliche Sicherheit beanspruchen kann. Hier kann es nun nicht darum
gehen, der Husserlschen Wesensschautheorie in all ihren Details gerecht zu
werden – dazu bedürfte es umfangreicherer, teilweise schon geleisteter
113
114
Vgl. H. Bergson: Denken und schöpferisches Werden, 46-49.
Hierbei erweist Husserl sich auch als unabhängig von seinem Lehrer Brentano, bei dem sich der
Begriff der Wesensschau nicht findet, obwohl er den Wesensbegriff – insbesondere im
Zusammenhang seiner Aristoteles-Interpretationen – im Rückgang auf den griechischen Terminus
‚οὐσία/ousia’ thematisiert.
202
Sonderuntersuchungen.115 Statt dessen sollen die Hauptzüge dieser Theorie
insoweit angesprochen werden, als sie das Eigenständige und Neue des
Husserlschen Ansatzes innerhalb der in diesem Aufsatz nachzuzeichnenden
Entwicklungsstationen des Begriffs der Wesensschau zum Ausdruck bringen.
Schon in den Logischen Untersuchungen gewinnt der Terminus ‚Ideation’ für
das zu diesem Zeitpunkt noch primär eidetisch geprägte phänomenologische
Forschen Husserls eigene Relevanz116, das sich bis zu den Ideen I zu einem
überaus komplexen Methodenapparat steigert. Indem es der Phänomenologie
um einen unverstellten, von allen Vormeinungen und allen Seinssetzungen
freien Zugang zu den Dingen und zu den ihnen innewohnenden apriorischen
Strukturen geht, bedarf sie eines eigenen methodischen Vorgehens, das
ausgehend von einem konkreten oder auch einem Phantasiegegenstand durch
beständige Variation des Ausgangsmaterials das innerhalb des
Variationsprozesses sich Gleichbleibende, mithin das Wesen, zu erkennen gibt.
Die Wesensschau als Methode der eidetischen Variation, die ihrerseits
Bestandteil des reduktiven Verfahrens der Phänomenologie ist, führt also zum
Eidos als einem neuen Gegenstand, der auf besondere Weise angeschaut und
dadurch zum Bewußtseinsphänomen werden kann.117 Auf dieser Methode der
Wesensschau gründen nach Husserl auch die eidetischen oder
Wesenswissenschaften118,
wie
etwa
Logik,
Mathematik
oder
phänomenologische Philosophie. Indem diese Wissenschaften rein eidetisch
verfahren, verwirklichen sie das praktische Ideal exakter methodischer
Wissenschaft.119 Wesens- und empirische Wissenschaften differieren also stark
voneinander, wobei Husserl jedoch ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis der
115
116
117
118
119
Vgl. hierzu beispielsweise J. Geyser: „Über Begriffe und Wesensschau“. In: Philosophisches
Jahrbuch 39 (1926) 8-44 und 128-151. – J. König: Der Begriff der Intuition, a.a.O., 290-367. – H.-H.
Grundwaldt: Über die Phänomenologie Husserls mit besonderer Berücksichtigung der Wesensschau
und der Forschungsmethode des Galileo Galilei (Berlin 1927). – A. Reinach: Was ist
Phänomenologie? Mit einem Vorwort von H. Conrad-Martius (München 1951) 25 und 50-53. – G.
Ebel: Untersuchungen zu einer realistischen Grundlegung der phänomenologischen Wesensschau
(Diss., München 1964). – J.-J. Meister: Wesen und Bewußtsein. Untersuchungen zum Begriff des
Wesens und der Wesensschau bei Edmund Husserl (Diss., München 1967). – K.-H. Lembeck:
Einführung in die phänomenologische Philosophie (Darmstadt 1994) 31-35.
Vgl. E. Husserl: Logische Untersuchungen. In: Hua XIX/2, 765.
Vgl. E. Husserl: Ideen I. In: Hua III/1, 13-16.
Reine Anschauung als Wesenserschauung ist für Husserl eine methodische Grundlage der
Phänomenologie, die aus diesem Grund eben keine Tatsachen-, sondern eine Wesenswissenschaft ist.
(Vgl. E. Husserl: Aufsätze und Vorträge (1911–1921). In: Hua XXV, 110.)
Vgl. E. Husserl: Ideen I. In: Hua III/1, 21.
203
letzteren von den eidetischen Wissenschaften konstatiert120, das sich noch
dadurch verstärkt, daß generell alle Einzeldisziplinen von der einen Grundbzw. Grundlegungswissenschaft, der Phänomenologie, und ihrer
transzendentalen Ausprägung abhängen, wenn sie für sich den Charakter der
Wissenschaftlichkeit beanspruchen wollen.
Auch Erfahrung und Urteil thematisiert die Methode der
Wesenserschauung, derweil hier zum einen der Variationscharakter derselben
noch stärker herausgearbeitet wird, so daß die Bestimmung des Wesens als
eines notwendig Invarianten ausnehmend deutlich faßbar wird, und zum
anderen der Konnex zwischen dem allgemeinen Eidos und der Idee im
Platonischen Sinne seinen Ausdruck findet.121 Auf diese Weise stellt Husserl
selbst die Verbindung zum ersten Denker der Wesensschau als Methode,
mithin zu Platon, her, mit dem gemeinsam er die Schau der Ideen anstrebt, die
wie bei jenem durch ihre Durchführung sowohl den derart Schauenden und
seine Erkenntnis verändert als auch der Wahrheitsfindung und
Wissenschaftlichkeit der Philosophie dient. Durch das mit der Wesensschau
verbundene Wahrheitsinteresse ergibt sich nicht nur eine Gemeinsamkeit
zwischen Husserl und Platon, sondern auch zwischen Husserl und Thomas von
Aquin, der die visio essentiae als Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit
begreift, so daß in seinem Denken die drei immer wieder auftretenden
Bedeutungen und Bezugspunkte der Wesensschau – Wissenschaft, Glaube und
Wahrheit – erstmals zusammenlaufen, um dann in der Folgezeit einzeln oder
paar- bzw. gruppenweise bei fast allen Wesensschaureflexionen wiederum
hervorzutreten. Die bei Platon und Thomas vorliegenden Ansätze werden
somit von Husserl zwar nicht bewußt in sein Forschen aufgenommen, finden
aber in ihm doch ihre sachnotwendige Fortsetzung. Auch ein anderes Motiv,
das häufig mit der Ausführung der Wesensschau verbunden auftrat – etwa bei
Fichte oder Krause –, findet sich bei Husserl wieder: das der Freiheit. Denn im
Gegensatz zur Erfahrung von Individuellem erweist sich in der Erschauung der
Wesen die Freiheit des Schauenden, der sich im freien Erzeugen der
120
121
Vgl. E. Husserl: Ideen I. In: Hua III/1, 22.
Vgl. E. Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Hrsg. von L.
Landgrebe, mit Nachwort und Register von L. Eley (Hamburg 1985) 411.
204
Variationsmannigfaltigkeit seiner eigenen denkerischen Unabhängigkeit bewußt
werden kann122 ; durch Freiheit wird Einheit aus Unendlichkeit produziert.
In seiner Phänomenologischen Psychologie verdeutlicht Husserl wiederum zwei
weitere, bisher nur angesprochene Aspekte der Wesensschau: ihren Bezug zum
Apriori und ihre mögliche Bindung an die freie Phantasietätigkeit. Um die
methodische Variation ausführen zu können, die zum Eidos als dem
Invarianten führt, ist der Einsatz der Phantasie als Medium der Variation
unabdingbar, die in beständiger Orientierung am Ausgangs- oder Urbild immer
neue ähnliche Bilder, als Phantasiebilder, schafft, die erst das Wesen als Idee zu
erkennen geben. Zusätzlich gesteigert wird die für die Phänomenologie
insgesamt feststellbare außergewöhnliche Relevanz der Phantasie noch
dadurch, daß zum Anfangspunkt der Wesensforschung nicht nur ein
Erfahrungsgegenstand, sondern ebensogut ein Phantasieprodukt dienen
kann.123 Die derart erzielten Wesenheiten dienen in ihrer Feststellung
invarianter Grundstrukturen nicht nur der Gewinnung einer reinen
Allgemeinheit, sondern ebenfalls der Erschauung des Apriori, mithin der
jedwedem Erkennen als Bedingung seiner Möglichkeit innewohnenden
Ordnung.124 Die Wesensschau eröffnet somit den Zugang zu den aller
Erfahrung zugrundeliegenden Formen, d.h. zu Raum, Zeit und Kausalität, die
sich gerade dadurch als erfahrungsunabhängig erweisen. Husserl erzielt mithin
durch das Mittel der Wesensschau einen Beweis nicht nur der Notwendigkeit
der Annahme reiner Anschauungs- und Begriffsformen, sondern darüber
hinaus der transzendentalen Wendung der Philosophie als Bedingung ihrer
Wissenschaftlichkeit, so daß er als Weiterführer des Kantischen Ansatzes
angesehen werden muß.125
Mit den gegebenen Anmerkungen zu Husserl sind weder all seine
Aussagen zur Wesensschau verarbeitet, noch konnten alle relevanten Texte
herangezogen werden – man denke nur an seinen Logos- oder an die Kaizo122
123
124
125
Vgl. E. Husserl: Erfahrung und Urteil, 416.
Vgl. E. Husserl: Phänomenologische Psychologie. In: Hua IX, 72-73.
Vgl. E. Husserl: Phänomenologische Psychologie. In: Hua IX, 86-87.
Zum Begriff der Wesensschau bei Husserl vgl. auch T. W. Adorno: Zur Metakritik der
Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien. Hrsg. von G.
Adorno und R. Tiedemann (Frankfurt am Main 1990) 102-103, wo Adorno über die Bezüge zwischen
Husserl und Kant hinaus auch auf eine Parallelität zwischen Erstgenanntem und Freud aufmerksam
macht.
205
Artikel oder einige Passagen der Formalen und transzendentalen Logik. Dennoch
bieten sie Einblick in das Neue, wenngleich auch Traditionsgebundene des
Husserlschen Wesensschaukonzepts. Indem und weil Husserl den theologischreligiösen Aspekt der Wesensschau als Gottesschau, wie er im gesamten
Mittelalter, besonders deutlich bei Nikolaus von Kues, im Vordergrund stand,
völlig ausblendet und dafür dem methodischen Moment der eidetischen
Variation den Vorzug gibt, geht er den Weg der Logifizierung der Philosophie
konsequent zu Ende. Die Befreiung der Philosophie von theologischen
Prämissen und die Betonung der Selbständigkeit der Methode und damit ihrer
selbst entlasten die Philosophie nicht nur von Einwänden teleologischer
Vorbelastetheit, wie sie zum Beispiel gegen Descartes oder Berkeley mit ihren
Versuchen eines Gottesbeweises erhoben werden können, sondern dienen auch
dem Beweis der Wissenschaftlichkeit dieser Disziplin, die damit auch zum
Garanten der Wissenschaftlichkeit der Einzeldisziplinen wird. Die
Verselbständigung der Methode innerhalb der Phänomenologie und ihre
nahezu vollständige Identifizierung mit der Philosophie insgesamt heben die
Wesensschau als Bestandteil dieser Methode auf ein zuvor nicht erreichtes
Niveau, so daß offen zutage tritt, weshalb sie meist ausschließlich mit der
phänomenologischen Forschung in Verbindung gebracht wird.
Die Terminologie der Wesensschau bleibt auch nach Husserl im 20.
Jahrhundert von Bedeutung – und dies nicht nur bei Schülern und
phänomenologischen Nachfolgern Husserls, auf die sogleich noch einzugehen
sind wird. – Bei A. N. WHITEHEAD beispielsweise ist im Gegensatz zu Husserl
wieder eine Rückkehr zur Verbindung von Wesensschau und Gotteserkenntnis
festzustellen. Allerdings wird bei ihm der Terminus ‚Vision’ bzw. ‚Wesensschau’
(envisagement) nicht mehr dem Gottsuchenden, sondern Gott selbst beigelegt,
um Gottes Unabhängigkeit von den als unrein zu erachtenden intellektuellen
Denkvorgängen anzuzeigen.126 Die Wesensschau Gottes, d.h. als von Gott
ausgeführt, erweist sich auch bei Whiteheads Theorie der ‚eternal objects’ als
zeitlosen Gegenständen als bedeutsam, die zwar in Abgrenzung gegen die
Platonischen Ideen, aber doch in engem Zusammenhang mit ihnen so benannt
126
Vgl. A. N. Whitehead: Process and Reality. An Essay in Cosmology. Hrsg. von D. R. Griffin und D.
W. Sherburne (New York/London 1978) 34. – So kann die Wesensschau seit Platon auch als Inbegriff
der Reinheit und Vollständigkeit der Erkenntnis gelten.
206
werden. Indem Gott eine vollständige Wesensschau (complete envisagement)
dieser zeitlosen Gegenstände eignet, ergibt sich seine Unabhängigkeit vom
gegebenen Geschichtsverlauf, der zwar die Urnatur Gottes voraussetzt, ohne
daß umgekehrt Gott auf ihn angewiesen wäre. Da die wirklichen Einzelwesen
(actual entities) nicht über diese umfassende Wesensschau verfügen, ist ihre
Erkenntnissphäre begrenzt und geschichtsabhängig.127 Das Neue an
Whiteheads Theorie ist sonach die Art der Verbindung Gottes mit der
Wesensschau: In ihr wird nicht mehr Gott aus der Perspektive des endlichen
Wesens geschaut, sondern Gott selbst schaut in ihr die zeitlosen Gegenstände,
was zugleich als Weiterführung Platonischen Gedankenguts, besonders des
Phaidros, zu verstehen ist. Während in früheren, vor allem in den
mittelalterlichen Ansätzen die Wesensschau als eventuell begrenzter Zugang zu
Gott aufgefaßt wurde, ist sie bei Whitehead zum unbegrenzten Wissen Gottes
um die ‚Ideen’ geworden – ein trennender Faktor zwischen der endlichmenschlichen Sphäre und derjenigen Gottes bleibt sie in beiden Fällen, wenn
auch jeweils aus entgegengesetzten Richtungen gedacht.
Anders sieht es in dieser Hinsicht bei den direkten Nachfolgern Husserls
aus, die die Methode der Wesensschau in ihren (phänomenologischen)
Fortsetzungen seiner Arbeiten beibehalten. So kommt dieser Methode etwa in
den Untersuchungen M. SCHELERs eine bedeutsame Stellung zu. Ebenso wie
Husserl betont auch Scheler das Zufällige und die Abhängigkeit von der
Phantasie am Anfang der Wesensschau bzw. des ideierenden Aktes, der
irgendeine beliebige Tatsache zu einem Exempel für eine an ihr erfaßbare
essentielle Struktur machen kann. Durch diesen Ausgang von Beispielen
werden die wesenhaften Beschaffenheiten und Aufbauformen der Welt und
ihrer Wesensregionen zugänglich. Und die derart gewonnenen Einsichten
gelten in unendlicher Allgemeinheit von allen möglichen Dingen desselben
Wesens und für alle möglichen geistigen Subjekte, die über dasselbe Material
nachdenken, ja sie gelten für alle möglichen Welten, mithin a priori.128 Scheler
nimmt hier sonach die Vorstellung Husserls vom Wesen als dem Invarianten,
das die Grundstrukturen der Welt und der Welterkenntnis offenbart und die
127
128
Vgl. A. N. Whitehead: Process and Reality, 44.
Vgl. M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos (Bern/München 81975) 50-51.
207
dafür erforderlichen apriorischen Denkformen an die Hand gibt, wieder auf.129
Ebenso folgt er Husserl in der Feststellung der Relevanz der Wesensschau für
die positiven Wissenschaften und deren Wissenschaftlichkeit sowie für die
philosophische Metaphysik, die freilich für ihn – in Anlehnung an Hegel und in
Weiterführung seines Denkens – die Aufgabe und das Ziel der Erkenntnis des
absolut seienden Seins hat, so daß Wesenserkenntnisse schließlich ‚Fenster ins
Absolute’ genannt werden können.130
Scheler bewegt sich hier in einem sehr weiten philosophisch-historischen
Rahmen, innerhalb dessen besonders der Einfluß von Leibniz hervorsticht.
Denn die Wesenseinsichten gelten nicht nur für alle möglichen Welten, d.h., sie
erfüllen nicht nur ein von Leibniz her bekanntes logisches Kriterium, das die
notwendige Voraussetzung wahrer Behauptungen darstellt, sondern durch das
Mittel der Wesensschau wird zugleich die Monadenlehre Leibniz’ in einer Weise
erweitert, die es erlaubt, davon zu sprechen, daß den Monaden in ihrem
ideierenden Tun Fenster entstehen, mit deren Hilfe sich ihnen die Welt und
eben die genannten möglichen Welten auf absolute Weise eröffnen. Diese
Veränderung der Monadenlehre Leibniz’, die auch eine Revision der
Anknüpfung Husserls an diesen Denker impliziert, hat ihren Grund wohl in der
Unabhängigkeit des Schelerschen Ansatzes von religiös-theologischen
Intentionen, welche die Konzeption einer prästabilierten Harmonie durch die
Gnade Gottes überflüssig macht. Scheler läßt nur noch die Vernunft als
Fähigkeit zur Bildung immer neuer Denk-, Anschauungs-, Liebes- und
Wertungsformen zu.131
Im Gegensatz zu Husserl vertritt Scheler gleichwohl einen andersgearteten
Realitätsbezug des ideierenden Aktes. Für ihn ist das Realitätserlebnis der
Widerstandserfahrung der menschlichen Vorstellung wegen der Welt nicht
nach-, wohl aber vorgeordnet. Deshalb kann die Ideation nicht nur die
Zurückhaltung des Existenzurteils sein, sondern sie ist als versuchsweise
Aufhebung des Realitätsmomentes selbst zu begreifen. Zum Vollzug der
129
130
131
Auf den Zusammenhang zwischen Wesensschau und Apriorität geht auch N. Hartmann in seinen
Grundzügen einer Metaphysik der Erkenntnis (Berlin ³1941) ein. In diesem Buch findet sich zudem
eine Theorie der Intuition (502-504), die stark methodisch geprägte Züge aufweist. Hartmann wendet
sich zudem der Phänomenologie und ihrer Aktanalyse zu, die er etwa auf S. 523-524 kritisiert.
Vgl. M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 51.
Vgl. M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 52.
208
Wesensschau ist daher auch für Scheler der freie Wille des Geistes erforderlich,
der den Zugang zum Wirklichsein des Wirklichen anstrebt.132
Die Hauptdifferenz zu Husserl und die Neuerung des Schelerschen
Wesensschaubegriffs ist wohl in der ethischen Perspektive der Wesenserkenntnis
zu sehen. Bekanntermaßen vertritt Scheler das Konzept einer materialen, auf
Tatsachen beruhenden Ethik, die im Gegensatz zur formalen Ethik frei von
Induktion ist und trotz ihres Tatsachenbezugs nicht willkürlich, sondern a
priori ist in dem Sinne, daß ihre Sätze evident sind und durch Beobachtung und
Induktion weder nachgewiesen noch widerlegt werden können. A priori sind
mithin jene Sätze, die durch den Gehalt einer unmittelbaren Anschauung zur
Selbstgegebenheit kommen – und eine derartige Anschauung ist nach Scheler
als Wesensschau oder als phänomenologische Anschauung bzw. Erfahrung zu
begreifen.133 Die Wesensschau ist notwendig, um einen vorgegebenen Gehalt
überhaupt beobachten zu können, woraus die Unabhängigkeit des Gehalts der
Wesensschau von dem aller möglichen Beobachtung und Induktion resultiert,
was eben die unabdingbare Voraussetzung für eine gelingende Ethik ist.134
Diese Ethik ist die urteilsmäßige Formulierung dessen, was in der Sphäre der
sittlichen Erkenntnis gegeben ist. Sie ist philosophische Ethik, wenn sie sich auf
den apriorischen Gehalt des in der sittlichen Erkenntnis evident Gegebenen
beschränkt.135 Das Neue an Schelers Bestimmung und Verwendung der
Wesensschau kommt genau in diesem ethischen Aspekt der
phänomenologisch-philosophischen Forschung zum Ausdruck, durch den er
insbesondere den Husserlschen Ansatz erweitert und variiert, mit dem
gemeinsam er dennoch am Methodenprimat der Ideation festhält.136
Am Methodencharakter orientiert sich auch die Untersuchung der
Wesensschau bei M. HEIDEGGER, der streng zwischen der
naturwissenschaftlichen und der phänomenologischen Analyse differenziert, die
132
133
134
135
136
Vgl. M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 54-56.
Vgl. M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der
Grundlegung eines ethischen Personalismus. Hrsg. mit einem Anhang von M. Scheler
(Bern/München 51966) 67-68.
Vgl. M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 69.
Vgl. M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 88.
Vgl. zu einem besonderen Aspekt der Wesensschau bei Scheler: B. Lorscheid: Das Leibphänomen.
Eine systematische Darbietung der Schelerschen Wesensschau des Leiblichen in der
Gegenüberstellung zu leibontologischen Auffassungen der Gegenwartsphilosophie (Bonn 1962).
209
beide jeweils ganz verschiedenen Objektbereichen und Seinsgebieten
zuzurechnen sind. Da die Phänomenologie Bewußtseinsforschung ist und ihre
Forschungsgegenstände nicht primär der Natur entlehnt, kann auf sie auch
nicht die Methode der naturwissenschaftlichen Befragung angewandt werden.
Die ihr als Eidetik angemessene Methode ist daher allein die
Wesenserschauung, die einzig den Anforderungen der Bewußtseinsbetrachtung
genügt. Allein sie ist dazu in der Lage, diejenigen idealen Zusammenhänge
aufzuweisen, die zum Entstehen von Wissenschaft erforderlich sind, weil nur
sie eine gesicherte Basis des Erkennens bilden.137 Heidegger weist mit
besonderer Schärfe auf die Zusammengehörigkeit des methodischen
Instruments
der
Wesensschau
mit
der
transzendentalen
und
bewußtseinsmäßigen Wende in der Phänomenologie Husserls hin, indem er auf
die Entwicklung der Wesensschau bei Husserl aufmerksam macht, die in den
Logischen Untersuchungen zunächst nur ansatzweise gegeben und dann erst mit der
Behandlung des transzendentalen Bewußtseins in vollem Umfang vorhanden
ist.138
Da Heidegger gerade hinsichtlich der Transzendentalität des Bewußtseins
vom Husserlschen Weg abweicht – was etwa der Ansatz von Sein und Zeit
beweist –, kann seine Einstellung zur Wesensschau nur als eine historische
Auseinandersetzung und nicht zuletzt als eine durch seine Vorlesungstätigkeit
bedingte Rezeption der Phänomenologie Husserls gewertet werden, aber nicht
als selbständige und produktive Fortsetzung der Intentionen seines Lehrers, wie
sie sich bei Scheler ergab. Dies bedeutet natürlich nicht, daß Heidegger auch
nicht der phänomenologischen Bewegung zuzurechnen wäre – so vielgestaltig,
divergent und in sich widersprüchlich diese auch sein mag.
Zum Abschluß der Darstellung der bisherigen Entwicklungsgeschichte
des Begriffs der Wesensschau in ihren Hauptetappen sei noch in aller Kürze
und keineswegs erschöpfend auf die Verwendung dieses Terminus in der
französischen Phänomenologie verwiesen, die sich ebenfalls selbstredend auf
Husserl und seine Methode bezieht. Hierzu sei eine kleine Auswahl von
Autoren knapp präsentiert.
137
138
Vgl. M. Heidegger: Einführung in die phänomenologische Forschung. In: GA 17, 70.
Vgl. M. Heidegger: Einführung in die phänomenologische Forschung. In: GA 17, 80.
210
J.-P. SARTRE139 geht bei seiner Analyse der Erscheinung, die er mit dem
Wesen identifiziert, das als Band in der Erscheinungsreihe selbst Erscheinung
ist, so daß ein Wechselverhältnis zwischen Wesen und Erscheinung festgestellt
werden kann, auf die Wesensschauuntersuchungen bei Husserl ein. In der
aufgrund der Wesensschau vorliegenden Intuition der Wesen manifestiert sich
Sartre zufolge das phänomenale Sein.140 In seiner Ontologisierung der
Phänomenologie und des Erscheinungsbegriffs ist eine deutliche Differenz
zwischen Sartre und Husserl zu erkennen, die gleichwohl in eine gewisse Nähe
zu Heideggers Ansatz führt, woran sich nochmals das angesprochene
Auseinanderfallen der phänomenologischen Bewegung dokumentiert.
Hier fügt sich auch das Werk von M. MERLEAU-PONTY ein, der sich, wie
Husserl in seinem Spätwerk, gegenüber den Wissenschaften kritisch äußert, weil
sie die natürliche, lebensweltliche Einstellung des Menschen vergessen und so
auch nicht zu wahrer, wesenhafter Einsicht hinsichtlich ihres
Untersuchungsgegenstands, nämlich des Menschen, gelangen können141 –
wozu, wie man in Analogie wird schließen dürfen, allein die echte, nämlich die
phänomenologische Wesensschau fähig ist. Auf diese Weise erhält die
Wesensschau auch bei Merleau-Ponty, ebenso wie zuvor bei Husserl,
besonderes Gewicht im Hinblick auf die Wissenschaften; vorrangig für die
Psychologie wird sie unentbehrlich, da sie zu ihrer Erneuerung und ihrem
Fortschritt beitragen kann.142 Die Wesensschau bei Husserl ist als
Verständlichmachung des Sinnes oder des Wesens zu begreifen, auf das sich
das Bewußtsein richtet. Als Erfahrung wird die Wesensschau zur konkreten
Erkenntnis, die jedoch wegen ihrer Unabhängigkeit von jedweder Individualität
als allgemeines und für alle geltendes Wissen zu bezeichnen ist.143 Die
Wesensschau begründet folglich eine zugleich konkrete und philosophische, an
jeweils meine eigene Erfahrung gebundene und dennoch für eine gewisse
Universalität zureichende Erkenntnismethode, deren Grundlage die
139
140
141
142
143
Vgl. J. E. Atwell: „Sartre’s conception of action and his utilization of ‚Wesensschau’”. In: Man and
World 5/2 (1972) 143-156.
Vgl. J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Hrsg. von
T. König, deutsch von H. Schöneberg und T. König (Reinbek bei Hamburg 1991) 11.
Vgl. M. Merleau-Ponty: Sinn und Nicht-Sinn (München 2000) 125.
Vgl. M. Merleau-Ponty: Vorlesungen I. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch ein
Vorwort von A. Métreaux (Berlin/New York 1973) 143.
Vgl. M. Merleau-Ponty: Vorlesungen I, 144.
211
Wahrnehmung ist.144 Wie Husserl betont auch Merleau-Ponty den Ausgang der
Wesensschau von einem Konkreten, das durch Variation seiner einzelnen
Gesichtspunkte zum Invarianten als dem Wesen des Phänomens führt.145
Eine eigene Auseinandersetzung mit Husserls Wesensschaubegriff findet
sich auch bei E. LEVINAS, der die Wesensintuition zu den generellen
Entdeckungen der Phänomenologie rechnet; vor allem deshalb, da die auf ihr
beruhenden eidetischen Wahrheiten von der Faktizität des individuellen
Gegenstandes unabhängig sind und nicht auf Induktion beruhen – eine
Forderung, die so aus der Ethik Schelers bekannt ist. Die Wesensschau wird
derart zum Garanten für klare, deutliche und evidente Erkenntnis, wodurch das
schon von Husserl in seiner Bedeutsamkeit erkannte Cartesische
Erkenntnisideal eine erneute Fortsetzung erfährt.146 Den Zusammenhang
zwischen den mit Hilfe der eidetischen Intuition vorgehenden Wissenschaften
und den mittels ihrer gefundenen apriorischen Einsichten betont Levinas
ebenfalls, wobei es aber nur der Phänomenologie möglich ist, den Sinn der
Objektivität der wissenschaftlichen Sätze zu erkennen, da sie allein das
untersucht, was alle anderen Wissenschaften unhinterfragt voraussetzen.147
Ebenso wie bei Levinas findet sich bei P. RICOEUR eine eigene Auslegung
der Husserlschen Phänomenologie, die unter anderem Hinweise zum
Verständnis der Wesensschau beinhaltet. So kennzeichnet Ricoeur die
Phänomenologie mit ihrem Methodenapparat, in welchem die eidetische
Reduktion eine herausgehobene Position einnimmt, insgesamt und ein wenig
pauschalisierend als Wesensphilosophie. Die Zentralstruktur der Intentionalität
wird hierbei von ihm als schöpferisches Sehen interpretiert148, wodurch zwar
die fundamentale Stellung des individuellen Bewußtseins nicht aufgehoben,
aber doch um den Aspekt des Schöpfertums erweitert wird, der bei den
mittelalterlichen Autoren immer in Beziehung auf Gott auftrat, der erst dem
endlichen Geschöpf die Gnade der Wesensschau und damit einhergehend der
Erkenntnis der Schöpfung zuteil werden läßt. Durch Einführung eben dieses
144
145
146
147
148
Vgl. M. Merleau-Ponty: Vorlesungen I, 157-159.
Vgl. M. Merleau-Ponty: Vorlesungen I, 161.
Vgl. E. Levinas: „Über die ‚Ideen’ Edmund Husserls“. In: Husserl. Hrsg. von H. Noack (Darmstadt
1973) 91.
Vgl. E. Levinas: „Über die ‚Ideen’ Edmund Husserls“, 93, 95 und 98.
Vgl. P. Ricoeur: „Husserl und der Sinn der Geschichte“. In: Husserl, a.a.O., 235-236.
212
schöpferischen Gedankenguts erweitert Ricoeur die phänomenologische
Wesensschau gewissermaßen philosophiehistorisch nach vorne, so daß
obendrein eine noch weiterreichende Verbindung mit dem Anfang der
Geschichte der Wesensschau bei Platon in greifbare Nähe rückt.
Die gedankliche Auseinandersetzung mit Husserl bildet endlich auch bei
J.-F. LYOTARD den Hintergrund für einige Anmerkungen zur Wesensschau und
zur imaginären Variation, die beide auf unmittelbarer Intuition beruhen und
deshalb keinerlei metaphysischen Charakter mehr aufweisen. Die Betonung der
Relevanz der Wesensschau für das phänomenologische Forschen geht bei
Lyotard einher mit der Erkenntnis, daß die letzte Rechtsquelle für jederlei
vernünftige Aussage im Sehen allgemein liegt, sonach im originär gebenden
Bewußtsein.149 Diese Betonung des Sehens ist als ein verbindendes Merkmal
der französischen Phänomenologie bei vielen ihrer Vertreter zu beobachten –
man denke hier beispielsweise an Sartres Analyse des Blicks oder an MerleauPontys Interpretation der Wahrnehmung.150
Insgesamt hat sich somit gezeigt, daß die Thematik der Wesensschau nur
dann innerhalb der französischen Phänomenologie von Wichtigkeit ist, wenn
die Untersuchungen direkt auf Husserl Bezug nehmen, ja wenn gar explizit in
das Husserlsche Denken eingeführt werden soll. Durch das Auseinanderfallen
der phänomenologischen Bewegung und durch die Ausbildung neuer
Forschungsschwerpunkte – zum Beispiel der Hermeneutik bei Heidegger, der
Ontologie bei Sartre, der Soziologie bei Schütz oder der Philosophie des
Anderen bei Ricoeur – wird auch eine Verschiebung der Gewichte auf
methodischem Gebiet vollzogen, so daß die besondere Relevanz des
eidetischen Forschens verdrängt wird durch neue, andersartige Ansätze.
Die vorausgegangenen Analysen haben deutlich werden lassen, daß mit
dem Begriffsfeld der Wesensschau zentrale Probleme und Zielsetzungen im
149
150
Vgl. J.-F. Lyotard: Die Phänomenologie. Aus dem Französischen von K. Schulze, mit einem
Nachwort von C. von Wolzogen (Hamburg 1993) 21-22.
Doch auch über die französische Phänomenologie hinaus kommt der visuellen Thematik und
Begriffswahl in der phänomenologischen Richtung der Philosophie insgesamt große Bedeutung zu,
was etwa die auffällige Wortwahl Heideggers belegt, der sich häufig Vokabeln aus dem Bereich des
Sehens aneignet; so deutet er den Begriff der platonischen Idee als Hin-sicht oder die Dialektik bei
Platon als Hinblick auf ein zugrundeliegendes genos. – Im Werk Derridas fehlt die Wesensschau
ebenso wie die eidetische Variationsmethode, was dadurch zu erklären ist, daß bei der Hinwendung zu
Schrift und Sprache die Notwendigkeit und die Legitimation der Wesensschau entfallen.
213
Bereich der Epistemologie berührt und versuchsweise begründet werden. Der
Erkenntnistheorie geht es bekanntermaßen auch darum, zusammen mit der ihr
sicherlich verwandtesten Disziplin, nämlich der Metaphysik, Fragen einer
Letztbegründung und der Möglichkeiten einer unhintergehbaren Fundierung
auf dem Gebiet der Philosophie zu stellen und einer Lösung zuzuführen. Auch
in dieser disziplinären Hinsicht hat sich die Wesensschau samt der ihr
nahestehenden Begriffe ‚Gottesschau’, ‚intellektuelle Anschauung’ oder
‚Intuition’ als übergreifende Instanz und als verbindendes Methodeninstrument
erwiesen. Mit diesem Terminus ‚Wesensschau’ manifestiert sich auf eine
geradezu teleologisch zu nennende Weise die erste, wenngleich nie vollständig
einholbare Aufgabe der Erkenntnislehre, die darin besteht, eine Ebene der
Unmittelbarkeit, der Unhintergehbarkeit, der Unbezweifelbarkeit und der
Unverfälschtheit, mithin in einem Wort: der Ursprünglichkeit eines tragfähigen
Seins- und Wahrheitsverhältnisses des Subjekts zu erreichen und damit
einhergehend plausibel und einsichtig zu machen. Dementsprechend ergibt sich
stets ein Bezug zwischen der Anwendung des basalen Aktes der Wesensschau
und der – durchaus verschieden gearteten – Vorstellung eines Absoluten, das
der solcherart Schauende als ontologischen und prinzipientheoretischen
Zielpunkt intendiert. In der umgekehrten Perspektive ist es dann überdies nicht
selten so, daß dem Absoluten bzw. Gott ebenfalls eine spezielle Form des
Blickens oder Schauens zugeordnet wird, welcher zugleich schöpferische
Potenz zuerkannt wird, woraus sich ein Spiegelverhältnis zwischen
Erkennendem und Erkenntnisbedingung ergibt.
Aus der engen Verbindung zwischen dem Anspruch einer völlig
adäquaten Sacherkenntnis, sei es derjenigen Gottes oder auch eines einfachen
empirischen Gegenstandes, und der Wesensschau erwachsen die zwei
offenkundig gewordenen Möglichkeiten des Umgangs mit diesem
Erkenntniswerkzeug und seiner konträren Bewertung – einerseits wird die
Wesensschau oft mit der Signatur der Wissenschaftlichkeit oder zumindest der
wissenschaftlichen Absicherung versehen, andererseits haftet ihr häufig der
Ruch der Irrationalität und mystischen Unnachvollziehbarkeit an. Schon an
diesem enormen Spektrum der Anwendungs- und Bezugsmöglichkeiten der
Wesensschau – vom Ding bis zum Absoluten – zeigt sich nochmals von der
214
Seite der Objektivität her, daß mit diesem Terminus methodische und
epistemologische Grundlegungsfragen und Letztbegründungsprobleme berührt
werden. In einem Versuch der Ausdehnung des natürlichen Sehens, folglich
desjenigen Sinnes, dem immer schon die größte Nähe zu den Dingen und ihrer
Erkennbarkeit bescheinigt wurde, streben das Verstehen und das Wissen
danach, sich gleichzeitig zu transzendieren und dadurch in einem letzten Akt zu
vollenden. Deswegen kann die Anwendung des philosophischen Werkzeugs
der Wesensschau als ein Kennzeichen für die Absicht gelten, die Differenz
zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden oder sie wenigstens zu verringern.
Die Möglichkeit einer Fortsetzung der Geschichte der Wesensschau ist somit
aufgrund der mannigfaltigen, allein schon rein historisch sichtbar gewordenen
Bezugspunkte und dank der damit einhergehenden Deutungsvarianten
durchaus als gegeben anzusehen. Denn dies hat die Untersuchung der
Hauptstationen der Wesensschauentwicklung von Platon bis zur
Phänomenologie gezeigt: Der Terminus ‚Wesensschau’ ist in sich derart
vielschichtig, er verbindet so viele philosophische Grundthemen – wie etwa
Wahrheit, Wissenschaft, Freiheit, Gott und Erkenntnis –, und er nimmt durch
sein Inhalt und Methode, Sachhaltigkeit und Begriff gleichermaßen
umspannendes Wesen eine so bedeutsame Position ein, daß seine gänzliche
Aufgabe für die Weiterführung des philosophischen Denkens kaum zu
erwarten ist.
215
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