SPEKTRUM 21 16−2016 / 21. April 2016 HORIZONT ICONSMR FOTO: CHRISTINE BLEI Voller Saal beim Iconsmr-Kongress in Hamburg Paradigmenwechsel Auf dem Iconsmr-Kongress von Defacto X wird deutlich: Die Marketing-Disziplinen lösen sich auf, an ihre Stelle tritt der Kundenkontakt in Permanenz S o, wie Olaf Schlüter es sagt, klingt es folgerichtig, geradezu natürlich: „Am Ende steht der implantierte Chip.“ Der Bereichsleiter E-Commerce bei Otto, Hamburg, war vor 15 Jahren mit dem Relaunch der CD-Rom beschäftigt, die dem Versandhändler damals ein Zehntel seines Umsatzes eingebracht hat. Neun Zehntel kamen über den Katalog herein. Heute trägt das Internet beinah so viel dazu bei – 85 Prozent –, der Rest entfällt auf den Katalog. Von CDRoms spricht niemand mehr. Was Schlüter jetzt umtreibt, ist dies: Das Internet wird auf immer kleineren Geräten empfangen, und die Zahl der unterschiedlichen Apparate, Portale und Applikationen steigt so unaufhörlich, wie die Aufmerksamkeitsspanne der Nutzer sinkt. Seit dem Jahr 2000 ist sie auf ein Drittel oder ein Viertel zusammengeschnurrt und beträgt vielleicht noch drei Sekunden. Gleichzeitig rücken die Screens und Sensoren den Konsumenten mehr und mehr auf die Pelle – die ersten sind bereits unter die Haut gepflanzt. „Der Mensch wird zum Betriebssystem“, sagt Schlüter, „das sich erweitern lässt.“ Ob das gut ist oder schlecht, lässt er offen. Er stellt es fest. Und er weiß: Es sind nicht immer nur die Freaks, die neue Zugänge zu den Angeboten aus- probieren, sondern „oft die besten Kunden“. Aber die sind wählerisch: Sie möchten einerseits alles und zwar sofort, andererseits auf keinen Fall gestört und belästigt werden. Sie wollen nicht länger dem Unternehmen folgen, sondern erwarten, dass es ihnen folgt – dorthin, wo sie gerade sind. Das ist der Paradigmenwechsel: Fortan lenkt nicht das Unternehmen seine Kunden, vielmehr bestimmen die Kunden den Weg des Unternehmens. Genauer gesagt: die vielen Wege des Unternehmens zu ihnen. Das sich wandelnde Verhältnis von Kunden und Unternehmen und die Rolle der Technik dabei ist der rote Faden, der am 13. April die Agenda des Iconsmr-Kongresses in Hamburg durchzieht. Defacto X mit Stammsitz in Erlangen hat dazu eingeladen, mehr als 200 Gäste sind gekommen. Claus Schuster, Geschäftsführender Gesellschafter der Agenturgruppe, unterstreicht, dass der Kunde nicht mehr am Ende einer Wertschöpfungskette steht, sondern im Zentrum eines Wertschöpfungsnetzwerks. Das bedeute dreierlei: Die Menge der Kontaktpunkte nimmt zu, die Chancen zum Austausch mit den Kunden also auch. Die überall anfallenden Daten werden jedoch nicht nur zur Kommunikation verwendet, sondern auch zur Personalisierung der Angebote. Schließlich wird praktisch jeder Beschäftigte im Unternehmen zum Marketer, denn jeder hat Kundenkontakt und braucht Interaktion. Dass diese Entwicklung den Rahmen tradierter Bereiche wie Werbung, Dialogmarketing und Customer-Relationship-Management sprengt, liegt auf der Hand. Schuster spricht auch gar nicht mehr davon, sondern am liebsten von „Consumer-Centricity“. Der Begriff, der treffend und schillernd zugleich ist, passt in die Zeit, die immer schneller zu werden scheint und von Dynamik und Unsicherheit geprägt ist. „Die Innovationszyklen werden immer kürzer“, pflichtet ihm sein Kompagnon Jan Möllendorf bei. B eide berichten von ihrer Exkursion ins kalifornische Silicon Valley und zur Consumer Electronics Show in Las Vegas Anfang des Jahres. Dort habe sich alles um die Trends Vernetzung, virtuelle Realität und Internet der Dinge gedreht. Natürlich sei es schwer zu sagen, welche der Ideen und Anwendungen Bestand haben werden, so Möllendorf, aber im Unterschied zum Vorjahr habe er zu fast jedem Utensil eine Verwendung entdeckt, die „gar nicht so blödsinnig“ sei. Kleines Mitbringsel am Rande: Die Erfahrung, dass inzwischen auch die US-Amerikaner Wert auf den Schutz ihrer Daten legen. Wird das was oder nicht? Damit hat sich auch Jens Cornelsen, Chef von Defacto Digital Research, befasst. Er hat die Zukunftsaussichten unter anderem von virtuellen Brillen und BuyButtons in sozialen Netzwerken eingeschätzt – nicht mittels persönlicher Eindrücke, sondern per wissenschaftlich fundierter Umfrage (nächste Seite). Sein Fazit fällt allerdings zurückhaltend aus: In frühen Phasen von Innovationen sei es richtig schwer, verlässliche Prognosen abzugeben. „Eigentlich lässt sich nur sagen, dass Fall A eher eintritt als Fall B.“ Die Lage ist unübersichtlich, alles ist im Fluss. Defacto X hat den Kongress, der seit 14 Jahren in jedem Frühling stattfindet, am Nachmittag in zwei parallel verlaufende Sessions aufgeteilt. Anders ist die Fülle der Themen offenbar nicht mehr zu bewältigen. Im Panel „Fast Moving Dialogue“ diskutieren Beate Rosenthal, Global Brand Director Merck Consumer Health Care, und Sierk Conradi, Digital-Manager von Ferrero, über die nächsten Schritte in der Konsumgüterbranche. Rosenthal sagt, niemand könne es sich mehr leisten, Digital nicht zu präferieren. Conradi erwartet, dass spätestens in fünf Jahren der Großteil der Kommu- nikation nicht mehr auf Push, sondern auf Pull basiert. D er letzte Teil der Konferenz gehört den Start-ups – den etablierten und den jungen. GoogleManager Tom Alby erklärt, wie aus Daten Informationen und schließlich Aktionen werden, Facebook-Manager Stephen Webb skizziert die Herausforderungen der mobilen Welt. Richard Lemke, Gründer und Geschäftsführer von Favendo in Bamberg, hat sich beim Publikums-Voting gegen drei Konkurrenten durchgesetzt und nimmt den erstmals verliehenen Iconsmr-Start-up-Preis in Empfang. Seine Firma, die binnen der ersten drei Jahre rund 100 Leute eingestellt habe, ermöglicht Unternehmen die Kommunikation mithilfe von Beacons – kleinen Funksendern, die sich beispielsweise an Regalen anbringen lassen und Signale aufs Smartphone schicken. „Wir sind eine Datenkrake, sammeln jedoch keine persönlichen Daten der Nutzer“, versichert Lemke. Vielleicht ist es diese Art von Flexibilität und Agilität, die Otto-Mann Schlüter in seinem Vortrag angemahnt hat. Er findet, die „weithin unklaren Anforderungen“ der Gegenwart und Zukunft ließen sich nur mit dieser Haltung angehen. JOACHIM THOMMES HORIZONT 16−2016 / 21. April 2016 22 SPEKTRUM ICONSMR „Der Kunde bestimmt die Touchpoints“ Wie Kunden animiert werden können, mit einem Unternehmen in Kontakt zu treten, erklären Jan Möllendorf und Claus Schuster, die Geschäftsführer von Defacto X Order per Knopfdruck Innovationen brauchen Pfiff, um beim Konsumenten zu landen Wenn über Innovation im Marketing gesprochen wird, ist meist nur vom Tracking des Konsumentenverhaltens und von der Auswertung der anfallenden Daten die Rede. Was läuft da schief? Jan Möllendorf: Marketing hat das Ziel, die Beziehung zwischen Unternehmen und Kunden zu verbessern. Dabei können Techniken wie das Tracking und die Datenanalyse helfen. Allein auf sie zu bauen, wäre natürlich sträflich. Claus Schuster: Wenn in Unternehmen die Marketingabteilung quasi zu einer Filiale der IT wird, liegt das daran, dass die Marketer nicht erkannt haben, welche Chancen ihnen die digitale Transformation eröffnet. Es geht ja nicht bloß ums Daten sammeln, sondern um neue Wege zum Konsumenten, die Individualisierung der Ansprache, die Aktivierung des Kunden an zusätzlichen Kontaktpunkten und optimierte Formen der Kommunikation. Das sind N icht die sogenannten Entscheider bestimmen, was zum Trend wird, sondern die Konsumenten. Diese Einsicht nimmt Defacto Digital Research, Erlangen, als Ausgangspunkt für seine Untersuchungen: Es hat nicht die Anbieter, sondern ausschließlich die potenziellen Käufer befragt. Die Studien, die unter dem Titel „See. Feel. Like. Tagging the Digital Consumer“ auf dem Iconsmr-Kongress in Hamburg vorgestellt worden sind, befassen sich insbesondere mit den Vorund Nachteilen von Virtual-RealityBrillen und Smartwatches sowie BuyButtons in sozialen Netzwerken. Am wenigsten können sich die Befragten vorstellen, etwas mit den Jan Möllendorf (l.), Claus Schuster, beide Defacto X: „Das Denken in Tools führt zu nichts“ Marketing-Themen. Das Denken lediglich in Tools führt zu nichts. Lässt sich Defacto X noch als Marketing-Agentur beschreiben? Schuster: Das greift mittlerweile zu kurz, denn die Aufgaben sind vielschichtiger geworden. Wir sind ein Dienstleister, der seine Geschäftspartner bei der marktorientierten Unternehmensführung unterstützt. Unser Motto „Consumer-Centricity“ bedeutet, dass wir nicht nur das Cookie betrachten, sondern den ganzen Menschen. Ihm wollen wir ein Umfeld bieten, das ihn animiert, mit dem Unternehmen in Kontakt zu treten. Das kann nur noch im Zusammenspiel verschiedener Disziplinen entstehen. Dabei ist Consumer-Centricity keine technologische, sondern eine kulturelle und strukturelle Herausforderung. Möllendorf: Gefragt sind analytisches Know-how, strategisches Denken und klobigen Brillen anzufangen, die sie in künstliche Welten versetzen sollen – und die auf Hightech-Messen als letzter Schrei gehandelt werden. Lediglich zwei von fünf Befragten erkennen in ihnen einen Sinn für sich. Das bedeutet: durchgefallen. Denn „Google Glass“, in gewisser Hinsicht ihr Vorläufer, kommt auf dieselben Zustimmungswerte. Von ihr sprachen aber selbst Google-Manager 2015 als Flop. Fast 80 Prozent derjenigen, die Virtual-Reality-Brillen ablehnen, sehen in ihnen „keinen persönlichen Nutzen“. Nicht viel besser fällt das Urteil der Konsumenten über Smartwatches aus, die immerhin schon ein paar DIE MANAGER Claus Schuster und Jan Möllendorf, beide 48 Jahre alt, sind Geschäftsführende Gesellschafter von Defacto X mit Stammsitz in Erlangen sowie Niederlassungen in Bonn, Köln, Hamburg und München. Unter dem Dach von Defacto X sind acht Spezialagenturen in den Geschäftsfeldern Digital Advertising, Science and Operations sowie Communication Strategy / Campaigns tätig. Rund 400 Beschäftigte arbeiten für Kunden wie Esprit, Ferrero und Vorwerk. Die Gruppe erwirtschaftete 2015 einen Umsatz von 50 Millionen Euro. sondern an dessen Kunden. Das heißt übrigens nicht, den Kunden zum Geburtstag einen Blumenstrauß zu schicken. Vielmehr müssen die Unternehmen alle Abläufe auf die Touchpoints, die der Kunde bestimmt, zuschneiden. Welche Bedeutung kommt der Gestaltung der Kommunikation, also der Kreation, noch zu? Möllendorf: Das Artwork spielt keine so dominierende Rolle mehr wie früher. Heute sind eher Profis gefragt, die sich in den Endkunden hineinversetzen können und die Frage beantworten, wie er am liebsten mit dem Unternehmen sprechen möchte. Da geht es um die Nützlichkeit des Produkts, um Vertrauen zum Unternehmen und den Wert des Dialogs. Schuster: Die kreative Idee drückt sich heute im Gespür für die Kommunikation zum richtigen Zeitpunkt aus. INTERVIEW: JOACHIM THOMMES Jahre auf dem Markt sind. Im Hinblick auf gepushte Infos auf die Uhr zeigen sich die online Befragten, die als besonders technik-affin gelten dürfen, gespalten: Die Hälfte lehnt solche Infos ab, wenn sie zu oft eintreffen und irrelevant sind, die andere Hälfte möchte dagegen persönlich zugeschnittene Produktangebote genau dann erhalten, wenn das passende Geschäft in unmittelbarer Nähe ist. „Gerade bei so intimen Geräten wie den Smartwatches muss der Mehrwert für den Besitzer signifikant sein“, erklärt Jens Cornelsen, Chef von Defacto Digital Research. Den Untersuchungen zufolge haben Buy-Buttons in sozialen Netzwerken, mit denen sich dort präsentierte Produkte per Klick ordern lassen, bessere Aussichten auf Erfolg – zumindest unter den aktiven Nutzern. Von ihnen fänden 57 Prozent solche Bestellknöpfe auf Facebook attraktiv, auf Pinterest sind es 61 und auf Xing 48 Prozent. „Die Buy-Buttons werden enorm an Bedeutung gewinnen“, ist Cornelsen überzeugt. Im Unterschied zu Smartwatches und erst recht zu Virtual-Reality-Brillen böten sie einen klaren Vorteil und ließen sich leicht in den Alltag der potenziellen Nutzer integrieren. Cornelsen: „Am Ende entscheiden Nützlichkeit und Alltagstauglichkeit darüber, ob sich Innovationen durchsetzen.“ JOACHIM THOMMES Individuelle Produktangebote gefragt Virtuelle Brillen sind nicht in Wie interessant finden Sie diese Services und Zukunftstechnologien? Zustimmung in Prozent 64 3D-Drucker Curved TV 55 Connected Car 55 Autonomes Fahren Werbung, die undifferenziert und für alle gleich ist Werbung, die stark auf Ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist 48 Smartwatch Infos und Produktangebote, die stark auf Ihre Bedürfnisse ausgerichtet sind und Sie direkt vor dem Geschäft erreichen Werbung, die stark auf Ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist und Sie direkt vor dem Geschäft erreicht 44 Virtual-Reality-Brille 40 Google Glass 40 Zustimmung in Prozent 30 14 Infos und Produktangebote, die stark auf Ihre Bedürfnisse ausgerichtet sind 52 Mobile Payment Wie bewerten Sie Folgendes auf Ihrer Smartwatch? Infos und Produktangebote, die undifferenziert und für alle gleich sind 53 Internet der Dinge 45 37 52 36 Basis: n = 504 Basis: n = je nach Kategorie 768 bis 1013 Befragte Quelle: Defacto Digital Research nicht zuletzt auch kreative Ideen. Man könnte das als „Fullservice-Agentur“ bezeichnen, aber das sagt ja wenig aus. Wir suchen noch nach einem passenden Begriff für diesen neuen Agenturtyp, der sich nicht mehr an den Produkten eines Unternehmens ausrichtet, HORIZONT 16/2016 Quelle: Defacto Digital Research HORIZONT 16/2016 HORIZONT 16−2016 / 21. April 2016 ICONSMR SPEKTRUM 23 FOTOS: CHRISTINE BLEI Impressionen Am Iconsmr-Kongress in Hamburg nehmen mehr als 200 Gäste teil. Richard Lemke, Gründer und Geschäftsführer von Favendo, gewinnt den erstmals verliehenen Iconsmr-Start-up-Preis, nachdem er sich beim Publikums-Voting gegen drei Konkurrenten durchgesetzt hat. Die Referenten des KongressPlenums: (v.l.n.r.) Tom Alby, Google Jens Cornelsen, Defacto Digital Research Olaf Schlüter, Otto Stephen Webb, Facebook Vorabend-Event im Hamburger Elbwerk links: Stephan Ahlgrim (l.), Atradius Kreditversicherung, Alexander Griller, Vorwerk Mitte: Guiseppe Randazzo, Christin Westphal, Nurana Yusifova und Anna Schröder, alle Tchibo rechts: Eva Heinrichs und Christian Contini, beide Metro Cash & Carry HORIZONTSPEKTRUM ist ein Sonderteil von HORIZONT, Zeitung für Marketing, Werbung und Medien Chefredaktion: Dr. Uwe Vorkötter (V.i.S.d.P.), Volker Schütz, Jürgen Scharrer Ressortleitung: Dr. Jochen Zimmer Telefon 069/7595-2695 E-Mail: [email protected] Redaktion: Joachim Thommes links: Anna Fakler (l.) und Anna Mang, beide L'Oréal rechts v.l.n.r.: Christian Schwinn, Sarina Steiger und Dominik Salzer, alle Hugo Boss