Philosophicum herbipolense am 8. Januar 2015 Prof. Dr. Jörn Müller Zwischen Korrespondenz, Kohärenz und Konsens – Wahrheitstheorien in Geschichte und Gegenwart 1. Wahrheit als „Grundproblem“ der Philosophie Aristoteles: Bestimmung der Philosophie als „Betrachtung der Wahrheit“ (Metaphysik I ) - „Was ist Wahrheit?“ als Grundfrage der Philosophie → Herausbildung verschiedener und miteinander konkurrierender „Wahrheitstheorien“, v.a. in der Philosophie des 20. Jahrhunderts 2. Abgrenzungen der Fragestellung 2.1. Wahrheit und Wahrhaftigkeit Man kann die Wahrheit sagen, ohne wahrhaftig zu sein; ebenso kann man die Unwahrheit sagen, ohne unwahrhaftig zu sein. (a) „Wahrhaftigkeit“ bezieht sich v.a. auf das Verhältnis meiner sprachlichen Behauptungen zu meinen eigenen Auffassungen: Sage ich das, was ich denke, bin ich wahrhaftig (b) „Wahrheit“ bezieht sich hingegen eher auf das Verhältnis unserer sprachlichen Akte zur Welt, also zu den Dingen außerhalb von uns 2.2. Satzwahrheit versus Sachwahrheit Aristoteles: „Das Falsche und Wahre ist nicht in den Dingen, sondern im Denken.“ (Metaphysik VI 4) ↔ Platon: Ideen als das „wahre Seiende“ - unterschiedliche Semantik von „wahr/falsch“ in der Anwendung auf Sätze: → Ein „falscher Fünfziger“ ist kein Fünfziger ↔ ein falscher Satz ist immer noch ein Satz - Primat der Satzwahrheit bedingt im 20. Jh. eine veränderte Fragestellung: „Was heißt es, dass ein Satz wahr ist?“ [Vorrang von „wahr“ gegenüber „Wahrheit“] → „In vino, possibly, ‘veritas’, but in a sober symposium ‘verum’.“ (J.L. Austin) - provisorische inhaltliche Bestimmung von Satzwahrheit: „Zu sagen, dass das Seiende nicht ist oder dass das Nichtseiende ist, ist falsch; [zu sagen,] dass das Seiende ist oder dass das Nichtseiende nicht ist, ist wahr.“ (Aristoteles, Metaphysik 1011b 26-27) ≈ „Ein Aussagesatz, in dem einem Gegenstand eine Eigenschaft zugesprochen (abgesprochen) wird, ist genau dann wahr, wenn der fragliche Gegenstand die fragliche Eigenschaft hat (nicht hat).“ (W. Künne) 3. Drei Wahrheitstheorien 3.1. Die Korrespondenztheorie historisch älteste und gewissermaßen die Wahrheitstheorie des Alltagsverstandes: „’Draußen regnet es’, ist wahr, wenn es draußen regnet“ „Die Namenserklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand sei, wird hier geschenkt und vorausgesetzt.“ (I. Kant, Kritik der reinen Vernunft) → Wahrheit als Übereinstimmung: „veritas est adaequatio rei et intellectus“ (Thomas von Aquin, De veritate I 1) - Unterscheidung: (1) Wahrheitsträger (truth-bearer); (2) Wahrmacher (truth-maker); (3) wahrheitsstiftende Relation zwischen den beiden (correspondence) ↔ alle drei Komponenten müssen spezifiziert und können kritisiert werden: (1) konkrete Sprechakte oder das mit Ihnen Gemeinte = Propositionen (Frege: Gedanken)? [Problem: keine Wahrheitswertkonstanz von Tatsachenwahrheiten mit temporalen und/ oder indexikalischen Bestandteilen] (2) sprachunabhängige oder sprachlich konstituierte Tatsachen? [Problem: wie gibt es negative und allumfassende Sachverhalte?] (3) Isomorphie zwischen logischer Form des Satzes und Wirklichkeit (früher Wittgenstein)? ⇔ Dilemma: Haben wir überhaupt einen sicheren Zugriff auf „die Welt“ außerhalb von uns? Frage nach einem Kriterium für die Zuschreibung von „wahr“ bzw. „Wahrheit“ 3.2. Die Kohärenztheorie der Wahrheit Kohärenz als Verifikationskriterium: vgl. die Wissenschaftstheorie des Wiener Kreises: „Die Wissenschaft als ein System von Aussagen steht jeweils zur Diskussion. Aussagen werden mit Aussagen verglichen, nicht mit ‚Erlebnissen’, nicht mit einer ‚Welt’, noch mit sonst etwas. Alle diesen sinnleeren Verdoppelungen (...) sind abzulehnen. Jede neue Aussage wird mit der Gesamtheit der vorhandenen, bereits miteinander in Einklang gebrachten Aussagen konfrontiert. Richtig heißt eine Aussage dann, wenn man sie eingliedern kann.“ (O. Neurath) → Zusammenhang von Wahrheit und Wissen (als „justified true belief“) ↔ Problematik: Konkurrenz von inkompatiblen Wissenssystemen, die in sich kohärent sind, aber im Vergleich zu anderen Systemen inkompatible Aussagen enthalten: „Wer es ernst meint mit der Kohärenz als alleinigem Kriterium der Wahrheit, muß beliebig erdichtete Märchen für ebenso wahr halten wie einen historischen Bericht oder die Sätze in einem Lehrbuch der Chemie, wenn nur die Märchen so gut erfunden sind, daß nirgends ein Widerspruch auftritt.“ (M. Schlick, Über das Fundament der Erkenntnis) 3.3. Die Konsenstheorie Betonung des intersubjektiven Charakters der Wahrheit im dialogischen Geschehen; vgl. z.B. die Diskurstheorie von Jürgen Habermas: „Wahrheit ist ein Geltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, indem wir sie behaupten.“ (J. Habermas, Wahrheitstheorien) „Darüber ob Sachverhalte der Fall oder nicht der Fall sind, entscheidet nicht die Evidenz von Erfahrungen, sondern der Gang von Argumentationen.“ (ebd.) → (Idealisierter) Konsens als Wahrheitskriterium: „Die Meinung, der es vom Schicksal bestimmt ist, daß ihr letztlich alle Forscher zustimmen, ist das, was wir unter Wahrheit verstehen (...).“ (Ch. S. Peirce, How to Make Our Ideas Clear) „Wahrheit ist die Übereinstimmung einer abstrakten Feststellung mit dem idealen Grenzwert, an den unbegrenzte Forschung die wissenschaftliche Überzeugung anzunähern die Tendenz haben würde.“ (ebd.) ⇔ PROBLEM: Können nicht auch alle im Irrtum über eine Sache sein? → Temporalisierung des Wahrheitsbegriffs: Der Satz „Die Erde dreht sich um die Sonne“ ist erst seit den Entdeckungen Keplers und Galileis wahr (??) 4. Fazit: Grundlegende Unterscheidungen und Spannungsfelder (1) im Blick auf das Explikandum: „kriteriologische Wahrheitstheorien“ („Wie werden Aussagen bzw. Theorien verifiziert?“) VERSUS „definitionale Wahrheitstheorien“ („Was ist ‚Wahrheit’?“) (2) „Epistemische Theorien“ (Wahrsein = Für wahr gehalten werden) VERSUS „nicht-epistemische Theorien“: „Wahrsein ist etwas anderes als Fürwahrgehaltenwerden, sei es von Einem, sei es von Vielen, sei es von Allen, und es ist in keiner Weise darauf zurückzuführen. Es ist kein Widerspruch, daß etwas wahr ist, was von Allen für falsch gehalten wird (...) Das Wahrsein [ist] unabhängig davon, daß es von irgendeinem anerkannt wird.“ (G. Frege, Grundgesetze der Arithmetik) (3) erkenntnistheoretische Grundhaltung: Realismus VERSUS Antirealismus „Wir vergleichen doch immer nur Vorstellungen mit Vorstellungen“ (nach I. Kant, Logik) Literatur: (A) zur Einführung empfohlen: W. Künne: „Wahrheit“, in: E. Martens / H. Schnädelbach (Hg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Bd. 1, Reinbek 1991, 116-171. J. Müller: „Zwischen Korrespondenz, Kohärenz und Konsens. Zum Pluralismus der philosophischen Wahrheitstheorien, in: H.-G. Nissing (Hg.), Was ist Wahrheit?, München 2011, 56-79. (B) Reader mit einschlägigen Originaltexten: - G. Skirbekk (Hg.), Wahrheitstheorien. Frankfurt a.M. 1977. - L.B. Puntel (Hg.): Der Wahrheitsbegriff. Neue Erklärungsversuche, Darmstadt 1987. (C) Monographien zur weiterführenden Lektüre: - W. Franzen: Die Bedeutung von „wahr“ und „Wahrheit“. Analysen zum Wahrheitsbegriff und zu einigen neueren Wahrheitstheorien, Freiburg / München 1982. - L.B. Puntel: Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, Darmstadt 31993.