Inhaltsverzeichnis EINLEITUNG .......................................................................................................................... 3 1. GESCHICHTE ................................................................................................................. 4 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 2. VORISLAMISCHE PERIODE (BIS INS 7. JAHRHUNDERT)................................................. 4 KLASSISCHE ALTARABISCHE TRADITION (7. BIS 9. JAHRHUNDERT) ............................ 5 ERNEUERUNG DER ALTARABISCHEN TRADITION IN BAGDAD UND CORDOBA (9. BIS 15. JAHRHUNDERT) .......................................................................................... 7 DER NIEDERGANG UNTER OSMANISCHER HERRSCHAFT (15. BIS 19. JAHRHUNDERT) . 8 ZEIT DES WIEDERERWACHENS (19. JAHRHUNDERT) ................................................... 9 NEUE RICHTUNGEN ..................................................................................................... 9 VERSCHIEDENE STILE ............................................................................................. 12 2.1 MAROKKANISCHE MUSIK.......................................................................................... 12 2.1.1 Andalous-Musik................................................................................................ 12 2.1.2 Milhûn und Gharnati........................................................................................ 13 2.1.3 Gnaoua ............................................................................................................. 14 2.1.4 Berbermusik ..................................................................................................... 14 2.1.5 Chaabi .............................................................................................................. 15 2.2 ALGERISCHE MUSIK .................................................................................................. 17 2.2.1 Raï .................................................................................................................... 17 2.3 ÄGYPTISCHE MUSIK .................................................................................................. 20 2.3.1 Der Dôr ............................................................................................................ 20 2.3.2 Al-jil.................................................................................................................. 20 2.3.3 Shaabi............................................................................................................... 21 2.4 IRAKISCHE MUSIK ..................................................................................................... 21 2.4.1 Al-maqam al-iraqi ............................................................................................ 21 2.4.2 Al-Muwassah.................................................................................................... 22 2.4.3 Die Layali......................................................................................................... 22 2.4.4 Der Mawwal..................................................................................................... 22 2.4.5 Das Taqsim....................................................................................................... 23 2.5 RELIGIÖSE ISLAMISCHE MUSIK ................................................................................. 23 2.5.1 Die Gesänge des Koran.................................................................................... 23 2.5.2 Der Adhan ........................................................................................................ 24 2.5.3 Der Dhikr ......................................................................................................... 24 3. INSTRUMENTE ............................................................................................................ 26 3.1 SAITENINSTRUMENTE (LAUTEN, STREICHER, ZITHERN UND HACKBRETTER) ........... 26 3.1.1 Der Oud............................................................................................................ 26 3.1.2 Der Gimbri ....................................................................................................... 27 3.1.3 Die Buzuk ......................................................................................................... 28 3.1.4 Der Saz ............................................................................................................. 28 3.1.5 Die Rabab......................................................................................................... 28 3.1.6 Die Kamenjah................................................................................................... 29 3.1.7 Der Kanun ........................................................................................................ 29 3.1.8 Das Santur........................................................................................................ 30 3.2 BLASINSTRUMENTE (OBOEN, FLÖTEN, KLARINETTEN)............................................. 30 3.2.1 Die Ghaita ........................................................................................................ 30 1 3.2.2 Der Zurna......................................................................................................... 30 3.2.3 Die Ney............................................................................................................. 31 3.2.4 Die Mizmar....................................................................................................... 31 3.2.5 Die Arghul ........................................................................................................ 31 3.3 PERKUSSIONSINSTRUMENTE (TROMMELN, ZIMBELN) ............................................... 32 3.3.1 Die Darabouka................................................................................................. 32 3.3.2 Die Tabla.......................................................................................................... 32 3.3.3 Die Tabl, die Taarija, die Guedra.................................................................... 32 3.3.4 Die Riq.............................................................................................................. 32 3.3.5 Die Duff, der Bendir......................................................................................... 33 3.3.6 Die Nakkara ..................................................................................................... 33 3.3.7 Die Sagat, die Garagab.................................................................................... 33 4. ARABISCHE MUSIKTHEORIE................................................................................. 34 4.1 4.2 4.3 5. DAS TONYSYSTEM DER ARABER ............................................................................... 34 DAS MAQAM-PHÄNOMEN ......................................................................................... 38 DAS RHYTHMISCH-ZEITLICHE MASS: WAZN ............................................................. 39 PORTRÄT EINER MAROKKANISCHEN MUSIKGRUPPE................................. 41 ZUSAMMENFASSUNG ....................................................................................................... 43 QUELLENVERZEICHNIS .................................................................................................. 44 2 Einleitung Die arabische Welt ist wohl die grösste kulturell homogene Region der Erde. All ihre Einwohner sind durch eine gemeinsame Sprache miteinander verbunden, welcher sie, weil der figürliche Ausdruck in der islamischen Kunst verboten ist, eine besondere Bedeutung beimessen. Im vorislamischen Nomadenzeitalter war der Dichter von herausragender Wichtigkeit, denn er äusserte sich über Politik, richtete im Streitfall, rühmte die Helden und schmähte die Feinde, so rangen arabische Dichter in den kulturellen Zentren der damaligen Zeit um den Vorrang. Mit der Einführung des Islam stiess die prächtige rhythmische Sprache des Koran bei den Arabern auf grosse Popularität und schon bald wurde dieser zum Lehrbuch jeglichen künstlerischen Schaffens. Noch heutzutage wird der besondere Platz der Dichtung in der arabischen Musik stolz behütet. Lieder werden in erster Linie nach ihren Texten beurteilt und reine Instrumentalmusik wird als eine „Religion ohne heilige Schrift“ erachtet. Zwischen dem 8. und dem 15. Jahrhundert erlebte die musikalische Ausdrucksform dann ein bedeutendes Hoch, welches allerdings in der darauffolgenden Epoche der völligen Stagnation jeglichen Musiklebens unter der osmanischen Herrschaft weichen musste. Während politische Instabilität und Krieg vorherrschten, in dem die arabische Gesellschaft von den Kolonialmächten die Rückgabe von Land und der eigenen Identität forderte, tauchte sie voll von nationalistischem Eifer ins 20. Jahrhundert ein, in welchem sie in einem Klima der Konfrontation mit den neuen westlichen Technologien und freizügigen Wertvorstellungen eine eigentliche musikalische Wiedergeburt erlebte. Dies und einiges mehr wird im ersten Kapitel dieser Arbeit genauer beleuchtet. Ausser der klassischen Liedtradition, die in der gesamten arabischen Welt anzutreffen ist, gibt es auch regionale Ausdrucksformen der einheimischen Völker, Nomaden und Eindringlinge, die diese Region durchquert haben. Auf diese verschiedenen landestypischen Ausprägungen und Stile der arabischen Musik wird im zweiten Kapitel, das nach Ländern geordnet ist, genauer eingegangen. Im dritten Kapitel folgt dann eine Aufzählung und genauere Beschreibung der Instrumente der arabischen Musik, welche natürlich nicht eine alles umfassende Vollständigkeit zum Ziel hat, sondern sich auf das Wichtigste und Typische beschränkt. Das Kapitel ist nach Saiten-, Blas- und Schlaginstrumenten in drei grobe Unterkapitel aufgeteilt, welche zum Vergleich in Analogie zu den bekannteren westlichen Verwandten wie Laute, Klarinette oder Oboe gestellt sind, obwohl es natürlich nur sehr archaische Versionen davon sind. Im Rahmen des maqam-Phänomens werden auf der Grundlage einer modalen Improvisation musikalische Strukturen entwickelt. So bringt das vierte Kapitel dann genauere Informationen über das arabische Ton- und Rhythmussystem und unsere Arbeit wird vom Portrait einer jungen marokkanischen Musikgruppe abgeschlossen, die wir während unseres dreiwöchigen Aufenthalts in Marokko vor ihrem Auftritt am „Féstival des Arts Populaires“ in Marrakech interviewt haben und die sehr liebenswürdig und enthusiastisch auf unsere radebrecherischen in einem französisch-englischen Sprachgewirr gestellten Fragen eingegangen sind. Wir haben dieses Thema gewählt, weil wir gerne mal eine fremde Kultur kennen lernen wollten und so unseren Marokkoaufenthalt auch gerade zur Recherche an Ort benutzen konnten. Vor dem Schreiben dieser Maturaarbeit wussten wir fast nichts über arabische Musik. Die Lektüre der Literatur gestaltete sich somit sehr spannend und lehrreich. 3 1. Geschichte Wir werden in diesem Kapitel die Geschichte der arabischen Musik (genauer gesagt, die Geschichte der arabischen Kunstmusik, denn die Volksmusik wird hier fast vollständig ausgeklammert) behandeln und haben uns entschlossen, diese in Anlehnung an Habib Hassan Toumas „Die Musik der Araber“ (S. 20-41) nach einschneidenden Wendepunkten der Musiktradition in die nun folgenden sechs Unterkapitel aufzuteilen. 1.1 Vorislamische Periode (bis ins 7. Jahrhundert) Die arabische Musik hat ihre Ursprünge schon tausend Jahre vor dem Islam bei den Nomadenstämmen, die den Genuss- und Unterhaltungsfaktor darin fest etabliert hatten und die eine bis heute nicht vollständig erforschte hohe Kultur aufwiesen, wobei die Stammessolidarität das oberste Gesetz war. In diesem Zeitalter (die frühesten überlieferten Informationen zum Musikleben der Araber stammen aus dem 6. Jahrhundert n. Chr.) war die Musik hauptsächlich eine Angelegenheit der Frauen und wurde durch eine gewisse Sinnenfreude dominiert. Wir bezeichnen diese vorislamische Periode als gahiliya (übersetzt: Stolz, Unverschämtheit, Fanatismus). Sklavinnen, die extra zum Zwecke der musikalischen Unterhaltung ausgebildet waren und die man qaina (Mehrzahl qiyan) nannte, wurden in die Städte gebracht, um in aristokratischen Häusern als Prostituierte und Musikerinnen für Unterhaltung zu sorgen. Ausserdem begleiteten sie auch Krieger auf das Schlachtfeld, um diese durch Singen von Kriegsliedern und Trommeln auf Duff (siehe Kapitel 3.3.5) und Tabla (3.3.2) während des Krieges zu unterstützen und unterwegs jederzeit zur Verfügung zu stehen, um bei einem Halt die Stimmung der Soldaten aufzubessern. Auch bei Stammeshochzeiten wurden die Feierlichkeiten von Sängerinnen und Musikerinnen angeführt und sie gingen als Begleitung mit nach Mekka (was in jener vorislamischen Zeit eine heidnische Pilgerfahrt war), wo sie rund um den Kabba sangen und tanzten. Es gab qiyan, die nur einem Besitzer zu Diensten waren und es gab wiederum andere, die ähnlich wie bei den Bordellen dieser Zeit eine Fahne über den Türen ihrer Lokale (welche man hana nannte und überall auf der arabischen Halbinsel antreffen konnte) hissten, um so die Aufmerksamkeit der Kunden auf sich zu lenken. Die qaina, die sich durch Schönheit und Eleganz auszeichnete, auf geschmackvolle Kleidung achtete und sich, stets reich geschmückt, exzessivem Gebrauch von kostbaren Parfums widmete, besass eine berauschende Stimme und ein beachtliches Vermögen, was die Wichtigkeit ihrer Dienste für die Gesellschaft widerzuspiegeln vermag. Bezüglich Fremdeinflüssen auf den Gesangsstil der qiyan soll hier ein Zitat aus „Die Musik der Araber“ von H. H. Touma wiedergegeben werden: „Die Sklavenschicht in der vorislamischen Epoche bildeten Perser, Byzantiner, Ägypter und Äthiopier. Es lebten in diesem geographischen Raum also heidnische Polytheisten, Christen, Juden und altpersische Magier Seite an Seite, die durch ihre Liturgien, Hymnen und anderweitigen Gesänge die qiyan gewiss musikalisch beeinflusst haben werden.“ Obwohl also, wie es ebenda weiter heisst, die Beeinflussung (vor allem durch die Perser und die Äthiopier, welche auf ein eigenes hochstehendes Musikleben verweisen konnten) nicht zu unterschätzen ist, 4 kann doch mit Überzeugung behauptet werden, dass das typisch arabische Element im qaina-Gesang keinesfalls verdrängt worden ist. Zwei Gesangsstile sind in der gahiliya deutlich voneinander zu unterscheiden. Es sind dies der Gesang der sesshaften Bevölkerung (genauer gesagt die Gesangstradition der qiyan), der als hochstehend und kunstvoll gekennzeichnet wird sowie der Gesang der nomadisierenden Beduinen, der allgemein als naiv und einfach beschrieben wird und sich auf die Gattungen huda (Aufmunterungs-Gesang der Kameltreiber im Kamelschrittrhythmus) und nasb (Gesang junger Beduinen und ausserdem auch die Totenklage der Frauen) beschränkte. Der hochstehende, kunstvolle Gesang der qiyan und dessen poetische Ausdrucksformen zerfallen inhaltlich und formal wiederum in zwei Kategorien, nämlich in sinad, dessen Texte sich um Themen wie Ernst, Würde, Lob, Stolz und Hochmut drehten und die in den langen klassischen Versfüssen der arabischen Poesie gedichtet waren sowie in hazag, unter dem man schlichte Unterhaltungs- und Belustigungslieder in kurzen klassischen Versfüssen verstand, deren Sängerin von Lauten, welche der heutigen Kurzhalslaute Oud (3.1.1) geähnelt haben dürften, Flöten oder Handtrommeln (vor allem Duff, 3.3.5) begleitet wurde. Neben der Duff und ebengenannter Laute, welche dem Dichter al-Asa zufolge sang genannt wurde, finden in der Dichtung der gahiliya auch eine Art Flöte als Qussab, ein oboen- oder klarinettenähnliches Instrument als Mizmar (3.2.4) sowie eine Rassel als Galagil Erwähnung. Die wichtigsten männlichen Künstler waren muhannatun (Transvestitensklaven), aus deren Rängen bis weit in das islamische Zeitalter hinein die Mehrzahl männlicher Musiker stammte. Sie waren dem Zorn der orthodoxen Moslems und dem Spott der Gesellschaft ausgesetzt, doch ihr Können wurde im Schutz der Höfe einiger nicht ganz so frommer Kalifen gepflegt, die ihre ausgefallenen Eskapaden bei Festen und Banketten schätzten. 1.2 Klassische altarabische Tradition (7. bis 9. Jahrhundert) Die qaina-Tradition hatte noch einige Jahrzehnte während des Islam Bedeutung. Es ist jedoch bei derart dekadenten Ursprüngen der arabischen Musiktradition kaum verwunderlich, dass der Gesang und das Spielen von Musikinstrumenten bald nach der Einführung des Islam im 7. Jahrhundert (Auswanderung Mohammeds nach Medina und Beginn islamischer Zeitrechnung im Jahre 622) als Sünde betrachtet und rasch verboten wurde. So sprach Jasid III. (ein bekannter Kalif) im Jahre 740 folgende Warnung aus: „Hütet euch vor dem Gesang, denn er wird euch eure Bescheidenheit nehmen, euch mit Gier erfüllen und eure Tugenden zerstören!“ Ungesetzliche Instrumente wurden zerstört, Sänger wurden vor Gericht als unwürdige Zeugen angesehen und Sklavinnen, bei denen eine Begabung für Gesang festgestellt wurde, durften auf den Markt zurückgebracht und eingetauscht werden. Obwohl Im heiligen Buch des Islam, dem Koran, Gesang weder verboten noch ausdrücklich erlaubt wird und die Musikverbote subjektiven Koraninterpretationen entstammen, gibt es noch heute im Islam keine Musik. Der Aufruf zum Gebet durch den Muezzin wird nicht als Musik betrachtet, obwohl er eines der besten Beispiele ist , um zu zeigen, wie die komplizierten arabischen Modi, die Maqamat (Einzahl: Maqam; siehe Kapitel 4), auf denen die arabische Musik basiert, verwendet werden. Tarab, das heisst Entzücken durch den Vortrag des Koran, hervorzurufen ist Sünde und bezeichnend für die Furcht des Islam vor dem Einfluss der Musik auf die menschliche Natur. Musik in der arabischen Welt ist folglich ein 5 ausschliesslich weltlicher Zeitvertrieb. Der folgende, anschliessend noch ergänzend erklärte Satz entstammt wieder dem vormals schon zitierten Werk von Touma und zeigt auf, dass die weltlichen Musikvergnügungen durchaus neben fanatischorthodoxen Überzeugungen seitens der geistlichen Gilde fortbestehen und im Falle von Medina, welches die Hauptstadt des Islams der Anfangszeit war, sogar zu einem anspruchsvollen Musikleben aufblühen konnten: „Wie auch immer die Stellungnahmen der Theologen oder Staatsmänner des arabischen Reiches in den verschiedenen Epochen nach dem Auftreten des Islam geartet waren, sie änderten nichts daran, dass Gesang und Musik ohne Unterlass gepflegt wurden und dass oft in ein- und derselben Epoche die Frömmsten der Gläubigen und die Lebenslustigsten unter den Musikern und Sängern friedlich nebeneinander lebten, wie es z.B. in Medina und Mekka während der Amtszeit des dritten Kalifen Utman und während der Umayyaden-Herrschaft der Fall war.“ Der Kalif (vom arabischen alchalifa, Nachfolger) war nach dem islamischen Glauben der Nachfolger des Propheten Mohammed und hatte die politische und religiöse Führung der islamischen Gemeinde inne. Um einen kurzen Exkurs zu wagen, soll gesagt sein, dass es deren vier sogenannte rechtgeleitete gab (beginnend 632 bis 634 mit Abu Bakr, der zum Usus werden liess, dass die Beute aus eroberten Gebieten zu gleichen Teilen unter den Bewohnern Medinas verteilt wurde, welches so zur reichsten Stadt des arabischen Imperiums avancierte, gefolgt 634 bis 644 von Umar Ibn Abd al-Khattab sowie 644 bis 656 von erwähntem Utman ibn Affan und endend 656 bis 661 mit Mohammeds Schwiegersohn Ali Ibn Abi Talib, der in der Kaaba geboren wurde und, wie so viele andere Kalifen dieser Epoche auch, durch ein Attentat starb), die von der Herrschaft der Umayyaden-Kalifen (661 bis 750, begründet vom Kalifen Mu’awiya) abgelöst wurden, welchen wiederum 750 das Kalifat der Abbasiden folgte, das schliesslich durch die Osmanen (1517 bis 1924) ersetzt wurde. Ausser der oben kurz erwähnten Beute gelangte auch ein Heer von Gefangenen und Sklaven nach Medina, die man raqiq nannte und die durch die Einführung ihrer Sitten und Bräuche, ja ihrer ganzen Kultur, das dortige Leben beeinflussten und veränderten. Somit nahmen die Araber eifrig das kulturelle Erbe der Griechen, Römer, Perser, Ägypter, Assyrer und Babylonier auf, um es zu verarbeiten und in ihre eigene Kultur einschmelzen zu lassen. Die Araber im Higaz, unter welchem man das Gebiet rund um den Ort der heiligen Stätten, also den Landstreifen im heutigen Saudi-Arabien um die islamischen Kernstädte Mekka und Medina (welches sich auch hier wieder durch besondere Wichtigkeit heraustat) versteht und der das musikalische Zentrum und der Ausgangspunkt vieler grosser Gesangskarrieren dieser Epoche war, kannten ein sehr üppiges und hochstehendes Musikleben, indem sie den Gesang als professionelle Kunst betrachteten, was dazu führte, dass sie mehrere Generationen lang bis in die Anfänge der Abbasiden-Zeit hinein Einfluss hatten. Die qiyan wurden nun vermehrt auch durch Frauen, die nicht ihrer Klasse angehörten, oder männliche Sänger ersetzt, die man muhannat nannte und die meist homosexuelle Neigungen hatten und Frauenkleider trugen (sogenannte Effeminierte oder Transvestiten, oft Persien, Äthiopien oder Schwarzafrika entstammend, wobei sie jedoch häufig auf der Arabischen Halbinsel zur Welt gekommen waren). Einer dieser Sänger mit persischer Abstammung war Yunus al-Katib (gestorben 765), der zum einen Abhandlungen über die Musik und das Musikleben in Medina, wo er lebte, verfasste und die Lieder seiner Zeit sammelte, um sie zusammen mit seinen eigenen Gesängen in zwei Büchern zu veröffentlichen, wobei er neben dem Liedtext auch noch den Modus, den Rhythmus sowie die Namen von Komponisten und Dichtern festhielt und der zum anderen in zwei weiteren Abhandlungen die Melodie und die qiyan thematisierte, was 6 ihn zwei Jahrhunderte später zur prominenten Vorlage und Stütze für Werke so bedeutender Historiker wie al-Mawsili und al-Isbahani machte. Beachtlich scheint die Zahl der Sänger und Sängerinnen zu sein, welche zur Zeit der ersten vier Kalife und der der Umayyaden-Herrschaft in Medina und Damaskus (das ab 661 unter den Umayyaden zum Sitz des Kalifenhofs wurde) mit eigenen Kompositionen hervortraten und deren Lebenslauf und musikalische Tätigkeiten und Beziehungen genau dokumentiert sind, wobei jedoch leider keine Melodien oder Rhythmen überliefert wurden, so dass man sich heute keine genauen klanglichen Vorstellungen vom damaligen Gesangsstil machen kann. Jedoch weiss man, dass die grossen Sänger Mekkas und Medinas viele Schüler heranziehen konnten, indem sie im kunstvollen Gesangsstil al-qina al-mutqan unterrichteten, dessen Schöpfer Tuwais (632-710) ist, ein früher Grossmeister aus Medina und erster effeminierter Sänger im Higaz, und dass sie so schliesslich eine arabische Gesangsschule gründeten, die sich für mehr als ein Jahrhundert behaupten sollte. 1.3 Erneuerung der altarabischen Tradition in Bagdad und Cordoba (9. bis 15. Jahrhundert) Jedoch entfernte man sich im Grossen und Ganzen schon Bald nach der Entstehung des Islam wieder von der klassischen Musiktradition des islamischen Kernlandes und die arabische Musik bekam Anhänger aus einem unerwarteten Lager. Sie stand unter der Schutzherrschaft des Kalifenhofes von Bagdad (welches durch die Abbasiden zur neuen arabischen Hauptstadt geworden war), wo jenseits des Zuständigkeitsbereiches islamischer Puristen Fröhlichkeit und Kreativität herrschten. Es war die hedonistische Welt des Abbasiden-Kalifen Harun al-Raschid (786-809) und „Tausendundeiner Nacht“. Dieses Umfeld erwies sich als äusserst produktiv, brachte es doch Visionäre wie den Musiker und Theoretiker Ishaq al-Mawsili (767850) hervor, der dafür bekannt war, jeden Vers innerhalb einer jemals auf Arabisch verfassten Dichtung zu kennen und der in unzähligen Legenden berühmt wurde (so sagt man zum Beispiel, dass er einmal einen taubstummen Konsul unterhalten musste, den er dank der Schönheit seiner Stimme zu Tränen rührte). In Opposition zu den Traditionalisten (zu denen auch al-Mawsili gehörte) traten Musiker wie der hochbegabte Bagdader Sänger und Oud-Spieler Ibrahim al-Mahdi (779-839), der die strengen Regeln der altarabischen Schule des Higaz lockerte und dessen Vater und Bruder Kalifen waren. Persische Einflüsse verdrängten die alten Elemente immer mehr. Diese Strömungen waren schliesslich auch in Cordoba zu spüren, weil Ziryab zu Beginn des 9. Jahrhunderts als hochbegabter Schüler seinen Lehrer al-Mawsili (der wie erwähnt schon in den Kampf gegen die Bewegung von al-Mahdi vertieft war) anscheinend rivalisierte und dessen aus Neid und Angst um die Stellung am Hofe des Harun al-Raschid erfolgter Drohung Bagdad zu verlassen prompt Folge leistete und nach Andalusien auswanderte, wo die Umayyaden seit dem Untergang ihres Damaskus-Kalifats herrschten und er vom Sultan Abd al-Rahman II (822-852, Sohn des Gründers des umayyadischen Emirats von Cordoba) freundlich aufgenommen wurde. Ziryab traf um 822 in Cordoba ein, wo er eine Musikschule gründete, die zur Keimzelle späterer andalous-Musik Nordafrikas (2.1.1) und (neben den alsbald auch in Sevilla, Toledo, Valencia und Granada gegründeten Ziryab-Schulen) zum Ausbildungsort vieler Generationen von Sängern und Musikern wurde. In derselben Epoche schrieb Abu Nasr al-Farabi (gestorben 950) mit seinem „Grossen Buch der Musik“ (Kitab al-Musiqa al-Kabir), eine wichtige Abhandlung über 7 Rhythmen, Tonleitern und Tonarten und damit die seinerzeit bei weitem fortschrittlichste Musiktheorie. Al-Isbahani (gestorben 967) tat es ihm mit seiner zwanzigbändigen, eine Epoche von 400 Jahren umfassenden Publikation des „Grossen Buches der Gesänge“ (Kitab al-Agani al-Kabir) gleich. Im 13. Jahrhundert veröffentlichte dann Safi ad-Din al-Urmawi (gestorben 1294) sein „Buch der Modi“ (Kitab al-adwar), in dem er unter anderem auch die Skelettnotation eines Liedes mit Angaben zum Rhythmus und Modus einführte (er schrieb die Namen der Melodietöne und Hinweise zum Begleitrhythmus über den Liedtext). Es war allgemein ein Zeitalter des grossen Fortschritts für die Araber, insbesondere bezüglich geistiger Disziplinen aber auch in Hinsicht auf wissenschaftliche Leistungen und Entdeckungen. Es soll hier passend David Lodge aus dem „Rough Guide Weltmusik“ (Seite 245) zitiert sein: „Zu einer Zeit, als die Europäer in den finsteren Gefilden des Christentums aufeinander einprügelten, erlebten die Araber ihr Goldenes Zeitalter, machten sich Gedanken um die Macht der Phantasie und die Wirkungen der Musik auf die menschliche Seele.“ Und weil Touma das Ganze so schön zusammenfassend nochmals beschreibt, wollen wir auch ihn hier noch aus seinem vormals schon verwendeten Buch zitieren: „Die Neuerungen von al-Mahdi im Osten und Ziryab im Westen fanden im 9. Jahrhundert statt, dem goldenen Zeitalter der Araber in politischer wie in kultureller Hinsicht. Bagdad war im Osten die Hauptstadt der Abbasiden und Cordoba die der Umayyaden im spanischen Westen. Diese Epoche gilt in der arabischen Musikgeschichte als eine Art ars nova [lat. neue Kunst]. Deren musikalische Merkmale sollten die Musikpraxis der Araber bis in das 19. Jahrhundert hinein bestimmen - unabhängig davon, ob die Stadt Bagdad, Aleppo, Kairo oder Istanbul hiess.“ 1.4 Der Niedergang unter osmanischer Herrschaft (15. bis 19. Jahrhundert) Durch den Niedergang Cordobas im 11. Jahrhundert, Bagdads im 13. Jahrhundert und Granadas im 15. Jahrhundert entstand ein Vakuum, in dem sich die arabische Musik von der türkischen und persischen Kultur nochmals stark beeinflussen liess und das schliesslich erst das osmanische Reich im 16. Jahrhundert auszufüllen vermochte. Das Nationalgefühl der Araber schwand und die arabische Literatur, Wissenschaft und Musik kam unter den Osmanen (und später noch deutlich verheerender unter dem Einbruch der nun wirklich grundverschiedenen europäischen Musikkultur mit Radio, Schallplatte und Film, die alle Einflüsse der altarabischen Musiktradition des Higaz und also der ursprünglichen qaina-Schule tilgte) zum erliegen. Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden Ägypten, Syrien und der Irak von den Türken erobert und Istanbul wurde auf Kosten von ehemals so wichtigen Städten wie Damaskus, Bagdad und Kairo, die nun jegliche kulturelle Wichtigkeit verloren und sich in Residenzen osmanischer Gouverneure verwandelten, welche sich der Regentschaft und dem Steuerneintreiben widmeten, zum neuen Mittelpunkt der islamischen Welt. Im Masriq (unter welchem man das Grossgebiet von Ägypten, Syrien, Irak, Higaz und Jemen verstand) dauerte die osmanische Herrschaft bis ins 20. Jahrhundert, im Maghreb (was wörtlich „der Westen“ auf Arabisch heisst, womit die westlichen Küsten der Arabisch sprechenden Welt, also Nordafrika von Tunesien bis Mauretanien, gemeint sind), wurde sie schon im 19. Jahrhundert durch ein europäisches Kolonialregime abgelöst. 8 1.5 Zeit des Wiedererwachens (19. Jahrhundert) Dieses Kolonialregime stiess um 1850 unter wachrüttelnden Fanfarenstössen nach Ägypten vor und liess die arabische Welt, welche mehrere Jahrhunderte lang unter dem osmanischen Schutzmantel kulturlos dahinvegetiert hatte, durch die Aufführung verführerischer Verdi- und Mozartopern im neuen Opernhaus von Kairo aus ihrem friedlichen Schlummerschlaf aufschrecken und durch diese plötzliche Konfrontation mit der Modernität sogar ein neu entbranntes künstlerisches und geistiges Leben fruchten. Ägypten übernahm also alsbald, von einem tief verwurzelten nationalistischen Streben nach Unabhängigkeit ergriffen (was nach 2000 Jahren Fremdherrschaft nicht weiter verwunderlich ist), die Führerrolle in der gesamtarabischen musikalischen Renaissance-Bewegung und der türkische Einfluss, der sich zuvor klar in der arabischen Kultur manifestiert hatte (dies war soweit gegangen, dass in arabischen Liedtexten gehäuft auch türkische Wörter auftraten und türkische Kompositionsformen im arabischen Bereich grosse Verbreitung gefunden hatten), wurde schnell wieder durch typisch arabische Töne verdrängt. Jedoch auch zu dieser Zeit bedeutete Musik für den Araber immer noch hauptsächlich Gesang (gina), welcher mit der tarab genannten Freude, die er bei den Zuhörern erzeugte, verbunden war (in dieser Form kennen wir die arabische Musikkultur seit ihren Anfängen und so ist sie grösstenteils bis in die Gegenwart geprägt geblieben). Der arabische Begriff musiqa (von dem das Wort „Musik“ eigentlich abstammt) wurde von den Arabern ausschliesslich bei theoretischen Abhandlungen über Musik verwendet. Es gab nun schnell wieder wichtige Zentren der wiedererweckten arabischen Musikwelt, die zugleich auch die verschiedenen Musikstile repräsentierten, welche sich noch heute in der arabischen Musik nachweisen lassen. Namentlich waren dies folgende fünf Stile: der des Irak, Syriens, Ägyptens, der Arabischen Halbinsel und Nordafrikas, wobei sie sich bezüglich Gesangsmanieren, Lauten-Zupftechnik, Tonleiternstruktur, Begleitrhythmus und auch Aufbau und Inhalt der Dichtungen unterschieden. Die Wiederbelebung der arabischen Musiktheorie war grossteils Miha il Misaqa (1800-1889) zu verdanken, der die Teilung der Oktave in 24 annähernd gleich grosse Vierteltonschritte vorschlug. 1.6 Neue Richtungen Obwohl die Araber schon im 9. Jahrhundert Noten erfunden hatten (al-Kindi, gestorben 874, in seiner „Philosophie der Araber“, die vor der Zeit al-Farabis und alIsbahanis das bedeutendste musiktheoretische Werk der Araber war), dieses Vorhaben aber wieder aufgaben und ihre Musik nie allgemein niederschrieben, und obwohl die Ursprünge des westlichen Fortschritts eigentlich in der 1000 Jahre zuvor stattgefundenen Beeinflussung durch die Araber gründeten (wie beispielsweise die Rabab (3.1.5), aus der die Violine hervorging oder die Harmonik, die langsam ihren Weg zurück in die arabische Komposition fand, zeigen), waren sie doch schutzlos dem europäischen Entwicklungsstand ausgesetzt und liessen sich von diesem dergestalt beeinflussen, dass sie sich gegen Anfang des 20. Jahrhunderts weit von ihren alten Theorien entfernt hatten. 1923 versammelten sich darum arabische Musiker zu einer ausserordentlichen gesamtarabischen Konferenz in Kairo (mit der 9 Unterstützung vom damals sehr für arabische Musik begeisterten Béla Bartók, welcher von 1881 bis 1945 lebte), um eine Liste ihrer musikalischen Produktion zu erstellen, wobei sie eine breite Vielfalt vom einen bis zum anderen Ende der arabischen Welt vorfanden, was schliesslich dazu führte, dass eine Kampagne ins Leben gerufen wurde, um die Erforschung der eigenen Ursprünge und Traditionen sowie neuerliches Interesse daran zu fördern. Der Westen wurde jedoch nicht etwa als Bedrohung angesehen sondern war die Quelle der Inspiration schlechthin und arabische Komponisten waren erpicht darauf, sich dessen Vorteile und Fortschritte zunutze zu machen, was nicht zuletzt auch dazu führte, dass neue Instrumente wie etwa Celli, Kontrabässe, Oboen und E-Gitarren mit uneingeschränkter Begeisterung aufgenommen und sogar dem traditionellen arabischen Takht-Quintett hinzugefügt wurden, um dieses bald zu einem vollständigen Orchester zu vergrössern. Auch die Tonstudios wurden mit neuester Technologie ausgestattet und Melodien von Beethoven (etwa dessen 5. Symphonie) über Verdis „Rigoletto“ und Tschaikowskis „Slawischen Marsch“ bis zu Bartók wurden übernommen und mit jazzigen oder auch lateinamerikanischen Rhythmen in Schwung gebracht (wie etwa oft bei Abd elWahaab, dem Pionier in dieser Sache), doch kann nicht die Rede von einer primitiven Imitation sein, sondern wurden die Themen vielmehr durch dichte Bässe, Gleichklänge und Oktavparallelen in üppiger Orchestrierung in das arabische Klangmuster übersetzt und es wurden auch vom weit zurückreichenden musikalischen Erbe der Araber viele traditionelle Elemente beibehalten. Auch die Medien fanden ihren Weg in die arabische Welt und spielten in der dortigen Musik fortan eine beherrschende Rolle, was mit dem Phonographen begann (der nur etwa drei Minuten lang spielte und so dem traditionell langen arabischen Lied kaum entsprach) und über den Rundfunk in den Zwanzigerjahren (der zur Folge hatte, dass erstmals alle Araber dieselbe Musik hörten, die auf grossen Massenanklang stiess und zur Entwicklung einer Superstar-Industrie führte) schliesslich zur Einführung der Kassette in den Siebzigern führte, welches die bei weitem revolutionärste Änderung war, weil somit die Musikindustrie weg von den Geschäftsmännern an die Öffentlichkeit und auf die Strasse gelangte, was zum unwillkürlichen Untergang der alten Stars führte, da nunmehr jeder Musik machen konnte und dies auch ausgiebig tat. Abd el-Wahaab, der bis zu seinem Tod 1991 die Fackel des klassischen Liedes weitergetragen hatte, liess sich in den Siebzigerjahren verdriesslich über die neue Strassenmusik aus: „Es sollte eine genaue Abgrenzung zu den grossen Sängerinnen und Sängern wie Abd el-Halim Hafez und Oum Kalsum geben. ... Die Sänger der neuen Welle haben die Musikszene mit ihren Liedern beschädigt.“ Dass die traditionelle arabische Musik durch die „Krankheit der Amerikanisierung“ immer mehr in den Hintergrund trat, um Verschmelzungen mit modernen Bedürfnissen Platz zu machen und dass, wie Touma in seinem Buch pessimistisch schreibt, die meisten Araber, welchen Bildungsstandes auch immer, die echte arabische Musik heute nicht mehr kennen, wird von der Popmusik-Industrie als Fundamentalisten-Kritik abgetan, denn die neue Musik sei Musik wie sie immer gewesen ist, nämlich Ausdruck für die Stimmung des Volkes, Populärmusik eben. Habib Hassan Touma zieht in „Die Musik der Araber“ weiter wie folgt über die Entwicklung der arabischen Musik des 20. Jahrhunderts und die unverantwortliche Haltung mancher Araber her: „Bis zum Untergang des osmanischen Reiches...blieb die Musik der Araber im wesentlichen ein Teil der Musikkultur des Vorderen Orients. Erst durch die Auseinandersetzung mit der europäischen Musik...wandelte sich das arabische Musikleben in seinen inhaltlichen, formalen und soziologischen Aspekten grundlegend. Es ereignete sich eine Art Kulturkatastrophe. Schuld an ihr war eine Gruppe führender arabischer Intellektueller, die glaubte (und heute immer noch 10 glaubt), dass die europäische Kultur der arabischen überlegen ist. Infolgedessen bedachten sie ihre eigene Musikkultur mit nichts als Verachtung. Diesen Intellektuellen ist es zuzuschreiben, dass man heutzutage sehr lange suchen muss, bis man in der arabischen Welt auf die authentische Musik der Araber stösst.“ Nun, man kann es auch übertreiben mit der Schwarzmalerei; wir haben den barbarischen Einfluss des Westens bei unserem Marokkoaufenthalt jedenfalls nicht als so schlimm empfunden und durchaus in gehäuftem Masse noch traditionelle Musik geniessen können, die sich in gewissen Bereichen halt doch noch neben der modernen hat behaupten können. 11 2. Verschiedene Stile In der arabischen Welt existieren unzählige verschiedene Musikgattungen. Jedes Land hat seine eigene Volksmusik. Dazu kommt eine Vielfalt weltlicher arabischer Volksmusik und nicht zu vergessen alle die modernen populären Stile, welche mehr und mehr an Beliebtheit gewinnen. Statt jeden Musikstil einzeln und nur kurz zu beschreiben, gehen wir im folgenden Kapitel lieber etwas genauer auf die wichtigsten und meistgehörten bzw. –gespielten arabischen Musikgattungen ein. 2.1 Marokkanische Musik 2.1.1 Andalous-Musik Die Andalous-Musik ist die klassische Musik Marokkos. Sie stammt von der arabisch-andalusischen Tradition ab und wird im gesamten Maghreb gespielt. Ihr Erfinder war der herausragende Musiker Zyriab aus Bagdad. Entstanden ist diese Musikrichtung vor etwa tausend Jahren im spanischen Cordoba. Die Grundlage der Andalous-Musik bzw. Al-Âla ist die klassische Suite, genannt Nuba. In Marokko ist diese lebendige Musik weit verbreitet und sehr populär. Während des Ramadan werden häufig Klassiker des Andalous im Fernsehen und Radio ausgestrahlt, und wer nichts von beidem besitzt, geht in Cafés, um sie sich anzusehen. Die wichtigsten Nuba-Schulen Marokkos befinden sich in Fez, Rabat und Tetouan. Von ursprünglich vierundzwanzig Nuba, die unmittelbar an die verschiedenen Tageszeiten gebunden waren, sind nur Kassettencover eines Andalousvier ganze und sieben unvollständige Nuba der Orchesters marokkanischen Tradition übrig geblieben. Eine vollständige Nuba dauert sechs bis sieben Stunden und wird nur selten am Stück durchgespielt. Sie wird normalerweise passend zur Tageszeit oder zum Anlass ausgewählt. Jede Nuba besteht aus fünf Hauptteilen (Mizan), die unterschiedlich lang dauern. Die fünf verschiedenen Rhythmen einer Nuba sind folgende: zu Beginn kommt der Basît-Rhythmus (6/4), dann der Qaum-wa-nusf-Rhythmus (8/4), darauf folgt der Darj (4/4), der Btâyhi (8/4) und zum Schluss kommt der Quddâm-Rhythmus (3/4 oder 6/8, die Schreibweise und Reihenfolge der Hauptteile variieren stark). Normalerweise beginnt jedes Mizan mit einem Instrumentalpräludium, worauf dann Lieder folgen, Sana’a genannt. Ein einziges Mizan kann bis zu dreissig Sana’a enthalten, oft werden aber nur drei bis vier davon gesungen. Die Texte vieler Sana’a handeln oft von Dingen, die in der islamischen Welt als Tabu gelten. Diese Themen wie zum Beispiel Alkohol, Sex und Politik werden aber meistens nur angedeutet. Andere Sana’a hingegen sind religiös und lobpreisen den Propheten und die göttlichen Gesetze. Nach der Vertreibung der Araber aus Spanien, ihrem Al-Andalous, verteilten sich die arabisch-andalusischen Musikschulen in Städte ganz Marokkos. 12 Hörbeispiel: - CD Nr. 1: Ausschnitt einer Andalous-Vorführung 2.1.2 Milhûn und Gharnati Milhûn ist der Andalous-Musik nahe verwandt. Sie verwendet die gleichen Instrumente und Tonarten wie die Andalous-Orchester, kann jedoch gut tanzbar sein. Es ist eine halbklassische Form gesungener Dichtung. Die Milhûn-Suite ist aus zwei Teilen zusammengesetzt: Aus der Taqsim (Ouvertüre) und der Qassida (gesungene Gedichte). Die Taqsim wird auf Oud (3.1.1) oder Violine in freiem Rhythmus gespielt und bestimmt die Tonart des Stückes. Die Qassida ist wiederum in drei verschiedene Teile unterteilt: Im Al-Aqsâm werden Verse solo vorgetragen. Al-Harba bezeichnet den vom Chor gesungenen Refrain. Am Ende kommt Al-drîdka, in dem der Rhythmus immer schneller wird, bis das Stück abgebrochen wird. Das Milhûn-Orchester besteht aus Oud, Kamenjah, Swisen (kleine, hohe Volkslaute, verwandt mit dem Gimbri), Hadjouj, Taarija, Darabouka und Handqa (kleine Blechbecken; Instrumente, siehe Kapitel 3.). Neben den Musikern gehört immer eine ganze Reihe Sänger zum Orchester. Gharnati wird hauptsächlich in Algerien gespielt, aber auch in Marokko gibt es mehrere wichtige Zentren dieser Musikrichtung, zum Beispiel Rabat, die Hauptstadt. Gharnati ist ebenfalls eine Richtung der arabisch-andalusischen Tradition. Auch sie wird in Suiten bzw. Nuba arrangiert. Die Stücke werden in fünf Mizan unterteilt. Jedes Mizan hat einen eigenen Rhythmus und eigene Liedsätze, welche häufig von der Liebe handeln. Die Reihenfolge der Rhythmen ist folgende: Msadder (4/4), Btâyhi (4/8), Darj (6/8), Insirâf (5/8) und Makhlas (6/8). Gharnati-Orchester bestehen aus denselben Instrumenten wie die Milhûn-Orchester, doch sie werden noch durch Banjo, Mandoline und die algerische Laute, genannt Kwîtra, ergänzt. Ein Gharnati-Ensemble aus Rabat 13 2.1.3 Gnaoua Die Gnaoua-Bruderschaft ist eine religiöse Gemeinschaft. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft sind Nachkommen von Sklaven, die von den Arabern von jenseits der Sahara hergebracht wurden. Anhänger sind in ganz Marokko zu finden, doch am stärksten sind sie im Süden, insbesondere in Marrakech, konzentriert. Die Bruderschaft führt ihre geistigen Ursprünge auf den Äthiopier Sidi Bilal, den ersten Muezzin des Propheten, zurück. Die meisten Gnaoua-Zeremonien oder Deiceba werden abgehalten, um gute und böse Geister zu besänftigen, von denen eine Person oder ein Ort besessen ist. Die Bruderschaft wird oft um Hilfe gebeten, wenn beispielsweise jemand von einem Skorpion gebissen wurde oder auch im Falle von Geisteskrankheit. Diese Riten stammen ursprünglich aus der afrikanischen Subsahara. Kassettencover einer Gnaouagruppe. Im Vordergrund ist ein Bassgimbri-Spieler (3.1.2), im Hintergrund ein GaragabDas Hauptinstrument der Gnaoua-Musik Spieler (3.3.7) zu sehen. ist der Gimbri (3.1.2), eine Langhalslaute, die mit Instrumenten aus Westafrika fast identisch ist. Ebenfalls ein sehr wichtiges Instrument der Gnaoua sind die Garagab (3.3.7), ein Paar Metallkastagnetten, welche in einem tranceähnlichen Rhythmus geschlagen werden. Heute kann man Gnaoua-Musik bei Festivals oder auf Vergnügungsplätzen wie dem Jemaa el Fna in Marrakech hören. Hörbeispiele: - CD Nr. 3: Gnaoua-Musik der Gruppe „Hamdawa“ 2.1.4 Berbermusik Die Berber waren vor dem Einzug der Araber die hauptsächlichen Bewohner des Maghreb. Im 8. Jahrhundert zogen sie sich in die Berge, den Hohen Atlas, zurück. Die Musik der Berber ist in ganz Marokko spürbar. Die Mehrheit marokkanischer Musik ausserhalb der Grossstädte ist berberischen Ursprungs. Die Berbermusik ist eine althergebrachte Tradition, die mündlich von Generation zu Generation weitergegeben worden ist. Es existieren drei Hauptarten von Berbermusik: Dorfmusik, rituelle Musik und die Musik professioneller Musiker. Bei der Dorfmusik kommen Männer und Frauen des ganzen Dorfes zu festlichen Anlässen oder Moussems zusammen, um gemeinsam zu singen und zu tanzen. Die beiden bekanntesten Tänze sind Ahouach aus dem westlichen und Ahidus aus dem östlichen Hohen Atlas. Die beiden einzigen Instrumente sind Trommeln (Bendir) und Flöten. Der Tanz beginnt mit einem gesungenen Gebet, dem die Tänzer im Chor antworten. Die Männer und Frauen sind in einem grossen Kreis rund um die Musiker aufgestellt. Der Ahouach wird normalerweise nachts unter freiem Himmel auf einem Platz der Kasbah (Burgähnliches Gebäude im Dorf) getanzt. Er ist so kompliziert, 14 dass ihn die Tänzer-/innen vorher in einer Gruppe, genannt Laamt, einstudieren müssen. Der Ahidus ist ähnlich, doch bilden die Tänzer keinen Kreis, sondern die Männer stellen sich in einer Reihe gegenüber den Frauen auf. Rituelle Musik ist fast immer an landwirtschaftliche Angelegenheiten oder wichtige Ereignisse im Leben der Menschen gebunden, wie zum Beispiel die Heirat. Sie wird auch gebraucht, um mit Djinn, bösen Geistern, in Kontakt zu treten und um Regen zu bitten. Auch hier sind Flöten und Trommeln die einzigen Instrumente, sie werden jedoch von synkopiertem Händeklatschen begleitet. Die professionellen Musiker oder Imdyazn des Atlas-Gebirges sind auf Wanderschaft. Sie reisen gewöhnlich während des Sommers in Vierergruppen. Der Anführer wird Amydaz genannt, was soviel bedeutet wie „Dichter“. Auf dem Dorfplatz trägt dieser seine meistens improvisierten Gedichte und Neuigkeiten über Geschehnisse im Land oder auf der Welt vor. Der Dichter wird von zwei Musikern auf Trommel und Rabab (3.1.5), einer ein- bis zweisaitigen Geige, begleitet. Der letzte Musiker bestimmt mit einer Schalmei, der Ghaita (3.2.1), die Melodien. Die professionellen Musikgruppen der Berber sind oft während der wöchentlichen Souks (Märkte) in den Dörfern des Hohen Atlas anzutreffen. Kassettencover einer Berbermusikgruppe Hörbeispiel: - CD Nr. 4: Berbermusik der Kassette „Music Bérbére Agadir“ 2.1.5 Chaabi Das Wort Chaabi bedeutet „populär“ und ist heutzutage eine verwirrende Mischung verschiedener arabischer Musikrichtungen. Es ist die beliebteste Musik Marokkos. Dieser Musikstil begann als Strassenmusik, die auf den Plätzen und in den Souks gespielt wurde. Doch inzwischen kann man sie überall hören: in Cafés, bei Festivals und Hochzeiten. In vielen Städten dienen bestimmte Cafés als Treffpunkt, wo die Einheimischen abends Lieder singen. Seltener wird Chaabi auch von umherziehenden Musikern gespielt, die in einem Café einige Lieder vortragen. Das kann zum Beispiel ein Milhûn-Lied sein, gefolgt von einem ägyptischen Lied von Umm Kalsum, an das sich vielleicht ein Stück der neuesten Kassette einer führenden Musikgruppe, beispielsweise Nass El-Ghiwane, anschliesst. Solche Lieder enden normalerweise mit einem Leseb, das meistens doppelt so schnell ist wie der erste Teil und die Begleitung für synkopiertes Klatschen, Rufen und Tanzen bilden kann. 15 Während der siebziger Jahre begann sich eine anspruchsvollere Form des Chaabi zu entwickeln. Es entstanden Musikgruppen, die mit den damals den Markt und das Radio beherrschenden Musik konkurrierten. Diese Gruppen bestanden gewöhnlich aus zwei Saiteninstrumenten – einer Hadjouj (Bassgimbri, siehe 3.1.2) und einer Oud (3.1.1) – sowie Bendir (3.3.5)und Darabouka (3.3.1) als Perkussionsinstrumente. Die Gruppen, die es sich leisten konnten, fügten noch Congas, Banjos und teilweise sogar E-Gitarren hinzu. Hadjouj und Bendir bleiben jedoch unentbehrlich. Chaabi ist eine Verschmelzung aus arabischen, afrikanischen und modernen westlichen Einflüssen, gepaart mit Berbermusik, Milhûn- und Sufi-Ritualen und Gnaoua-Rhythmen. Eine wichtige Rolle spielt der Gesang. Die ganze Gruppe singt, entweder als Chor oder als Hintergrundbegleitung, um den führenden Kassettencover der Chaabi-Gruppe Nass Solisten zu unterstützen. Die Texte handeln von der El-Ghiwane Liebe, von gesellschaftlichen Problemen und Politik, was den Autoren gelegentlich Ärger mit den Behörden verursacht. Die drei beliebtesten Chaabi-Gruppen sind alle aus Casablanca: Jil Jilala, Lem Chaheb und vor allem Nass El-Ghiwane. Die Musik von Jil Jilala beruht hauptsächlich auf dem Milhûn-Stil, es wird aber auch mit Gnaoua-Rhythmen gearbeitet und gelegentlich nehmen sie eine Ghaita in ihre Besetzung auf. Nass El-Ghiwane, die am stärksten politisierte der drei Chaabi-Gruppen, legen grossen Wert auf die Texte ihrer Rezitative, Verse und Refrains. Auch sie verbinden Sufi- und Gnaoua-Einflüsse miteinander. Ursprünglich bestand die Gruppe aus fünf Instrumenten: Banjo, Hadjouj, Bendir, Tam-Tam und Darabouka. Sie wurde angeführt von einem Leadsänger, der aber mittlerweile gestorben ist. Das Lied, mit welchem die Band berühmt geworden ist, heisst „Der Tisch“: Wo sind sie nun? Die Freunde, die an meinem Tisch sassen Wo sind sie nun? All die Freunde, die ich liebte Wo sind die Gläser? Wo sind die Gläser, aus denen wir tranken? Freundschaft kann bitter sein Doch es war auch wunderbar, an meinem Tisch zu sitzen Lem Chaheb ist vermutlich die im Ausland bekannteste marokkanische Gruppe. Dank ihrem virtuosen Gitarristen ist sie ausserdem die „westlichste“ der drei grossen Berühmtheiten der elektrischen Chaabi-Musik. In den achtziger Jahren tauchte in Marrakech eine neue Generation von Gruppen auf, die traditionelle und moderne Einflüsse miteinander kombinierten. Sie konzentrierten sich jedoch auf Gnaoua-Rhythmen. Die bekannteste solche Band ist Muluk el Hwa, eine Gruppe von Berbern, die früher auf dem Platz Jemaa el Fna in Marrakech ihre Künste zum Besten gab. 16 Hörbeispiel: - CD Nr. 5: Chaabi-Musik der Gruppe Nass El-Ghiwane 2.2 Algerische Musik In Algerien, einem der grössten Länder des arabischen Raumes, werden alle möglichen Musikstile gehört und gespielt: Andalous-Musik, Milhûn-Suiten, Chaabi oder ägyptische Lieder. Doch die wichtigste Rolle spielt in Algerien eindeutig die moderne Raï-Musik: 2.2.1 Raï Der algerische Raï wird häufig mit amerikanischem Rap verglichen: beide Musikstile bedienen sich der einfachen Sprache der Strasse, um über das Leben dort zu berichten, beide Stile verwenden die sprachliche Improvisation. Der Raï in Algerien ist wie der Rap in Amerika der bevorzugte Stil der Unprivilegierten, die viel zu sagen aber nichts zu verlieren haben. Auch in Algerien zucken die konservativen, älteren Leute zusammen, wenn sie die Geschichten eines jungen Cheb über Sex, Gewalt, Verzweiflung und Besäufnisse hören. Die Stadt, in der alles begann, heisst Oran und ist die Hauptstadt der Kolonialprovinz Oranie in Westalgerien. Die moderne Hafenstadt war als „Klein-Paris“ von Nordafrika bekannt und hatte den Ruf, ein einziges, riesiges Freudenhaus zu sein. Einige Jahrhunderte zuvor waren dort die Spanier eingefallen und hatten sich Frauen gehalten, um ihre Truppen zu Unterhalten. Die Stadt wurde im Jahre 1962 Unabhängig. Vorher war Oran in getrennte Viertel unterteilt: jüdische, arabische, spanische und französische. Jüdische Musiker wie Saoud L’Oranais oder Reinette L’Oranaise spielten jeden Abend In Cafés und Cabarets. Die Musik der Spanier floss ebenfalls in die Musik der Stadt ein. Die Franzosen besuchten die Cafés und Cabarets der Juden, um ihren „Bedürfnissen“ nachzugehen. Auch die Araber gingen in die jüdischen und spanischen Viertel, vor allem, weil im Viertel der Moslems der Alkoholausschank verboten war. Die Musik war immer der beste Berührungspunkt der verschiedenen Volksgemeinden, und sie lebten im Allgemeinen friedlich nebeneinander. Wie in Marokko war auch in Algerien der arabisch-andalusische Stil weit verbreitet und mehrheitlich bei Würdenträgern wie Mufties oder Paschas sehr beliebt. Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte sich eine neue städtische Unterklasse von armen und ungebildeten Fabrik- und Brauereiangestellten. Kaum jemand war bereit, über Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Misswirtschaft, Prostitution und andere tägliche Sorgen zu singen, ausser den Strassenpoeten, die Zendanis (Keller) oder Barlieder sangen. Diese Lieder waren die Vorläufer des heutigen Raï. Sie bestanden aus kurzen Melodien und flüchtigen Improvisationen, verziert mit den Ausrufen „ya raï“ oder „erraï erraï“. Diese Rufe haben dem Raï seinen Namen gegeben. „Raï“ hat sehr viele Bedeutungen wie zum Beispiel Meinung, Ratschlag, Wahl, Ansicht usw. Im Oran der Zwanzigerjahre war es nicht einfach, als islamische Frau in einer armen Familie zu leben. Sie wurden ausgebeutet und missachtet, und wenn eine Frau 17 Sängerin oder Tänzerin werden wollte, drehte ihr die feine Gesellschaft den Rücken zu. Den Übergang von den Zendani-Liedern zum modernen Raï stellten die Cheikhas (Cheikh bedeutet soviel wie „ehrenwerter Herr“) dar. Diese Frauen waren Töchter bzw. Ehefrauen von mittellosen Arbeitern und Bauern, die viel zu sagen und wenig zu verlieren hatten. Sie waren auch bekannt als „die Frauen der kalten Schulter“, denn sie kleideten sich in einem lockeren Stil und waren in den Augen der „anständigen“ Gesellschaft völlig unzumutbar. Bald entwickelten sie ihre eigene Sprache, ein Gemisch aus der Sprache der Strasse, französischen Ausdrücken und Klischees aus Stücken der arabisch-andalusischen Musiktradition. Wenn solche Cheikhas in der Öffentlichkeit bekannt wurden, nahmen sie Spitznamen wie Cheikha Djenia, Cheikha Bachitta de Mascara oder Cheikha Remitti an. Als Algerien 1962 die Unabhängigkeit erlangte, wollte die Regierung einen anständigen, „nationalen“ Musikstil fördern. Sie entschieden sich für den klassischen Andalous-Stil, vermischt mit etwas Chaabi-Musik. Die aufrührerische Raï-Musik von Oran wurde verdrängt, grosse Konzerte und Zusammenkünfte von Raï-Musikern verboten. Eine Zeitlang verschwand diese Musikrichtung von der Bildfläche. Doch sie wurde immer noch an Hochzeiten, Beschneidungsfesten und anderen familiären Anlässen gespielt, für grosse Konzerthallen waren die Gasba-Flöten und Guellal-Trommeln, die beiden Hauptinstrumente des damaligen Raï, sowieso völlig ungeeignet. Der Multiinstrumentalist (vor allem Trompeter) Bellemou Messaoud und der Sänger Belkacem Bouteldja träumten unabhängig voneinander davon, den Raï der Sechzigerjahre zu modernisieren und den aktuellen Klängen aus Amerika und Europa anzupassen. Auch musste er, um Popularität bei der Jugend zu erlangen, tanzbar gemacht werden. Die leisen Instrumente wurden durch lautere ersetzt, an die Stelle der Gasba-Flöte kam ein Saxophon oder eine Trompete, die Guellal-Trommel wurde mit einer TablaTrommel vertauscht. Dazu kam ein Akkordeon, das so Der Musiker Bellemou umgebaut wurde, dass darauf Vierteltöne gespielt werden Messaoud konnten. Dieser moderne Pop-Raï hatte Einflüsse von Rock und Jazz bis Flamenco und Reggae. Messaoud und Bouteldja spielten in Oraner Cafés, bis sie mit den Jahren zu lokalen, berüchtigten Berühmtheiten wurden. Eine der bekanntesten Cheikhas, Cheikha Remitti, die von Natur aus stolz und eifersüchtig war, empfand dies als Diebstahl „ihrer“ Erfindung: „Ich baute das Haus, und sie stahlen die Schlüssel und zogen sofort ein“, erklärte sie wütend. Zwei junge Sänger aus Oran, welche Anhänger der neuen Raï-Musik waren, wurden zu Attraktionen bei Hochzeiten und Beschneidungsfesten. Sie nannten sich Chaba Fadela und Cheb Khaled (die Vosilbe cheb bzw. chaba bedeutet so viel wie „jung“, „charmant“ und „attraktiv“ und diente dazu, die jungen Vertreter des Pop-Raï von der älteren Generation der Cheikhs und Cheikhas zu unterscheiden). Die beiden wurden später unter diesen Namen berühmt. Chaba Fadela verbrachte ihre Kindheit im schäbigen ehemaligen Judenviertel. Sie wohnte ganz in der Nähe des Stadttheaters und wollte schon immer Schauspielerin werden. Im Alter von vierzehn Jahren hatte sie ihr Debüt in einem Film. Sie spielte die Rolle eines rauchenden, trinkenden und knapp bekleideten Mädchens. Noch dazu arbeitete sie als Background-Sängerin bei verschiedenen bekannten Bands. 18 Khaled Brahim lebte in der Neustadt Orans. In seiner Jugend war er verrückt nach der neuen marokkanischen Welle: er hörte Chaabi-Gruppen wie Nass El-Ghiwane und Jil Jilala. Mit einer ähnlich klingenden Gruppe namens Noujoun El-Khams (Die fünf Stars) begann Khaled dann seine Karriere als Raï-Sänger. Vor 1974 haben die algerischen Produzenten die Musik mehrheitlich auf relativ kostspieligen Vinyl-Singles herausgebracht. Als dann aber überall billige Kassettenrekorder erhältlich wurden, schossen die Produzenten wie Pilze aus dem Boden. Diese Tatsache war der Grund des Pop-Raï-Booms der achtziger Jahre. Das Raï-Phänomen war schuld daran, dass das Gleichgewicht und die Ordnung der Gesellschaft völlig zerstört wurden: der Raï löste einen Schock aus und trug das Unaussprechliche in die Strassen. Die jüngere Generation identifizierte sich immer mehr mit weltweiter Kultur und die Satellitenschüsseln prägten die Silhouetten der Städte mittlerweile im gleichen Ausmass wie die Minarette. Die vom Fernsehen ausgestrahlten Verlockungen der sexuellen Freiheit haben das Gleichgewicht einer Gesellschaft erschüttert, welche durch den bedingungslosen Glauben zusammengehalten wurde. Khaled, früher noch als Cheb Khaled bekannt, unterzeichnete im Jahr 1991 einen Plattenvertrag mit der riesigen, französischen Plattenfirma Barclay. So wurde dann der Raï in Der junge Cheb Khaled der ganzen Welt verbreitet, obwohl es oft als risikoreich betrachtet wurde, grosse Geldsummen in einen algerischen Sänger zu investieren. Doch es lohnte sich: sein erstes Barclay-Album, das er schlicht „Khaled“ nannte, enthielt den Hit „Didi“. Dieses Album erhielt in Frankreich die Goldene Schallplatte (über 100'000 verkaufte Platten). Seine zweite Platte verkaufte sich zwar schlechter als die erste, doch sein letztes Album, „Sahra“, mit dem Liebeslied „Aïcha“, wurde nicht nur in Frankreich ein riesiger Hit. Im Jahr 1994 erlebte die Raï-Musik ein Drama: obwohl behauptet wurde, dass der moderne Raï nichts mit Politik zu tun hat, geriet er zwischen die Fronten der politischen Unruhen in Algerien. Der vor allem im arabischen Raum berühmte RaïSänger Cheb Hasni, ein Schnulzensänger, wurde nahe seiner Wohnung in Oran niedergeschossen. Kurz darauf wurde unter ähnlichen Umständen ein legendärer Produzent ermordet. Angesichts des Todes Hasnis ist es ein Wunder, das der Raï in Algerien weiterhin Anklang findet. Eine neue Generation von Stars sorgt dafür, dass die Szene lebendig bleibt und weiterhin Kassetten hergestellt werden. Hörbeispiele: - CD Nr. 6: Gesang von Reinette L’Oranaise - CD Nr. 7: Das Stück „Didi“ von Khaled - CD Nr. 8: Rai-Musik der Kassette „Les Meilleures du Ray“ - CD Nr. 9: Das Stück „Shubbak El Hub“ von Wael Kfoori 19 2.3 Ägyptische Musik 2.3.1 Der Dôr Der Dôr ist eine der wichtigsten Kunstmusikgattungen Ägyptens. Von einem Sänger (Mutrib) und einem Chor wird ein Gedicht in Hocharabisch oder einem ägyptischen Dialekt gesungen, das von einem Komponisten (mulahhin) vertont worden ist. Früher bestand das Instrumentalensemle aus drei Personen, heute sind es fünf bis sechs: ein Oud (Laute, 3.1.1), eine Kamenjah (Spiessgeige, 3.1.6), eine Ney (Flöte, 3.2.3), eine Kanun (Zither, 3.1.7), eine Darabouka (Bechertrommel, 3.3.1) und eine Rahmentrommel, entweder Duff (3.3.5) oder Riq (3.3.4). Der Dôr besitzt eine ganz eigene Gedichtform, welche ihn von anderen vokalen Musikstilen unterscheidet. Mindestens zwei Zeilenpaare bilden das Gedicht: das erste Zeilenpaar heisst Madhab und das zweite wird Gusn genannt, auf welches weitere Zeilen folgen können. Oft besteht der Gusn aus zwei Abschnitten, man nennt sie erster und zweiter Dôr. Bei einer Dôr-Aufführung spielt der Sänger die Hauptrolle: er hebt einige wichtige Worte des Gedichts hervor und wiederholt diese improvisierend. Dazu verwendet er den für dieses Gedicht gewählten Maqam (Kap. 4). Die Form des Dôr hat sich im Lauf der Jahrzehnte etwas verändert: früher stand nur der Sänger im Vordergrund, sowohl rein Instrumentale Teile als auch ein Chor fehlten. Ausserdem basierte das ganze Stück auf derselben Maqam-Reihe. Die Aufführung eines Dôr dauerte in etwa 15 Minuten. Heute werden während eines Gedichts mehrere Maqam-Reihen benützt. Ein Chor praktiziert, zusammen mit dem Sänger, eine bestimmte Gesangsart, den Hank. Wegen dieser Veränderung kann ein Dôr heute bis zu einer halben Stunde dauern. 2.3.2 Al-jil Als die ägyptische Jugend es satt hatte, sich Lieder von europäischen Gruppen anzuhören, deren Texte sie sowieso nicht verstand, gründete sie den neuen Musikstil Al-jil (Generationsmusik). Mit Hilfe von Samples und Vierteltonprogrammen wurde die Popmusik der Ägypter geschaffen. Den Teppich legte ein arabischer TechnoRhythmus, darüber sang eine typisch arabische, ausgebildete Stimme fröhliche Melodien, welche von einem hellen Chor begleitet wurden. Im Mittelpunkt der Al-jil-Bewegung stand ein junger Libanese namens Hamid elShaeri. Nachdem er im Jahr 1974 aus seinem Land nach Ägypten geflohen war, begann er, zusammen mit Ägyptern, neue Klänge zu entwickeln. Erst im Jahr 1988, als ein Al-jil-Lied in Kairo auf den Markt kam und grossen Erfolg hatte (wenn auch nur für kurze Zeit), wurde die neue Tanzmusik unter den Jugendlichen immer beliebter. Doch die Medien wandten sich gegen Al-jil, im Fernsehen und am Radio wurden weiterhin westliche Pop-Klassiker ausgestrahlt. Viele Jahre lang wurde den Jungen der Zugang zu ihrer eigenen Musik verwehrt. Ungefähr ein Drittel der Bevölkerung vieler arabischer Länder ist unter 25 Jahre alt. Die Al-jil-Musik ist zu einem Symbol der Befreiung der jungen Leute geworden, und das nicht nur in Ägypten. 20 2.3.3 Shaabi Obwohl der Name dieses Musikstils gleich ausgesprochen wird wie der marokkanische Chaabi, haben diese beiden Gattungen nichts gemein. Die ShaabiMusik ist eine Kunst der ägyptischen Arbeiterklasse. Ihre Sänger sind auf Mawwal (2.4.4) spezialisiert, sie klagen in der einfachen Sprache der Strasse über ihre schlechte Stellung in der Gesellschaft oder machen sich lustig über die Höhergestellten. Der erste Shaabi-Sänger, der 1971 in den Massenmarkt einbrach, war Ahmed Adaweyah. Die Respektlosigkeit seiner Texte erregte Aufsehen, diese Art von Sprache war noch nie zuvor in Lieder gefasst worden. In einem seiner bekanntesten Lieder verspottet er den Lebensstil der Mittelklasse: Fest eingeschlafen ist er, Er will niemanden stören. Und seine Omi und Mami bemuttern ihn Mit Honig und Butter. Schliesslich, aber nicht endlich Ist er eine Waffe ohne Kugel, Ein Versager in der Schule und Nichtsnutz Bei der Arbeit. Der Sänger Abd El-Wahaab und die Sängerin Oum Kalsum (auf dem CDCover Om Kalthoum) sind in Ägypten, besonders in Kairo, Legenden. Sie sind beide Sänger der klassischen ägyptischen Liedtradition. Hörbeispiele: - CD Nr. 10: Ausschnitt eines Stückes von Abd El-Wahaab - CD Nr. 11: Ausschnitt von Oum Kalsum’s „Sirti L’Hob“ 2.4 Irakische Musik 2.4.1 Al-maqam al-iraqi Al-maqam al-iraqi gilt als die edelste und vollkommenste Form der MaqamDarstellung. Sie ist seit etwa 400 Jahren vor allem in Bagdad bekannt und kommt, wie der Name besagt, vom Irak. Der Maqam al-iraqi wird mündlich von Musiker zu Musiker weitergegeben und nicht aufgeschrieben. Eine Maqam al-iraqi-Gruppe besteht aus einem Sänger (Qari), einer Santur (Hackbrett, 3.1.8), Goza (Spiessgeige) und einer Tabla oder Dunbak (Bechertrommel, 3.3.2). Manchmal 21 kommt als viertes Instrument noch die Riq (Rahmentrommel, 3.3.4) dazu, dann wird das Ensemble Galgi Bagdadi genannt. Im Mittelpunkt eines Stücks dieser Musikgattung steht ein gesungenes Gedicht. Dieses wird in Hocharabisch oder einem Dialekt gesungen. Der erste Teil eines solchen Liedes heisst Tahrir. Er enthält einige gesungene Melodiezüge. Diese sind entweder textlos oder bestehen aus türkischen, persischen oder arabischen Wörtern. Dazu wird ein Maqam benützt und eine ganz bestimmte Stimmung oder ein Gefühl ausgedrückt. Der Gesang wird immer höher, bis schliesslich bei den höchsten Tönen der Höhepunkt des vokalen Teils erreicht wird. Der zweite und letzte Teil des Stückes ist der Taslum. Er ist ein fallender Melodiezug, und auf einen musikalischen Höhepunkt folgt dann das Ende der Vorführung. Zu einigen Maqamat (Einzahl Maqam) wird eine rhythmische Begleitung geboten, zu anderen nicht. 2.4.2 Al-Muwassah Der Muwassah hat seinen Ursprungsort zwar in Andalusien, heute wird er aber mehrheitlich im arabischen Osten gespielt. Er besteht ebenfalls aus einem gesungenen Gedicht, das, wie der Musikstil, als Muwassah bezeichnet wird. Auch im Maghreb existiert eine Form des Muwassah, doch dort werden die strengen Regeln der arabischen Metrik ignoriert. Ein Muwassah-Ensemble besteht aus einem Sänger, einem Oud, einer Kamenjah, einer Kanun, einer Darabouka und einer Duff. Meistens bilden die Instrumentalisten gleichzeitig den Chor. Nur ein kleiner Teil des Gedichts wird vom Sänger solo vorgetragen. Es gibt Muwassah, welche auf mehreren Maqam-Reihen basieren. Ausserdem kann im zweiten Teil zusätzlich auf benachbarte Maqamat moduliert werden. Früher war es üblich, eine ganze wasla, das heisst bis zu acht Muwassah, zusammen mit einem instrumentalen Einleitungsstück aufzuführen. Es sind insgesamt 22 waslat (Mehrzahl von wasla) bekannt, welche alle nach ihrem HauptMaqam benannt sind (z.B. Rast Wasla). 2.4.3 Die Layali Der Text einer Layali besteht lediglich aus den Worten ya laili ya aini, was etwa soviel bedeutet wie „Meine Nacht! Mein Auge!“. Dies ist eine Metapher und bezieht sich auf die Liebe zu einer Frau. Die Layali ist ein solistisch gesungener Musikstil. Der Sänger begleitet sich selbst auf einer Oud, oft wird als zweites Begleitinstrument noch die Kanun gespielt, wenn der Sänger nicht sogar von einem ganzen Instrumentalensemble unterstützt wird. Auch in dieser Musikrichtung steht die Maqam-Darstellung im Mittelpunkt. 2.4.4 Der Mawwal Auf eine Layali-Darbietung folgt in der Regel der Mawwal-Gesang. Dieser ist schon in einer Schrift aus dem 9. Jahrhundert erwähnt. Der Grundsatz eines Mawwal ist ein entweder vier-, fünf- oder siebenzeiliges Gedicht in umgangssprachlichem Arabisch. Der Gesang über dieses Gedicht ist improvisiert, auch hier steht die Liebe im Zentrum. 22 2.4.5 Das Taqsim Das Taqsim ist die rein instrumentale Darstellung eines Maqam. Der Maqam wird auf wenige Töne reduziert, wodurch die charakteristischen Tonebenen entstehen. Die zeitlich-rhythmische Gestaltung hat keine Regel. Typisch für eine Taqsim-Vorführung sind die verhältnismässig langen Pausen (zwei bis vier Sekunden) zwischen Melodiezügen. Die Zuhörer nutzen diese Pausen dazu, ihre Meinung zu dem eben Gehörten durch Zurufen abzugeben. Das Taqsim kann entweder auf einer Kurzhalslaute (Oud), einer Spiessgeige (Kamenjah), einer Kastenzither (Kanun) oder einer Längsflöte (Ney) gespielt werden. Ein Taqsim wird als Einleitungsstück, Zwischenspiel oder eigenständige Vorführung gebraucht. Es kann zum Beispiel als Einleitung eines Muwassah-Stückes oder als Zwischenspiel in einer Andalous-Nuba dienen. Die Dauer eines Taqsim ist sehr unterschiedlich und von der Situation und dem Erfolg abhängig. Da die Taqasim (Pl. von Taqsim) berühmter Musiker oft nachgespielt und von weniger guten Instrumentalisten Ton für Ton zitiert werden, entsteht der Eindruck, dass es sich um ein komponiertes Stück handelt. Doch dies ist keineswegs der Fall. Gute Taqasim entstehen bei ihrer Vorführung, sie werden vom Musiker in der Regel frei improvisiert. 2.5 Religiöse islamische Musik Im orthodoxen Islam wird Musik missbilligt, es sei denn, es handelt sich um Lobpreisung Gottes. Neben den Gesängen des Koran gibt es den Adhan bzw. Aufruf zum Gebet, die Lieder über das Leben des Propheten Mohammed und eine ganze Reihe weiterer Gebete und Zeremonien, die von den Sufi-Bruderschaften praktiziert werden, bei denen die Musik ein Mittel darstellt, Allah näher zu kommen. Die religiöse islamische Musik basiert auf denselben Strukturelementen wie die weltliche arabische Musik. Sie wird in der Moschee, bei Zeremonien, Feierlichkeiten und anderen religiösen Anlässen aufgeführt. Im Zentrum steht immer die Lobpreisung Allahs, seines Propheten Mohammed (oder Muhammad) und dessen Familie, genannt ahl al-basit. 2.5.1 Die Gesänge des Koran Der Koran (oder Qur’an) wird oft in einer Art Gesang vorgetragen. Er stellt eine eigene Vokalgattung dar und erfordert eine schöne Stimme und hohes Können. Doch die religiöse Musik wird von den Moslems selber niemals als „Musik“ bezeichnet, folglich ist der Vortragende auch kein „Sänger“, sondern ein „Leser“. Niemand würde das Wort „singen“ mit der Koran-Rezitation in Verbindung bringen. Die Koran-Lesung ist die Kunst der Wiedergabe des Buches nach festen Regeln für Intonation, Aussprache und Zäsuren. Im 8. Jahrhundert wurden diese Regeln für sieben verschiedene Lesungsarten, von welchen sich aber hauptsächlich eine durchgesetzt hat, festgelegt. Koran-Rezitatoren erhalten ihre Ausbildung in einer der zahlreichen Koranschulen. Die solistisch ausgeführte Lesung beginnt immer mit Pflichtformeln: „Gott bewahre mich vor dem verruchten Teufel“ und „Im Namen Allahs des Erbarmers, des Barmherzigen“ und schliesslich „Der grosse Gott hat die Wahrheit gesprochen“. Eine Lesung kann mitten im Koran beginnen und nach Ende eines Kapitels, genannt „Sure“, abbrechen. 23 Eine Sure wird vollkommen verschieden dargestellt, je nach Können des Vortragenden: sie kann nur ein, zwei oder drei Töne enthalten, kann aber auch in komplexe, kunstvolle Melodiezüge gefasst werden. In diesem Fall ähnelt die Lesung einer Maqam-Darstellung. Zwischen den verschiedenen Melodiezügen entstehen oft Pausen, in welchen der spontane Beifall der Zuhörer ausbricht, falls der Koran-Leser gut ist. Die Darstellung der Pflichtformeln am Anfang und am Ende eines Vortrags beschränkt sich immer auf den Grundton der gewählten Maqam-Reihe. 2.5.2 Der Adhan Der Adhan ist der von den Muezzinen ausgeführte Gebetsruf vom Minarett herab. Er ist noch immer ein Markenzeichen jeder islamischen Gross- oder Kleinstadt. Der Adhan ist der Aufruf zum Freitagsgottesdienst und zu den fünf vorgeschriebenen täglichen Gebeten: am frühen Morgen, am Mittag, am Nachmittag, bei Sonnenuntergang und am späteren Abend. Der Muezzin (oder mu’addin) steigt aufs Minarett und singt durch ein Megaphon die folgenden sieben Formeln: - Gott ist der Grösste. - Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt ausser Allah. - Ich bezeuge, dass Mohammed Gottes gesandter ist. - Auf zum Gebet. - Auf zum Heil. - Gott ist der Grösste. - Es gibt keinen Gott ausser Allah. Eines der vielen Minarette einer Moschee in Marrakech Nach jeder Formel wird eine längere Pause eingehalten. Es war bereits zu Lebzeiten des Propheten Mohammed üblich, auf diese Weise zum Gottesdienst aufzurufen. Die Melodiezüge des Adhan bewegen sich alle auf der gleichen Maqam-Reihe und zwischen zwei Tonzentren, welche im Allgemeinen eine Quarte oder eine Quinte auseinanderliegen. Mit Ausnahme vom Gebetsruf bei Sonnenuntergang wird der Adhan sehr langsam gesungen. 2.5.3 Der Dhikr Dhikr bedeutet soviel wie „Erwähnung“ oder „Gedenken“. Im Sufismus, der islamischen Mystik, bedeutet Dhikr eine Zeremonie mit Gesang, Rezitation, Instrumentalmusik, Tanz, Kostümierung, Weihrauch, Meditation, Ekstase und Trance. Bereits im 8. Jahrhundert hatten sich kleine Gruppen frommer Moslems gebildet, die Sufi-Bruderschaften. Sie gaben die Suren des Koran und andere religiöse Texte laut wieder. Der Sufismus erlangte hohe Popularität, da er der religiösen Mentalität der breiten Masse entgegenkam, indem er die gefühlsmässige Annäherung an die Religion ermöglichte. 24 Neben den täglichen fünf Gebeten begannen die Sufis Andachtsübungen zu verrichten, die sie als Dhikr bezeichneten. Es war Vers 41 der Sure 33, der sie dazu bewegte: „O ihr Gläubigen, gedenket Allahs in häufigem Gedenken und preiset ihn morgens und abends“. Mit der Zeit entwickelten sich organisierte Bruderschaften mit einem Saih, einer religiösen Autorität, an ihrer Spitze. Dieser gab die mystische Lehre, die Tariqa, an seine Anhänger weiter, welche ihrerseits diese Lehre weitervermittelten. Auf diese Weise wuchs die Zahl der Anhänger des Sufismus sehr schnell. Der Dhikr ist eine musikalische Grossform, welche in einem Zyklus ausgeführt wird, der mehrere Stunden dauern kann. Er enthält oftmals verschiedene Gattungen der weltlichen arabischen Kunstmusik. Sein Ziel ist es, Der Höhepunkt eines Dhikr: Der Saih fügt einem in Trance Geratenen die Anwesenheit Gottes unter den Gläubigen zu Wunden bei, ohne dass dieser erreichen. Dieser Zustand (genannt Hadra) stellt den Schmerzen verspürt. Höhepunkt der Zeremonie dar. Sie erlangen ihn, in dem sie Gottes Name immer wieder rufen und sich dazu bücken und wieder aufrichten, bis die Gläubigen letzten Endes erschöpft in Trance fallen. Hörbeispiel: - CD Nr. 12: Sufi-Gesang von Sheikh Al Tuni 25 3. Instrumente Im Folgenden soll eine Auswahl der wichtigsten Instrumente der arabischen Musik präsentiert werden. Vereinzelt werden auch, wegen der starken gegenseitigen Beeinflussung, wichtige Instrumente der türkischen Musik (welche in erster Linie eine Sammlung verschiedener Stile ist) und Verbindungen zur griechischen Musik aufgezeigt. Die Namengebung (sowie auch der dazugehörige Artikel) scheint nach unseren Erfahrungen sehr frei zu sein; so wurde das gleiche Instrument in den verschiedenen konsultierten Quellen selten bis nie genau gleich geschrieben. Es scheint auch so, dass dasselbe Instrument teilweise völlig unterschiedliche Namen trägt und um die Verwirrung zu vervollständigen tauchen einige Namen auf, die sich im grossen islamischen Gebiet auf mehrere verschiedene Instrumente beziehen können. 3.1 Saiteninstrumente (Lauten, Streicher, Zithern und Hackbretter) 3.1.1 Der Oud Das Wort Laute stammt von der arabischen Bezeichnung „al ’ud“ ab. Es bedeutet ganz einfach „das Holz“, das Material, aus welchem das Instrument hergestellt wird. Der Name ist wahrscheinlich als Bezeichnung für das aus Holz gefertigte Instrument im Gegensatz zu seinem Vorläufer, der mit Häuten bespannt war, zu verstehen. Der Oud ist das klassischste aller arabischen Musikinstrumente und Vorläufer der Gitarre. Im 10. Jahrhundert n. Chr. wurde er in einer Schrift des arabischen Gelehrten Al-Farabi beschrieben. Vermutlich ist er aber wesentlich älter. Lauten gab es bereits bei den Sumerern, den Babyloniern und im Alten Ägypten. Der Oud ist in seiner frühen Verwendung als Begleitinstrument für die Dichtung arabischer Wandersänger, wo er sich dem Text klar unterzuordnen hatte und vermutlich in erster Linie der rhythmischen Untermalung diente, Teil der arabischen Musik geworden. Er spielte eine zentrale Rolle bei der Formulierung der arabischen Musik und Der Oud wurde von Mathematikern und Philosophen als Einteilungsmassstab verwendet, um die Tonleitern (das sogenannte Maqam-System) und letzten Endes die arabische Musik selbst festzulegen (in der Art, wie das Klavier in Europa zum Einsatz kam). Um die Spieltechnik der grossen Oud-Virtuosen (unter welchen Mounir Bachir, der eine seiner Solo-Aufnahmen bezeichnenderweise schlicht Maqamat nennt, wegen seines unvergleichlichen Umgangs mit den verschiedenen Modi als unangefochtener Meister gilt) nachvollziehen und geniessen zu können, sollte man sich mit den Regeln des arabischen Tonsystems eingehend befasst haben. Im Mittelalter fand der Oud seine Verbreitung nicht mehr nur im gesamten Nordafrika, sondern kam über Spanien (das arabische Andalusien) durch die Trouvères und 26 Troubadours (fahrende Spielleute Südfrankreichs) auch nach Europa. Dort fand er als „Laute“, „alaude“, „luth“ usw. Eingang in die europäischen Sprachen und Musik. Die arabische Laute besitzt traditionellerweise keine Bünde und hatte bis ins 9. Jahrhundert vier Saiten (diese waren in Quarten gestimmt: A – d – g – c’). Der berühmte Musiker und Musiktheoretiker Ziryab (der auch der erste war, der das bisher beim Oudspielen übliche Holzplektrum durch einen Adlerfederkiel ersetzte) Der berühmte Oud-Spieler Mounir Bachir fügte im 9. Jahrhundert eine fünfte Saite hinzu (diese vertiefte den Umfang um einen Ton: G – A – d – g – c’). Somit reichte der Tonumfang der arabischen Laute über zweieinhalb Oktaven (von G bis c’’). Besonders virtuose OudSpieler fügen noch eine weitere tiefe Saite hinzu, welche sie unter der c’-Saite anfügen und meistens in f’ oder im Irak auch in F stimmen. Der heutige Oud wird doppelchörig bespannt, das heisst, dass für jede Saite Doppelsaiten verwendet werden. Gespielt wird er mit einem Plektrum (ursprünglich Kiel einer Feder, heute Horn- oder Kunststoffplektren), mit dem die Saiten angerissen werden. In der typisch arabischen Spieltechnik werden die Haupttöne der Melodie sehr linear umspielt. In der arabischen Kunstmusik wird meistens homophon (unisono) gespielt, das heisst, alle Melodieinstrumente spielen dasselbe. Erst im Taksim, dem Improvisationsteil, kann der Oud-Spieler sein Können richtig unter Beweis stellen. Dort wird er extrem schnelle Läufe und Sprünge, die den Eindruck einer Mehrstimmigkeit erwecken, zum Erklingen bringen (er springt dabei zwischen der eigentlichen Melodie und einem Bordunton oder einer „Begleitmelodie“ hin und her). Instrumentenbauer, die den Oud herstellen, findet man fast uneingeschränkt in der ganzen arabischen Welt, vor allem in den Grossstädten (Bagdad, Aleppo, Beirut, Damaskus, Kairo, Algier und Rabat), wobei Nahhat aus Damaskus und Fadel Awad aus Bagdad behaupten, sie seien die besten Oud-Hersteller Arabiens, was wohl auch nicht ganz falsch ist, denn die meisten Virtuosen kaufen ihre Ouds des ausgezeichneten Klangs wegen bei ihnen. Als unverzichtbares Instrument der arabischen Musik fehlt der Oud in keinem TakhtEnsemble. Hörbeispiele: - CD Nr. 13 + 14: Oud-Spiel des Musikers Mounir Bachir - CD Nr. 15: Beispiel einer Oud aus der „Microsoft Encarta“ 3.1.2 Der Gimbri Der Gimbri ist in Marokko ausser dem Oud arabischen Stils (dieser wird in klassischen arabischen Orchestern und als Begleitung von Chaabi-Sängern gespielt) die gebräuchlichste Laute. Er ist ein Instrument, dessen Ursprünge in der Subsahara zu finden sind und das Instrumenten wie dem Kontingo des Mandinka-Volkes, dem 27 Khalam des senegalesischen Wolof-Volkes und dem Tidinit aus Mauretanien sehr ähnlich ist. Er besitzt einen Resonanzkasten, der auf der Vorderseite mit Tierhaut bedeckt ist und einen abgerundeten bundlosen Hals mit zwei bis drei Saiten. Der Korpus des kleinen Gimbri für die oberen Tonlagen ist birnenförmig, jener des Bassgimbri (auch als Sentir oder Hadjouj bekannt) ist rechteckig. Die Gnaouas befestigen am Ende des Instrumentenhalses häufig einen mit Ringen bedeckten Metallstreifen, um einen charakteristischen Summton zu erzeugen, der bei den Basstönen mitklingt. Die Chleuh-Berber spielen ebenfalls eine Laute, die sie Lotar nennen. Sie besitzt einen runden Körper und drei bis vier Saiten, die mit einem Plektrum gezupft werden. Hörbeispiel: - CD Nr. 3: Beispiel eines Bassgimbri in der Gnaoua-Musik 3.1.3 Die Buzuk Die lautenähnliche marokkanische Buzuk besitzt vier bis zehn Saiten auf einem gitarrenähnlichen Hals und wird nach westlichem Muster gestimmt. Sie ist heutzutage meistens elektrisch, obwohl sie eng mit der griechischen Busuki verwandt ist (einer Langhalslaute mit vier Saitenpaaren, die, um der westlichen Tonleiter zu entsprechen, über ein Bundbrett nach Gitarrenart verfügt). 3.1.4 Der Saz In der Türkei gibt es mehrere lautenähnliche Instrumente. Das gebräuchlichste ist der Saz, eine Langhalslaute, die gewöhnlich sieben Saiten besitzt (zwei Paare und ein Dreierpaar), die mit einem sehr dünnen Plektrum gespielt werden. Zu ihren Varianten zählen der Divan-Saz mit acht Saiten, der Cura-Saz mit sechs Saiten sowie der Baglama mit sieben Saiten, einem kürzeren Hals und einem breiten, bauchigen Korpus. Die Tambur-Laute, die für ihre tiefen Noten bemerkenswert ist, hat einen sehr langen Hals mit drei Saiten und einen breiten, beinahe rechteckigen Körper. Der Cümbüs ist eine banjoartige bundlose Laute mit zwölf Saiten, die einen breiten, mit Haut oder Kunststoff bespannten Resonanzkasten aus Metall hat. Er tritt an die Stelle des türkischen Oud, wenn lautere Instrumente gespielt werden. Seine kleinere Variante mit Bund wird Saz-Tambur genannt. Der Yayli Tambur ist eine gestrichene Version der Tambur-Laute, und sein Klang liegt irgendwo zwischen einem Cello und einem Kontrabass. 3.1.5 Die Rabab Im Maghreb und Nahen Osten ist das beliebteste Streichinstrument die Rabab (oder Rababa), eine Spiessgeige, die einer Viola ähnelt. Die untere Hälfte ihres langen, gebogenen Körpers ist mit Haut bespannt, während der obere Teil aus Holz besteht und ein rosettenförmiges Schallloch besitzt. In der marokkanischen Andalous-Musik (2.1.1) ist die zweisaitige Rabab (die im Quintabstand G – D Die Rabab gestimmt wird) in der Regel das erste Instrument der Gruppe. Marokkanische Chleuh-Musiker spielen auch 28 eine archaische einsaitige Rabab (deren Tonumfang sich auf die Quarte G – c beschränkt) mit einem eckigen Hals und einem vollkommen mit Haut überzogenen Schallkasten. In der arabischen klassischen Musik wird die Rabab heute oft durch eine Violine (als deren eigentlicher Vorgänger sie allgemein gilt, wurde sie doch schon im 10. Jahrhundert von al-Farabi beschrieben) ersetzt, obwohl das ältere Instrument noch immer gebaut wird. In Ägypten gibt es viele verschiedene Rabab-Typen, deren gebräuchlichste Form zwei Saiten und einen Schallkörper mit einer unglaublichen Kombination von Kokosholz mit Fischhaut besitzt. In der Türkei spielt die Rabab eine Rolle in der klassischen und der mewlewischen Derwisch-Musik. 3.1.6 Die Kamenjah Die dreiseitige Kamenjah (Kamandscha), ursprünglich eine persische Geige, wurde von den Arabern übernommen und wird zum Spielen vertikal auf das Knie aufgestützt. Sie hat einen länglichen Holzkorpus und einen kurzen Hals. Ursprünglich wurde sie aus einer Kokosnusshälfte gefertigt, die mit Schaf- oder Fischhaut bespannt wurde. Beim Spielen setzte man sich in den Schneidersitz und hielt das Instrument im Schoss. Wie die Laute fand auch sie über das arabische Andalusien nach Europa, wo sie als „Fiedel“ bekannt wurde. Im 20.Jahrhundert wurde sie im Zuge der allgemeinen Bewunderung für Europa durch die Violine ersetzt, die sich von unserem Instrument nur noch durch die unterschiedliche Stimmung (arabisch: G – d – g – c’) unterscheidet. In der Türkei heisst sie Kemançe und stammt von den Schäfern der Schwarzmeerküste. Die mit ihr verwandte Keman, die früher eine rundbauchige Variante zur Kemançe darstellte, ist heutzutage die türkische Bezeichnung für die europäische Violine. 3.1.7 Der Kanun Der Kanun (oder Qanun) ist ein flacher, trapezförmiger Kasten, der über die Knie gelegt gespielt wird. Er besitzt zwischen 63 und 84 (in der Regel 72, in der Türkei allerdings nur 42) diatonisch (das heisst wie in der abendländischen Dur- und Molltonalität in fünf Ganz- und zwei Halbtonschritte eingeteilt) eingestimmte Saiten, welche dreichörig angeordnet sind (also drei benachbarte Saiten erzeugen Der Kanun jeweils den gleichen Ton) und mit Plektren gespielt werden, die an den Fingern befestigt sind. Der Kanun verfügt also bei 72 Saiten über 24 Töne, der Umfang reicht von F1 bis c’’. Es heisst, der Kanun sei von dem grossen arabischen Philosophen alFarabi erfunden worden, obwohl eine ähnliche Form der Zither bereits von den Phöniziern verwendet wurde. Angeblich dauert es sehr lange, bis man das Spiel dieses Instruments erlernt hat und ebenso lange um es zu stimmen (was mit Hilfe eines im 18. Jahrhundert eingeführten Hebelsystems geschieht). Der Kanun-Spieler geniesst ein hohes Ansehen innerhalb der Musikergemeinde und ist im Allgemeinen der Chef des klassischen Orchesters (Takht). 29 3.1.8 Das Santur Das irakische Santur (dessen Name vom griechischen psalterion abgeleitet ist) besteht aus einem Nussbaumkorpus, ist in Form eines Trapezes angefertigt, verfügt über 92 Drahtsaiten (die alle gleich dick sind, weshalb die Tonhöhe einer Saite allein von ihrer Spannung abhängt) sowie drei parallel versetzte Stegreihen und ist vom kleineren persischen Instrument Das Santur desselben Typs und Namens zu unterscheiden. Im Gegensatz zum Kanun wird es mit Holzschlegeln geschlagen, ist vierchörig gestimmt und verfügt über einen reinen, metallischen Klang. Die Stimmung der 23 Saitenchöre reicht vom tiefen G1 bis zum a’’. Das ähnliche griechische Sandoúri, ein Hackbrett mit bis zu hundert oder mehr Saiten, die in Zweier- bzw. Dreierreihen zusammengefasst sind, wird mit einem Paar kleiner Klöppel gespielt. Es war praktisch unbekannt, bis es nach 1923 in grösserer Anzahl von anatolischen Flüchtlingen importiert wurde. 3.2 Blasinstrumente (Oboen, Flöten, Klarinetten) 3.2.1 Die Ghaita Unter den Blasinstrumenten der arabischen Musik findet die Schalmei, ein Oboentyp, die weiteste Verbreitung, jedoch muss gesagt sein dass die hier erläuterten Blasinstrumente ausser der Ney (die sich als einzige in der traditionellen Kunstmusik hat behaupten können) allesamt der Volksmusik zuzuordnen sind. Zu den Schalmeien zählt auch die Ghaita (oder Rhaita), ein sehr lautes Instrument, das in der gesamten arabischen Welt beliebt ist, insbesondere bei Hochzeitsfeiern und Volksfesten. Gewöhnlich besitzt sie eine kegelförmige Pfeife aus Hartholz, die am unteren Ende eine häufig aus Metall hergestellte Glocke besitzt. Unter dem kurzen doppelrohrblättrigen Mundstück (das frei in der Mundhöhle schwingt und nicht etwa wie bei europäischen Doppelrohrblattinstrumenten in direktem Kontakt mit den Lippen steht) ist ein Metallring angebracht, auf den der Spieler seine Lippen setzt, was der Zirkularatmung dient, die erforderlich ist, um einen anhaltenden Ton zu erzeugen. Das Instrument besitzt vorne sechs bis acht Fingerlöcher und eines auf der Rückseite. Hörbeispiel: - CD Nr. 16: Beispiel einer Ghaita aus der „Microsoft Encarta“ 3.2.2 Der Zurna Der türkische Zurna (Zirne auf kurdisch) ist praktisch das gleiche Instrument wie die Ghaita. Auch türkisch jedoch mit einem wesentlich sanfteren und melancholischeren Klang als der Zurna ist das kleine, oboenähnliche Instrument mit einem sehr grossen Rohrblatt, das sich im Westen der Türkei Mey nennt und im Osten und den Kaukasusrepubliken Düdük heisst. 30 3.2.3 Die Ney Flöten sind unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt (Nai, Talawat, Nira, Gasba, Kavali, Blur etc.), doch es gibt zwei Haupttypen: zum einen die klassische Ney (auch Näi, Nay), die sehr schwierig zu spielen ist, zum anderen die volkstümliche Blockflötenvariante, die Kaval. Marokkanische Flöten werden aus einem geraden Stock hergestellt, der an beiden Seiten mit Öffnungen (fünf bis sieben Fingerlöchern auf der Vorderseite und einem rückseitigen Daumenloch) versehen ist. Die türkische Ney wird aus Calamusrohr oder Hartholz hergestellt, besitzt sechs Löcher vorne und eines hinten. Die ägyptische Ney gibt es in vielen unterschiedlichen Grössen mit zwei bis sieben Fingerlöchern. Sie wird quer gehalten gespielt, was sehr schwierig ist. Eine kontinuierliche Atmung erzeugt die gehauchten Töne, die (so behauptet zumindest Hollywood) den typischen „Klang der Wüste“ wiedergeben. Die Ney ist ein unentbehrliches Mitglied eines jeden Takht-Ensembles, wird vielfach auch als Soloinstrument gespielt und ist in der Sufi-Trancemusik extrem beliebt. Durch Überblasen steht dem Musiker ein Umfang von mehr als drei Oktaven zur Verfügung, wobei der Grundton von der Länge des Flötenrohrs abhängt (es wird hier beispielsweise zwischen der grossen Ney (Dukah Ney) und der kleinen Nawa Ney, die am häufigsten gespielt werden, unterschieden), was viele Ney-Spieler dazu bringt, mehrere verschieden grosse Instrumente zu einer Aufführung mitzunehmen, um in unterschiedlichen Maqam-Reihen mühelos spielen zu können. Die Ney 3.2.4 Die Mizmar Die aus einer einzigen Pfeife bestehende ägyptische Mizmar ist ein Klarinettentyp, der mit Zirkularatmung gespielt wird, um einen anhaltenden Ton zu erzeugen. Es gibt sie in vielen Formen und Grössen, doch sie alle stammen von ihrer ursprünglichsten Form ab, die gegenwärtig noch immer von den Beduinen gespielt wird. Die Saiyidi Mizmar aus Oberägypten ist weiterentwickelt und auf diese Weise in ein spitz zulaufendes Rohr mit sechs Fingerlöchern verwandelt worden, das senkrecht und mit luftvollen Wangen geblasen wird. 3.2.5 Die Arghul Die arabische Arghul ist eine Doppelpfeifenklarinette, die sich manchmal wie ein Dudelsack anhört. Sie besteht aus zwei parallel angeordneten Holzpfeifen, die jeweils mit einem Mundstück aus je einem Rohrblatt und einem als Verstärker dienenden Horn am Ende ausgestattet sind. Die eine schlichte Langpfeife, die bei manchen Instrumenten mehr als zwei Meter lang sein kann, erzeugt einen konstanten Basston, die andere, kürzere Spielpfeife besitzt fünf Fingerlöcher für die Melodienfolge. In Marokko ist die Arghul unter dem Namen Aghanin bekannt. Das in der Türkei in der Umgebung von Ererli im westlichen Schwarzmeergebiet gespielte, nur leicht veränderte Instrument dieser Art heisst Çifte. 31 3.3 Perkussionsinstrumente (Trommeln, Zimbeln) 3.3.1 Die Darabouka Eine Darabouka aus Metall mit Spannring und Schrauben Eine Darabouka aus Holz mit MosaikEinlegearbeiten und einer Bespannung aus Tierhaut Die Darabouka (Darbukka, Dumbek) ist die am häufigsten anzutreffende arabische Trommel. Sie ist aus Ton (manchmal auch Holz oder Metall) hergestellt, zylinderförmig und an ihrem oberen Ende etwas breiter auslaufend. Die einfache Haut, die mit beiden Händen geschlagen wird, muss vor ihrem Gebrauch oftmals angewärmt werden (durch Reiben mit der Handfläche oder indem man sie über Feuer hält), um den richtigen Klang erzeugen zu können. Die Darbouka wird entweder stehend (indem man sie unter den Arm klemmt) oder sitzend gespielt. 3.3.2 Die Tabla Die ägyptische Tabla, eine becherförmige Trommel, die auf den Knien gespielt wird, ähnelt stark der Darabouka. Ihre beiden Hauptklänge werden in Ägypten, wo ihr Körper traditionell aus Lehm und die Haut aus Nil-Flussbarsch besteht (heute sind es meistens haltbarere Aluminium- oder Kunststoffvarianten, die den tiefen, weichen Ton zugunsten reiner Lautstärke geopfert haben), im Allgemeinen als das tiefe Dum und das helle Tak bezeichnet. Dazwischen erzeugt sie mehrere Sekundärklänge. 3.3.3 Die Tabl, die Taarija, die Guedra Die marokkanische Tabl, die sich trotz des ähnlichen Namens wesentlich von der Tabla unterscheidet, ist eine doppelseitig mit Haut bespannte, runde Holztrommel (an einer Seite wird sie mit einem Schlegel, auf der anderen mit der Hand geschlagen). Sie findet ausschliesslich in der ländlichen Berbermusik Verwendung. Andere marokkanische Trommeln sind die Taarija (eine kleinere Variante der Darabouka, die mit einer Hand gehalten und mit der anderen wie ein Tamburin geschlagen wird), die Guedra (eine grosse, auf dem Boden stehende Trommel) sowie Tam-Tam-Bongos für Sopran und Bass, die entweder mit den Händen oder mit Schlegeln gespielt werden. 3.3.4 Die Riq Die Riq In Ägypten ist die Riq (Reqq, Reque) das führende Perkussionsinstrument. Wer sie spielt bestimmt den Rhythmus. Trotzdem geniesst der Riq-Spieler nur geringe gesellschaftliche Achtung, da sein Instrument mit dem Bauchtanz in Verbindung gebracht wird. Die aus einem mit Tierhaut bezogenen Holzring bestehende Riq ist ein Vorläufer des Tamburins, aber mit einem Durchmesser 32 von ca. 20 cm kleiner als dieses, und besitzt fünf bis acht Schellen, die in Öffnungen des mosaikbesetzten Rahmens eingelassen sind. 3.3.5 Die Duff, der Bendir Der Bendir Die Duff ist im Wesentlichen eine schellenlose Riq. Sie ist ein meist rechteckiges doppelseitiges Tamburin, das gestützt werden muss, um mit beiden Händen darauf spielen zu können. Der grössere Bendir (mit einem Durchmesser von ca. 40 bis 50 cm) ist rund und hölzern, hat zwei Schnarrsaiten, die unter der Haut gespannt sind und ist in allen arabischen Ländern sehr verbreitet, wobei er häufig auch von Sufi-Musikern (2.5.3) gespielt wird. 3.3.6 Die Nakkara Die Nakkara (Naqqarat) ist ein Trommelpaar aus mit Kamelhaut bespannten Tonoder Kupferkesseln, die in Ägypten beheimatet ist und sehr nahe mit den türkischen Küdüm (in Paaren und mit Stöcken gespielte Kesselpauken) verwandt ist. Die Nakkara wird sowohl in der Kunst- und der Volksmusik wie auch zu religiösen Zwecken gebraucht. Die Trommeln werden mit zwei Schlegeln geschlagen (Dum auf der rechten, Tak auf der linken Trommel), wobei sich der Musiker im Schneidersitz befindet. Die Nakkara gibt es in verschiedenen Grössen bis hin zu den riesigen Exemplaren, die bei Prozessionen rechts und links auf Kamelen oder Eseln transportiert werden, wobei der Musiker auf dem Rücken des Tieres sitzt. 3.3.7 Die Sagat, die Garagab Die Sagat Die Sagat (deutsch: Zimbel) sind kleine Fingerbecken, die es in unterschiedlichen Grössen, Formen und Metalllegierungen gibt (meistens sind sie jedoch aus Blech) und die in Ägypten weit verbreitet sind. Die etwas grösseren marokkanischen Doppelkastagnetten aus Metall werden als Garagab oder Karkabat bezeichnet und sind sehr typisch für die Gnaoua-Musik (2.1.3). Hörbeispiel: - CD Nr. 3: Die Garagab in der Gnaoua-Musik 33 4. Arabische Musiktheorie 4.1 Das Tonysystem der Araber Im Laufe der Jahrhunderte entstanden zwei verschiedene Tonsysteme: das griechische und das arabische. Entweder verfügten die Araber über eine andere Quelle als die Griechen, oder sie entwickelten das griechische System weiter. Das im arabischen Raum am weitesten verbreitete Musikinstrument – die Laute – spielte bei dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle: die arabische Musiktheorie wurde anhand der Laute dargestellt, was zwangsläufig zu Veränderungen des griechischen Systems geführt haben muss. Es wird folglich zwischen zwei Tonsystemen unterschieden, welche heute beide noch in Verwendung sind. Das eine ist das weiterentwickelte pythagoreische System, auf welchem heutzutage das türkische und das persische Tonsystem beruhen. Das zweite ist ein rein arabisches System, das erstmals vom berühmten Musiktheoretiker und Musiker al-Farabi (gest. 950 n. Chr.) in Umlauf gesetzt wurde. Musiktheoretiker der Neuzeit benutzten al-Farabis Tonsystem als Grundlage und teilten die Oktave in 24 gleich grosse Intervalle. Jeder einzelne Ton hat einen eigenen Namen, der weder in der oberen noch in der unteren Oktave ein zweites Mal vorkommt. Die Funktion eines Tones hängt nicht von seiner absoluten Tonhöhe ab sondern von seiner Position in der Skala. Der tiefste Ton der Skala heisst Yakah und ist zugleich der tiefste Ton im Register eines Sängers. Die erste Oberoktave heisst Nawa, die zweite Oberoktave wird Ramal Tuti genannt. Die Modi sind nach einem besonders charakteristischen Ton oder seltener nach dem Anfangston der Leiter benannt. Erst Ende 19. Jahrhundert begannen einige Musiker, arabische Musik zu notieren. Dazu gebrauchten sie die westliche Notenschrift und deren Notennamen. Die westliche Notationsweise war jedoch vollkommen ungenau und ungeeignet für die Niederschrift arabischer Musik. Es musste abgemacht werden, welcher Ton der arabischen Skala welcher Note im europäischen System entsprach. Zuerst wurde der tiefste Ton des arabischen Systems, Yakah, als D festgelegt, später ersetzte man den Ton D durch das G. Die Tonhöhe des Yakah hat jedoch nichts mit der absoluten Tonhöhe G gemein. Er kann nach oben und nach unten bis zu einer Quarte von der notierten Tonhöhe abweichen, je nach Stimmlage des Sängers, nach der auch das Instrument eingestimmt wird. Es existieren insgesamt über 70 Modi, die sogenannten Maqam-Reihen. Das arabische Tonsystem umfasst alle Töne, die in diesen Modi vorkommen. Die MaqamReihen sind heptatonische Tonleitern. Sie sind aus übermässigen (Anderthalbtonschritt), grossen (Ganztonschritt), mittleren (Dreivierteltonschritt) und kleinen (Halbtonschritt) Sekundintervallen aufgebaut. Die genauen Grössen dieser Intervalle sind bis heute nicht bekannt, zahlreiche Musiktheoretiker haben sie zwar errechnet, doch die Resultate weichen voneinander ab, wenn auch nur geringfügig. Heftige Streitigkeiten unter den Musikern über zwei Fragen gaben den Anlass zu neuen Berechnungen: wie goss muss die Entfernung zwischen den Bünden am Hals der Langhalslaute, also wie gross sollen die Intervalle in den Oktaven sein, um die Maqam-Reihen spielen zu können? Und sind die Intervalle der Unteroktave denen der Oberoktave gleich, was ermöglichen würde, dass eine Melodie im Abstand einer oder mehrerer Oktaven auf zwei verschiedenen Instrumenten gespielt werden kann? Auch über die genaue Grösse des Vierteltons und des Dreivierteltons wurde gestritten. Je nach Maqam-Reihe und Musiker werden diese Intervalle aber etwas 34 anders gespielt oder gesungen und genau das trägt entscheidend zum Charakter der arabischen Musik bei. Zudem gebrauchen Sänger und Musiker weit weniger Töne, als ihnen durch das arabische Tonsystem zur Verfügung stehen. Es sind zusätzliche Zeichen erforderlich, um arabische Musik in der westlichen Notenschrift aufzuzeichnen zu können: erniedrigt einen Ton um einen Viertelton erniedrigt einen Ton um einen Halbton erniedrigt einen Ton um einen Dreiviertelton erhöht einen Ton um einen Viertelton erhöht einen Ton um einen Halbton erhöht einen Ton um einen Dreiviertelton Für die traditionelle arabische Musik reicht ein Umfang von zwei Oktaven vollkommen aus, weshalb auch nur die 48 Töne dieser beiden Oktaven benannt wurden. Die Namen wurden von den Türken und Persern grösstenteils übernommen. Die Töne, welche die beiden Oktaven überschreiten, werden als zweite oder dritte Ober- bzw. Unteroktave des Tones x bezeichnet. In der folgenden Darstellung sollen die Namen der 24 Töne der ersten Oktave und ihre Häufigkeit in der Musik aufgezeigt werden: häufig vorkommende Töne weniger häufige Töne selten vorkommende Töne *** ** * 1. yakah (G) 2. qarar nim hisar 3. qarar hisar 4. qarar tik hisar 5. usayran 6. qarar nim agam 7. qarar agam 8. iraq 9. qawast 10. tik qawast 11. rast 12. nim zirkula 13. zirkula 14. tik zirkula 15. dukah 16. nim kurdi 17. kurdi 18. sikah 19. busalik 20. tik busalik 21. gaharkah 22. nim higaz 23. higaz 24. tik higaz 35 qarar = Unteroktave nim = tiefer tik = höher Der arabische Musiker gebraucht zwar alle 24 Tonstufen der Oktave, unterscheidet aber zwischen wichtigeren und weniger wichtigen Tönen. Die wichtigsten, meistgebrauchten Töne (***) sind wie die Säulen eines Bauwerks, die ein Dach, symbolisch für das Tonsystem, tragen. Mit diesen Tönen beginnen auch die meisten Maqam-Reihen. Zwischen den Säulen der häufigsten Tonstufen sind weitere zwei bis drei Töne, welche wiederum in wichtige (**) und weniger wichtige (*)unterteilt sind. Das arabische Tonsystem, dargestellt als Bauwerk Wie bereits erwähnt, bestehen die Maqam-Reihen aus einer charakteristischen Kombination von kleinen, mittleren, grossen und übermässigen Sekundintervallen. Es gibt Maqamat, welche ausschliesslich aus mittleren und grossen Sekunden aufgebaut sind, andere sind vielleicht nur aus grossen und kleinen Sekunden zusammengesetzt. Die wichtigsten Töne der ersten Oktave bilden in der Regel die Anfangstöne. Ungefähr bei 40 Maqamat ist der Anfangston Dukah (D), etwa 20 beginnen auf Rast (C) und ungefähr 10 auf Sikah (E ). Bei der Ordnung der MaqamReihen nach Gattungen ist vor allem die auf den Schlusston hin kadenzierende Sekundfolge wichtig. Der Hauptmodus einer Gattung trägt den Namen der Gattung (z.B.: der Hauptmodus der Rast-Gattung heisst Maqam Rast). Im Folgenden sollen einige der wichtigsten Maqam-Reihen vorgestellt werden: 1. Die Rast-Gattung: dieser Gattung gehören etwas über zwanzig Modi an. Typisch für die Maqamat des Rast ist die zum Schlusston führende Sekundenfolge mittel – mittel – gross. Der Hauptmodus dieser Gattung ist folgender: k = klein m = mittel g = gross ü = übermässig 36 2. Die Bayati-Gattung: auch diese Gattung besteht aus ungefähr zwanzig Modi. Hier ist die bezeichnende Sekundenfolge zum Schlusston hin gross – mittel – mittel. Der Hauptmodus dieser Gattung sieht folgendermassen aus: 3. Die Nahawand-Gattung: dieser Gattung gehören etwa zehn Modi an. Die in den Schlusston einmündende Sekundenfolge ist gross – klein – gross. Der Hauptmodus dieser Gattung sieht so aus: 4. Die Higaz-Gattung: typisch für diese Gattung ist die zum Schlusston führende Sekundenfolge klein – übermässig – klein. Der Gattung des Higaz gehören insgesamt acht Modi an, von welchen der Maqam Higaz der Hauptmodus ist: 5. Die Kurd-Gattung: etwa sechs Modi gehören zu dieser Gattung. Die zum Schlusston hin kadenzierende Sekundenfolge ist gross – gross – klein. Der Hauptmodus dieser Gattung ist folgender: 37 Hörbeispiel: - CD Nr. 13: „Maqam Rast“ von Mounir Bachir 4.2 Das Maqam-Phänomen Das Maqam-Phänomen ist ein einzigartiges Improvisationsverfahren. Es ist die Grundlage aller Musikgattungen der Araber und wird in der ganzen arabischen Welt angewendet, sowohl in der weltlichen als auch in der religiösen Musik. In der Maqam-Darstellung existiert keine rhythmisch-zeitliche Organisation, das heisst, es gibt weder eine wiederkehrende Takteinteilung noch ein gleichbleibendes Metrum. Unter Umständen drückt bei einer Maqam-Darstellung ein Rhythmus durch, doch dies hängt von der Spieltechnik des Musikers ab und ist keineswegs charakteristisch für den Maqam. Das ist der Hauptgrund dafür, dass ein wenig mit dieser Musik vertrauter Zuhörer die Maqam-Darstellung als formlose Improvisation ohne Anfang und Ende empfindet. Ein klares Thema, welches immer wieder vorkommt, fehlt. Der Maqam besitzt aber sehr wohl eine Form. Ein typisches Merkmal für eine Maqam-Vorführung sind die langen Pausen zwischen den Melodiezügen. In jedem Melodiezug ertönt etwas Neues. Das Neue wird oftmals mit etwas bereits gespieltem kombiniert. In jedem Melodiezug wird ein Ton der Maqam-Reihe hervorgehoben, beispielsweise kann im ersten Melodiezug der erste Ton der Reihe, im zweiten Melodiezug der dritte Ton und in der dritten Melodie der vierte Ton hervorgehoben werden. Wenn im dritten Melodiezug der vierte Ton herausgestrichen wird, erscheinen auch die beiden gewichteten Töne der vorderen zwei Melodiezüge häufig. Eine Regel für die Reihenfolge dieser Heraushebungen und die Anzahl Melodiezüge innerhalb einer Maqam-Darstellung gibt es nicht, der Musiker ist hier frei. Die Improvisation auf Tönen in einem bestimmten Tonraum ist eine „Phase“ in der Entwicklung des Maqam. Jeder Melodiezug hat eine oder mehrere solcher Phasen. Von Phase zu Phase wird die Tonlage höher, bis der Höhepunkt erreicht wird und somit die Form abgeschlossen ist. Diese Phasen eines Maqam befinden sich auf bestimmten Tonebenen. Eine solche Tonebene entsteht, wenn ein Ton (die melodische Achse) mehrfach wiederholt und von benachbarten Tönen umspielt wird. Mit dem Ton g als Achsenpunkt kann dies etwa so aussehen: Eine Tonebene kann jedoch auch zwei Zentren haben, ein primäres und ein sekundäres, was gar nicht so selten auftritt. Sobald alle Möglichkeiten der Improvisation in einer Tonebene ausgeschöpft sind, ist eine Phase zu Ende. Eine Phase wird absolut unterschiedlich gestaltet: manche Musiker oder Sänger beschränken sich auf einen sehr engen Bereich um den 38 Zentralton, andere wagen sich weiter vom Zentrum fort, aber in allen Fällen ist die Tonachse von grösster Bedeutung. Von der Art der Intervalle, in welchen die Zentren benachbarter Tonebenen auseinanderliegen, hängt der Stimmungsgehalt des Maqam ab. Die Darstellung des Maqam gliedert sich also in Melodiezüge, deren Anzahl und Länge nicht bestimmt sind. Jeder Melodiezug besteht aus einer oder mehreren Tonebenen, welche miteinander kombiniert, kontrastiert und vertauscht werden. Für jede Maqam-Reihe ist eine bestimmte Anzahl Tonebenen festgelegt. Für eine gute Maqam-Darstellung ist eine schöpferische Fähigkeit nötig, welche der eines Komponisten durchaus verwandt ist. Da aber nie zwei Vorführungen eines Musikers identisch sind, kann die Maqam-Darstellung nicht als Kompositionsform bezeichnet werden. Von den Abständen der verschiedenen Tonzentren und von der gespielten MaqamReihe wird der Gefühlsgehalt der Darstellung bestimmt. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die für den Maqam charakteristischen Tonebenen herausgearbeitet werden. Jeder Maqam-Reihe ist eine bestimmte Stimmungs- oder Gefühlslage zugeordnet. Der Maqam Rast steht beispielsweise für Stolz, Macht, geistige Gesundheit und Männlichkeit. Der Maqam Bayati ruft ein Gefühl der Lebenskraft, Freude und Weiblichkeit hervor. Der Maqam Sikah wird mit der Liebe in Verbindung gebracht, der Maqam Higaz steht für die Wüstenferne und vom Maqam Saba wird Traurigkeit und Schmerz hervorgerufen. Im Rahmen einer Untersuchung, bei der Araber und Nichtaraber als Testpersonen dienten, wurde festgestellt, dass nicht alle Nichtaraber bei der Anhörung des Maqams Rast die gleichen Gefühle empfanden. Etwa 28 Prozent beschrieben den Maqam mit „ernst“, „Spannung“, „Sehnsucht“. Sechs Prozent empfanden ihn als „froh“, „aktiv“ und „lebendig“. Zehn Prozent der Nichtaraber konnten keine Gefühle beschreiben. Ein arabischer Zuhörer kann jedoch sofort bestimmen, um welchen Maqam es sich handelt und welchen Gefühlsgehalt dieser hat. Der Gefühlsgehalt wird zu einem grossen Teil von den labilen Grössen bestimmter Intervalle beeinflusst. Höbeispiele: - CD Nr. 13 + 14: Mounir Bachir auf der CD „Maqamat“ 4.3 Das rhythmisch-zeitliche Mass: Wazn Al-Farabi stellte im 10. Jahrhundert n. Chr. fest, dass die Masseinheit, mit der die Zeit zu messen sei, unteilbar zu sein hat. Als Masseinheit wurde die Zeitspanne zwischen zwei Schlägen oder Tönen bestimmt. Gemessen wird also der Abstand zwischen zwei Impulsen, vergleichbar mit zwei Punkten auf einer Geraden in der Geometrie. Zwischen diesen beiden Impulsen war kein Raum mehr für einen weiteren Impuls. Als qualitativen Faktor fügten die Musiktheoretiker noch die Betonung hinzu. Heute sieht die rhythmisch-zeitliche Organisation der Araber immer noch so aus wie zu al-Farabis Zeiten. Einige seiner rhythmischen Formeln sind bis heute erhalten geblieben. 39 Arabische Musik wird nicht grundsätzlich immer mit einer rhythmischen Formel gespielt. Es wird zwischen Musik mit freier und Musik mit fester rhythmisch-zeitlicher Organisation unterschieden. Musikgattungen ohne feste rhythmische Organisation kennen zwar eine rhythmischzeitliche Organisation, aber ohne regelmässig wiederkehrende Motive oder Tongruppierungen und ohne ein festes Metrum. Gattungen mit freier rhythmischzeitlicher Organisation werden im Wesentlichen solistisch ausgeführt. Das MaqamPhänomen (4.2) ist hierfür das beste Beispiel. Musikstile mit fester rhythmisch- zeitlicher Organisation haben klare, kompakte und regelmässig wiederkehrende Motive. Solche Stücke werden normalerweise in einem Ensemble aufgeführt. Im Gegensatz zu Maqam-Darstellungen sind sie Kompositionen. Die zu einem rhythmisch fest organisierten Stück gehörende rhythmische Formel wird von einem Schlaginstrument ausgeführt. Diese Formel der arabischen Musik wird als Wazn bezeichnet, was wörtlich übersetzt „Mass“ bedeutet. Die Länge eines Wazn liegt im Allgemeinen zwischen zwei und 176 Zeiteinheiten. Es existieren ungefähr 100 verschiedene rhythmische Formeln. Die meisten von ihnen kommen sowohl in der arabischen als auch in der türkischen Musik vor. Ein Wazn besteht aus verschiedenen oder gleichen Zeitabschnitten, welche zwei, drei oder mehr Zeiteinheiten umfassen können. Meistens ist es der erste Zeitabschnitt, der betont wird. 40 5. Porträt einer marokkanischen Musikgruppe Während unseres Aufenthalts in Marrakech hatten wir die Möglichkeit, sehr viel arabische Musik live hören zu können (insbesondere auf dem Platz Jemaa el Fna im Stadtzentrum) und zu unserem grossen Entzücken fand ebenda just zu dieser Zeit das „Féstival National des Arts Populaires“ statt, ein Volkskunstfest der altarabischen Tradition, an welchem um die 25 Folkloregruppen aus Marokko und Gastensembles ihre Tänze, Rhythmen und Melodien präsentierten. Nun ergab es sich, dass wir eigentlich anstatt eine reine Theoriearbeit zu schreiben lieber Die Musiker der „Troup Abidad R’ma Labardia“ auch etwas durchwegs Eigenes in unseren Text inkludiert hätten und so ergriffen wir die Chance und improvisierten als Eigenleistungsteil dieser Maturaarbeit über alle Sprachgrenzen hinweg an erwähntem Festival ein „Backstage“-Interview mit einer traditionellen marokkanischen Tanz- und Rhythmusgruppe, dessen Resultat im Folgenden als Kurzporträt wiedergeben wird. Die Gruppe gab uns ihren Namen als „Troup Abidat R’ma Labardia“ an und stammte aus dem etwa 80 Kilometer von Marrakech entfernten El-Kelâa des-Sraghna. Die acht Musiker waren im Kontrast zu den alten Berbern, die vorher aufgetreten waren, noch sehr jung (18 bis 25 Jahre alt) und ein Paradebeispiel für die ausgesprochene Herzlichkeit und Weltoffenheit vieler Marokkaner dieser Generation; so unterhielten sie sich mit uns auf äusserst geduldige und freundschaftliche Weise, wobei sie sich sowohl des Französischen wie auch des Englischen ziemlich fliessend (jedenfalls besser als wir) zu bedienen wussten. Sie spielten zum Gesang (der eine Hauptrolle innehatte) und zum folkloristischen Tanz ausschliesslich Perkussionsinstrumente, unter welchen neben dem Bendir (3.3.5) und der Taarija (3.3.3) ein scherenähnliches Gebilde, das sie schlicht als „Ciseaux“ bezeichneten, exotisch auffiel. Es wurde deutlich, dass sie ganz klar Profi-Musiker waren, sich sogar als die Besten ihres Stils brüsteten und dass sie mit ihren Gagen genug zum Überleben verdienten und keinen anderen Beruf ausübten. Weiter bezeichneten sie ihren Stil als traditionelle marokkanische Folklore, die sie schon im Kindesalter erlernt hatten und mit der sie in Der Prospekt der Musikgruppe ihren Familien aufgewachsen waren. Auf die Frage nach besuchten musikalischen Ausbildungsstätten stutzten sie zuerst und antworteten dann leicht belustigt, dass sie niemals eine etwaige Musikhochschule oder Ähnliches 41 besucht hatten, sondern dass alles von ihren Vätern und Grossvätern erlernt sei, welche selbst vom Musizieren lebten. Die Musiker erzählten uns auch, dass in ihrer Musik sehr viel reine Improvisation enthalten sei und sie den stiltypischen Rhythmus dazu spielten und sangen. Noten verwendeten sie nicht. Auf die Frage nach sonstigen musikalischen Interessen berichteten sie, dass sie jegliche arabische Musik hörten und auch sehr viel kannten und wir bemerkten, dass teilweise fundiertes Wissen über die Geschichte der arabischen Musik vorhanden war. Als Vorbilder nannten sie unter anderem den ägyptischen Sänger Mohamed Abd ElWahaab und natürlich die allgegenwärtige Gesangs-Königin Oum Kalsum. Schliesslich überraschte uns eines der Mitglieder mit seiner Antwort auf die von uns eher hoffnungslos gestellte Frage nach der Kenntnis westlicher Musik: „Ja, klar höre ich auch westliche Musik: Michael Jackson, Enrique Iglesias, Metallica, Nirvana, Britney Spears...“ Dieser Bericht sollte nun also zeigen, wie eine marokkanische Musikgruppe strukturiert sein kann, er hat aber auf keinen Fall eine Verallgemeinerung dieses spezifischen Charakterbildes zum Ziel. Im Gegenteil soll abschliessend bemerkt sein, dass es andere Musikgruppen gibt, die wohl ziemlich differierende Antworten auf unsere Fragen gegeben hätten. 42 Zusammenfassung Von der hedonistischen Lebensweise der vorislamischen Araber war auch die Musik betroffen: die einzigen Musikschaffenden zu dieser lebensfrohen, ausgelassenen Zeit waren sogenannte Singmädchen, Sklavinnen, die Prostituierte und Sängerinnen zugleich waren. Trotz den Musikverboten des 662 n. Chr. gründenden Islam, konnte sich eine musikalische Tradition parallel zur orthodoxen Welt der streng Korangläubigen entwickeln und bis ins 9. Jahrhundert behaupten. Im folgenden Zeitalter, unter Schutzherrschaft des Bagdader Kalifenhofs, blühte das musikalische Leben der Araber deutlich auf, um schliesslich unter osmanischer Beherrschung ab dem 16. Jahrhundert völlig zu stagnieren und erst gegen das 20. Jahrhundert durch nicht nur positive Beeinflussung der westlichen Tradition wieder zu erwachen. Die arabische Musik sowie auch der Tanz, die Instrumente und Ensembles finden in einem sehr weiten Gebiet Verbreitung, wobei aber deutliche regionsspezifische Ausprägungen bemerkbar sind. Diese musikalischen Länderkolorite reichen von Stilen wie der traditionellen marokkanischen Gnaoua-Musik über den edlen irakischen Al-maqam al-iraqi bis zur modernen algerischen Popmusik Raï. Die verschiedenen Musikinstrumente der arabischen Welt dienen eigentlich meistens nur der Begleitung der immens wichtigen Gesangsstimme, darum sind sie auch grösstenteils perkussiver Natur (es gibt unzählige verschiedene Schlaginstrumente). Als Melodieinstrumente kennt man in der arabischen Kunstmusik neben der Längsflöte Ney eigentlich nur Saiteninstrumente. Oboen- oder Klarinettenähnliche Blasinstrumente sind fast ausschliesslich der Volks- und Unterhaltungsmusik zuzuordnen. Das arabische Tonsystem beruht auf einer Oktavaufteilung in 24 Tonschritte. Es gibt verschiedene Modi, die Maqamat genannt werden und jeweils für ganz bestimmte Gefühlslagen stehen. Der Maqam dient als Grundgitter für die Improvisation. Arabische Musiker heutzutage haben selten eine Ausbildungsstätte besucht, sondern bauen auf das ihnen von Generation zu Generation weitergegebene Wissen. Es findet also durchaus auch durch die heutigen Musikschaffenden noch ein Aufrechterhalten und Pflegen der altarabischen Musiktradition statt, womit diese wohl doch niemals vollständig von der zerstörenden Beeinflussung des Westens getilgt werden wird. Junge arabische Musiker können trotz fehlender seriöser Ausbildung dank grossem eigenem Interesse an der arabischen Musikwelt und viel Übung recht gut von ihren Auftritten leben. Sie sind auch gegenüber westlicher Musik sehr aufgeschlossen und auf dem Laufenden, würden jedoch darum niemals auf „ihre“ alte Tradition verzichten wollen. 43 Quellenverzeichnis • Habib Hassan Touma, Die Musik der Araber, Erw. Neuausgabe, Wilhelmshafen: Noetzel, 1989, S. 20-148, 188-206 • hrsg. von Simon Broughton, Rough Guide Weltmusik, aus dem Engl. von Monika Woltering, Metzler Musik, Stuttgart 2000, S. 179-183, 183 – 201, 245, 258, 259 • Hans Engel, Die Stellung des Musikers im arabisch-islamischen Raum, Verlag für systematische Musikwissenschaft GmbH, Bonn 1987, S. 17-59, 203-259, 263-292 Internet: • • • • • • • • • • • • http://www.shalimar-online.de http://www.arabclassicalmusic.com/ http://www.uni-oldenburg.de/musik-for/mittelmeermusik/blatt4.htm http://www.geocities.com/CapitolHill/1404/hadsch.html http://www.chj.de/Arab-Musik.html http://www.nasheed.de/html/05.html http://www.dioezeselinz.at/einrichtungen/sion/websites/d/sion/artikel/islam.htm http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Kalifen http://leb.net/rma/ http://www.turath.org/ProfilesMenu.htm http://www.almazah.de/knowhow/musik-instr.htm http://www.bauchtanzinfo.de/Musik/Musikinstrumente.htm 44