Für einen Kohärenz normativer Überzeugungen ohne Fundierung in

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Für eine Kohärenz normativer Überzeugungen ohne Fundierung in Konventionen
von Dietmar von der Pfordten
Die Reichhaltigkeit des Aufsatzes „Vernunft und Freiheit“ von Julian Nida-Rümelin schließt eine
Auseinandersetzung mit allen darin angesprochenen Aspekten aus. Der vorliegende Versuch beschränkt sich deshalb auf den ersten, metaethischen Abschnitt. In diesem ersten Abschnitt verteidigt Nida-Rümelin zwei zentrale Thesen, die These der notwendigen Kohärenz normativer Urteile
und die These der notwendigen Fundierung dieser normativen Urteile in einer Lebensform bzw. Lebenswelt.
Beide Thesen werden im Folgenden auch unter Berücksichtigung anderer Schriften NidaRümelins untersucht.1 Im ersten Teil dieses Versuchs wird die These, normative Urteile seien nur
als Element eines kohärenten Netzes von Überzeugungen zu begründen, weiter entfaltet und
gerechtfertigt. Im zweiten Teil wird die These der Fundierung dieser normativen Urteile in einer
Lebensform bzw. Lebenswelt diskutiert und kritisiert. Die Annahme einer derartigen
konventionalistischen2 Fundierung normativer Urteile wird sich als problematisch erweisen, da
sie fundamentalistische, positivistische, relativistische und kollektivistische Implikationen nach
sich zieht. Im dritten Teil wird als Alternative zur konventionalistischen eine individualistischobjektivistische Version des Kohärentismus vorgeschlagen.
I. Für eine Kohärenz der Begründung normativer Urteile
Was bedeutet „Kohärenz“? Der Ausdruck läßt sich zunächst einfach als „Zusammenhang“ verstehen, wobei „Zusammenhang“ Widerspruchsfreiheit (Konsistenz) erfordert, sich in ihr aber
nicht erschöpft. „Zusammenhang“ ist ein zweistelliges Prädikat bzw. ein Relationsausdruck mit
mindestens zwei Subjektausdrücken bzw. Referenzen auf Relata. Die erste und entscheidende
Frage lautet deshalb: Zwischen welchen Typen von Relata behauptet der Kohärentismus einen
1 Wichtig sind u. a.: Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, München 1993, S. 171-188; ders., Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft, Stuttgart 2001; ders., Ethische Essays, Frankfurt a. M. 2002, S. 11-132; ders., Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005; ders., Demokratie und Wahrheit, München 2006, S. 76-113; ders., Gründe und Lebenswelt, in: Information Philosophie 2007, S. 7-21. Vgl. zu einer Kritik
der früheren Auffassung Nida-Rümelins: Uwe Czaniera, Kohärentistische Begründung der Moral. Eine neue Parallele zur Wissenschaft und ihre Probleme, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 54 (2000), S. 67-85.
2 Diese Kennzeichnung seiner Version des Kohärentismus stammt nicht von Nida-Rümelin, sondern ist meine.
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Zusammenhang? Dafür gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten. Wenigstens vier lassen sich als
Explikation einer metaethischen Theorie denken:3
(1) Ein Zusammenhang von Intuition und Vernunft bzw. Induktion und Deduktion bzw. Konkretem und Abstraktem.
(2) Ein Zusammenhang von deskriptiven und normativen Überzeugungen.
(3) Ein Zusammenhang von Überzeugungen des Alltagsdenkens und der ethischen Theorie.
(4) Ein Zusammenhang einzelner und gemeinschaftlicher Überzeugungen zu einem universalen
Netz der Überzeugungen.
Im folgenden wird zunächst untersucht, welche dieser Alternativen Nida-Rümelin bejaht und
welche Gründe er für seine Bejahung anführt:4
1. Der Zusammenhang von Intuition und Vernunft bzw. Induktion und Deduktion
Für die erste Form der Kohärenztheorie, also die These des Zusammenhangs zwischen Intuition
und Ratio bzw. Induktion und Deduktion argumentiert Nida-Rümelin mittels einer Kritik der
vereinseitigenden Alternativen des Rationalismus und des Intuitionismus:
a) Der Rationalismus ist als metaethische Theorie für Nida-Rümelin unhaltbar, weil die Prinzipien,
auf denen die deduktiven Schlüsse rationalistischer Theorien aufbauen, selbst einer Begründung
bedürfen (§ 3). Nun ist es sicher nicht generell unmöglich, Prinzipien zu begründen. Was NidaRümelin hier meint ist, daß es keine Letztbegründung derartiger Prinzipien geben kann. Nur der
unendliche Regreß, der willkürliche Abbruch oder der Zirkel in der Begründung sind als Antwort
auf die Frage nach einer Letztbegründung von Prinzipien möglich. Man steht also im Rahmen
einer Begründung moralischer bzw. ethischer Prinzipien vor dem sog. Münchhausen Trilemma.5
Dieses Argument ist auf einer begründungstheoretischen Ebene überzeugend: Wenn für jedes
Prinzip eine Begründung gefordert wird, so wird man nicht umhin können, auch für die Begründung eine Begründung zu verlangen etc. ad infinitum.
3 Ich lasse hier den von Nida-Rümelin vielfach angeführten Zusammenhang der Person außer Betracht, da er zu
komplex ist, um hier diskutiert zu werden.
4 Vgl. zu anderen ethischen Theoretikern des Kohärentismus, wie Putnam und Boyd: Uwe Czaniera, Gibt es moralisches Wissen?, Paderborn 2001, S. 119, 128ff.
5 Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 2. Aufl., Tübingen 1969, S. 13ff.
3
Was könnte ein Vertreter einer rationalistischen Theorie, etwa ein Anhänger des Kantschen Verallgemeinerungsprinzips gegen diese Argumentation einwenden? Er könnte vielleicht einwenden,
daß eine bestimmte Ebene der Abstraktion die adäquate Ebene des Verallgemeinerungstests der
Maximen und damit einer Begründung ex negativo sei. Es sei weder möglich noch nötig dann
noch eine weitere, abstraktere Ebene jenseits des Verallgemeinerungstests zu suchen, da der Ausschluß eben auf der Ebene des Verallgemeinerungstests stattfinde. Dies sei kein willkürlicher
Abbruch, sondern eine richtige Problemlösung auf der adäquaten Ebene. Der Verallgemeinerungstest sei keine Begründung, sondern ein Ausschlußverfahren, das im Prinzip auf allen möglichen Ebenen der Abstraktion erfolgen könne. Und wenn es nicht zu einem Widerspruch auf
einer der möglichen Ebenen komme, sei das als Begründung eben hinreichend, um den Ausschluß der Maxime zu verneinen und die der Maxime zu Grunde liegende Handlung zu erlauben.
Angesichts des fundamentalen Faktums der Freiheit, müsse nicht das Handeln als Gebrauch der
Freiheit begründet werden, sondern die Einschränkung des Handelns als Begrenzung der Freiheit. Dies sei in der gegebenen Bandbreite der Abstraktionen durch Aufweiß eines Widerspruchs
möglich. Wenn sich kein Widerspruch einstelle, so sei die Handlung nicht verboten. Man wird
Kants Verweis auf ein „Faktum der Vernunft“ und das „moralische Gesetz in mir“ vielleicht als
einen derartigen Vorschlag zur Lösung des Münchhausen-Trilemmas der Begründung verstehen
können, nachdem seine Fundamentierungsversuche im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wenig erfolgreich geblieben waren.6
An diesem Einwand ist sicher soviel richtig, daß nicht jede Handlung der Begründung bedarf.7
Wenn jemand ohne erkennbare, nicht bloß marginale Betroffenheit für Andere handelt, muß er
sich im Rahmen einer säkularen Ethik – anders allerdings von einem religiösen Standpunkt – vor
niemandem rechtfertigen, auch – wenn man Pflichten gegen sich selbst verneint – nicht vor sich
selbst. Wenn jemand ein Buch in seinem Zimmer liest, dann bedarf dies keiner Begründung. Es
mag dem Zufall geschuldet sein, daß gerade ein entsprechendes Buch auf dem Tisch lag oder
einfach einer Laune entspringen. Jemanden, der dafür eine Begründung erwartet, würden wir als
merkwürdig ansehen. Es ist also weder deskriptiv zutreffend, daß alle Handlungen bzw. Entscheidungen eine Begründung enthalten, noch ist es normativ gerechtfertigt, eine solche Begründung für alle Handlungen zu fordern. Manche Vertreter der zeitgenössischen Ethik bzw. Metaethik vertreten eine in meinen Augen freiheitsvergessene Theorie der Notwendigkeit des Begrün-
6 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Kants gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen
Akademie der Wissenschaften, Bd. V, Berlin 1908/13, Nachdruck 1968, S. 34, 161.
7 Julian Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität, Stuttgart 2001, S. 74f., geht davon aus, daß ein Verhalten, für das wir
keine Gründe angeben können, keine Handlung ist.
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dens jeder Handlung. Damit wird aber der Begründungsbegriff derart ausgeweitet, daß er allen
Bezug zu Moral und Ethik verliert und jede kognitive Handlungsleitung umfaßt. Eine derartige
Ausweitung macht dann aber die Fassung eines engeren moralischen bzw. ethischen Begründungsbegriffs notwendig.
Allerdings gibt es natürlich Handlungen, bei denen Andere von dem Handelnden eine Begründung fordern. Das sind regelmäßig solche Handlungen, von denen Andere nicht nur marginal
betroffen sind, und die zu moralischen, rechtlichen, ökonomischen, politischen oder sonstigen
Konflikten führen können.8 Genau diese drei Umstände, sind es, welche die Forderung nach der
Begründung für ein Handeln auch ethisch rechtfertigen: (1) Andere fordern eine Begründung
oder es ist zumindest praktisch nicht ganz ausgeschlossen, daß sie sie fordern. (2) Andere sind
von der Handlung nicht nur marginal betroffen. (3) Ein Konflikt ist im Hinblick auf die in Rede
stehende Handlung möglich.
Die zentrale Frage an den Verallgemeinerungstest lautet dann, ob er in der Lage ist, dieser berechtigten Forderung nach einer Begründung zu genügen. Das ist bekanntlich außerordentlich
umstritten und führt tief in die normative Debatte um die Adäquatheit des Verallgemeinerungsprinzips. Es zeigt – dies sei en passant festgestellt –, daß sich die Metaethik nicht einfach von der
normativen Ethik ablösen läßt. An andere Stelle wurde die Frage nach der Adäquanz des Verallgemeinerungstests ausführlicher diskutiert.9 Hier soll nur das Resultat erwähnt werden: Das Prinzip der Verallgemeinerung führt in der Kantischen Version zur Begründung von Verboten und
Geboten, in denen ein Handeln eine gemeinschaftliche Praxis zugleich voraussetzt und untergräbt, also nur dadurch zum Ziel führt, daß es nicht die allgemeine Handlungspraxis ist,10 wie bei
der Lüge oder dem unaufrichtigen Versprechen. Das ist zwar überzeugend. Es handelt sich aber
dabei nur um einige, eng begrenzte Fälle gemeinschaftlicher Institutionen. Selbst das allgemeine
Tötungsverbot als zentrale moralische Norm wäre auf diese Weise nicht zu rechtfertigen, denn
der Versuch, einen anderen zu töten, setzt nicht logisch (Widerspruch im Denken) oder auch nur
praktisch notwendig (Widerspruch im Wollen) voraus, daß kein anderer versucht, den Handelnden zu töten. Eine Gesellschaft wechselseitiger privater gewalttätiger Auseinandersetzungen mit
Tötungsabsicht würde zwar unseren grundlegenden Interessen zuwiderlaufen. Sie erscheint aber
8 „Konflikt“ wird in diesem Aufsatz in einem sehr weiten Sinn eines potentiellen oder aktuellen Widerstreits von
Belangen bzw. Interessen verstanden, nicht in einem engeren Sinn der Verwendung bestimmter Mittel der Konfliktaustragung, also etwa im Sinne von „Streit“ oder gar „Krieg“.
9 Verf. Fünf Elemente normativer Ethik – Eine allgemeine Theorie des normativen Individualismus, Zeitschrift für
philosophische Forschung 61 (2007), S. 314f.; Normative Ethik, Kap. 5, im Erscheinen.
10 Vgl. Günther Patzig, Der Kategorische Imperativ in der Ethikdiskussion der Gegenwart, in: ders., Ethik ohne
Metaphysik, 2. Aufl. Göttingen 1983, S. 156.
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im Hinblick auf die Maximen bzw. Handlungen einzelner Tötungsversuche nicht als widersprüchlich.
Allerdings zeigen diese Erwägungen, daß es kaum möglich sein wird, eine rationalistische Position ohne Diskussion ihrer jeweiligen konkreten Ausgestaltung allein auf dem Feld der Metaethik
auszuschließen, weil jede rationalistische Position immer behaupten kann, daß ihre Begründung
auf der adäquaten Rechtfertigungsebene operiert und somit keine weitere, abstraktere Begründung erforderlich ist.
b) Der Intuitionismus ist als metaethische Theorie für Nida-Rümelin unhaltbar, weil es keine isolierten (normativen) Überzeugungen gebe, die nicht in bestimmten Situationen mit anderen
(normativen) Überzeugungen in Widerspruch zueinander geraten könnten (§ 3). Denn in bestimmten Äußerungs-Situationen würden verschiedene normative Überzeugungen simultan relevant, gerieten in Konflikt oder ergänzten sich, die eine erscheine als ein Spezialfall der anderen,
beide ließen sich unter eine dritte (allgemeinere) normative Überzeugung (eine Regel, eine Gesetzmäßigkeit) subsumieren. Eine Mehrzahl von prima-facie-Pflichten wird zwar von manchen
Vertretern des ethischen Intuitionismus angenommen, etwa W. D. Ross.11 Dennoch überzeugt
auch dieses Argument im Rahmen der Metaethik. Der Versuch, moralische Konflikte auf der
konkreten Ebene der in der einzelnen Situation entgegenstehenden Interessen zu lösen, ist aussichtslos, weil sich dann einfach die Intuitionen der Konfliktparteien gegenüberstehen. Man kann
im Rahmen ethischer Begründungen nicht darauf verzichten, die für einen Einzelfall vorgeschlagenen Lösungen, zu abstrakteren Überzeugungen in Beziehung zu setzen. Andernfalls schneidet
man Möglichkeiten der Begründung willkürlich ab.
Ergänzend läßt sich zum Ausschluß des Intuitionismus auf die Parallele zum Induktionsproblem
verweisen. So wie einzelne empirische Beobachtungen allgemeine Gesetze nicht induktiv rechtfertigen können, vermögen intuitive normative Überzeugungen in einzelnen Konfliktfällen allgemeine normative Prinzipien nicht allein zu begründen.
Allerdings muß man klar zwischen den Überzeugungen, welche in einer Konfliktsituation moralisch, politisch, rechtlich etc. richtig oder falsch ist, und den individuellen Belangen bzw. Interessen, d. h. den Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen der jeweils im möglichen oder
wirklichen Widerstreit stehenden Personen bzw. Individuen unterscheiden.12 Diese Belange bzw.
11 W. D. Ross, The Right and the Good, Oxford 2002.
12 Vgl. zu dieser Kaskade von vier Elementen als Grundlage des abstrakteren Begriffs des Belangs bzw. Interesses:
Verf., Fünf Elemente normativer Ethik – Eine allgemeine Theorie des normativen Individualismus, Zeitschrift für
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Interessen konstituieren den moralischen, politischen, rechtlichen Konflikt erst und müssen deshalb als empirische Faktoren der jeweiligen Situation eine zentrale Rolle in seiner Lösung und
damit in der Abwägung spielen. Der Ausschluß des Intuitionismus darf nicht als Ausschluß dieser, ja auch nicht intuitiv sondern empirisch wahrnehmbaren Belange bzw. Interessen der in einer
konkreten Situation im möglichen oder realen Widerstreit stehenden Individuen mißverstanden
werden. Allerdings liefern die Belange bzw. Interessen natürlich für sich genommen keine adäquate Begründung der Lösung des Konflikts, weil sie sich einfach als widersprechende individuelle Normäußerungen gegenüberstehen. Wenn A sagt, er will, daß X geschieht, und B sagt, er will,
daß –X geschieht, so ergibt das für sich genommen keine Lösung des Widerstreits. Und wenn
rein faktisch ein Ergebnis herbeigeführt wird, dann ist das keine moralische bzw. ethische oder
rechtliche Lösung des Widerstreits, sondern nur ein faktisches Ergebnis, etwa ein solches der
Gewalt, der List, der Überredung, des Aufgebens, des mehr oder minder faulen Kompromisses
etc.
2. Der Zusammenhang von deskriptiven und normativen Überzeugungen
Nida-Rümelin bejaht auch den Zusammenhang zwischen deskriptiven und normativen Überzeugungen.13 Unser System der Überzeugungen ist eine Einheit. Das zeigen die vielen Verbindungen
deskriptiver und normativer Urteile. Normative Urteile setzen deskriptive voraus. Wer etwa die
Verantwortung der Eltern für das Wohl ihrer minderjährigen Kinder betont, der macht die Tatsache, daß diese nicht in der Lage sind, ihr Wohl allein zu bestimmen und zu verfolgen, als Gegenstand der deskriptiven Überzeugung zur Bedingung. Auch der allgemein akzeptierte Grundsatz „Sollen impliziert Können“ („ought implies can“) fußt auf einem derartigen Zusammenhang.
Während die beiden soeben erwähnten Bedingungszusammenhänge zwischen deskriptiven und
normativen Überzeugungen allgemein akzeptiert werden, ist ein genuiner Begründungs- oder gar
Ableitungszusammenhang zwischen deskriptiven und normativen Überzeugungen umstritten.
Realistische und naturalistische Theorien der Metaethik bejahen ihn, während nichtrealistische
und nichtnaturalistische Theorien ihn verneinen. Nida-Rümelin akzeptiert die Kritik des naturalistischen Fehlschlusses an naturalistischen Begründungen, will ihn aber auf seinen Wortsinn be-
philosophische Forschung 61 (2007), S. 300ff.; Normativer Individualismus. Fünf Elemente normativer Ethik, Kap.
2, im Erscheinen.
13 An anderen Stellen spricht Nida-Rümelin auch vom Zusammenhang von theoretischen und praktischen Gründen, vgl. etwa: Was ist ein praktischer Grund?, in: Ethische Essays, Frankfurt a. M. 2002, S. 93-95; ders., Gründe und
Lebenswelt, S. 8ff.
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grenzen, also nur eine Ableitung aus natürlichen Tatsachen bzw. Propositionen ausschließen,
nicht aber eine aus nicht-natürlichen, empirischen und damit deskriptiven Propositionen.14 Fraglich ist, welche Propositionen dies sein können? An dieser Stelle hat sich seine Position in den
letzten Jahren weiterentwickelt. Nida-Rümelin nennt nunmehr die etablierten und akzeptierten
Regeln der Lebenswelt und Lebensform,15 vertritt also eine konventionalistische Variante des
Kohärentismus. Dazu wird im zweiten Teil des vorliegenden Versuchs noch näher Stellung genommen. Vorher sollen aber zwei Divergenzen zwischen deskriptiven und normativen Überzeugungen zur Sprache kommen, die Nida-Rümelin nach meinem Eindruck vielleicht etwas zu unterschätzen scheint, und die zu einer gewissen Asymmetrie im Kohärentismus zwischen deskriptiven und normativen Überzeugungen führen.
Obwohl sich deskriptive und normative Überzeugungen in ihrer Integration empirischer Propositionen ähneln, gibt es doch einen wesentlichen Unterschied: Während viele gleichartige empirische Daten ein allgemeines Prinzip zwar nicht begründen, aber doch zumindest praktisch bestätigen können, ist dies bei normativen Überzeugungen nicht der Fall. Viele gleichartige Lösungen
moralischer Konflikte können allein durch ihre Quantität die Richtigkeit dieser Lösung nicht bestätigen, denn sie können ja bloßes Resultat einer besonders wirksamen Unterdrückungs- oder
Überredungspraxis der Herrschenden oder Tonangebenden in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft sein. Das heißt Gleichartigkeit ist anders als bei deskriptiven Überzeugungen nicht per se
eine positiv Bestätigung für ein abstraktes Prinzip, sondern nur, wenn es sich um eine einleuchtende Lösung in einem nichtmanipulierten Umfeld handelt.
Im übrigen muß man auch eine modale Asymmetrie des wechselseitigen Verhältnisses von deskriptiven und normativen Überzeugungen konstatieren: Normative Überzeugungen setzen deskriptive notwendig voraus, weil jede Bewertung und jede Verpflichtung an die Beschreibung
eines bestehenden bzw. nicht bestehenden Zustands anknüpft, der beurteilt wird oder verändert
werden soll. Das Umgekehrte gilt jedoch nicht: Im Verhältnis Beschreibung-Norm ist die Bezugnahme nicht notwendig, sondern nur möglich, d. h. es ist zwar möglich, daß deskriptive Über14 Julian Nida-Rümelin, Gründe und Lebenswelt, S. 17.
15 Julian Nida-Rümelin, Gründe und Lebenswelt, S. 19. In dem Aufsatz „Zur Reichweite theoretischer Vernunft in
der Ethik“ von 1993, in: ders., Ethische Essays, heißt es noch, S. 13f.: „Eine verbreitete Auffassung besagt, daß ein
zutreffend (wahres) normatives Urteil das faktische Bestehen einer Norm logisch (begrifflich) voraussetze. Dies ist
unzutreffend, wie das folgende Gedankenexperiment zeigt. Fünf Schiffbrüchige von unterschiedlichen Kulturen
haben sich auf eine Insel gerettet. Für alle ist ausreichend Nahrung vorhanden. Mangels gemeinsamer Sprache gibt es
keine Möglichkeit der Kommunikation. In dieser Situation kann man die Existenz bestimmter, über Normen konstituierter Institutionen ausschließen. Dennoch wäre es moralisch unzulässig, wenn einer der Gestrandeten einen anderen zu dem Zweck tötete, sich in den Besitz eines wertvollen Schmuckstücks zu bringen. Wären normative Urteile
von Institutionen logisch abhängig, so würde diese Äußerung nicht verständlich und a fortiori nicht normativ plausibel sein können.“ Mir erscheint dieses Gedankenexperiment nach wie vor ein überzeugendes Argument gegen den
Konventionalismus zu sein.
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zeugungen zum Gegenstand von normativen Überzeugungen werden, nicht aber notwendig. Wir
können über bestimmte Tatsachen deskriptive Überzeugungen haben, ohne uns darauf normativ
zu beziehen. Abgeschlossene Ereignisse in der Vergangenheit können wir sogar nur bewerten,
nicht aber zu ihrer Änderung verpflichten. Für vergangene, faktisch unaufhebbare Ereignisse, ist
also sogar nur die Bewertung als ein Element normativer Überzeugungen möglich.
3. Der Zusammenhang von Überzeugungen des Alltagsdenkens und der ethischen Theorie.
Nida-Rümelin kritisiert die in der zeitgenössischen Philosophie verbreitete Auffassung, daß die
ethische Theorie gewissermaßen außerhalb jeder lebensweltlichen Praxis steht und mit dieser
weder epistemologisch noch praktisch etwas zu tun hat.16 Eine philosophische Ethik ohne Stützung in der lebensweltlichen Praxis verkomme zur bloßen intellektuellen Spielerei. Der praktische
Philosoph setze vielmehr nur das fort, was in den moralischen Konflikten der Lebenswelt begonnen habe: die Klärung dessen, was richtig und was falsch sei.
Es erscheint unbezweifelbar, daß die Ethik keine bloß distanzierte Perspektive auf die moralischen und sonstigen Konflikte des Alltags haben kann. Dies gilt zumindest für die normative
Ethik. Die deskriptive Ethik, die ja nichts anderes als Psychologie, Soziologie oder Ethnologie
der Moral und des Rechts ist, kann zwar eine solche distanzierte und bloß beschreibende Perspektive einnehmen. Aber wenn man die Ethik als Ganzes nicht – wie es manche Vertreter des
logischen Empirismus vorgeschlagen haben17 – auf die deskriptive Ethik reduziert, sondern die
normative Ethik als ihren Kern oder zumindest einen respektablen Teil ansieht, dann kann eine
derartige Distanzierung nicht stattfinden, denn die normative Ethik kann als bloß distanziertbetrachtende Theorie die notwendige Normativität, welche allererst ihre Bezeichnung rechtfertigt, nicht allein aus sich selbst heraus erzeugen.
Allerdings hängt der Grad der Abhängigkeit der ethischen Theorie von den moralischen Erwägungen des Alltags naturgemäß davon ab, woraus diese Normativität resultieren soll. Wie im zweiten Teil dieses Aufsatzes noch genauer zu erläutern sein wird, liegt für Nida-Rümelin die einzige
oder zumindest zentrale Quelle dieser Normativität in der lebensweltlichen Sprach- und Interaktionspraxis. Das hat zur Folge, daß die normativ-ethische Theorie weitgehend von Alltagsüberzeugungen abhängig wird. Kritisiert man diese konventionalistische Fundierung, wie es im zwei-
16 Julian Nida-Rümelin, Gründe und Lebenswelt, S. 19.
17 Alfred Jules Ayer, Language Truth and Logic, Harmondsworth 1971, S. 148f.
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ten Teil dieses Aufsatzes geschehen wird, dann stellt sich die Frage, woraus die Normativität
sonst resultieren kann. Im letzten Teil dieser Untersuchung wird die These vertreten werden, daß
die Normativität aus zwei untrennbaren und nur zusammen wirksamen Teilen bzw. Quellen besteht bzw. erwächst: den Belangen bzw. Interessen der jeweils Betroffenen und einer vernünftigobjektivierenden Relationierung bzw. Abwägung dieser Belange bzw. Interessen. Während die
Belange bzw. Interessen der jeweils Betroffenen nur aus den Alltagsüberzeugungen stammen
können, findet diese vernünftige Relationierung bzw. Abwägung sowohl im Alltagsdenken als
auch in der ethischen Theorie statt. Als Beispiel für ersteres kann der, in den Alltagsüberzeugungen wurzelnde Grundsatz der Goldenen Regel dienen,18 als Beispiel für letzteres der Kategorische Imperativ. Die vernünftige Relationierung bzw. Abwägung erfolgt also in beiden Bereichen
gleichermaßen, ohne daß man einen der Bereiche prinzipiell für vorrangig halten könnte. Sie kann
allerdings im Rahmen der ethischen Theorie ein erhöhtes Maß an Überzeugungskraft und Kritikfähigkeit durch die Erfüllung bestimmter wissenschaftliche Standards wie Klarheit, Widerspruchsfreiheit, Vollständigkeit, Systematizität, Begründung, Fruchtbarkeit usw. gewinnen. Auch
im Hinblick auf den Zusammenhang von alltäglichen und ethisch-theoretischen Überzeugungen
erscheint der Kohärentismus also nicht ganz symmetrisch.
4. Der Zusammenhang einzelner und gemeinschaftlicher Überzeugungen zu einem universalen
Netz
Der vierte Aspekt des Kohärentismus liegt darin, daß sich die Überzeugungen verschiedener Personen und Gesellschaften in der Ethik zu einem universalen Netz verbinden. Nida-Rümelin verteidigt allgemeingültige moralische Minimalbedingungen gegen den Partikularismus, den
Perspektivismus und den Relativismus.19 Da seine Begründungen meiner Ansicht nach überzeugen, soll deren Detaildiskussion hier nicht aufgenommen werden. Weil aber das Problem des
Relativismus noch im zweiten Teil dieser Überlegungen wichtig werden wird, soll nur ein – meiner Ansicht nach zutreffendes – früheres Argument Nida-Rümelins gegen den Relativismus widergegeben werden:20 Antirelativistische Kulturen seien nicht nur denkbar, sondern der histori-
18 Er taucht etwa bereits in der Bibel auf: Matthäus 7, 12.
19 Julian Nida-Rümelin, Über die Vereinbarkeit von Universalismus und Pluralismus in der Ethik, in: ders., Ethische
Essays, Frankfurt a. M. 2002, S. 63-78, v. a. S. 69ff., 76; ders., Normatives Orientierungswissen, in: ders., Ethische
Essays, Frankfurt a. M. 2002, S. 109.
20 Julian Nida-Rümelin, Über die Vereinbarkeit von Universalismus und Pluralismus in der Ethik, in: ders., Ethische
Essays, Frankfurt a. M. 2002, S. 69.
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sche Normalfall. Eine solche Kultur wisse aber charakteristischerweise sehr genau, was in der
Fremde zu tun sei, nämlich sich weiterhin an das in der eigenen Kultur für richtig Befundene zu
halten, auch wenn damit andere gekränkt oder verletzt werden.
5. Hat im Kohärentismus jedes Begründen ein Ende?
„Jedes Begründen hat ein Ende.“ (§ 4) lautet eine Charakterisierung der spezifischen, von NidaRümelin vertretenen Version des Kohärentismus. Das trifft in einem praktischen Sinn sicher zu,
weil man die konkrete Entscheidung in einzelnen moralischen Konflikten nicht endlos aufschieben kann, sondern zu einer zeitlich und pragmatisch vertretbaren Lösung kommen muß. In einem von derartigen zeitlichen und pragmatischen Notwendigkeiten der konkreten Entscheidung
abstrahierenden Sinn erscheint diese These im Rahmen einer kohärentistischen Theorie aber
interpretationsbedürftig. Denn wenn jede Begründung nicht durch Stützung auf konkrete Intuitionen oder Ableitung aus abstraktes Prinzipien, sondern ausschließlich durch das Einfügen in das
umfassende Netz unserer Überzeugungen stattfinden kann, dann kann das Begründen nicht aufhören, weil sich das umfassende Netz unserer Überzeugungen in wenigstens drei Hinsichten endlos ändert: (1) Neue Personen mit neuen Belangen bzw. Interessen kommen hinzu und die alten
sterben. (2) Die Personen kommen zu neuen praktischen Einsichten. (3) Neue deskriptive Erkenntnisse werden gewonnen.
Ein Beispiel: Im Mittelalter wußte man offensichtlich nicht, daß es weibliche Eizellen gibt, so daß
Samen- und Eizelle bei der Empfängnis verschmelzen, womit das Erbgut des Menschen unverrückbar feststeht. Man glaubte, daß der weibliche Uterus quasi nur als „Gefäß“ für den wachsenden menschlichen Samen diene. Die Lehre von der Sukzessivbeseelung war insofern verständlich.
Sie war aber zu dem Zeitpunkt nicht mehr haltbar, als die Existenz weiblicher Eizellen entdeckt
wurde.
Ändert sich also das umfassende Netz unserer Überzeugungen endlos, so müssen sich prinzipiell
auch die Einpassungsrelationen und damit die Begründungen einzelner Überzeugungen endlos
ändern, das heißt zumindest anpassen. Es ist wie mit einem fertig gezimmerten Baumhaus, das
man ab und zu neu befestigen muß, weil die Zweige, die es tragen, wachsen und absterben.
Allerdings wird man diese theoretische Überlegung der Endlosigkeit der Begründung zur abstrakten Charakterisierung des Kohärentismus gleich wieder einschränken müssen, so daß man für
wesentliche moralische Überzeugungen sehr nahe an Nida-Rümelins These herankommt: Die
einzelnen moralischen Überzeugungen hängen bei der Einpassung in unser umfassendes Netz
der Überzeugungen natürlich wesentlich von einigen, sie quasi unmittelbar umgebenden, beson-
11
ders wichtigen Überzeugungen ab. Und diese unmittelbar umgebenden, besonders wichtigen
Überzeugungen sind häufig kaum veränderlich. So sind etwa die Sterblichkeit des Menschen und
sein Wille, am Leben zu bleiben, anthropologische Konstanten,21 die sich die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch feststellen lassen und das allgemeine Tötungsverbot stützen (insoweit
aber auch wieder ein Stück weit in Richtung Fundamentalismus weisen). Insofern kann man von
einer weitgehenden Unveränderlichkeit der Einpassung des allgemeinen Tötungsverbots in unser
Netz von Überzeugungen ausgehen.
Nachdem die erste These Nida-Rümelins, die These des Kohärentismus der Metaethik diskutiert
und mit einigen kleinen Nuancierungen als überzeugend angesehen wurde, wird seine zweite
These, die These der Fundierung unserer normativen Überzeugungen in einer Lebenswelt bzw.
Lebensform untersucht, die zu Nida-Rümelins spezieller, konventionalistischer Version des
Kohärentismus führt.
II. Probleme eines Konventionalismus der Lebenswelt bzw. Lebensform
1. Die Vagheit der Ausdrücke „Lebenswelt“ und „Lebensform“
Die Worte „Lebenswelt“ und „Lebensform“ begegnen wegen ihrer Vagheit und Widersprüchlichkeit schon auf einer sprachlichen Ebene Bedenken: Es ist bereits umstritten, was im biologischen Sinn „Leben“ hießt.22 Dies gilt erst recht für einen mit diesen Worten offenbar gemeinten,
darüber hinausgehenden, sozialen Sinn des Wortes. Was dann „Welt“ und „Form“ sein sollen ist
jenseits der physikalischen „Welt“ und der räumlichen „Form“, die mit den beiden Wortverbindungen offensichtlich nicht gemeint sind, ebenfalls zweifelhaft. Werden die vagen Ausdrücke
„Lebens“ und „Welt“ bzw. „Form“ schließlich verbunden, so können das Ergebnis nur völlig
unbestimmte Ausdrücke sein, von denen niemand die Adäquatheitsbedingungen auch nur annähernd angeben kann. Es handelt sich um Ausdrücke, die sogar Widersprüche in sich bergen, etwa
weil die Welt vermutlich unendlich, das Leben dagegen sicher endlich ist und weil die Welt auch
21 Selbst wenn es gelänge, wie es manche Wissenschaftler anstreben bzw. voraussehen, den biologischen Alterungsprozeß des Menschen aufzuheben und somit eine Art biologischer Unsterblichkeit zu erzeugen, wäre der menschliche Körper nach wie vor durch Fremdeinwirkung zerstörbar und damit das allgemeine Tötungsverbot gerechtfertigt.
22 Vgl. dazu Ernst Mayr, Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens, Heidelberg 1998, S. 21ff., S. 22: „Das Wort
‚Leben’ ist in Wirklichkeit bloß der zum Ding gemachte Vorgang des Lebendseins und existiert nicht als selbständige
Entität.“
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die unbelebte Natur umfaßt. Die Folge ist eine vollkommen uneinheitliche Verwendung dieser
Ausdrücke. Solche von der analytischen Philosophie mit gewissem Recht wegen ihrer Vagheit
inkriminierten Worte wie das „Absolute“ erscheinen im Vergleich zu „Lebenswelt“ und „Lebensform“ wohlbestimmt, das „Absolute“ etwa als das „Unbedingte“.23 Warum Wittgenstein angesichts seiner zumindest in ihrer Richtung, wenn auch nicht in ihren radikalen Schlußfolgerungen,
durchaus berechtigten Kritik an derartigen philosophischen Kunstausdrücken seine eigene Auffassung mit einem solchen weitgehend philosophisch oder zumindest theoretisch-biologisch geprägten Neologismus24 wie den der „Lebensform“ verbunden hat,25 ist kaum verständlich.26
Nun mag es zwei Gründe geben, in einer philosophischen Theorie diese Ausdrücke trotz ihrer
großen Vagheit zu analysieren oder sogar zu verwenden.
Der erste Grund bestünde darin, daß sie auch in der Alltagssprache und damit der Alltagswelt
eine wichtige Rolle spielen, wie dies etwa bei Ausdrücken wie „Wissen“ oder „Gerechtigkeit“ der
Fall ist. Dieser Grund ist für den Ausdruck „Lebenswelt“ sicher nicht zutreffend. Es handelt sich
um eine reine Erfindung der Philosophie.27 Ich kann mich nicht erinnern, jemals gehört zu haben, daß ein Nichtphilosoph dieses Wort gebraucht. Für „Lebensform“ mag das abzuschwächen
sein. Hier mag es gewisse, nicht sehr zentrale alltagssprachliche Verwendungen im Sinne von
„Kultur“ oder „Zivilisation“ oder „Ethos“ geben. Aber auch das sind extrem vage Ausdrücke.
Und die alltagssprachlichen Verwendungen von „Lebensform“ sind vermutlich in weiten Teilen
auf philosophische oder theoretisch-biologische Einflüsse zurückzuführen.
Der zweite Grund könnte darin bestehen, daß man mit diesen Ausdrücken eine neue Entdeckung, bezeichnen will, so wie etwa die Physik mit „Quark“ neu entdecke subatomare Teilchen
bezeichnet hat. Meines Wissens hat aber noch niemand behauptet, daß mit den Ausdrücken „Lebenswelt“ oder „Lebensform“ etwas neu Entdecktes bezeichnet werden soll. Es ist vielmehr das
23 Ob es ein solches Absolutes bzw. Unbedingtes gibt, ist eine andere Frage, die mit Recht – von religiösen Vorstellungen einmal abgesehen – bezweifelt werden kann.
24 Der Ausdruck wurde außer von einem biologischen Verständnis vor allem von der geisteswissenschaftlichen, an
Dilthey anknüpfenden Auffassung Eduard Sprangers, Lebensformen, EA 1914, 6. Aufl., Halle 1927, geprägt.
25 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1977, §§ 19, 23, 241, 325. Wichtig ist, daß
Wittgenstein nur den etwas weniger problematischen Ausdruck „Lebensform“ verwendet, während er den noch
vageren, widersprüchlicheren und alltagsferneren Husserlschen Ausdruck der „Lebenswelt“ soweit ersichtlich nicht
gebraucht.
26 Allerdings kommt der Ausdruck bei Wittgenstein nur an relativ wenigen Stellen vor, so daß man ihn nicht als
zentral bezeichnen kann. Einige Interpreten hypostasieren ihn aber.
27 Das dtv-Brockhaus Lexikon, Mannheim 1982, weist zwar einen Eintrag „Lebensform“ auf, nicht aber einen „Lebenswelt“. Der Ausdruck „Lebenswelt“ hat sich also in der Alltagssprache nicht durchgesetzt. Er wurde vor allem
von Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, EA
1936, Hamburg 1996, geprägt. Vgl. dazu: Roman Dilcher, Über das Verhältnis von Lebenswelt und Philosophie, in:
Zeitschrift für philosophische Forschung 57 (2003), S. 373-390, mit weiteren Verweisen auf die Literatur und die
Auseinandersetzung mit Husserls Lebensweltbegriff sowie einer eingehenden und grundsätzlichen Kritik.
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Normale, das Alltägliche, das Hergebrachte, das damit ausgedrückt werden soll. Offensichtlich
markieren diese Ausdrücke – insbesondere bei Husserl und Wittgenstein – nur den Gegensatz zu
„wissenschaftlich-theoretisch“. Es scheint so zu sein, daß eine starke Wissenschaftsorientierung,
ein starker Szientismus, wie sie für Husserl und Wittgenstein kennzeichnend waren, oder vielleicht auch die (Selbst-)Kritik an dieser stark wissenschaftsorientierten Haltung für den Normalfall bzw. das Alltägliche, das gerade als solchermaßen Normales und Alltägliches keine eigene
Bezeichnung braucht, einen außerordentlich vagen Ausdruck finden mußte und muß.
Nida-Rümelin schlägt eine Präzisierung vor, indem er von dem „etablierten und von uns allen
akzeptierten Regeln lebensweltlicher Verständigung“ spricht.28 Der Kern der Lebenswelt sind
also offenbar die etablierten und akzeptierten Regeln, also anders ausgedrückt die Normen der
Moral, der Konventionen, des Rechts, der Medizin usw. In den Sozialwissenschaften spricht man
insofern von „Institutionen“.
Bevor dieses Verständnis analysiert wird, muß noch ein anderer Aspekt der Bedeutung der Ausdrücke „Lebenswelt“ und „Lebensform“ erwähnt werden, weil er in der Folge wichtig werden
wird. Für „Lebensform“ ist ein pluralistisches und damit relativistisches Verständnis kennzeichnend (§ 6).29 Für „Lebenswelt“ scheint dies ebenfalls zu gelten. Man kann von verschiedenen
„Lebenswelten“ sprechen, wobei wohl auch die Vorstellung einer globalen „Lebenswelt“ möglich
erscheint. Die einzige Diskrepanz zwischen den beiden Ausdrücken scheint im übrigen in diesem
Umstand des notwendigen oder nur wahrscheinlichen Pluralismus zu bestehen – ein Unterschied
der für Ethik und Moral natürlich hoch bedeutsam ist, weil er entlang der Diskussionslinie Relativismus-Universalismus verläuft.
2. Vier Probleme des Konventionalismus
Welche Rolle spielt die Lebenswelt bzw. Lebensform nun im Rahmen der Ethik für NidaRümelin? Nida-Rümelins Antwort lautet: „Jedes Begründen hat ein Ende. Am Grund allen Begründens steht die praktizierte Lebensform als Ganzes.“ (§ 4) Die Quelle der Normativität ist
also in der lebensförmlichen Sprach- und Interaktionspraxis selbst zu suchen.30 Nida-Rümelin
28 Julian Nida-Rümelin, Gründe und Lebenswelt, S. 19. In ders., Strukturelle Rationalität, S. 73, wird die von Individuen gewählte Lebensform dagegen als deren besondere Wünsche und Bedürfnisse bzw. Werthaltungen bestimmt.
29 Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, S. 187f.: Die Gesellschaftsform als Ganzes wird als Vernetzung unterschiedlicher individueller Lebensformen erklärt. Vgl. auch Gerhard Spranger, Lebensformen, S. 447,
durchaus mit zusätzlichen hegelianisch-holistischen Elementen.
30 Julian Nida-Rümelin, Gründe und Lebenswelt, S. 18.
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erläutert diese These am Beispiel des Versprechens. Für unsere Sprach- und Interaktionspraxis
heißt ein Versprechen geben ipso facto Verpflichtungen einzugehen. Versprechen und andere
normative Institutionen unserer Sprach- und Interaktionspraxis sind somit die eigentlichen Quellen der Normativität.31 Nida-Rümelin formuliert dies nicht ausdrücklich, aber man wird ihn wohl
so verstehen müssen, daß dann im Grunde die tatsächlich bestehende Moral, die außermoralischen Konventionen und wohl auch das positive Recht und andere gesellschaftlich akzeptierten
Normen, etwa solche der Medizin, der Technik etc., letzte Quelle der Normativität sind. Man
kann diese Auffassung wie bereits erwähnt als „konventionalistisch“ charakterisieren, wobei
„konventionalistisch“ nicht in einem engen Sinn nichtmoralischer und nichtrechtlicher Regeln
verstanden wird, sondern in einem weiten Sinn, der alle gesellschaftlich etablierten Regeln der
Moral, des Rechts, des Ethos etc. umfaßt.32 Wie ist diese konventionalistische Version des
Kohärentismus zu beurteilen? Sie sieht sich, so denke ich, wenigstens vier Problemen ausgesetzt:
dem Problem des Fundamentalismus, dem Problem des Positivismus, dem Problem des Relativismus und dem Problem des Kollektivismus.
a) Der Kohärentismus soll per definitionem – und dies wird von Nida-Rümelin zu Recht ausdrücklich als sein Vorzug benannt – auf ein Fundament verzichten. Damit wird die Frage nach
der Letztbegründung in der Ethik gelöst. Sie wird nämlich aufgelöst, weil sich ethische Begründungen nur in unser Netz der Überzeugungen einfügen müssen. Nun sieht es jedoch sehr nach
einem Fundamentalismus aus, wenn „am Grund allen Begründens“ die praktizierte Lebensform als
Ganzes stehen soll. Was ist dieser „Grund allen Begründens“ anderes als das Fundament der
Begründung? Das Netz der sich wechselseitig stützenden Begründungen wird auf diese Weise
noch einmal in der tatsächlich in einer bestimmten Gesellschaft akzeptierten und etablierten Regelpraxis fundiert. Prinzipien, wie etwa das Gleichheitsprinzip, das Paretoprinzip, das
Maximinprinzip oder das Maximierungsprinzip müssen konsequenterweise aus dem Netz der
Überzeugungen ausgeschlossen bleiben, sofern sie den je in einer Lebensform akzeptierten und
etablierten Regeln nicht entsprechen. Das ist dann zwar kein Fundamentalismus der Intuitionen,
aber ein solcher der etablierten Konventionen in einem weiten Sinn, also aller etablierten Regeln
einschließlich solcher der Moral, des Rechts, der Medizin, der Technik, des Ethos etc. Die etablierten Regeln setzen sich im kohärenten Netz der Begründungen letztlich gegen alle möglichen
abstrakteren, nicht in gleichem Maße in der Lebensform verankerten Prinzipien durch. Damit ist
31 Julian Nida-Rümelin, Gründe und Lebenswelt, S. 18.
32 Vgl. zu einer sehr allgemeinen Definition von Konventionen: David Lewis, Konventionen: Eine sprachphilosophische Abhandlung, Berlin/New York 1975, S. 79f.
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aber die für den Kohärentismus kennzeichnende Symmetrie der Begründung von Abstraktem
und Konkretem nicht mehr gewahrt.
b) Werden die etablierten und von allen akzeptieren Regeln der lebensweltlichen Verständigung
als die letzte Quelle der Normativität angesehen, so kann man von einem normativen Positivismus
sprechen. Dann stellt sich aber die Frage nach der Berechtigung bzw. Begründung der Kritik und
Veränderung dieser Regeln, einer Kritik und Veränderung welche sich ihrerseits als Faktum in
allen Gesellschaften und zu allen Zeiten feststellen läßt. Nida-Rümelin gesteht ein Auftreten moralischer Konflikte und daraus resultierender lokaler Skepsis zu. Unterschiedliche Regeln, die
gleichermaßen auf die Situation passen, können kollidieren und verschiedene Handlungsweisen
fordern.33 Er versteht diesen Konflikt aber ausdrücklich nur als Konflikt verschiedener etablierter Regeln, in dem sich eine überlegene Regel gegenüber einer unterlegenen Regel durchsetzt. Die
Quellen der Normativität sind weiterhin in etablierten Regeln der lebensweltlichen Sprach- und
Interaktionspraxis zu suchen. Die Inkohärenz einer Praxis soll nur zu Zweifeln an ihrer Verläßlichkeit und zur Suche nach abstrakteren, weiter reichenden, verläßlicheren Regeln führen.34
Diese Interpretation des Phänomens der Kritik und der Veränderung etablierter Regeln scheint
aber nicht unserer allgemeinen Vorstellung von dieser Praxis zu entsprechen.35 Gesellschaftlich
etablierte Regeln werden vielmehr häufig auch mit Berufung auf ein ethisches Ideal kritisiert und
verändert, ein Ideal dem (noch) keine etablierte und akzeptierte Regel entspricht. Das Ideal der
Gleichberechtigung aller Menschen war etwa als Ideal die wesentliche Grundlage der Kritik der
bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bevor die Gleichberechtigung aller Menschen durch
die Abschaffung der ständischen Privilegien, die Gleichberechtigung der Frauen sowie der Menschen divergenter ethnischer Herkunft realisiert wurde. Und auch heute noch sehen wir im Ideal
der Gleichberechtigung und in den Belangen der Benachteiligten die entscheidenden normativen
Grundlagen für Kritik und Veränderung, nicht aber in einer Regel bereits etabliert ist. Selbst in
einer ganz homogenen Gesellschaft der Ungleichberechtigung von Frauen und ethnisch Divergierenden, in der nicht einmal eine unterlegene Regel der Gleichberechtigung, erkennbar ist, hal33 Julian Nida-Rümelin, Gründe und Lebenswelt, S. 18.
34 Julian Nida-Rümelin, Gründe und Lebenswelt, S. 19.
35 In Julian Nida-Rümelin, Zur Einheitlichkeit praktischer Rationalität, in: ders., Ethische Essays, Frankfurt a. M.
2002, S. 122f. hat er noch – wie ich finde überzeugend – formuliert: „Institutionen scheint etwas Normatives inhärent zu sein. Diese für die verschiedenen Ansätze institutioneller Ethik charakteristische ‚Überwindung’ des naturalistischen Fehlschlusses hat jedoch eine Schwäche: Sie übersieht, daß die vermeintliche Normativität von Institutionen
(oder jedenfalls von bestimmten Institutionen) immer auch deskriptiv interpretiert werden kann. Ich kann das defacto-Bestehen normativer Regelungen beschreiben, ohne sie zu teilen. Ich kann mich außerhalb stellen (einen „ethnologischen“ Standpunkt einnehmen) und den Feststellungen normativer Sachverhalte keine subjektiv geteilten Präskriptionen beiheften.“
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ten wir unsere Kritik an der Ungleichberechtigung für begründet, weil sie sich auf das ethische
Ideal der Gleichberechtigung und die Belange der Betroffenen stützen kann. Ließe man nur die
bereits etablierten Regeln als Basis der Kritik und Veränderung zu, so könnte man nicht erklären,
mit welcher Berechtigung jemand eine abweichende Regel, die dann Basis der Kritik und Veränderung wäre, etablieren dürfte. Man würde das immer schon Bestehende gegenüber dem Neuen
und Idealen, das zu einer Verbesserung führen soll, bevorzugen. Mir scheint das zum einen von
der Grundidee des Kohärentismus nicht gefordert und zum anderen mit unserem Verständnis
von Kritik und Veränderung nicht vereinbar. Die tatsächliche Akzeptanz einer ethischen Norm
kann – anders als bei Recht und Moral – keine notwendige Bedingung ihrer Normativität sein.
c) Da Lebensformen rein begrifflich nur im Plural vorkommen können, müssen damit der Begriff
eine sinnvolle Verwendung finden kann notwendig unterschiedliche Lebensformen bestehen, die
zumindest in Teilen unterschiedliche etablierte und akzeptierte Regeln zur Basis haben. Sollen
nun aber die etablierten und akzeptierten Regeln die letzte Quelle der Normativität sein, dann ist
angesichts ihrer notwendigen Pluralität ein Relativismus dieser etablierten und akzeptierten Regeln
die unausweichliche Folge. Für jede Gesellschaft oder Gruppe können also im Prinzip nicht nur
teilweise sondern sogar vollständig andere Regeln gelten. Dies führt aber zur Unlösbarkeit von
Konflikten, sobald die einzelnen Mitglieder dieser unterschiedlichen Gesellschaften oder Gruppen in Interaktion treten. Was ist etwa verbindlich, wenn in Gesellschaft A die Konvention X
besteht, Verunglückten zu helfen, in Gesellschaft B die Konvention -X, dies nicht zu tun, weil
sich auf diese Weise die Stärkeren und Lebenstüchtigeren durchsetzen? Droht nun C im Grenzfluß zwischen A und B zu ertrinken, muß ihn dann der am Ufer stehende D retten? Oder hängt
dies vielleicht davon ab, aus welchem Land C oder D kommen oder an welchem Ufer D steht?
Und was ist, wenn D aus dem Land A kommt, aber den Fluß schon durchschwommen hat und
am Ufer des Landes B steht oder umgekehrt?
Der Moral und der Ethik wohnt nach unserer sehr tiefsitzenden Überzeugung ein universalistischer Grundzug inne, weil sonst solche gruppenübergreifenden moralischen Konflikte nicht lösbar wären und die Moral ihren Zweck, nämlich solche Konflikte zwischen divergierenden Belangen, seien sie aktuell oder potentiell, zu lösen, verfehlen würde. Die Moral ist zwar das faktisch
Bestehende und damit Akzeptierte, aber sie enthält zur Lösung gruppenübersteigender Konflikte
notwendig einen universalistischen Anspruch, der sich nur als Verweis auf ein ethisches Ideal
verstehen läßt. Das bedeutet, daß zunächst in gesellschaftsübergreifenden Fällen die bloß relativistische Beschränkung auf einzelne etablierte oder nicht etablierte Regeln einzelner Gesellschaften ausgeschlossen ist. Erkennt man aber den Ausschluß des Relativismus für derart gesellschaftsübergreifende Fälle an, so muß man auch einen allgemeinen gesellschaftsübergreifenden
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Maßstab der Ethik anerkennen. Der Verweis auf das ethische Ideal läßt sich gerade wegen seines
universalen Anspruchs nicht nur auf die gruppenübergreifenden Fälle beschränken. Es ist dann
nämlich kein Grund ersichtlich, warum der gesellschaftsübergreifende ethische Maßstab nicht
auch für inhaltlich vergleichbare Fälle innerhalb einer Gesellschaft gelten soll. Ist der Universalismus einmal akzeptiert, was notwendig ist, damit die Moral ihre Aufgabe der Konfliktlösung
erfüllen kann, dann läßt er sich nicht auf intergesellschaftliche Konflikte limitieren.
Die tatsächliche Etablierung und Akzeptanz einer ethischen Norm kann somit allein keine hinreichende Bedingung für ihre Normativität sein. Niemand wird etwa allen Ernstes die verstümmelnde und lebensgefährliche Beschneidung von Frauen mit ihren entsetzlichen Folgen in einigen afrikanischen Ländern für moralisch gerechtfertigt halten, weil sie dort einer etablierten, vielleicht von den Betroffenen sogar selbst akzeptierten Regel entspricht.
d) Während Nida-Rümelin an anderer Stelle ohne Wenn und Aber einen normativ-ethischen Individualismus vertritt,36 scheint der metaethische Konventionalismus auch auf der Ebene der normativen Ethik zu einem Kollektivismus zu führen. Denn wenn die etablierten und allgemein akzeptierten Regeln in einer Gesellschaft letzte Quelle der Normativität sein sollen, dann muß man davon
ausgehen, daß diese Gesellschaft mit ihren Regeln als Kollektiv die letzte Quelle der Normierung
des Handelns der Individuen ist. Damit können aber die Individuen selbst nicht mehr als letzte
Quelle der Normativität angesehen werden, weil sie mit ihrer je individuellen Überzeugung allein
neben der etablierten Regel nicht letztlich ausschlaggebend sind. An anderer Stelle wurde zu zeigen versucht,37 warum der normative Individualismus gegenüber dem normativen Kollektivismus den Vorzug verdient. Auf diese Überlegungen soll hier verwiesen werden.
Man könnte einwenden, daß man zwischen der metaethischen und der normativ-ethischen Alternative Individualismus-Kollektivismus unterscheiden muß. Das ist zutreffend. Aber daraus darf
man nicht folgern, daß jede metaethische Position mit jeder normativ-ethischen Position kompatibel ist. Jedenfalls mit der soeben angeführten Begründung erscheint ein konsequenter metaethischer Konventionalismus nicht mit einem normativ-ethischen Individualismus vereinbar zu sein,
weil die metaethische Theorie, dann einen Kollektivismus der normativ-ethischen Begründung
für notwendig erklärt, den die normative Ethik nicht mehr zurückweisen kann.
36 Julian Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, S. 147-154.
37 Verf., Fünf Elemente normativer Ethik – Eine allgemeine Theorie des normativen Individualismus, Zeitschrift für
philosophische Forschung 61 (2007), S. 287ff.; Normative Ethik, Kap. 1, im Erscheinen.
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Die vier soeben erläuterten Züge des Konventionalismus sprechen also gegen ihn. Aber was kann
die Alternative sein? Mündet die Ablehnung der konventionalistischen Variante des
Kohärentismus nicht in einen Nichtkognitivismus, also die Verneinung objektiver Begründungen
in der Ethik? Dieser Einwand ist Ernst zu nehmen. Jede Kritik einer konventionalistischen Metaethik wird zeigen müssen, wie eine andere tragfähige Erklärung der alltäglichen Akzeptanz der
Objektivität moralischer Urteile aussehen könnte. Diese andere tragfähige Erklärung sollte meiner Ansicht nach eine individualistisch-objektivistische Version des Kohärentismus sein.
III. Für einen individualistisch-objektivistischen Kohärentismus
Der Vorschlag eines individualistisch-objektivistischen Kohärentismus soll zunächst mit Hilfe
einer Analogie zu vier nichtethischen Phänomenen erläutert werden:38
1. Vier Analogien
(1) Man kann zwei Geraden im zweidimensionalen euklidischen Raum zufällig anordnen. Sind sie
nicht parallel, so schneiden sie sich trotz der zufälligen Anordnung an einem bestimmten, sicher
ermittelbaren Punkt. Obwohl die Positionierung der Geraden also subjektiv und damit beliebig
war, ist als Folge dieser Positionierung ihr Verhältnis im zweidimensionalen Raum nicht beliebig.
Es gibt nur eine objektive Antwort auf die Frage nach dem Schnittpunkt beider Geraden.
(2) Man stelle sich die Züge zweier Spieler auf einem Schachbrett vor. Diese Züge sind ganz beliebig und unvorhersehbar. Trotzdem ergibt sich durch jeden Zug aufs Neue eine Stellung, bei
der durch Analyse der noch vorhandenen Figuren und der Spielsituation eine relativ objektive
Bewertung des Spielstands jedes Spielers ermittelt werden kann. Die relative Objektivität dieser
Spielstandsanalyse wird von kaum einem Schachspieler in Zweifel gezogen.
(3) Man denke sich einen Werkzeugkasten, der Schrauben und Muttern verschiedener Stärke enthält. Verschiedene Schrauben und Muttern können zufällig bzw. beliebig aus diesem Werkzeugkasten geholt werden. Hat man aber einmal eine Schraube herausgeholt, dann gibt es nur eine
38 Vgl. zu ersten Ansätzen dieses metaethischen Vorschlags: Verf., Ökologische Ethik, Reinbek 1996, S. 204-211;
Verf., Rechtsethische Rechtfertigung – material oder prozedural? in: Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung, hg. von Lorenz Schulz, Stuttgart 2000, S. 17-44; Verf., Rechtsethik, München 2001, S. 25-31.
Vgl. zu metaethischen Adäquatheitsbedingungen: Verf., Die fünf Strukturmerkmale normativ-ethischer Theorien, in:
Analyomen 2, hg. von Georg Meggle, Berlin 1997, S. 306-315.
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objektive Größe für eine zu der Schraube passende Mutter. Und es gibt nur eine Art und Weise,
Schraube und Mutter zu verbinden. Auch wenn die Auswahl der Schrauben und Muttern also
subjektiv ist, ist doch ihre Passung und Zusammenfügung ohne Zweifel objektiv.
(4) Man denke sich den Organisator eines Skirennens, der die Tore am Abfahrtshang beliebig
steckt. Trotz dieser Beliebigkeit der Plazierung der Tore kann man danach unter Berücksichtigung ihrer Abstände, des Gefälles des Hangs, der Schneeverhältnisse etc. eine sogenannte „Ideallinie“ der bestmöglichen Abfahrt bestimmen. Diese Ideallinie ist nicht mehr subjektiv und beliebig, sondern wird als relativ objektiv angesehen, auch wenn sie in Details vielleicht Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten geben mag.
2. Ähnlichkeit zur Ethik
Ähnliches gilt nun in der Metaethik bzw. normativen Ethik: Es mag sein, daß die Belange bzw.
Interessen der einzelnen, in einer Situation betroffenen Personen relativ subjektiv und beliebig
sind, auch wenn zumindest solche zentralen Interessen, wie Menschenwürde, Leben, Leib, Gesundheit sehr einheitlich, d. h. überzeitlich und übergesellschaftlich aufgefaßt werden. Wenn diese Belange aber in einen potentiellen oder aktuellen Konflikt zu anderen Belangen geraten, dann
gibt es wegen der Quasi-Beschränkung des ethischen Raumes, wonach im Regelfall nur eine
Handlung realisiert werden kann, nur eine richtige, das heißt beste Lösung. Das bedeutet nicht,
daß diese beste Lösung keine Abwägung verlangt und damit nicht in einen Unschärfebereich fällt.
Es bedeutet auch nicht, daß im Alltag die Suche nach der besten Lösung nicht aus pragmatischen
Gründen bei einer vorletzten Lösung abgebrochen werden muß, die dann eben unter einem
pragmatischen Vorbehalt die derzeit verfügbare beste Lösung darstellt. Und es bedeutet schließlich auch nicht, daß diese beste Lösung nicht aus zwei oder mehreren gleichwertigen Lösungsalternativen bestehen kann. Soll man etwa einen Ertrinkenden retten, so mag die Rettung per Boot
oder per Rettungsring bei Abwägung aller Chancen und Risiken gleich erfolgversprechend und
damit die Auswahl zwischen diesen Alternativen erlaubt sein. Aber es bleibt dabei, daß es eine
oder mehrere relativ beste Lösungen für das Problem der Relationierung der im Konflikt stehenden Belange bzw. Interessen gibt. Warum ist das so? Der Grund ist der, daß zum einen zwei –
bzw. bei mehreren Personen mehrere – Extreme bestehen, nämlich die vollständige Befriedigung
der Belange des einen oder die vollständige Befriedigung der Belange des anderen, welche die
Menge der möglichen Lösungen limitieren, nämlich auf diese beiden Extreme und alle dazwischen liegenden Lösungen. Und es gibt Maßstäbe für ein Finden der richtigen Lösung, von denen
das Gebot der grundsätzlichen Gleichberücksichtigung der wichtigste ist. Welche Maßstäbe dies
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dann genauer im Einzelnen sind, ist nicht mehr eine Frage der Metaethik, sondern eine Frage der
normativen Ethik, die hier nicht weiter erörtert werden kann.
Man kann überlegen, ob es sich bei dieser besten Lösung des Problems der Relationierung widerstreitender Belange um eine bloß erkannte oder eine konstruierte Lösung handelt, ob man also im
Hinblick auf die Gewinnung dieser Lösung eher von einem Kognitivismus oder einem Konstruktivismus sprechen sollte? Im Falle ethischer Lösungen erscheint keine dieser Möglichkeiten befriedigend. Die beste Lösung wird weder bloß erkannt, wie wir etwa eine empirische Tatsache erkennen, etwa den Stand der Sonne, noch wird die beste Lösung konstruiert, so wie wir ab ovo eine
neue Maschine zu beliebigen Zwecken konstruieren. Die Lösung wird vielmehr in notwendiger
Verfolgung des vorgegebenen Ziels der Vermittlung zwischen den jeweils zu berücksichtigenden
Belangen nach bestimmten determinierenden Regeln in die vorhandene Struktur der konkreten
Situation und der konkret widerstreitenden Interessen eingepaßt, so wie ein Zahnarzt einen künstlichen Zahn in die determinierende Reihe der vorhandenen Zähne einpaßt oder wie der Bobfahrer seinen Bob zwischen den Banden der Bobbahn auf der Ideallinie zu halten versucht. Das
Einpassen ist freier als ein bloß rezeptives Erkennen aber weniger frei als ein beliebig-produktives
Konstruieren. Es vereint kognitiv-rezeptive und konstruktiv-produktive Elemente zu einer Art
reproduktiven Vorgang, der erstens mit den vorgegeben Belangen der jeweils Betroffenen begrenzenden Extremen, zweitens einem vorgegebenen Ziel und drittens klaren Regeln der Lösungsfindung unterliegt.
3. Die Quelle der Normativität
Woher resultiert dann die Normativität dieses objektivistischen Einpassens einer relativ besten
Lösung in den moralischen Konflikt? Oder anders ausgedrückt: Warum wird der Akteur durch
die objektiv beste Lösung des moralischen Konflikts verpflichtet? Warum soll er dieser Lösung
folgen? Die Normativität resultiert nach meiner Auffassung aus zwei Quellen, die sich nicht voneinander trennen oder auf eine der beiden Quellen reduzieren lassen.
a) Die erste Quelle ist die tatsächliche Normativität, die andere Betroffene der Handlung eines
Akteurs entgegensetzen. Dies geschieht in Form von Zielen, Wünschen, Bedürfnissen oder Stre-
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bungen, d. h. in begrifflicher Zusammenfassung von Belangen bzw. Interessen.39 Wir sind also in
unserem Handeln moralisch limitiert, unter der Bedingung, daß Andere uns ihr Verlangen nach
Beschränkung bzw. zumindest Rechtfertigung unseres Handelns faktisch entgegenhalten.40 Dabei ist es nicht notwendig, daß dieses Entgegenhalten verbal oder auch nur kommunikativ geschieht. Es genügt, daß andere ihre eigenen Belange als eigene verfolgen und diese Belange zu
den Belangen des Handelnden in einen möglichen Widerspruch geraten können, um dem Handelnden die Beschränkung deutlich werden zu lassen. Folglich können uns auch höhere Tiere und
vielleicht auch andere Lebewesen eine solche Beschränkung unseres Handelns durch ihre Belange
entgegensetzen.
Verfällt diese notwendige Berücksichtigung der Belange der Betroffenen Nida-Rümelins einleuchtender Kritik am humeanischen Fundamentalismus, nach welchem Wünsche im Zusammenhang mit Überzeugungen die einzige Quelle normativer Gründe sind?41 Dies ist aus mehreren Gründen nicht der Fall: Erstens sind nicht allein Wünsche die Grundlagen der zu berücksichtigenden Belange bzw. Interessen, sondern auch Ziele, Bedürfnisse und Strebungen. Zweitens ist
keines dieser vier Elemente, die Belange bzw. Interessen als abstraktere zusammenfassende Kategorie konstituieren, notwendig eigenorientiert zu verstehen. Wir haben selbstverständlich altruistische und gemeinschaftsorientierte Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen, die im Rahmen
der ethischen Abwägung in gleicher Weise wie eigenorientierte Belange zu berücksichtigen sind,
etwa unser Wunsch nach guten Schulen für unsere Kinder. Drittens setzt die hier angenommene
Notwendigkeit der Berücksichtigung der Belange und damit der Wünsche als einer Form von
Belangen nicht voraus, daß wir nicht auch Gründe für diese Belange bzw. Wünsche haben bzw.
haben können. Der Verweis auf die Begründung von Wünschen stellt das zentrale Gegenargument Nida-Rümelins gegen den humeanischen Fundamentalismus der Wünsche dar.42 Offensichtlich haben wir für manche Wünsche Gründe, für andere nicht, übrigens anders als bei Bedürfnissen und Strebungen, für die es merkwürdig wäre, nach Gründen zu fragen. So haben wir
etwa – so das Beispiel Nida-Rümelins – Gründe für den Wunsch, daß jemand bestraft wird. Wir
haben aber keinen Grund für den Wunsch jetzt ein Stück Schokolade zu essen, sondern eben nur
39 Zu Details dieser Kaskade Fn. 12. Die Notwendigkeit einer Berücksichtigung der Belange mahnt auch Uwe
Czaniera an, in: Kohärentistische Begründung der Moral. Eine neue Parallele zur Wissenschaft und ihre Probleme,
in: Zeitschrift für philosophische Forschung 54 (2000), S. 80, 82, 84. Vorher findet sich diese Forderung auch bei
allen subjektivistischen Theoretikern wie etwa John Mackie, Inventing Right and Wrong,
40 Im Rahmen einer säkular-immanenten Ethik schließt dies die Annahme genuiner Pflichten gegen sich selbst aus.
Dies wird an anderer Stelle ausführlicher begründet. Vgl. Verf., Normativer Individualismus, Kap.
41 Vgl. Was ist ein praktischer Grund?, in: ders., Ethische Essays, Frankfurt a. M. 2002, S. 79-95.
42 So der zentrale Einwand Nida-Rümelins gegen die humeanische Theorie. Vgl. Was ist ein praktischer Grund?, in:
ders., Ethische Essays, Frankfurt a. M. 2002, S. 82; ders., Strukturelle Rationalität, S. 24ff.
22
den einfachen Wunsch, der als Grund ausreicht, um eine Tafel Schokolode zu kaufen. Wichtig ist
nun aber Folgendes: Die Gründe, die wir für Wünsche haben, sind häufig intrasubjektivpraktische, aber keine intersubjektiv-moralischen bzw. -ethischen, d. h. auf die Lösung einer
intersubjektiven Konfliktsituation bezogene Gründe. Das hat aber zur Folge, daß die Tatsache,
daß wir praktische Gründe für diese Wünsche haben, nicht ausschließt, die Berücksichtigung
dieser Wünsche zu einer wesentlichen Bedingung für die intersubjektive Begründung ethischer
Konfliktlösungen zu machen. Wenn ich etwa wünsche, daß mein Sohn nicht so laut tobt, habe
ich dafür einen intrasubjektiv-praktischen Grund, nämlich das Bedürfnis ungestört arbeiten zu
können. Dieser Grund ist aber per se noch kein intersubjektiv-ethischer, konfliktlösender Grund,
weil die Belange meines Sohnes in ihm noch nicht berücksichtigt sind. Die Konfliktlösung und
damit ein ethischer Grund ergibt sich erst dann, wenn auch der Wunsch meines Sohnes zu toben,
der einem altersgemäßen Bewegungsdrang entspringt, berücksichtigt wird. Die ethische Konfliktlösung und daraus resultierend ein ethischer Grund für beiderseitiges Handeln besteht dann darin, beiden die Verfolgung ihrer Bedürfnisse zu ermöglichen, indem beide ihre Zimmertüren
schließen, so daß er in seinem Zimmer toben und ich in meinem Zimmer arbeiten kann oder –
wenn das nicht geht – den jeweiligen Bedürfnissen zu unterschiedlichen Zeiten Rechnung zu
tragen.
Nun mag es aber auch Wünsche geben, deren Begründung tatsächlich in einem intersubjektivethischen Grund liegt oder zumindest liegen kann. Nida-Rümelin gibt für sein Beispiel des Wunsches, daß eine bestimmte Person bestraft wird, etwa folgenden Grund an: Dies gebiete die Gerechtigkeit. Schließt dieser intersubjektiv-ethische Grund die Annahme, daß Wünsche Anteil an
der Begründung normativer Überzeugungen haben, aus? Nein, und zwar aus zwei Gründen. Zum
einen sind solche Begründungen offenbar relativ selten, da es sich vor allem um Wünsche handelt, die auf das Handeln Anderer gegenüber Dritten gerichtet sind und deshalb quasi implizit
schon eine ethische Konfliktlösung im Verhältnis zu diesen Dritten vorschlagen. Zum anderen
kann jeder spezifische Wunsch als subjektive Manifestation der Haltung einer ganz spezifischen
Person in einer bestimmten Konfliktsituation für eine andere Frage der Ethik relevant werden. So
mag die Staatsanwaltschaft etwa im vorliegenden Fall eine Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld aus Gründen der Billigkeit erwägen. Der Wunsch nach Bestrafung wird hier trotz
der ethischen Begründung mit Rekurs auf die Gerechtigkeit für die Abwägung mit dem Gesichtspunkt der Billigkeit seitens der Staatsanwaltschaft relevant sein, etwa wenn der Wünschende
selbst Opfer der Straftat war. Die Tatsache, daß Wünsche durch dieselbe allgemeine Kategorie
der ethischen Gründe gerechtfertigt werden können, schließt also nicht aus, sie als wesentliche
Bedingung für einzelne ethische Konfliktlösungen mit spezifischen Gründen anzusehen. Dies gilt
zumindest, sofern es in dem Konflikt nicht genau um die Frage geht, welche die konkrete Be-
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gründung des Wunsches beantwortet. Nur wenn nicht die Billigkeit der Bestrafung im Konflikt
steht, sondern die Gerechtigkeit von Strafe, kann in unserem Beispiel die Berufung auf die Gerechtigkeit kein guter Grund für den Wunsch nach Bestrafung sein. Aber dieser Spezialfall der
Identität von Begründung und Konfliktgegenstand ist nur ein argumentatives Hindernis, schließt
aber die Kompatibilität der Begründung von Wünschen und normativ-ethischer Signifikanz nicht
aus.
b) Die Entgegensetzung der Belange Anderer erzeugt für den Handelnden eine Form von Normativität. Aber diese Normativität ist natürlich zunächst nur eine subjektive, die allein noch nicht
zu einer inhaltlich-objektiven, ethischen Normativität zur Lösung des moralischen Konflikts
führt, denn bei den Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Strebungen des Anderen kann es sich ja
um ganz unethische handeln. Geht jemand zum Beispiel spazieren und ein Räuber hält ihn auf,
um ihn auszurauben, so sind die Ziele bzw. Wünsche des Räubers für den Spaziergänger zwar
subjektiv-faktisch limitierend, aber natürlich nicht objektiv-ethisch verpflichtend.
Die Belange bzw. Interessen des Anderen können aus ihrer subjektive Normativität nur zu einer
objektiven und damit tatsächlich für den Handelnden ethisch und dann auch begründet moralisch verbindlichen Normativität erwachsen, wenn sie als ein Element der Relationierung bzw.
Abwägung mit den Belangen des Handelnden in Ausgleich gebracht wurden. Darin besteht der
soeben als „Einpassung“ beschriebene Vorgang der Relationierung bzw. Abwägung. Er ist die
zweite notwendige und von der ersten untrennbare Quelle objektiver Normativität. Der entscheidende Maßstab ist dabei wie erwähnt derjenige der Gleichberücksichtigung aller betroffenen
Belange. Wie die Einpassung, d. h. die Relationierung bzw. Abwägung konkret von Statten zu
gehen hat ist keine Frage der Metaethik mehr, sondern eine solche der Konfliktlösung im Alltag
einerseits und der normativen Ethik als ihrer wissenschaftlichen Rationalisierung andererseits.
c) Worin unterscheidet sich die hier vorgeschlagene metaethische Position von einer subjektivistischen oder kontraktualistischen Metaethik? Sie unterscheidet sich darin, daß die Belange bzw.
Interessen zwar eine notwendige Bedingung für die objektive ethische Lösung darstellen, sich
diese Lösung aber nicht in den Belangen erschöpft oder auch nur auf diese Belange logisch oder
quasi-logisch rückführbar ist. Die Belange bzw. Interessen liefern zwar eine inhaltliche Determination und einen Ausgangspunkt subjektiv-faktischer Normativität. Aber aus dieser inhaltlichen
Determination und dieser subjektiv-faktischen Normativität kann mit Rekurs auf den je einzelnen
Belang weder direkt faktisch noch im Wege eines faktischen oder hypothetischen Vertrags, etwa
im Rahmen der Durchführung eines Diskurses, allein die ethisch beste Lösung des Konflikts
abgeleitet oder begründet werden. Wir müssen vielmehr eine vernünftige Relationierung bzw.
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Abwägung in den Konflikt einpassen, die ihrerseits bestimmten Beschränkungen, Zielen und
Prinzipien, vor allem dem Prinzip der Gleichberücksichtigung, gehorcht.
Meiner Ansicht nach lernt jedes Kind schon sehr früh diesen objektivierenden Vorgang der Abwägung bzw. Relationierung widerstreitender Belange, zumindest dann wenn seine eigenen Belange nicht konstant vollkommen mißachtet oder vollkommen einschränkungslos akzeptiert werden. Die Fähigkeit der Relationierung bzw. Abwägung ist im übrigen für alle politischen und
rechtlichen Instanzen wesentlich, etwa den Gesetzgeber, die Verwaltung und den Richter.
Mit dem Einpassen der reproduktiv besten Lösung in den moralischen Konflikt ist auch – und
insofern gehe ich mit Nida-Rümelin wieder ganz konform – eine Antwort auf die Frage nach der
Motivation zur tatsächlichen Ausführung dieser besten Lösung gegeben. Der Versuch der Reduktion jeder möglichen Motivation auf einen internen Impetus durch den Internalismus ist nicht
überzeugend, weil schlicht der Realität von Motivationen im Alltag widersprechend. Das
Motivder Einsicht in die beste Lösung ist allerdings nicht immer das einzige Motiv und kann
deshalb – ebenso wie übrigens jeder interne Impetus – nicht garantieren, daß der solcherart Motivierte dann auch wirklich im Sinne der besten Lösung handelt. Aber wäre dies der Fall, dann
wäre das ubiquitäre Phänomen der Nichtverwirklichung bester Lösungen moralischer Konflikte
nicht zu erklären. Und es wäre auch nicht zu erklären, daß tatsächlich etablierte Normensysteme
in Form von Sanktionen oder ähnlichen Mitteln vielfach zusätzliche Maßnahmen zur Motivation
der Handelnden schaffen, um die beste Lösung moralischer, rechtlicher und sonstiger Konflikte
widerstreitender Belange zu realisieren.
Das Resultat der hier vorgetragenen Überlegungen läßt sich wie folgt zusammenfassen: NidaRümelins Vorschlag der Kohärenz normativer Urteile erscheint als metaethische Lösung mit sehr
geringen Akzentuierungen überzeugend. Die spezifische konventionalistische Ausgestaltung, die
er dem Kohärentismus seit geraumer Zeit gibt, begegnet allerdings wegen ihrer fundamentalistischen, positivistischen, relativistischen und kollektivistischen Züge Zweifeln. Eine individualistisch-objektive Version der Kohärenztheorie verdient deshalb den Vorzug.
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