Identität und Authentizität Personenkult

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Ausgabe 04 | 07/2014
1,00 €
Identität und Authentizität
Was heißt es, man selbst zu sein? Wie ist es möglich, dass man über die Zeit hinweg dieselbe Person
bleibt? Ist es immer gut, sich treu zu bleiben?
Personenkult
Im Gespräch mit Barbara Vinken über Mode und
Moderne
Parteinahme
War Heidegger Nationalsozialist?
SPRACH- UND FORSCHUNGSDIENSTE
STUDIERENDEN- UND BEWERBUNGSCOACHING
Wir bieten Unternehmen, Organisationen, Forschungs- und Bildungseinrichtungen sowie Studierenden und Privatpersonen ein großes
Spektrum an Dienstleistungen rund um Sprache und Wissenschaft.
LOGOS steht für gewissenhafte Arbeit mit Liebe zur Präzision.
• Lektorat
• Korrektorat
• Formatierungen
• Exzerpte
• Experteninterviews
• Transkription
• Interviewauswertung
• Projektanträge
• Recherchen
• Studierendencoaching
• Schreibcoaching
• Prüfungsvorbereitung
• Bewerbungscoaching
• Kompetenzprofile
Korrektorat/Lektorat
Im Korrektorat prüfen und verbessern wir Ihren
Text (z.B. Bachelor-/Masterarbeit, Dissertation)
hinsichtlich Rechtschreibung, Grammatik,
Interpunktion und Syntax. Das Lektorat schließt
das Korrektorat ein und umfasst zudem die
Prüfung und Verbesserung von Lesbarkeit, Stil,
Aufbau, Form und Grafikeinsatz.
Exzerpte
Wir lesen die Bücher, zu deren Lektüre Ihnen
die Zeit fehlt, und schreiben auf wenigen Seiten
die wichtigsten Stellen und Gedanken heraus –
präzise, strukturiert, formal korrekt.
Formatierungen
Wir formatieren Dissertationen nach Verlagsvorgaben und bringen Abschlussarbeiten
(z.B. Bachelor/Master) in eine ansprechende
und den jeweiligen Leitlinien gemäße Form.
Experteninterviews
Im Rahmen qualitativer Sozialforschung übernehmen wir die professionelle Durchführung,
Transkription und Auswertung von Experteninterviews (für Studierende nur Transkription).
Studierendencoaching
Schreibcoaching – Prüfungsvorbereitung –
Fachcoaching (nur in Geistes- und Sozialwissenschaften; Schwerpunkt: Philosophie).
Bewerbungscoaching
Optimieren von Bewerbungsunterlagen und
Anschreiben – Vorbereitung auf Vorstellungsgespräche – Erstellen individueller Kompetenzprofile.
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cog!to 07/2014
Dr. Frank Schulze
Lektorat LOGOS ist ein Angebot von Dr. Frank
Schulze. Frank Schulze hat Philosophie,
Germanistik, Politologie und Erwachsenenpädagogik studiert, verfügt über langjährige
Berufserfahrung als Redakteur und Korrektor in
einem Fachverlag und bei einer philosophischen
Fachzeitschrift sowie als Bildungsforscher und
Öffentlichkeitsarbeiter in einem Bildungsforschungsinstitut. Er ist Lehrbeauftragter für
Wissenschaftstheorie und Politische
Erwachsenenbildung an der Otto-FriedrichUniversität Bamberg und 2. Vorsitzender zweier
philosophischer Gesellschaften. Wichtige
Erfahrungen konnte Frank Schulze auch in der
Hochschul-Öffentlichkeitsarbeit und im
Radiojournalismus sammeln.
Referenzen
BW Bildung und Wissen Verlag
und Software GmbH
Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb)
Gesellschaft für kritische Philosophie
(Zeitschrift Aufklärung und Kritik)
Ludwig-Feuerbach-Gesellschaft
Music 2b Musikmanagement
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
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»Meine Erwartung in Ihre Arbeit wurde
übererfüllt. Wir werden Sie empfehlen!«
(Dirk Flesch)
»Ein echtes Adlerauge! Wenn man denkt, der Text
wäre perfekt, findet Frank Schulze immer noch
Fehler und Verbesserungsmöglichkeiten.«
(Helmut Walther)
»Der Unterschied zwischen dem
richtigen Wort und dem beinahe
richtigen ist derselbe wie zwischen
dem Blitz und einem Glühwürmchen.«
(Mark Twain)
Lektorat LOGOS
Dr. Frank Schulze
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Tel.: 0172 8413977
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Editorial
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
mal wieder ist bei cog!to alles ganz anders. Im Unterschied zu früheren Ausgaben haben wir versucht, die vierte Nummer von cog!to thematisch
kohärenter zu gestalten und unter ein Schwerpunktthema zu stellen, dass sich wie ein roter Faden durch das Heft zieht: „Wer bin ich, und was
heißt es, diese Person zu sein?“
Auf den folgenden Seiten findet ihr entsprechend Artikel, die sich umfassend mit dem Selbstverhältnis beschäftigen - was es heißt, mit sich
selbst identisch zu sein, ob es immer gut ist, sich
treu zu bleiben oder ob ich sein kann, wer ich will.
Das sind Fragen, die, wie wir glauben, nicht
nur für Studierende und nicht für Studierende
der Philosophie von Interesse sind. Nicht erst mit
dieser Ausgabe wollen wir uns auch an die allgemeine Öffentlichkeit und Studierende anderer Fakultäten wenden - und servieren dazu, wie immer,
einen Mix leicht verdaulicher Kost und schwerer
Brocken, holen hier schwierige Gedanken aus
den Nischen der Philosophiegeschichte hervor
und widmen uns dort den alltäglichsten Themen
der Welt.
Einem Interview mit Barbara Vinken über
Mode folgt ein Schulenstreit zur Frage, ob man
sein kann, wer man will; neben Reflexionen über
Brieffreundschaft findet ihr eine Darstellung
Charles Taylors Gedanken über Authentizität; ein
Schwerpunkt zu Identität und Authentizität wird
begleitet von Artikeln im Ideenkreis, die sich mit
Liberalismus und Toleranz, Lockes Personenkonzept und der Gestaltbarkeit des Selbst beschäftigen. Die Allgegenwart von Rollen, Theater und
Inszenierung beleuchtet Stefan Joller in einem
Portrait Erving Goffmans, während in Parteinahme ein Interview mit dem neuen Dekan der Fakultät für Philosophie zu finden ist.
Im Innenteil dieser Ausgabe findet ihr das erste mal Anzeigen, und wir verkaufen das Heft ab
jetzt je Ausgabe für eine Schutzgebühr von 1,00 €.
cog!to will und muss sich zunehmend selbstständig finanzieren und hat den Sprung in die Eigenständigkeit fast geschafft. Für die Organisation
der Finanzierung sei Mathias Koch gedankt, der
mit Miguel viele Stunden in Telefonwarteschleifen verbrachte (die bei Verlagen meist mit klassischer Musik, bei Fernbusunternehmen mit Popsongs bespielt werden, wie wir feststellten).
Wir hoffen, dass euch auch die vierte Ausgabe von cog!to gefällt. Besonders würden wir uns
darüber freuen, falls einer oder eine von euch Interesse daran hat mitzuarbeiten oder einfach mal
unverbindlich in der Redaktion vorbeizuschauen.
Eine kurze Mail an [email protected]
genügt. Selbstverständlich freuen wir uns auch
über Leserbriefe.
Nun aber: Viel Spaß beim Lesen!
Für die cog!to-Redaktion
Lukas Leucht und Miguel de la Riva
Impressum
cog!to. Die unabhängige Zeitschrift der
Studierendenschaft Philosophie
Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München
[email protected]
Gastautoren
Gregor Bös, Christine Bratu, Volker Gerhardt, Stefan
Joller, Erasmus Mayr, Ulrich Metschl, Jörg Noller, Michael
Schultheis, Stephan Sellmaier, Oki Utamura, Niko Wolf
V. i. S. d. P.
Lukas Leucht
Herausgeber
Fachschaft Philosophie e. V.
Cover
Kupferstich aus Louis de la Forge (Hrsg.), L‘Homme de René
Descartes et la Formation du Foetus. Le Monde ou Traité de la
Lumiere. Seconde Edition, reveue & corigée. Paris, T. Girard,
1677, S. 72. Bearbeitet von Gregor Bös
Chefredaktion
Lukas Leucht, Miguel de la Riva
Fotos und Bildbearbeitung
Mathias Koch, Gregör Bös, Janina Reichmann
Redaktion
Fabian Heinrich, Daniel Hoyer, Mathias Koch, Sandra
Müller, Miguel de la Riva, Nejma Tamoudi, Antonia Zettl
Illustration
Nina Gottschling
Corporate Identity u. Illustrationen Rubrikseiten
© ben kollektiv (www.benkollektiv.de)
Layout
Miguel de la Riva
Artikel und Anzeigen geben die Meinung der Verfasser bzw. der Anzeigenkunden und nicht der Redaktion wieder. Die Redaktion behält
sich das Recht vor, Änderungen und Kürzungen an eingereichten Artikeln vorzunehmen. Es besteht kein Anspruch auf Veröffentlichung
eingereichter Texte.
cog!to 07/2014
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INHALT
Wortspielplatz
S . 05 Die Herrschaft des Selbst
Identität und
Authentizität
S. 10 Warum bin ich heute derselbe wie gestern?
S. 16 Echt? Gut?
S. 20 Identität, Authentizität unter dem Anspruch
der Wahrheit
Personenkult
S. 24 Schweigen über Rusty
S. 26 „Das autonome Subjekt ist ein Fake!“
S. 32 Weshalb du mir nicht sagen kannst, wer du
wirklich bist
Schulenstreit
S. 36 Von Zwiespalt, Lebenslügen und Bedauern
S. 40 Selbstbestimmung und doxastischer Voluntarismus
Schnittmengen-
S. 46 „Es war einmal, vor einer langen Zeit...“
theorie
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cog!to 07/2014
Ideenkreis
S. 50 Die Schuld ist niemals zweifellos
S. 53 Liberalismus und Toleranz
S. 56 Zwischen Determination und selbstgewählten Möglichkeiten
Parteinahme
S. 62 War Heidegger Nationalsozialist?
S. 66 Äpfel versus Birnen
S. 70 Auf einen Kaffee mit dem neuen Dekan
Blütenlese
S. 74 Authentizität bei Charles Taylor
S. 78 Zur Aktualität der Brieffreundschaft
RUBRIK
WORTSpielplatz
Rubrikseite Wortspielplatz
In Wortspielplatz findet ihr Ausgabe für Ausgabe eine Kolumne, die das
gesprochene oder geschriebene Wort und seine Verwendung in den Mittelpunkt
stellt. Dieses Mal setzt sich Miguel de la Riva weniger mit den semantischen
Nuancen einer konkreten Vokabel auseinander, sondern fragt nach
Bedeutungsebenen eines bestimmten Konzepts: „Die eigene Person sein“
cog!to 07/2014
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Die Herrschaft des Selbst
Arten und Weisen, die eigene
Person zu sein
Von Miguel de la Riva
Was bedeutet es, die eigene Person zu
sein? Der Artikel stellt drei idealtypische
Verständnisse davon vor, was es heißt, die zu
werden, die wir sind.
Was heißt es, die eigene Person zu sein? Die Frage, die
auch als Überschrift dieser Ausgabe von cog!to herhalten könnte, lässt vielfältige Interpretationen zu – und
diese Vielfalt hat die Redaktion im Heft auch einzufangen versucht. Zunächst kann mit ihr die Frage aufgeworfen werden, was es heißt, Inhaber einer unverwechselbaren Identität zu sein – mit sich und nur mit
sich identisch zu sein und über die Zeit zu bleiben.1 Sodann kann die Frage auf Handlungsurheberschaft abzielen: Was heißt es und wie ist es möglich, dass ich als
Urheber meines Handelns, ja als Autor meines Lebens
erscheine?2 Nicht zuletzt kann auch danach gefragt
sein, was es heißt, authentisch zu sein bzw. sich selbst
„treu zu sein“, und ob das immer gut ist.3
Das alles sind wichtige Fragen – die ich hier aber geflissentlich übergehe. Was es heißt, die eigene Person
zu sein – diese Frage will ich in die Nähe von Begriffen
wie „Selbstbestimmung“, „Souveränität“ oder „Autonomie“ rücken. In einem umfassenderen Sinne will ich
danach fragen, was es heißt, die je eigene Subjektivität
konsistent ausüben zu können: Was heißt es, sich mit
der eigenen Person in seinem Handeln und in der Welt
anwesend zu wissen?
Damit setze ich schon voraus, dass sich Personen
mit sich selbst identisch wissen; ebenso, dass ihnen ihr
Handeln zurechenbar ist und sie sich als deren Urheber
begreifen. Oft aber passiert es uns, dass wir handeln
und uns als Akteure dieses Handelns begreifen – indes
doch wenigstens ein Moment des Befremdens spüren
über das, was wir da tun. Während in solchen Fällen
klar bleibt, dass ich der Akteur dieser Tätigkeit bin, mag
mir mein Tun doch als ein fremdes gegenübertreten,
sich nicht als „meines“ anfühlen. Es gibt Fälle, scheint
mir, in denen autonomes Handeln in kaum mehr als nur
1 Dieser Frage diskutieren Jörg Noller und Mathias Koch.
2 Um diese Frage geht es im Schulenstreit; auch Volker Gerhardt und Sandra Müller streifen sie.
3 Dieser Frage widmet sich Christine Bratu und, in Bezug auf
Charles Taylor, Nejma Tamoudi..
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cog!to 07/2014
kausalem Sinne als „mein“ oder als „eigenes“ Handeln
zu verstehen ist.
Das Phänomen, das ich meine, lässt sich an Beispielen nur widerwillig erledigter Aufgaben buchstabieren,
von denen das folgende wohl nicht das originellste und
wahrscheinlich auch nicht das beste ist: Während es
klar ist, dass es der Staubsaugervertreter ist, der Staubsauger feilbietet, ist nicht so klar, ob er sich in einem
emphatischen Sinne als Autor dieser Handlungen versteht, sich in ihnen anwesend weiß; insbesondere dann
nicht, wenn wir ihn uns als gescheiterte Existenz vorstellen, der einmal mit großer Freude und ausreichend
Begabung etwas wie Philosophie studierte, um später
festzustellen, dass man damit in einer „wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft“ vielleicht nicht ganz
so weit kommt. Obwohl er mit voller Sicherheit weiß,
dass er es ist, der an Türen klingelt und Waren preist,
mag er ohne jeden Widerspruch sagen, dass er dazu
keinen inneren Bezug hat und es nicht recht als sein
Handeln begreift, dass es nicht seine Handschrift trage.
Er erfährt sich dann nur als Trägerobjekt, nicht als Subjekt seines Handelns. Es tritt ihm als etwas fremdes gegenüber, obwohl er dessen Urheber und Akteur ist. Wo
er sich selbst als Mittel, nicht als Zweck seines Lebens
begreift, mag er tief seufzen und sagen: „Ich bin nicht
der, der ich bin, nur ein Schatten meiner selbst.“
Was aber heißt es, die zu sein, die wir sind? Wie wäre
ein Zustand beschaffen, in dem ich jede meiner Handlungen als meine eigene verstehen müsste? Hinsichtlich der so gestellten Frage scheinen eine persistente
Identität, die Zurechenbarkeit von Handlungen und das
treue Festhalten am eigenen Charakter nur Bestandsmomente des Vollzugs der eigenen Subjektivität zu
sein, nicht auch Charakteristika seines Gelingens. Was
es bedeutet, die zu sein, die wir sind – selbst wenn wir
die drei eingangs genannten Fragen beantwortet hätten, würde das noch Rätsel aufgeben.
Das Selbstverhältnis, um das es mir geht, will ich im
Folgenden durch drei verschiedene Lesarten näher profilieren, die sich als einigermaßen stilisierte Idealtypen
verstehe. In ihnen, wird sich zeigen, sind Selbst- und
Weltverhältnisse unauflöslich ineinander verflochten.
Selbstverhältnisse, will ich so plausibilieren, sind die
Rückseite umfassenderer Weltentwürfe und des Platzes, den Personen in ihr einnehmen. Aus Platz- und
Zeitgründen bleibt das Argument an der Oberfläche.
1. „Werde, der du bist!“
In der Antike finden sich Personen als Teile eines kosmischen, geordneten Ganzen der Wirklichkeit vor; sie sind
in sehr buchstäblichem Sinne „Bürger der Welt.“ Quelle von Identität scheint hier die relative Positionierung
in diesem Weltganzen zu sein. Weitgehend wird nicht
unterschieden zwischen einem je eigenen persönlichen
und einem menschlichen Selbst. Was wir sind, das ist
vor allen Dingen durch unsere Natur und durch ihren
relativen Platz im kosmischen Ganzen gefügt. Epiktet
drückt es in seinen Unterredungen (2.10) so aus:
„Consider who you are. First of all, a human being, that
is to say, one who has no faculty more authoritative
than choice, but subordinates everything else to that,
keeping choice itself free from enslavement and subjection. Consider, then, what you‘re distinguished from
through the possession of reason: you‘re distinguished
from wild beasts; you‘re distinguished from sheep.
What is more, you‘re a citizen of the world and a part
of it“
Die Idee vieler antiker Ethiken geht dahin, dass „die zu
werden, die wir sind“ bedeutet, dieser menschlichen
Natur inne zu werden und sie zur Exzellenz oder Bestform zu entwickeln und ein Zustand, in dem das erreicht ist, wird in ihnen „Glückseligkeit“ genannt. Das
bedeutet aber des Näheren: der Natur inne zu werden,
die uns als Menschen kennzeichnet und von anderen
Lebewesen unterscheidet. Es geht um die distinktiven
Aspekte des menschlichen Wesens wie etwa „choice“
oder „reason“, die Epiktet ausführlich als unterscheidende Merkmale hervorhebt.
Unser Wesen nun aber ist – wie man mit Bedauern oder auch Freude feststellen mag – nicht nur aus
„choice“ und „reason“ gewebt. Die zu werden, die wir
sind, ist kein leichtes Unterfangen. Um die eigenen
Anlagen zur Exzellenz zu bringen sind fortlaufend Beschränkungen zu überwinden, die uns der Teil unserer
Natur auferlegt, der uns mit den anderen Lebewesen
gemein ist. Um seine Potentiale zur Bestform zu bringen, bedarf das Wesen, das teils Tier, teils Gott ist, darum „Selbstherrschaft.“ Es ist fortlaufend mit der Überwindung seiner Natur beschäftigt, um umso mehr seine
eigentliche Natur zur Perfektion zu bringen.
Insoweit finden wir in antiken Ethiken elaborierte Konzepte zum Umgang mit der eigenen Person. In
ihnen wird Selbstherrschaft meist als Mäßigung oder
Enthaltsamkeit buchstabiert. In der hellenistischen
Ratgeberliteratur hat sich das schon in Übungen, die zur
Glückseligkeit führten, verfestigt – bei Platon kreisen
sie noch um Tugenden wie Besonnenheit oder Gerechtigkeit. In Analogie zur Unterteilung dreier verschiedener Stände im Staat unterscheidet er drei verschiedene
Teile der Seele: einen denkenden, einen begehrenden
und einen, der auf Ehre und Siegen aus ist. „Gerechtigkeit“ nun besteht in der richtigen Ordnung dieser Teile
zueinander, was im Falle von Personen meint, dass der
rationale auch der lenkende Seelenteil ist und die anderen ihm gehorchen. Platon schreibt entsprechend in
der Politeia (580c):
„der Trefflichste und Gerechteste sei auch der Glückseligste, dies sei aber der am meisten königlich Gesinnte
und sich selbst königlich Beherrschende; der Schlechteste aber und Ungerechteste sei auch der Unseligste,
und dies sei der am meisten tyrannisch Gesinnte und
auch sich selbst sowie den Staat so tyrannisch wie möglich Beherrschende.“
2. „Werde, der du sein
sollst!“
Im Rahmen eines zweiten Verständnisses von „die sein,
die wir sind“, wird Identität nicht aus der relativen Position in einem geordneten Weltganzen geschöpft,
sondern aus der Gesellschaft. Was das für das Selbstsein bedeuten mag, davon kündet die uralte Anekdote, die Livius in seiner Römischen Geschichte erzählt (II,
32, 5ff.). Es herrscht Zwietracht zwischen geflüchteten
Patriziern und in der Stadt verbliebenen Plebejern; um
Harmonie wiederherzustellen, wird Menenius Agrippa
zu den Plebejern geschickt, denen er folgende Geschichte erzählt:
„Zu der Zeit, als im Menschen nicht wie jetzt alles im
Einklang miteinander war, sondern von den einzelnen
Gliedern jedes für sich überlegte und für sich redete,
hätten sich die übrigen Körperteile darüber geärgert,
daß durch ihre Fürsorge, durch ihre Mühe und Dienstleistung alles für den Bauch getan werde, daß der
Bauch aber in der Mitte ruhig bleibe und nichts anderes
tue, als sich der dargebotenen Genüsse zu erfreuen.
Sie hätten sich daher verschworen, die Hände sollten
keine Speise mehr zum Munde führen, der Mund solle,
was ihm dargeboten werde, nicht mehr aufnehmen
und die Zähne sollten nicht mehr kauen. Indem sie in
diesem Zorn den Bauch durch Hunger zähmen wollten,
habe zugleich die Glieder selbst und den ganzen Körper schlimmste Entkräftung befallen. Da sei dann klar
geworden, daß auch der Bauch eifrig seinen Dienst tue
und daß er nicht mehr ernährt werde als daß er ernähre, indem er das Blut, von dem wir leben und stark sind,
gleichmäßig auf die Adern verteilt, in alle Teile des Körpers zurückströmen lasse, nachdem es durch die Verdauung der Nahrung seine Kraft erhalten habe. Indem
Agrippa dann einen Vergleich anstellte, wie ähnlich der
innere Aufruhr des Körpers dem Zorn der Plebs gegen
die Patrizier sei, habe er die Menschen umgestimmt.“
Hier wird Gesellschaft als organisches Ganzes begriffen. Wer jemand ist, hängt von der relativen Positionierung in diesem Ganzen ab: Man ist sein Stand. Personen
sind die, die sie sind, wenn sie ihren Platz im sozialen
Kosmos kennen und sich entsprechend verhalten, d.h.
sich in den Dienst der sozialen Ordnung stellen. Agrippa
versucht zu überzeugen, indem er Handeln (zumindest
die der Plebejer), das sich nicht in den Dienst der Ord-
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nung stellt, delegitimiert; schließlich benötigten, so
läuft das etwas fadenscheinige Argument, die Plebs die
Patrizier, weil es ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis gebe.
Bis in die Neuzeit freilich wird davon ausgegangen,
dass die Ordnung der Gesellschaft eine Spielart der
Ordnung der Welt ist; entsprechend kann die Forderung der zu werden, der man als Person im gesellschaftlichen Ganzen ist, als Verlängerung der Forderung vorgetragen werden, der zu werden, der man als Mensch
im kosmischen Ganzen ist. In beiden Fällen hat man
sich, um die eigene Person zu sein, in den Dienst einer
Ordnung zu stellen, die das Individuum überschreitet.
Das ändert sich erst mit einem Verständnis dafür, dass
Gesellschaft keine naturgegebene, sondern eine menschengemachte, als solche veränderbare, jedenfalls
der Legitimation bedürftige Ordnung ist. Exemplarisch
kann das an der kontraktualistischen politischen Philosophie festgemacht werden: Das Soziale – zumindest
in der legitimatorischen Fiktion – ist Verhandlungssache wechselseitig unabhängiger Individuen.
Wenn Identität durch das Soziale umrissen wird, dieses aber eine kontingente Ordnung ist, dann treten an
die Stelle des antiken Konzepts von Selbstherrschaft
Selbstkonzepte, die der Reproduktion oder dem Bruch
mit der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung dienen – oder allererst eine vernunftgemäße Ordnung
hervorbringen sollen. Das im 18. Jahrhundert einsetzende Nachdenken über Autonomie und Selbstgesetzgebung ist in letzter Konsequenz auch ein Nachdenken
über vernunftgemäßes menschliches Zusammenleben.
Man soll, lehrt Kant, nach derjenigen Maxime handeln,
von der man wollen kann, dass sie allgemeines Gesetz
werde. Autonomie – das meint hier die Immanenz des
Sozialen im Subjekt; ihr Vollzug in rationalem Wollen ist
auf eine Konsistenzforderung hin zu beschränken, die
die Individuen vor wechselseitiger Fremdbestimmung
bewahrt, eine angemessene Ordnung herbeiführt. Die
eigene Person, „sein eigener Herr“ sein, das findet demnach nicht jenseits oder nur in Abgrenzung von der Gesellschaft statt, sondern in ihr.
3. „Werde, der du sein
könntest!“
In der fortgeschrittenen Moderne nun erleben wir Identität zunehmend nicht mehr als durch eine kosmische
oder soziale Ordnung vorgefügt, sondern als etwas allererst vom Subjekt hervorzubringendes. Was bedeutet
es dafür, die eigene Person zu sein, wenn sie in derselben Bewegung erst hervorzubringen ist?
In einer Studie über Depression in der modernen Gesellschaft schreibt Alain Ehrenberg (2008: 18f.):
„Wir sind reine Individuen geworden, und zwar in dem
Sinne, dass uns kein moralisches Gesetz und keine
Tradition sagt, wer wir zu sein haben und wie wir uns
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verhalten müssen. Die Dichotomie erlaubt – verboten, die das Individuum bis in die […] 1960er Jahre […]
bestimmte, hat ihre Wirkung verloren. […] Das Recht,
sich sein Leben zu wählen, und der Auftrag, man selbst
zu werden, verorten das Individuum in einer ständigen
Bewegung. […] Die Grenze zwischen dem Erlaubten
und dem Verbotenen schwindet zugunsten der Spannung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen.
[…] Parallel zur Relativierung des Verbotsbegriffs
schwindet auch die Bedeutung der Disziplin in der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Es geht
nun weniger um Gehorsam als um Entscheidungen
und persönliche Initiative. Die Person wird nicht länger
durch eine äußere Ordnung [...] bewegt, sie muss sich
auf ihre inneren Antriebe stützen […] Das ideale Individuum wird nicht mehr an seiner Gefügigkeit gemessen,
sondern an seiner Initiative.“
Da wir nicht mehr in dem Normengeflecht lebten, das
den sozialen Klassen und Geschlechtern gebietend und
verbietend den Platz in der Gesellschaft weist, sind wir
uns nurmehr dazu überlassen, die zu werden, die wir
sein könnten. An die Stelle einer Spannung von erlaubtverboten tritt die von möglich-unmöglich: Statt durch
Gefügigkeit zeichnet sich das ideale Individuum der Gegenwart durch Initiative aus. In der Folge kommt es zu
einer unternehmerischen Betriebsamkeit, die auf ständige Selbstüberbietung aus ist.
Sich als „Kunstwerk“ zu begreifen, dass man mit seiner Lebensführung selbst gestalten kann, wurde so zu
einer ubiquitären Formel. Die Betriebsamkeit um das
Selbst wird jedoch dann zu einer notwendigen Illusion, wenn sie den Abbau von Arbeitnehmerrechten und
sozialer Sicherheit unsichtbar macht. Wir erleben ein
ökonomisiertes Selbstverhältnis, dessen Rückseite eine
mit aller Freiwilligkeit und Intrinsik der Welt bedachte
Abschöpfung von Mehrwert ist.
Erst im Windschatten dieses Selbstverhältnis, habe
ich den Eindruck, wird es möglich, selbstbestimmt zu
handeln, ohne dieses Handeln als sein eigenes zu begreifen; erst so schließt Autonomie nicht auch Authentizität mit ein. Ein angemessenes Verständnis davon,
was es heißt, die eigene Person zu sein, wird Autonomie und Authentizität nicht als unverbundene Momente des Selbstsein begreifen dürfen.
Von Miguel de la Riva
Literatur
Ehrenberg, Alain. 2008. Das erschöpfte Selbst. Depression
und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
Epictetus. 2014. Disroucses, Fragments Handbook. Oxford:
Oxford University Press.
Platon. 2001. Der Staat. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Titus Livius. 1991. Römische Geschichte. Buch I-III. München,
Zürich: Artemis & Winkler.
RUBRIK
Identität und
Authentizität
Das Thema der Leitrubrik in dieser Ausgabe ist Identität und Authentizität.
Unsere Gastautoren Jörg Noller, Christine Bratu und Volker Gerhardt nähern sich
der Frage, was es heißt, die eigene Person zu sein, indem sie Fragen stellen wie:
Warum bin ich heute derselbe wie gestern? Ist es an sich wertvoll, sich treu zu
bleiben? Und was genau heißt es, wenn wir über eine Person sagen, sie sei „integer“?
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Warum bin ich heute
derselbe wie gestern?
Probleme und Perspektiven
personaler Identität
Von Jörg Noller
Wie kann es sein, dass ich mit mir selbst über
die Zeit hinweg numerisch identisch bleibe,
Zeit meines Lebens genau ein und dieselbe
Person bin, obwohl sich mein Körper materiell
zum großen Teil austauscht? Das ist Kern der
Frage, was es heißt, eine Person zu sein und
mit ihr über die Zeit identisch zu bleiben
– praktische Relevanz erhält sie durch das
Problem moralischer Zurechenbarkeit, denn
Lob und Tadel setzen voraus, dass ich mit
derjenigen Person identisch bin, die in der
Vergangenheit gut oder böse handelte. Wie
aber kann personale Identität ontologisch
gedacht werden? Im Sinne einer geistigen
oder materiellen Substanz, oder nur durch die
Kontinuität des Bewusstseins?
D
ie Rede von „Personen“ und „Identitäten“ ist problematisch und vieldeutig: In der Psychologie
sprechen wir von eindrucksvollen Charakteren – etwa
„starken Persönlichkeiten“, die in ihrer „Identität“ gefestigt sind. In der Soziologie sprechen wir von Personen im Sinne von Rollenbildern, die wir in bestimmten
Kontexten einnehmen. In der Rechtswissenschaft unterscheidet man zwischen natürlichen und juristischen
Personen. Man hat es also mit vielfältigen und widersprüchlichen Bedeutungen von „Person“ zu tun, und
auch ein Rekurs auf die Etymologie des Wortes schafft
da keine Abhilfe. In der Antike bedeutet „persona“ im
Lateinischen zunächst „Maske eines Schauspielers“.
Später wurde darunter auch die „Rolle“ verstanden, die
ein Mensch in der Gesellschaft spielt. Die heutige ontologische Bedeutung von „vernünftiges Individuum“ und
„individuelle Persönlichkeit“ erhielt das Wort erst in der
christlichen Spätantike und im Mittelalter. Allerdings
war der Begriff der Person in dieser Tradition nicht allein für Menschen reserviert, sondern wurde gemäß der
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Trinitätslehre auch auf Gott bezogen: „ein Wesen, drei
Personen“ (Spaemann 1996: 30ff.).
1. Person als Substanz
Die erste philosophische Definition der Person hat in der
Spätantike Boethius gegeben. Personen beschreibt er
als natürlich-individuelle Einzeldinge, die über Vernunft
verfügen. Boethius definiert die Person als „[e]iner verständigen Natur unteilbare Substanz (naturae rationabilis individua substantia)“ (Boethius 1988: 75). Unter
diesen Begriff fallen jedoch nicht nur Menschen, sondern auch Engel, nicht zuletzt auch Gott. Tiere dagegen
seien zwar natürlich-individuelle Substanzen, jedoch
keine Personen, da ihnen das Vermögen der Vernunft
fehlt.
Im Mittelalter wurde dieser Personbegriff durch
Thomas von Aquin kritisiert. Als individuelle, vernünftige Substanzen verstanden würden Personen zu sehr
als Dinge betrachtet. So bleibe ihr Spezifikum – das
Vermögen der Selbstbestimmung – unberücksichtigt
(Thomas 1939: 43). Worauf Thomas damit hinweist,
ist genau genommen der Unterschied zwischen etwas
sein und jemand sein. Eine Person nur als eine vernünftige Substanz zu definieren bedeutet, sie als ein Objekt
unter vielen anderen zu verstehen. Stattdessen gilt es
nach Thomas, die Person als ein freies und vernünftiges
Subjekt zu fassen. Die Person genießt also als Substanz
einen ontologischen Sonderstatus: Sie ist eine Form
autonomer Existenz und fällt damit aus der dinghaften
Ordnung der Substanzen heraus.
2. John Locke oder die
Entsubstanzialisierung der
Person
Die Kritik an der Verdinglichung der Person hat der
englische Philosoph John Locke weiter radikalisiert
und durch seine Subjektivitätstheorie gewissermaßen
auf die Spitze getrieben. An den Personenbegriff geht
Locke pragmatisch heran. Von „Personen“ sprechen
wir ihm zu folge nur, um die Verantwortung für Handlungen einzelnen Individuen zuschreiben zu können.
Entscheidend für die Identität von Personen ist nach
Locke allein die Kontinuität des Bewusstseins. Die
Identität der Person ist dadurch ontologisch unabhängig von der Identität der Substanz – sie „erstreckt sich
[...] nicht weiter als das Bewußtsein“ (Locke 1981: 425).
Für Locke folgt daraus die wechselseitige ontologische
Unabhängigkeit von Substanz, Lebewesen und Person:
„‚[D]ieselbe Substanz sein‘, ‚derselbe Mensch sein‘ und
‚dieselbe Person sein‘ sind drei ganz verschiedene Dinge“ (ebd.: 416).
Zur Veranschaulichung dieser These bemüht Locke
ein Gedankenexperiment: „Nehmen wir an, die Seele
eines Fürsten, die das Bewußtsein des vergangenen
Lebens des Fürsten mit sich führt, träte in den Körper
eines Schusters ein und beseelte ihn, sobald dessen
eigene Seele ihn verlassen hätte. Jeder sieht ein, daß
der Schuster dann dieselbe Person sein würde wie der
Fürst und nur für dessen Taten verantwortlich. Aber wer
würde sagen, es sei ein und derselbe Mensch?“ (ebd.:
426f.). Das Biologische, Natürliche und Körperliche
rückt so bei der Bestimmung der Person fast vollständig in den Hintergrund.
3. David Hume oder die
Entpersonalisierung der
Person
Ausgehend von Lockes bewusstseinstheoretischer Rekonstruktion personaler Identität hat David Hume die
Loslösung der Person von Dingen, Substanzen und
Körpern noch weiter vorangetrieben. Seine Theorie
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personaler Identität gewinnt ihr Profil vor allem in Abgrenzung von derjenigen Descartes’. Descartes hatte in
seinen Meditationes die These vertreten, dass der Existenz des eigenen Ichs eine noch größere Gewissheit
zukomme als den evidenten Sätzen der Mathematik
und Geometrie. Er war daher von einer intelligiblen
Substanz (res cogitans) als Grund personaler Identität
ausgegangen (Descartes 2004: 76).
Humes Zugang zum Problem personaler Identität
beruht auf einem Reduktionismus. Gemäß der Humeschen empiristischen Bedeutungstheorie müssen sich
alle unsere Vorstellungen – diejenige personaler Identität inbegriffen – auf unmittelbare, basale Eindrücke
(„perceptions“), zurückführen lassen. Ein Beispiel für
eine Perzeption wäre ein völlig homogener rot-Eindruck. Perzeptionen sind die nicht weiter analysierbaren Elemente der Humeschen Ontologie: Sie sind Entitäten, die „alle voneinander verschieden, unterscheidbar und trennbar“ sind und „können für sich vorgestellt
werden, also für sich existieren“ (Hume 1978: 326).
Humes Provokation besteht philosophiegeschichtlich
darin, dass ein geistiger Zustand – das Erfassen einer
Perzeption und der bewusste Gehalt einer Perzeption
– keines geistigen Trägers bedarf, womit er der cartesischen Theorie das fundamentum inconcussum – das vermeintlich „unerschütterliche Fundament“ des Selbstbewusstseins – unter den Füßen wegzieht.
Die Person ist nach Hume daher in Wirklichkeit
nichts als eine Menge von (inneren und äußeren) Perzeptionen zu einem bestimmten Zeitpunkt: Ein Bündel
von visuellen, haptischen, olfaktorischen, akustischen,
inneren Eindrücken. Diese Eindruckskonstellationen
sind nun aber in ständigem Fluss begriffen. Perzeptionen verhalten sich wie wechselnd auftretende dramatis personae auf einer Bühne, wobei wir allerdings keinen Eindruck dieser Bühne selbst haben (ebd.: 327f.).
Den Grund dafür, dass wir dennoch geneigt sind, eine
personale Einheit unserer Perzeptionen anzunehmen,
findet Hume in der psychologischen Verfasstheit der
Einbildungskraft. Ihre Natur besteht darin, zwischen
verschiedenen Perzeptionen spontan Verbindungen
der Identität und Kausalität herzustellen und diese
bloß subjektiv gültigen Prinzipien in die Perzeptionen
als real existierend hineinzulegen. Die ursprünglich als
selbstverständlich angenommene Einheit und Identität
der Person sei deshalb in Wirklichkeit nur eine gefühlte
und durch die Einbildungskraft fingierte – mit modernen Worten: eine Konstruktion (ebd.: 335).
4. „Personal identity is
not what matters“. Derek
Parfits „no-self-theory“
Lockes und Humes anti-substanzialistische Theorien
personaler Identität haben in der gegenwärtigen Philosophie durch den englischen Philosophen Derek Parfit
eine provokative Aktualisierung erfahren. Wie Locke
12
cog!to 07/2014
und Hume wendet auch er sich gegen eine starke ontologische Hintergrundannahme im Sinne einer denkenden Substanz – gegen ein, wie er es nennt, „deep
further fact“ (Parfit 1984: 312). Parfit geht sogar soweit,
die philosophische Bedeutung von personaler Identität überhaupt zu leugnen: „[P]ersonal identity is not
what matters“ (ebd.: 215). Zur Veranschaulichung seiner These bedient er sich, wie dies bereits Locke getan
hatte, des Gedankenexperiments einer Bewusstseinsübertragung, nun aber im Gewand moderner sciencefiction (ebd.: 200f.): Eine Person auf der Erde begibt
sich in einen Scanner, der alle Daten von Gehirn und
Körper erfasst und diese sofort zum Mars teleportiert,
wo ein Empfängergerät mit diesen Daten eine exakte
Replik erstellt. Mit dem Betätigen des Beamvorgangs
wird die gescannte und weggebeamte Person auf der
Erde vernichtet, so dass danach nur noch die Person auf
dem Mars existiert. In diesem Fall existieren nun zwei
Interpretationsmöglichkeiten hinsichtlich der Frage
nach personaler Identität: (i) Solange sich die Person
auf dem Mars an die Situation unmittelbar vor dem Beamen nahtlos erinnert, handelt es sich um numerische
Identität. (ii) Die Person verliert ihre numerische Identität und eine neue Person entsteht auf dem Mars, die
mit dieser nur qualitativ identisch ist.
Parfit konstruiert einen zweiten Fall, in dem der Beamvorgang auf der Erde nicht perfekt gelingt. Es wird
zwar eine fehlerfreie Replik auf dem Mars erstellt, jedoch die Person auf der Erde nicht wie geplant vernichtet, sondern so geschädigt, dass ihr nur noch wenige
Tage zum Leben bleiben und damit die Existenz beider
Personen für einige Zeit überlappt. Nun treten, so Parfits Gedankenexperiment, beide Personen per Funk in
Kontakt. Die Person auf dem Mars, die noch über eine
unbeeinträchtigte Lebenswartung verfügt, tröstet die
geschädigte Person auf der Erde und verspricht ihr,
nach ihrem Tod ihre Position mit allen verbundenen
Verpflichtungen einzunehmen, also ihr Leben nahtlos
fortzusetzen. Dies ist ohne Probleme denkbar, denn sie
besitzt dieselben qualitativen Eigenschaften wie die
gesunde Person vor dem Beamvorgang. Die Person auf
der Erde mag zwar über ihren bevorstehenden Tod traurig sein, doch weiß sie, dass sie in gewisser Weise – ähnlich der Interpretation (ii) des normalen Beam-Beispiels
– fortexistieren wird, da ihr personaler „Nachkomme“
mit ihr qualitativ identisch ist (ebd.: 215). Für Parfit ist
personale Identität deshalb keine Frage des Alles oder
Nichts – der strengen numerischen Identität – sondern
lässt Zwischenstufen, wie im Falle der Überlappung bei
einem fehlerhaften Beamvorgang zu. Damit erhält der
Tod einer Person eine ganz neue Bedeutung: „Instead
of saying, ‚I shall be dead‘, I should say, ‚There will be no
future experiences that will be related, in certain ways,
to these present experiences‘“ (ebd.: 281).
Anders als für Hume, der an der Unmöglichkeit einer Verteidigung personaler Identität verzweifelt war,
ist für Parfit ein solcher schwacher Identitätsbegriff
gerade begrüßenswert: „Is the truth depressing? Some
Es gilt eine Theorie personaler Identität zu entwickeln, die
den Einseitigkeiten einer reduktionistischen Subjektivierung und Relativierung auf der
einen, der substantialistischen
Objektivierung und Verdinglichung auf der anderen Seite
entgeht.
may find it so. But I find it liberating, and consoling. [...]
I now live in the open air. There is still a difference between my life and the lives of other people. But the difference is less. Other people are closer. I am less concerned about the rest of my own life, and more concerned
about the lives of others“ (ebd.).
5. Perspektiven personaler
Identität
Die Bewusstseinstheorien Lockes, Humes und Parfits
weisen jedoch aufgrund ihrer reduktionistischen Radikalität zahlreiche Probleme auf. Der von allen drei
Denkern vertretene Reduktionismus schießt über sein
Ziel, die Vergegenständlichung der Person zu vermeiden, hinaus. Drei Punkte stechen dabei besonders
hervor: (1) Die drei Denker verbinden mit dem Begriff
der Person stets die Wirklichkeit von Fähigkeiten. Die
bloße Möglichkeit einer Fähigkeit ist für sie nicht ausschlaggebend. So wären diesen Theorien zufolge nicht
nur komatöse Patienten, sondern auch schlafende,
geistig behinderte oder demente Menschen keine Personen mehr (wenn auch Menschen). (2) Das reine Bewusstseinskriterium vermag nicht die intersubjektive
Dimension von Personalität zu fassen, weil die Person
ohne spezifischen Körper über keine „Außenseite“ des
Austauschs verfügt – ihre Existenz ist allein an inner-
psychische Zustände gebunden. Damit droht aber die
Gefahr eines Solipsismus – der Annahme der alleinigen
Existenz des eigenen Selbst. (3) Mehr noch: Durch die
alleinige Konzentration auf die Bewusstseinsakte droht
sich die Person – wie in Humes Theorie – sogar selbst
aufzulösen, da es keinen objektiv-intentionalen Bezugspunkt außerhalb ihres Bewusstseins – keine „Grenze“ – gibt, durch die sich die Person definieren kann. Mit
der zunehmenden Auflösung personaler Einheit aber
ist wiederum die eindeutige Zuschreibung von Handlungen und damit die Möglichkeit moralischer Zurechenbarkeit gefährdet.
Eine befriedigende Theorie personaler Identität
wird von derartigen Reduktionismen Abstand nehmen
müssen. Es gilt vielmehr, eine Theorie personaler Identität zu entwickeln, die den Einseitigkeiten einer reduktionistischen Subjektivierung und Relativierung auf der
einen, der substanzialistischen Objektivierung und Verdinglichung auf der anderen Seite entgeht. Angesichts
dieses Dilemmas besteht die Herausforderung darin,
die Person auf eine nicht vergegenständlichende, sondern freiheitswahrende und -ermöglichende Weise mit
ihrer Natur zu verbinden.
Literatur
Von Jörg Noller
Boethius. 1988. Die theologischen Traktate. Übersetzt von Michael Elsässer. Hamburg: Meiner.
Descartes, René. 2004. Meditationen. Dreisprachige Parallelausgabe. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Andreas
Schmidt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Hume, David. 1978. Traktat über die menschliche Natur. Übersetzt von Theodor Lipps. Herausgegeben von Reinhard
Brandt. Hamburg: Meiner.
Locke, John. 1981. Versuch über den menschlichen Verstand.
Bd. 1. Übersetzt von Carl Winckler. Hamburg: Meiner.
Parfit, Derek. 1984. Reasons and Persons. Oxford: Oxford
University Press.
Spaemann, Robert. 1996. Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘. Stuttgart: KlettCotta.
Thomas von Aquin. 1939. Summa Theologiae. 3. Bd. Salzburg/
Leipzig: Anton Pustet.
Zu unserem Gastautor:
Jörg Noller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl I der
Fakultät für Philosophie an der LMU München und Redakteur des
Philosophischen Jahrbuchs. Er studierte in Tübingen, München,
Notre Dame und Chicago Philosophie, Literaturwissenschaft und
Geschichte. Seine Dissertation schrieb er über das AutonomieProblem im Ausgang von Kant. Er interessiert sich für Theorien
der Freiheit und der Person. Zusammen mit Prof. Buchheim organisiert Jörg Noller für das Wintersemester 14/15 das 1. Münchner
Philosophische Kolloquium, dass sich der Frage „Was sind und wie
existieren Personen?“ widmen wird.
cog!to 07/2014
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Echt? Gut?
Über den vermeintlichen Eigenwert
von Authentizität
Von Christine Bratu
Verstell dich nicht, sei du selbst! Lern mit dir klar zu
kommen, so wie du eben bist – sei authentisch! Ständig
werden Aufforderungen wie diese an uns gerichtet, fast
erscheint Authentizität als der implizite normative Standard
unserer Zeit. Doch was genau ist eigentlich gut daran, sich
selbst treu zu bleiben?
In Martin Scorseses Film „The Wolf of Wall Street“
Authentizität tatsächlich eine Tugend oder ist es nur dann
spielt Leonardo DiCaprio den betrügerischen Börsenintrinsisch gut, authentisch zu sein, wenn das Selbst,
makler Jordan Belfort. Indem er Kleinanleger*innen
demgegenüber man treu bleibt, selbst wieder tugendhaft
zu riskanten Aktiengeschäften verführt, bei denen sie
ist?
ihr weniges Erspartes aufs Spiel setzen, und dafür eine
saftige Provision kassiert, kommt Jordan zu viel Geld,
einem stetig anwachsenden Berg von Drogen und dem
zweifelhaften Ruhm, jedem und jeder alles verkaufen
zu können. Als ihm schließlich das FBI auf die Spur zu
Doch zuerst braucht es ein wenig Begriffsklärung. Gekommen droht, raten seine Anwälte Jordan sich aus
rade habe ich nämlich eine Lesart von „authentisch“
dem aktiven Geschäft seiner Firma zurückzuziehen.
vorausgesetzt, mit der man nicht einverstanden sein
Jordan tritt schweren Herzens vor die Belegschaft, um
muss. Das Verständnis von Authentizität, das ich im
seinen Rücktritt zu verkünden; doch noch während seiFolgenden zugrunde lege, identifiziert „authentisch
ner Abschiedsrede ändert er seine Meinung: Würde er
sein“ mit „sich selbst gerecht werden“ bzw. mit „sich
jetzt, da ihm eine Gefängnisstrafe droht, damit aufhöselbst treu bleiben“. Das passt nicht unbedingt zur
ren, mit allen Mitteln immer mehr Geld anzuhäufen,
sonst üblichen Verwendung des Begriffes – jedenfalls
würde er sich selbst verraten und von der Gesellschaft
nicht zur Art und Weise, wie er im Rahmen desjenigen
zu einem Heuchler machen lassen. Daher entschließt
Diskurses verwendet wird, in dem Authentizität ihre
er sich, seinen exponierten Posten zu behalten und der
prominenteste Rolle spielt, nämlich dem über Kunstgeldgeile Aufsteiger zu bleiben, der er nun einmal ist –
werke. Einem Kunstwerk Authentizität zu attestieren
und seine Angestellten jubeln ihm dafür zu.
bedeutet, es für echt und also für das Werk derjenigen
In ethischer Hinsicht ist Jordan
zu erklären, die bisher als Urhebekein bewundernswerter Mensch:
rin angesehen wurde: Zu behaupDass Jordan Belfort sich selbst ten, dass ein Bild ein authentischer
Er ist ein Betrüger, der sich am
Schaden anderer gewissenlos be- und seinen Idealen treu bleibt, Modersohn-Becker sei, bedeutet,
reichert; er hat keinen Respekt flößt uns Respekt ein und das
dass es wirklich von Paula Modervor Frauen, sondern behandelt sie obwohl seine Ideale durchaus
sohn-Becker gemalt wurde. Diese
ausschließlich als Mittel zur Trieb- nicht respektabel sind.
Verwendung von „authentisch“ im
befriedigung; und er ist ein MateSinne von „echt“ – die auch mitrialist, dessen einziges Ideal das
schwingt, wenn etwa „authentisch
Haben von und Angeben mit Geld ist. Dennoch ist es
thailändische Küche“ und „authentisch neapolitanische
schwierig, in der oben beschriebenen Szene nicht zuPizza“ angepriesen werden – knüpft an die Wurzeln
mindest einen kurzen Moment lang Achtung vor ihm
des Begriffes an, da „authentikós“ im Altgriechischen
zu empfinden. Dass er sich selbst und seinen Idealen
„echt“ oder „verbürgt“ bedeutete. Doch in diesem Sintreu bleibt, flößt uns Respekt ein und das obwohl seine
ne von einem authentischen Menschen zu sprechen ist
Ideale durchaus nicht respektabel sind. Nicht heuchuninteressant: Wollen wir wirklich betonen, dass Jordan
lerisch, sondern authentisch zu sein – offenbar halten
Belfort ein echter Mensch ist? Im Gegensatz wozu? Zu
wir das für intrinsisch wertvoll. Doch sollten wir das? Ist
einem Replikanten à la Blade Runner?
Von „Echt sein“ zu „treu
bleiben“
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cog!to 07/2014
Wenn wir eine Person authentisch nennen,
wollen wir vielmehr zum Ausdruck bringen,
dass sie dem gerecht wird, was sie als die besondere Person ausmacht, die sie nun einmal
ist. Für Jordan ist kennzeichnend, dass er ein
hemmungsloser Emporkömmling ist, und er
ist authentisch, sofern er sich als solcher verhält. Dabei sind es die Handlungen einer Person, in denen sich ihre Authentizität manifestiert: Jordan ist authentisch, weil er sich einen
schneeweißen Lamborghini und eine riesige
Yacht kauft, weil er seine Frau betrügt und weil
er sich von einem FBI-Agenten, dessen Jahreseinkommen nur einen Bruchteil seines eigenen
ausmacht, nicht vorschreiben lässt, was er zu
tun und zu lassen hat. Authentizität ist also
zunächst eine Eigenschaft von Handlungen,
nämlich dem gerecht zu werden, was für die sie
Ausführenden kennzeichnend ist. In Ableitung
ist Authentizität zudem eine Eigenschaft der
Ausführenden selbst, sofern ein ausreichendes
Maß ihrer Handlungen authentisch ist.
Ist es intrinsisch gut,
sich selbst treu zu
bleiben?
Vor dem Hintergrund dieser Begriffsklärung
lässt sich die Ausgangsfrage klarer formulieren: Ist es intrinsisch gut, wenn ich mir selbst
treu bleibe, auch wenn sich dies in ethisch zweifelhaften Handlungen niederschlägt? Meiner
Ansicht nach legt schon das Anfangsbeispiel
nahe, wie wir diese Frage beantworten sollten. Doch um unsere Intuitionen noch deutlicher zutage treten zu lassen, will ich Jordans
Fall verschärfen: Stellen wir uns vor, dass für
einen anderen Jordan – Jordan2 – nicht nur
Ehrgeiz und Habgier kennzeichnend sind, sondern auch eine rassistische und sadistische
Haltung. Wenn diese radikalisierte Version von
Jordan sich selbst mit ihren Handlungen gerecht werden will, muss sie Menschen nichtkaukasischer Abstammung quälen. Und weil
auch Jordan2 ein authentischer Mensch ist, tut
er genau das: Er beschimpft seine asiatischen
Nachbarn, schmiert fremdenfeindliche Parolen an ihr Haus, verteilt Neonazi-Propaganda
in der Umgebung und all das mit dem Ziel,
seine Nachbarn aus der Gegend zu vertreiben.
Was halten wir nun von Jordans2 hasserfülltem, aber authentischem Feldzug für eine rein
kaukasische Nachbarschaft?
Vernünftigerweise wird niemand behaupgut
ten, dass Jordans2 Handlungen
seien. Denn selbst wenn man Authentizität für
eine Tugend hält, sollte sie doch nicht die einzi-
ge und auch nicht die höchste Tugend sein, die man akzeptiert.
Freundlichkeit, Rücksichtnahme, Offenheit, die Vermeidung
von Leid sind ebenfalls intrinsisch wertvolle Verhaltensweisen
und einige davon wiegen in diesem Fall sicherlich schwerer als
sich selbst treu zu bleiben. Doch diese alternativen Tugenden
missachtet Jordan2 aktiv. Wenn man Jordans2 Handeln als bewundernswert bewerten will, dann also nur pro tanto, d.h. nur
in einer bestimmten Hinsicht, nämlich insofern es der Tugend
der Authentizität entspricht. Doch insgesamt ist sein Handeln
verurteilenswert, weil es viele andere und gewichtigere Tugenden vernachlässigt.
cog!to 07/2014
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„Nach Aristoteles sind Verhaltensweisen, die
als tugendhaft gelten können, wenn sie auf ein
lobenswertes Ziel gerichtet sind, keine Instanzen
von Tugend mehr, wenn sie zur Umsetzung
schlechter Absichten gebraucht werden. Es
gibt keine mutigen Räuber und freigiebigen
Bestecher“
Mir selbst erscheint dieses Urteil noch zu wohlwollend, weil Ausdruck einer falschen Auffassung von
Tugenden. Nach dieser falschen, aber oft vertretenen
Auffassung gibt es bestimmte Handlungstypen, die per
se tugendhaft sind, wie etwa seiner Angst zu trotzen
oder freigiebig mit seinen Gütern umzugehen. Doch
tatsächlich hat Aristoteles, den ich in puncto Tugenden als Autorität bemühen möchte, eine allgemeinere
Auffassung von tugendhaftem Handeln, nämlich: gewohnheitsmäßig das Angemessene tun. Nach dieser
allgemeineren Auffassung gibt es keine an sich lobenswerten konkreten Handlungstypen – welche Verhaltensweise genau unsere Hochachtung verdient, hängt
immer von der Handelnden und deren Situation ab.
Kehren wir nun mit der aristotelischen Auffassung zurück zum Anfangsbeispiel. D.h. nehmen wir an, wir befänden uns in einer Situation, in der wir durch ein paar
Tricksereien auf Kosten anderer schnell zu viel Geld
kommen können. Welches Vorgehen wäre hier nun angemessen? Sicherlich nicht, die Gelegenheit am Schopf
zu packen und Gelder zu veruntreuen. A fortiori wäre
es auch nicht angemessen, dies auf eine Art und Weise
zu tun, die unserem Wesen in besonderem Maße entspricht. Angemessen wäre vielmehr, die Situation gar
nicht erst als Gelegenheit zur Bereicherung zu begreifen. Nach Aristoteles’ Auffassung sind Verhaltensweisen, die als tugendhaft gelten können, wenn sie auf ein
lobenswertes Ziel gerichtet sind, also keine Instanzen
von Tugend mehr, wenn sie zur Umsetzung schlechter
Absichten gebraucht werden. Auf den Punkt gebracht:
Es gibt keine mutigen Räuber und keine freigiebigen
Bestecher – wenn überhaupt sind Räuber tollkühn und
Bestecher verschwenderisch. Solange also Jordans authentische Handlungen solche sind, die wir insgesamt
für verurteilenswert halten, fällt die Tatsache, dass diese Handlungen typisch für ihn sind, nicht einmal pro
tanto positiv ins Gewicht. Dass Jordan von sich behaupten kann, sich selbst treu geblieben zu sein, macht sein
betrügerisches Verhalten keinen Deut besser – im Kontext schlechter Handlungen ist das Merkmal, authentisch zu sein, nicht normativ relevant.
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Wider unsere Intuitionen
Der ein oder die andere wird diese Einschätzung problematisch finden, schließlich impliziert sie Folgendes:
Menschen, bei denen Authentizität zu ethisch zweifelhaften Handlungen führt, sollten nicht authentisch
handeln. Aber wollen wir wirklich jemandem raten, sich
zu verstellen?
Auch in meinen Ohren klingt dieser Ratschlag seltsam. Denn schon das Anfangsbeispiel hat gezeigt, dass
wir intuitiv dazu geneigt sind, authentisches Handeln
positiv zu bewerten. Diese Dissonanz muss man als
Herausforderung annehmen, wenn man wie ich dafür
argumentieren will, dass wir authentischem Handeln
keinen intrinsischen Wert zumessen sollten. D.h. dass
man erklären können muss, warum wir Authentizität
intuitiv für bewundernswert halten, obwohl Beispiele
wie das von Jordan diese positive Einschätzung mit wenig Aufwand als falsch entlarven. Warum also erscheint
uns authentisches Handeln intuitiv als positiv?
Diese Fehleinschätzung mag zum einen darauf zurückzuführen sein, dass mit authentischem Handeln
bestimmte Zubringertugenden verbunden sind. Denn
um authentisch handeln zu können, muss man über
bestimmte praktische Einstellungen oder Eigenschaften verfügen, und einige davon halten wir selbst wieder für bewundernswert. So bedarf es z.B. eines gewissen Maßes an Selbstkenntnis. Wie nämlich soll man
sich selbst in seinem Handeln gerecht werden, wenn
man nicht weiß, welche Merkmale für die eigene Person kennzeichnend sind? Andere der Authentizität
dienliche Tugenden sind Willensstärke und Mut; diese
wird man insbesondere brauchen, wenn mit seinem
eigenen Standpunkt gegen gesellschaftliche Erwartungen verstößt. Vielleicht sind wir also dazu geneigt,
intuitiv Achtung vor authentischem Handeln zu empfinden, weil wir hinter Authentizität weitere Tugenden
am Werk vermuten. Doch selbst wenn dieser Verdacht
zutrifft und eine authentische Person also auch über
Selbstkenntnis verfügt und willensstark und mutig ist,
reicht dieser Zusammenhang nicht aus um unsere in-
tuitive Wertschätzung zu begründen. Denn mit vielen
der Zubringertugenden für Authentizität verhält es sich
wie mit Authentizität selbst: Sie ist nur wertzuschätzen, solange sie auf wertzuschätzende Ziele gerichtet
ist. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Willensstärke. Denn was, wenn nicht der Kirchenreformer
Martin Luther, sondern ein treues Mitglied des KuKluxKlans die Worte geäußert hätte, die oft als Paradigma
für Willensstärke angeführt werden: „Hier stehe ich, ich
kann nicht anders!“ ist es bewundernswert, wenn eine
Rassistin standhaft auf ihrer Position beharrt?
Vielleicht ist es aber auch ein anderes Missverständnis, das Authentizität in unseren Augen als intrinsisch
wertvoll erscheinen lässt – nämlich die Engführung von
„Authentizität“ und „Nonkonformität“. Es liegt nahe, diese beiden Konzepte miteinander zu verkoppeln; denn
eine Person, die authentisch handelt, folgt ihrem eigenen Urteil und hält sich nicht nur deswegen an vorgegebene Regeln, weil sie gesellschaftlich anerkannt sind.
Solange die gesellschaftlich vorgeschriebenen oder erwarteten Verhaltensweisen kritikwürdig sind, ist eine
solche eigenständige Haltung bewundernswert. Und
lange genug waren die gesellschaftlich vorgeschriebenen oder erwarteten Verhaltensweisen kritikwürdig
und manche sind es noch immer (wenn man etwa an
das Leitbild seriell monogamer Heterosexualität denkt,
neben dessen Ausschließlichkeit andere Liebesweisen nur langsam Platz finden). Da die Menschheit also
noch im Begriff ist, sich aus ihrer selbstverschuldeten
Unmündigkeit einen Ausgang zu bahnen, wäre es nicht
verwunderlich, wenn sich Authentizität im Sinne von
Nonkonformität zu einem positiv besetzten thick ethi-
cal concept entwickelt hätte. Doch auch diese Überlegung reicht nicht aus, um authentisches Handeln als
an sich bewundernswert zu rechtfertigen. Denn es ist
nicht bewundernswert, sich gegen bestehende Normen aufzulehnen, sofern diese sinnvoll sind, ebenso
wie es nicht bewundernswert ist, seinen eigenen Weg
zu gehen, sofern dieser in die falsche Richtung führt.
Sollen wir Heuchler*innen
sein?
Könnten wir Jordan Belfort begegnen, sollten wir ihm
also das Folgende sagen: Mag schon sein, dass deine
Betrügereien Ausdruck deiner Selbst und also authentisch sind. Doch das macht deine Handlungen weder in
einer bestimmten Hinsicht besser noch insgesamt gut.
Dass deine Wertvorstellungen und deine Wünsche mit
dem in Einklang stehen, was du tust, rechtfertigt weder
das eine noch das andere. Das bedeutet aber nicht, dass
du dich in Zukunft verstellen und zu einem Heuchler
werden solltest. Dass Authentizität nicht an sich wertvoll ist, spricht nicht für Heuchelei. Vielmehr solltest du
deine Wertvorstellungen und Wünsche Stück für Stück
hinterfragen und untersuchen, ob dir diese insgesamt
sinnvoll erscheinen. Und wenn dies – wie zu hoffen ist!
– nicht der Fall ist, dann musst du diese anpassen. Du
solltest also nicht zu einem Heuchler werde, Jordan,
sondern zu einem besseren Menschen.
Von Christine Bratu
Zu unserer Gastautorin:
Christine Bratu ist wissenschaftliche Assistentin am
Lehrstuhl für Philosophie IV der Ludwig-MaximliansUniversität München. Sie studierte politische Wissenschaft, Philosophie und neuere und neueste Geschichte und wurde im Sommer 2011 mit einer Arbeit zu den
Grenzen legitimer staatlicher Gewalt bei Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin promoviert. Aktuell beschäftigt sie
sich mit der Frage, warum sich Menschen selbst und
wechselseitig respektieren sollten.
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Integrität braucht
Wahrheit
Nichts anderes ist es mit Identität
und Authentizität
Von Volker Gerhardt
Dass Personen ein „Selbst“ haben sollen,
könnte man für eine abwegige Erfindung
von Philosophen halten. Tatsächlich gibt es
Autoren, die das Selbst als metaphysisches
Gespenst verspotten. Nur hat der Spott den
Nachteil, dass er auf den Spötter zurückfällt.
Denn auch er kommt ohne sein Selbst nicht
aus, das sich betroffen fühlt, wenn man ihm
widerspricht, und das sich gestärkt sieht,
sobald man es lobt. Jeder, der von sich aus
handelt und sich dabei vor anderen auf sich
selbst bezieht, bringt sich selbst ins soziale
Dasein ein – ohne ein Körperteil mit dem
Namen „Selbst“ zu haben. Es gibt auch sonst
keinen materiellen Gegenstand, auf den sich
verweisen ließe. Und dennoch zeigt sich das
Selbst ganz zweifelsfrei – im Umgang mit uns
selbst. Was also heißt es, ein Selbst zu haben
oder gar ein Selbst zu sein?
1. Autonomie und
Souveränität
N
ach Nietzsches oft zitiertem Wort begreift sich der
Mensch als ein „nicht festgestelltes Tier“. Gleichwohl versucht dieses Tier in immer neuen Wendungen
das festzustellen, was ihm an ihm selbst als wesentlich
erscheint.
Unter neuzeitlichen Bedingungen haben die noch
stark durch den sozialen Vergleich vermittelten Feststellungen nach Art des aristos, also des „Besten“, des
„Höchsten“ oder „Edelsten“, offenbar an Attraktivität
verloren. Schon die platonischen Tugenden gehen von
definierbaren Leistungen aus, die sich, wie die Weisheit, die Besonnenheit, die Gerechtigkeit oder die Frömmigkeit auf bestimmte sachlich ausgezeichnete Handlungsfelder beziehen.
Exemplarisch ist der historisch und politisch weit
vorgreifende Versuch Platons, die Tapferkeit von die Bewährung im Krieg zum mutigen Auftritt in der politischen
Versammlung umzuschreiben, so dass man sie bereits
mit Blick auf die Zeit um 380 v. Chr. als „Zivilcourage“
begreifen kann.1
Unter modernen Bedingungen gibt es zwei prominente Angebote, die Eigenart des Menschen so zu benennen, dass darin eine Auszeichnung einer ihm wesentlichen Fähigkeit hervorspringt. Das ist zum einen
die Autonomie, die Kant als dominantes Merkmal des
sich selbst bestimmenden vernünftigen Wesens ausmacht, und zum anderen die Souveränität, die Nietzsche als vorzügliche Eigenart des „freien Geistes“ hervorhebt.
Beide Begriffe können angemessen natürlich nur in
ihrem theoretischen Umfeld verstanden werden. Aber
in aller Kürze kann man sagen, dass sie das sibi praefini1 Die Abfassungszeit des Laches, in dem Platon diese epochengeschichtliche Deutung vornimmt, wird auf die Zeit
um 380 v. Chr. datiert.
18
cog!to 07/2014
ens (Pico della Mirandola [1486] 1990), die Selbstbestimermittelten Befund und decken dadurch Defizite im
mung des Individuums auszeichnen, die zwar auf leibBedeutungsfeld der überlieferten Termini auf. Der erste
haftige Präsenz und seelische Konstanz angewiesen ist,
Begriff, die Authentizität, muss weder der Autonomie
aber nicht ohne rationalen Zugriff gedacht werden kann.
noch der Souveränität entgegenstehen, betont aber die
Bei Kant ([1785] 2004) ist das, wie jeder weiß, durch den
Einheit, genauer: die Ganzheit, ja, die Ganzheitlichkeit
Anspruch auf begriffliche Konsequenz und in Erwartung
der Präsenz einer Person, die sowohl ihre innere Einsteleiner menschheitlichen Generalisierung gegeben; aber
lung wie auch die Überzeugungskraft ihrer Wirkung auf
auch sein Kritiker Nietzsche legt alles auf Berechenbarandere umfasst.
keit im sozialen Kontext an. Nach Nietzsche (1886) kann
In der Authentizität liegt das Pathos des existenziellen
nur der als „souverain“ gelten, der unter Beweis gestellt
Denkens, das den Ernst und das Wagnis des individuelhat, dass er „versprechen darf“. Der Beleg ist durch die
len Daseins bewusst macht und vom Einzelnen fordert,
vorangehende Verlässlichkeit zu erbringen.
sich ihm zu stellen. Damit wird weder der Anspruch an
Nach allem, was man über Nietzsche weiß, könnte
das Denken noch an die intellektuelle Redlichkeit ermäman auch meinen, der „souveräne Mensch“ erweise
ßigt, aber den affektiven und emotionalen Anteilen des
sich von vornherein als derart
menschlichen Handelns wird Nach„groß“ und überlegen, dass an Es gibt bei Kant wie bei Nietzdruck verliehen. Die Folge ist, dass
seiner Fähigkeit, selbst noch „die
auch das Gewicht der äußeren Wirksche, neben der ohnehin beAusnahme zu beherrschen“2, gar
samkeit steigt. Das gilt insbesondestehenden
Geltung
physischer
nicht zu zweifeln ist. Doch dieser
re im Vergleich mit der Autonomie,
Lesart widerspricht, dass Nietz- Bedingungen, die Einbeziedie sich im Gleichmaß selbstbesche kenntlich machen will, wie hung sozialer Bedingungen
stimmten Handelns genügen kann.
man, als Mensch unter Menschen, innerhalb derer sich die in ihDie Souveränität hingegen ist
zum souveränen Menschen wird.
rem Handeln ausgezeichneten auf die Bewährung im Konflikt beEs geht um den Lernprozess, den
zogen, dessen Lösung eine lenkendas „souveraine Individuum“ zu Individuen als eigenständig zu de Hand erfordert. Der souveräne
durchlaufen hat. Und das schließt erweisen haben
Mensch muss Gegensätzen standan dieser Stelle aus, die Souverähalten können; unter Umständen
nität auf die vorgegebene „Vornehmheit“ oder gar auf
hat er ihnen gelassen zuzusehen oder er muss zu ihrer
den sogenannten „Übermenschen“ zu beziehen.
Überwindung in der Lage sein.
Also gibt es bei Kant wie bei Nietzsche, neben der
Ginge es nur um den Erfolg im Umgang mit akuten
ohnehin bestehenden Geltung physischer BedingunKrisen und Konflikten, brauchte von Authentizität nicht
gen, zu denen insbesondere die Endlichkeit der körperdie Rede zu sein. Sie ist auf die Wirkung im persönlichen
lichen Beschaffenheit gehört, die Einbeziehung sozialer
Umgang mit seinesgleichen bezogen und hält ihre WirkBedingungen innerhalb derer sich die in ihrem Handeln
samkeit im Urteil der anderen fest. Die Authentizität
ausgezeichneten Individuen als eigenständig zu erweizeigt sich im Effekt, den sie in der individuellen Resosen haben. Und diese Eigenständigkeit zeigt sich vornanz bei anderen hat. Ihre Wirksamkeit zeigt sich in der
nehmlich daran, dass sie aus eigener Einsicht handeln.
Überzeugung, die vornehmlich nahe- oder näherstehenDabei gibt Kant der Vernunft den Vorrang, während
de Mitmenschen von der Aufrichtigkeit, Ernsthaftigkeit
Nietzsche in der Souveränität die Tugend des „freien
und Entschlossenheit dessen haben, der ihnen Eindruck
Geistes“ namhaft macht.
macht und den sie damit für „echt“ und „unverstellt“
Der atmosphärische Unterschied ist groß, insbeund somit für authentisch halten.
sondere, wenn Nietzsche die „kleine Vernunft“ des
Authentizität verlangt den Eindruck aus persönliBewusstseins an die „große Vernunft des Leibes“ zu
cher Nähe; man wird ihn schwerlich über die Medien
binden und dem Wissen wie der Wahrheit die Schuld an
vermitteln können. Da man ihn aber jederzeit auch auf
der décadence aufzubürden sucht. Aber der Doppelbedie Bühne bringen, spielen und vortäuschen kann, wird
zug auf die Vernunft, die auch vom Bücher schreibenman insbesondere in den öffentlichen Medien mit fortden Nietzsche nicht preisgegebene Präferenz für das
gesetztem Authentizitätstheater rechnen können. AuWissen sowie die offenkundige Unverzichtbarkeit von
thentizität soll dann immer auch Integrität suggerieren.
Individualität, Geist und Kritik sind Indikatoren dafür,
Damit haben wir den zweiten Begriff, der Autonomie
dass Nietzsche nicht auf die begriffliche Kompetenz des
und Souveränität vornehmlich durch den Anspruch auf
Menschen verzichten mag.
personale Geschlossenheit zu ergänzen sucht. Integrität könnte als interne Vorbedingung der Authentizität
angesehen werden. Sie ermöglicht den andere überzeugenden Eindruck von einer Persönlichkeit, die ihr
Gleichgewicht und mit ihm innere Ruhe gefunden hat.
2. Authentizität und
Integrität
Zwei andere neuerdings in Umlauf gekommene Begriffe ergänzen den für Autonomie und Souveränität
2 Wie Carl Schmitt es für die Souveränität des Staates definiert hat.
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„Rein physisch gesehen gibt es das
Selbst nicht in der Art eines Gegenstands
oder eines leibhaftigen Organs; daraus
jedoch zu schließen, es sei gar ‚nichts‘
oder bestenfalls eine ‚Illusion‘, der weiß
nichts von der manifesten Wirksamkeit der
notwendig immateriellen Beziehungen in der
psychischen, sozialen und kulturellen Realität“
Das klingt nach der Idylle des Groschenromans,
kann aber den Abschluss einer wechselvollen Entwicklung, kann gewonnene Erfahrung und gelungene Reifung
anzeigen und schließt den Gegensatz unterschiedlicher
Antriebe nicht aus. Schon die Rede vom Gleichgewicht
unterstellt mindestens zwei widerstreitende Kräfte,
und es gehört zum Begriff der Integrität, dass er die eigene Anstrengung des Individuums mitzudenken sucht.
Integrität stellt sich nicht automatisch ein; sie wird
nicht als Mitgift der Natur gedacht, ist keine Eigenschaft eines jungen Menschen und kann auch nicht allein im Reflex auf Vorbilder entstehen. Sie bedarf der
Arbeit an sich selbst; sie verlangt eine Selbstdisziplin, die
im integren Menschen (so unterstellt der Begriff) alles
Zwanghafte verloren hat und sich zu einer sich frei entfaltenden, entspannt auftretenden, durch und durch persönlichen Haltung entwickelt hat.
So kann der integre Mensch auf kultivierte Weise
authentisch wirken. Er könnte als Ideal des souveränen
Menschen gelten und niemand könnte ihm die Autonomie seiner Selbstbestimmung absprechen, ohne dabei
in Verdacht geraten zu müssen, er trenne ihn von den
natürlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen
oder setze ihn in Opposition zur Lebenswelt. Zwar wäre
das, nicht nur mit Blick auf Kant und Nietzsche, eine
abwegige Unterstellung; aber sie kommt bekanntlich
vor. Doch wo immer sie Anhänger findet, kann der Begriff der Integrität für ein besseres Verständnis sorgen,
weil er den Menschen in der Vielfalt seiner inneren und
äußeren Lebensbedingungen belässt und ihm die Zeit
einer persönlichen Entwicklung zugesteht, in der er,
nicht ohne eigenen Anteil, vermutlich aber auch durch
günstige Umstände, zu dem hat werden können, der er
ist. „Werde der du bist“ wäre die Maxime, die der integre Mensch befolgt.
In philosophischen Theorien kann der Begriff der
Integrität somit auch als Interpretament von Autonomie, Souveränität und Authentizität verwendet werden.
Denn er ist geeignet, sie vom Verdacht einer Isolation
von ihren eigenen Sinnbedingungen zu befreien. Denn
wie groß der Anspruch auf eigenständiges Handeln
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auch immer sein mag: Es ist stets nur als doppeltes Integral einer Vielzahl äußerer und innerer Kräfte möglich,
die sowohl im Akt einer einzelnen Tat wie auch in der
Summe eines Lebens einen Ausdruck finden und über
dessen Gelingen man nur staunen kann.
3. Zur Fragilität des Selbst
Um das Unwahrscheinliche des Zustandekommens einer zurechenbaren Handlung wenigstens anzudeuten,
auch um damit den Zufall im Glück eines gelingenden
Lebens erahnen zu lassen, möchte ich aus der erwähnten Vielfalt der am menschlichen Handeln beteiligten
Faktoren nur einen herausgreifen, der für das Verständnis der hier behandelten Begriffe nicht unwesentlich ist:
Als Philosoph oder Sachbuchautor kann man jederzeit illustrieren, dass es das Ich oder das Selbst, das als
Träger zurechenbaren Handelns und seiner ethischen
Attribute benötigt wird, gar nicht gibt. Das Selbst, das
unter den Konditionen einer sprachfähig gewordenen
menschlichen Kultur „ich“ zu sich sagen kann, ist kein
eingebauter Identitätskörper, der aus jedem einzelnen
Wesen genau und unverwechselbar das macht, was es
ist.
Es ist vielmehr das Integral eines (wie alles Lebendige) auf sich selbst bezogenen Lebensvorgangs, der
nach außen wirken, nach innen überzeugen und dabei
von seinesgleichen in seiner Besonderheit erkannt werden muss. In Korrespondenz mit seinesgleichen hat
jeder eine Einheit darzustellen, die seinen körperlichen
und geschichtlichen Konditionen entspricht und seinen
sozialen und psychischen Konstellationen angemessen
ist. In Übereinstimmung mit seinen Lebensdaten, seinem Geschlecht, seinem Alter oder seinem Glauben hat
er in aller Veränderung eine innere Konstanz zu erweisen, die beweglich genug sein muss, um den ständig
wechselnden Situationen des Lebens gerecht werden
zu können. Zu denen gehören auch die widerstreitenden Kräfte in seiner eigenen Brust, zwischen denen das
Selbst zu einem Ausgleich finden muss, ohne mit jeder
Entscheidung als ein anderes Ich zu erscheinen.3
Rein physisch gesehen gibt es das Selbst nicht in der
Art eines Gegenstands oder eines leibhaftigen Organs;
daraus jedoch zu schließen, es sei gar „nichts“ oder
bestenfalls eine „Illusion“, der weiß nichts von der manifesten Wirksamkeit der notwendig immateriellen Beziehungen in der psychischen, sozialen und kulturellen
Realität. Die Wirklichkeit des Selbst liegt in der Wirksamkeit, die es von sich aus entfaltet und darin zugleich die
Beachtung anderer findet, die es darin erkennen. Die
Identität des Selbst ist eben das, was sich in Prozessen
der Selbstbestimmung bildet, in sozialen Interaktionen
hervortritt und sich mit ihnen wieder verliert. Sobald
die psycho-physische Wirksamkeit des Organismus
ihr tödliches Ende findet, dürfte auch das Selbst seine
Schuldigkeit getan haben.
Damit ist die Bindung des Ich wie auch des Selbst
an das Leben exponiert. Das menschliche Leben, von
dem hier die Rede ist, kann freilich nicht als eine rein
physische, auch nicht als bloß biologische Größe gelten.
Es hat immer auch eine soziale und kulturelle Dimension, wobei wir es für selbstverständlich halten, dass
Gesellschaft und Kultur keine Gegeninstanzen zur Natur, sondern vielmehr selbst Formen der Natur sind, in
denen sich die Evolution ausprägt (vgl. dazu Gerhardt
2013). An Ich und Selbst zeigt sich das schon daran, dass
sie als Wort vorkommen, dabei an die semantischen Regeln ihres Gebrauchs gebunden sind und eine logische
Bedeutung haben.
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Mit alledem sind Ich und Selbst – nicht nur innerlich
und äußerlich, nicht nur psychisch und physisch, sondern auch – in ihren sachlichen Bedeutung in den Konnex des menschlichen Erkennens eingebunden, so dass
gefragt werden muss, was ihnen in allem Wandel äußerer und innerer Umstände eigentlich die sachliche Konstanz verleiht, ohne die niemand die Chance hätte, mit
dem Anspruch aufzutreten, etwas Bestimmtes zu sagen,
wenn er die Begriffe Ich und Selbst verwendet. Auch sie
müssen sich auf „etwas“ beziehen und bedürfen dabei
eines Minimums an referentieller Kohärenz, mundaner
Korrespondenz und intersubjektivem Konsens.4
Die wird dem Menschen durch die in jedem Einzelfall von der Geburt bis zum Tod bestehende identifizier3 Nicht von Ungefähr hat der ursprünglich aus der Logik
stammende und dann in die botanische Beschreibungspraxis übernommene Terminus der Bestimmung, der bei
Kant zur Bezeichnung autonomer Selbstbestimmung dient,
vom 19. Jahrhundert an eine bemerkenswerte politische
Karriere gemacht. Er ist heute zum festen Bestandteil des
Vokabulars im Völkerrecht, in der politischen und der zivilgesellschaftlichen Praxis sowie in der Bioethik geworden.
Dabei tritt er die Erbschaft des antiken Begriffs der Selbstherrschaft an, und hat Vorläufer in der Renaissance-Philosophie, deren Sprachgebrauch sich unter neuzeitlichen
Bedingungen in keiner europäischen Sprache verliert. Zur
Begriffsgeschichte und zur systematischen Reichweite siehe Gerhardt (1999).
4 Zur Dreifaltigkeit des Wahrheitskriteriums siehe Gerhardt
(2006).
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bare „Identität“ seines körperlichen Daseins geboten.
Man kann sie heute bis in die genetische Konfiguration in der befruchteten Eizelle verfolgen, und sie bleibt
in dieser Beständigkeit oft noch weit über die Bestattung des toten (vielleicht sogar eingeäscherten) Körpers hinaus bestehen. Wer Bauten, Kunstwerke oder
wissenschaftliche Thesen hinterlässt oder zu fortgesetzten Erzählungen Anlass gibt, kann über Tausende
von Jahren hinweg als derselbe angesprochen und zum
Gegenstand historischer Verehrung und wissenschaftlicher Behandlung werden. Ich sage nur „Sokrates“, von
dem selbst nichts Schriftliches und nichts in Stein Gehauenes überliefert ist, und jeder weiß, wen ich meine.
Mit Blick auf die Identität des Individuums, um die
es in der ethischen Spezifikation eines Ich oder Selbst
geht, insbesondere wenn es um ein Urteil über dessen
Integrität zu tun ist, kommt aber eine weitere Rahmenbedingung hinzu, die es dem Einzelnen erlaubt, selbstbewusst bei dem zu bleiben, was er für wichtig hält, um
zugleich von denen, die über seine moralische Verfassung urteilen, in eben diesem Identität und Kontinuität
verleihenden Bezug als der erkannt zu werden, der er ist.
Das ist umständlich formuliert, läuft aber auf den
einfachen Sachverhalt hinaus, dass der Einzelne in seiner integren Einheit nur erfahren werden kann, wenn
er in seinem Selbst- und Weltverhältnis formal wie inhaltlich bei demselben bleiben kann, das auch seine
Mitmenschen als dasselbe erkennen. Kurz: Die integre
Person muss wahrhaftig sein und in ihrer Bemühung um
Wahrhaftigkeit, auch von den Menschen in ihrer Umgebung als konsequent erkannt werden können. Dazu
müssen auch sie sich um die Wahrheit bemühen, um
die es dem integren Menschen geht. Noch kürzer: Man
kann nicht Integrität verlangen und gleichzeitig die Bedeutung der Wahrheit in Abrede stellen.
Literatur
Gerhardt, Volker. 1999. Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart: Reclam.
–––––. 2006. „Wahrheit und Existenz“. In: Merkur, Heft 682,
60. Jahrgang: 133-143. Wieder erschienen in: ders. 2008.
Exemplarisches Denken. Aufsätze aus dem Merkur, S. 223236. München: Fink.
–––––. 2013. „Kultur als Form der Natur“. In: Mitteilungen der
Gesellschaft für Urgeschichte, Heft 12, Jg. 21: 91 – 104.
Kant, Immanuel. [1785] 2004. Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten. Herausgegeben, eingeleitet und erläutert von
Jens Timmermann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Nietzsche, Friedrich. 1887. Zur Genealogie der Moral. Leipzig:
C.G. Naumann.
Pico della Mirandola, Giovanni. [1486]1990. De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen. Übersetzt von Norbert Baumgarten. Herausgegeben und eingeleitet von
August Buck. Hamburg: Felix Meiner.
Platon. 2014. Laches. Übersetzung und Kommentar von Jörg
Hardy. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Von Volker Gerhardt
Zu unserem Gastautor:
Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Gerhardt ist Professor für praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die hier vertretene Auffassung hat er bereits in der
Selbstbestimmung (Stuttgart 1999), begründet; sie ist in
seinen Studien zur Partizipation und zur Öffentlichkeit
(München 2007 und 2012) näher ausgeführt. In Kürze erscheint: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche
(München 2014)
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RUBRIK
Personenkult
In Personenkult findet ihr Interviews mit Professoren unserer Fakultät
und anderen interessanten Denkern und Denkerinnen. In dieser
Ausgabe schweigen wir mit Christof Rapp über Platon und Aristoteles
und sprechen mit Barbara Vinken über Mode und Moderne. Das Portrait
ist diesmal dem Soziologen Erving Goffman und seinen Gedanken zur
Allgegenwart von Theater und Inszenierung in der sozialen Interaktion gewidmet,
für das wir Stefan Joller als Gastautor gewannen.
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Schweigen über Rusty
Ein Interview ohne Worte
mit Prof. Dr. Christof Rapp
Herr Prof. Rapp, wo liegt die Wiege
der Philosophie?
Welches ist das wichtigste Buch in
Ihrer Privatbibliothek?
Wie sehen Sie aus, wenn Sie Aristoteles lesen?
...und wie, wenn Sie Platon lesen?
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Natürlich sind Sie kein Philosophieprofessor. Als Rockstar
sehen Sie folgermaßen aus...
Sonnenbrille, Lederjacke, Ohrring:
Wie sähen Sie eigentlich aus,
wenn Sie kein Rockstar, sondern
Philosophieprofessor geworden
wären?
Und wie sahen Sie als Student aus?
Wie geht es eigentlich Rusty?
Das Interview führten Mathias Koch und
Daniel Hoyer. Fotos: Mathias Koch
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„Das autonome Subjekt ist
ein Fake!“
Im Gespräch mit Barbara Vinken
über Mode, Moderne, die
Philosophie und den Overall
Das Interview zu Vinkens Buch „Angezogen. Das Geheimnis der Mode“ (Stuttgart 2013) führten
Fabian Heinrich und Miguel de la Riva
cog!to: Frau Vinken, wie finden Sie eigentlich die
Kleidung der Studierenden in Ihren Veranstaltungen?
Barbara Vinken: Sehr gut. In der Romanistik haben
wir fast 90 Prozent weibliche Studierende und die ziehen sich ausgesprochen gut an. Es war schon immer so,
dass die Romanistinnen und die Kunstwissenschaftle-
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cog!to 07/2014
rinnen die am besten angezogenen Leute an der Universität sind.
cog!to: Hat sich die studentische Kleidung im Vergleich zu Ihrer Studienzeit verändert?
Vinken: Zu meiner Studienzeit zog man sich konservativer an. Bei uns gab es noch dieses Ideal von der
Jura-Studentin: Perlenkette, Flanell und Cashmere
Twinset. Das ist fast ganz weg. Man ist heute offensiv
modischer.
cog!to: Mode verändert sich und wird mit schnellem Wandel assoziiert. Warum muss sich Mode eigentlich andauernd ändern?
Vinken: Paradox, höchst paradox, das Ganze. Zum
einen ändert sich die Mode langsamer als man denkt.
Grundsätzliche Silhouettenwechsel sind nicht saisonal,
sondern haben eine Spanne von mindestens 15 Jahren.
Deshalb gibt es durchaus so etwas wie longue durée in
der Mode. Auf der anderen Seite haben wir Ketten, die
zu einer extremen Demokratisierung und damit unglaublichen Beschleunigung der Mode geführt haben.
H&M und Zara haben alle sechs Wochen eine neue Kollektion. Das sind zwei fast paradox ineinandergreifende
Bewegungen, die dazu geführt haben, dass das Saisonale, das die Mode eigentlich hat, in den Hintergrund
geraten ist. Es ist zugunsten einer Gleichzeitigkeit verschiedener Trends zurückgetreten. Gegenwärtig sehen
wir etwa zugleich den Versuch den Minirock, den unter
den Knien abschließenden Rock und den Midi, den wadenlangen Rock, wiederzubeleben. Das wäre in den
50er oder 60er Jahren undenkbar gewesen, Rocklänge
war nicht verhandelbarer Modestandard. Deshalb hat
Saint Laurent vielleicht heute mehr recht denn je, wenn
er meint, Mode sei vergänglich, Stil ewig.
cog!to: Und warum ändert sich die weibliche
Mode augenscheinlich schneller als die männliche?
Vinken: Die Männermode hat mit dem Anzug ihre
klassische Form gefunden. Wenn man sagt, der Anzug
erfülle idealtypisch die Kriterien der modernen Ästhetik, dann tut das die weibliche Mode nicht. Sie ist historistischer geblieben. Wann immer es das Bestreben
gab, die ästhetische Norm der Moderne in die weibliche Mode zu übertragen, etwa von Coco Chanel, gab es
zugleich eine Gegenbewegung – damals den New Look
von Dior. Der Männeranzug dagegen etablierte eine
Norm, deren Vorteil in ihrer fast unmodischen Beständigkeit lag. Natürlich gibt es auch da Varianten, aber
die sind geringer als bei der Frauenmode. Vor allem
ist das ästhetische Prinzip der Moderne für den Mainstream der Männermode nie in Frage gestellt worden.
Die Frauenmode, kann man sagen, besteht darin, das in
Frage zu stellen.
cog!to: Worin besteht dieses ästhetische Prinzip
der Moderne in der Mode?
Vinken: Die Ästhetik der klassischen Moderne ist
bestrebt, sich vom Stigma des Modischen zu befreien – und in der Männermode ist der Anzug darauf eine
gelungene Antwort. Der Anzug bedeckt alles außer
Gesicht und Hände. Seine Botschaft ist, dass man auf
alles Äußerliche souverän verzichten kann. Er zeigt,
dass er nicht zeigt: Die Performanz besteht darin, Performanz zu löschen. C´est très raffiné. Nietzsche hat
diese moderne Norm auf den Punkt gebracht: Der Geistesmensch distinguiert sich dadurch, dass er in seinen
Kleidern zeigt, dass er äußerlichen Prunk und Firlefanz
nicht nötig hat. Es geht um Geist und Leistung, nicht
um reizendes Fleisch. Der Anzugträger hat Wichtigeres
im Kopf als die Frisur, die er darauf trägt. Diesen Schritt
in die Moderne, meint Nietzsche, sei nur die Mode der
reifen Europäer gegangen. Abgehängt keuchen andere hinterher: die Stutzer, nichtstuende junge Männer
in den Städten. Ihr Leben gilt dem Frauendienst und
denen zu Gefallen kleiden sie sich ausgefallen. Und natürlich die Frauen, die geistlos eitel seien und denen es
darum gehe, das Fleisch reizend zu inszenieren. Und
wie macht man das? Durch Anleihen bei der Antike,
aber nicht bei der klassisch-reinen Winckelmannschen,
sondern bei den orientalisch-schwülen Antiken der Türken und Griechen. Interessant daran ist, dass Nietzsche
hier die klassischen Topoi, die die Ideologie der Mode
ausmachen, bedient, gegen die er sich sonst oft wendet: Orient und Okzident, Fleisch-Geist, oberflächlichtiefgründig, Charakter-leerer Schein.
cog!to: Der Anzugträger inszeniert sich also als
eine bloß mit sich selbst identische Person. Gegenpart dazu ist einerseits der Dandy oder Stutzer, andererseits die Frau. Sie schreiben in Ihrem Buch, die
Moden dieser beiden stelle eine „Enklave des Orients
in der Moderne“ dar.
Vinken: Die Mode ist der Moderne Dorn im Auge,
Stachel im Fleisch, eingeschlossener, ausgeschlossener Fremdkörper, orientalische Kolonie im Inneren.
„Reform“ steht wie mit Flammenschrift über fast allen
Schriften zur Mode. Es geht immer um den Auszug aus
Babel. Der Orient wird diskursiv konstruiert als all das,
was der Westen aus sich ausgrenzen, abspalten muss,
um westlich zu werden: Der Orient fördere nicht die
Selbstbestimmung, sondern unterwerfe despotisch
tyrannisch; er sei nicht fortschrittsorientiert, sondern
befangen im Kreislauf der Lüste; eitel an der blendenden Oberfläche spiegelnd appelliert er nicht an den Verstand, sondern an die Sinnlichkeit; er sei so dekadent
wie barbarisch. Diese Topoi, die den Orient als ein Anderes stigmatisieren, werden auf die Mode übertragen.
Interessant ist, dass dies auch in den Selbstzuschreibungen der Mode eine Rolle spielt: Rose Bertin, die
den ersten Modeladen in Paris eröffnete, nannte ihn Au
grand Mogol (Zum großen Mogul).
cog!to: Ist der Anzug aber nicht auch nachteilig?
Männer werden ja, verglichen mit Frauen, enorm viele Möglichkeiten genommen, sich auszudrücken und
gelten als verschroben, wenn sie dieser Norm nicht
entsprechen. Ist es für Männer möglich, sich jenseits
des Gegensatzes von Dandy und „Geistesmensch“
respektabel zu kleiden?
Vinken: Ich fürchte nicht. Aber darüber gibt es in
der Modetheorie aktuell Streit. Die Modetheorie wird
ja meistens von dandyesken Männern gemacht. Sie
bestreiten, dass die Revolution als Einschnitt, der das
Verhältnis von Mode und Geschlecht strukturell veränderte, zu sehen ist. Tatsächlich ist es auch so, dass die
wichtigsten Antimoden gegen eine normierende, das
Individuelle löschende Kleidung aus der Männermode
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ben demgegenüber, dass Sie Mode „denken“ wollen,
kommen. Aber warum? Weil in ihr die Norm viel stärker
dass ihr Wandel Gesetzmäßigkeiten folge.
und klarer ist – und gegen eine feste Norm kann man
Vinken: Ja, ich habe versucht die Geschichte der
leichter rebellieren und interessantere Abweichungen
Mode anders zu erzählen. Ich glaube, dass diese unfinden. Der Psychoanalytiker C.G. Flügel hat an der
terstellte tyrannische Arbitrarität nicht ganz richtig ist.
Zäsur der „Great Revolution“ festgehalten und witzig
Wenn man die longue durée betrachtet, kann man den
parallel dazu den Ausdruck der „Great Male RenunciatiWandel der Mode als ein Übertragungs-, Aneignungson“ geprägt. Die große Entsagung hatte allerdings eine
und Enteignungsphänomen beschreiben. Übertragen
Rückseite: indem Männer das Gewand der republikaniwird vom Männlichen ins Weibliche. Es gibt eine klare
schen Demokratien überzogen, setzten sie gleichzeitig
Entwicklung in Richtung Ästhetik der Moderne, less is
ihren Alleinanspruch auf Funktionen in der öffentlichen
more, form follows function, das Kleid an sich darf nicht
Sphäre durch. Frauen bekamen einen Platzverweis aus
ins Auge fallen. Chanel hat von sich gesagt, sie habe ihr
dem Raum der Geschichte und wurden in die PrivatheLeben lang nichts getan, als Stück für Stück die Mänit des trauten Heims verbannt. Die Sphäre von Macht,
nermode der Moderne in die weibliche Mode zu überGeld und Autorität teilten die Männer unter sich. Ein
tragen. Die Listen der Mode haben da aber einen Strich
Verlust also durch Entsagung, ja, aber er kommt mit eidurch die Rechnung gemacht. Damit nämlich ist nicht
nem großen Gewinn.
entstanden, was bezweckt war, nämlich so etwas wie
cog!to: Oft wird von Mode als etwas Demokratieine endlich moderne Frauenmode. Tatsächlich kam es
schem gesprochen. Heute kann sich jeder anziehen
zu einer Übertragung der vormodernen männlich erotiwas er will. Kommen in der Mode aber nicht auch Unschen Zonen auf den weiblichen Körper: Beine und Po:
gleichheiten zum Ausdruck?
immer kürzere Röcke, immer enger sitzende Hosen.
Vinken: Mode wird tatsächlich immer mit Moderne
Das führte zu einer Erotisierung des ganzen weiblichen
und Demokratie verbunden. Vorher gab es KleiderordKörpers von der Haarlocke bis zu den Zehenspitzen.
nungen und die wurden mehr oder weniger befolgt. Die
Das, was die weibliche Mode ausgeMode trennte Stände. Die vormomacht hat, also die Verdeckung der
derne Mode sieht sich eher als eine Ich glaube, diese unterBeine, das Zeigen des Dekolletés,
Repräsentationsmode, die gesellstellte Arbitrarität ist nicht
das verführerisch schamhafte Spiel
schaftliche Ordnung darstellt. Deszwischen Verhüllen und Zeigen,
wegen konnte man auch „Kleider ganz richtig. Wenn man die
hat sich verändert. Insofern ist die
longue
durée
betrachtet,
machen Leute“ sagen, weil die Kleigrundlegende Opposition der Mode
der das Sein ausdrücken sollten. Die kann man Mode als ein
der Moderne – nämlich nicht-marKleidungsnormen waren damals üb- Übergangs-, Aneignungskierte Sexualität vs. markierte Serigens nicht nur Usus, sondern bis ins
und Enteignungsphänomen
xualität – weder gelöscht und noch
17. Jahrhundert gesetzlich geregelt.
beschreiben.
vermindert, sondern verstärkt. Der
Das ist in der Mode der Moderne
Unisex hat – unter falscher Flagge –
nicht mehr so. Man weiß heute nicht
die sexuelle Differenz vertieft.
mehr, wie sich nun ein Herr oder eine Dame anzuziehen
cog!to: Sie schreiben an mehreren Stellen Ihres
hat. Es gibt kein Regelwerk. Dennoch: Eine Trennung
Buches,
dass die weibliche Mode immer wieder darnach sozialen Schichten hat die Männermode weitgean scheiterte, klassisch modern zu werden...
hend beibehalten, ist mit white collar vs. blue collar bzw.
Vinken: … scheitert – oder diese Ästhetik zersetzt.
Bürger- vs. Arbeitsuniform Klassenmode geblieben. Bei
Das
ist die Frage.
der weiblichen Mode ist das weniger evident. Bei Fraucog!to:
Warum eigentlich nicht sagen: Hand aufs
en definiert sich das nicht über den Arbeits-, sondern
Herz – Nietzsche und die anderen Feinde der Mode
eher über den Heirats-, oder den Sexmarkt. Letztlich ist
haben Recht. Eigentlich ist es schade, dass die Frauauch das eine Art Klassenmode: Manche Frauen müsenmode
nie modern wird. Beauvoir etwa schreibt in
sen ihre Reize unmissverständlich an den Mann brinDas
andere
Geschlecht: „Die Gesellschaft verlangt
gen, andere haben das nicht nötig und können souvegerade von der Frau, daß sie sich zum erotischen
rän über ihre Reize verfügen.
Objekt macht. Das Ziel der Moden, denen sie untercog!to: In Ihrem Buch referieren sie zwei sozioloworfen ist, besteht nicht darin, sie als ein autonomes
gische Modetheorien. Die eine betont den „kleinen
Individuum zu enthüllen, sondern sie der männlichen
Unterschied“ und betrachtet Mode als ein Medium
Begierde als Beute anzubieten.“ Sollten sich Frauen
sexueller Reize. Die andere betont den „feinen Unnicht doch wie Männer anziehen?
terschied“ und betrachtet Mode als ein Spiel mit ZeiVinken: Viele glauben ja, dass emanzipierte Frauen
chen, in dem sich die höheren von niederen sozialen
und
geistvolle Männer besseres zu tun haben, als auf
Klassen abgrenzen – und dazu mal auf kurze, mal
diese oberflächliche Blödsinnigkeit Zeit zu verschwenauf lange Röcke verfallen. In diesen Theorien würde
den – die in der weiblichen Mode nur dazu diene, sich
Mode als ein arbiträres Spiel mit Zeichen erscheinen;
zum Objekt der männlichen Begierde zu verdinglichen.
was man anzieht ist nicht an sich bedeutungsvoll,
Die Frage ist, ob das so ist und ich würde sagen: Nein,
sondern dient der sozialen Abgrenzung. Sie schrei-
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cog!to 07/2014
das ist natürlich nicht so. Erst mal ist kein Mensch ein
autonomes Subjekt, das ist ein Fake, und bestenfalls
eine Phantasie. So sehr ich Simone de Beauvoir in vielerlei Hinsicht bewundere, aber dieses Phantasma eines
autonomen Subjekt, tut mir leid, das ist phallizistische
Subjektphilosophie, völlig überholt. Die Mode scheint
mir, tut etwas ganz anderes. Auch den Mann enthüllt sie
nicht als „autonomes Individuum“. Der Anzug schafft
zum einen den politischen und gesellschaftlichen Körper der modernen Republiken. Zum anderen erschafft
er so etwas wie eine falsche Transzendenz. Eine Transzendenz, die ich nicht besonders erstrebenswert finde. Denn der Anzug tut auf gewisse Weise das Gleiche,
was die Kleider des Königs getan haben, bloß mit anderen ästhetischen Mitteln: Er ist die Ikone der Republiken. Er schafft diesen Amtskörper, der über das Individuelle hinaus geht. Er hebt den individuellen Körper in
einem Kollektivkörper auf. Damit verleugnet der Anzug
das Hier und Jetzt, die Hässlichkeit, die Entstellung, das
Sein zum Tod, aber auch die Schönheit, die nur jetzt ist.
Der Anzug verdrängt oder verleugnet in seiner Idealisierung das, was das Menschsein ausmacht: Vergänglichkeit, aber auch die Schönheit der Vergänglichkeit,
also den Moment. Der Herr im Anzug scheint ganz Herr
im Haus; aber diese narzisstische, sicherlich sehr beruhigende Illusion ist mit der Psychoanalyse ein für alle
mal den Bach runter gegangen; asujeti, wie Lacan sagt,
ist man eben nicht Herr im eigenen Haus: Boss. Die Hingabe an den Moment, nicht alles beherrschen zu kön-
nen, der Vergänglichkeit unterworfen zu sein, – all das
verleugnet der Anzug. Deswegen denke ich nicht, dass
der Weg so sein sollte, wie Beauvoir das denkt, nämlich
dass Frauen der vom Männlichen her gedachten Subjektnorm entsprechen sollten. Ich denke, es wäre besser, dem ins Gesicht zu blicken, was unser Dasein ausmacht – und das tut die Mode.
cog!to: Und wenn Beauvoir schreibt, dass die
weibliche Mode verdinglichende Geschlechterperformanzen produziert, dass sich Frauen wie Dinge betrachten, an denen zu arbeiten ist, um das Älterwerden so lange wie möglich aufzuschieben – das fänden
sie nicht überzeugend? Sie würden weibliche Mode
anders beschreiben?
Vinken: Total anders. Wenn sie sich z.B. Vivienne
Westwood anschauen, dann stellt die kein erotisches
Ideal her; sie ver-rückt fetischistische, verdinglichte
Vorstellungen von „Weiblichkeit“. Sie zeigt, wie diese
hergestellt, wie sie gemacht werden. Insofern ist Mode
ein oft abgründig ironischer, zersetzender Kommentar
zu Geschlechternormen. Es geht um Ent-Stellung. Sie
können – mit den Kleidern von Westwood – diese verdinglichte Sexnorm neben sich her tragen, ohne sie verkörpern zu müssen. Sie tragen die Differenz zwischen
idealer Norm und ihrem individuellen Körper spazieren.
Und das ist etwas, das alle interessante Mode, egal ob
Sie Gaultier, Westwood, Rei Kawakubo oder Margiela nehmen, macht. Deswegen wäre es eine gute Idee,
einfach mal besser hinzugucken. Dann würde man auch
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als lebendige Wesen mit unserer Umwelt interagieren, und verbindet jeweils kognitive,
affektive und willentliche Dimensionen. Fragen nach Sinn und Wert und Wissensfragen
sind in ihr eng aufeinander bezogen. Normativ hat die Kultur der Moderne die Erfahrung gewöhnlicher Menschen enorm aufgewertet, doch gleichzeitig wird unsere Welt
immer stärker von der methodischen Erfahrung der (Natur-)Wissenschaften und der
von ihr ermöglichten Technik bestimmt. Ersetzt nun wissenschaftliche die gewöhnliche
Erfahrung oder ergänzt und korrigiert sie diese? Wie verhalten sich Fakten und Werte
zueinander und was ergibt sich daraus für unser Verständnis von Demokratie?
Matthias Jung entwickelt zunächst ein integriertes Konzept gewöhnlicher Erfahrung
und nimmt dabei Einsichten u. a. aus Hermeneutik, Phänomenologie, Pragmatismus
und Kognitionswissenschaften auf. Daraus ergeben sich drei exemplarische Problemfelder: Wissen, Werte und Weltanschauung. Ihnen sind jeweils eigene Kapitel gewidmet.
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von diesen Vorstellungen – Loos etwa spricht von Mode
als „schrecklichem Kapitel der Kulturgeschichte“ – loskommen. Die Mode ist nämlich nicht nur eines der reizendsten, sondern eines der geistreichsten Kapitel der
Kulturgeschichte. (lacht) Sie hat unglaublichen Witz.
Im Übrigen reduziert diese Vorstellung die Mode auf
vollkommen vereinfachte Reiz-Reaktion-Schemata des
Behaviourismus, lange Beine, blonde Haare etc., Auslöser für bedingte Reflexe.
cog!to: Karl Lagerfeld hat einmal gesagt: „Jemand, der eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ In ähnlicher Richtung
schreiben Sie, dass Funktionskleidung noch nicht
einmal dazu tauge richtig hässlich zu sein. Woher
diese Abneigung?
Vinken: Ausnahmsweise bin ich da mal mit Karl Lagerfeld einverstanden. Wissen Sie, das ist in etwa so wie
mit der Sprache. Man kann schön sprechen und man
kann langweilig platt, hässlich sprechen. Es ist besser,
man spricht nicht langweilig platt. Eine Jogginghose zu
tragen ist so wie hinter jedem Satz selbstbestätigend
und selbstvergewissernd „genau“ zu sagen.
cog!to: Sie schreiben, dass Jogginghosenträger
die Stadt nicht mehr als Salon oder als Fläche, auf der
man sich zeigt und zugegen ist, wahrnehmen, sondern als eine Art Parcours, den es möglichst bequem
und effizient zu durchqueren gilt.
Vinken: Die Verleugnung des öffentlichen Raumes
bestimmt die Art, wie wir uns kleiden, sehr stark. Die
Monade im survival camp ist eine offenbar verbreitete Vorstellung: „Die anderen sind zu viel, die sollten
da besser weg. Ich will hier durch und ich will die auch
nicht sehen, und was machen die denn da“ – they’d better vanish. Ich glaube, dass es bei Mode eher um so etwas geht wie Höflichkeit. Mode eröffnet einen Raum,
in dem man sich begegnen kann, in dem man nicht
sagt, wir wollen uns eigentlich gar nicht begegnen, weil
was ich hier tue ist Selbstbehauptung und was du hier
tust ist auch Selbstbehauptung. Then what? Dick waiving, very boring. Das ist so etwas wie Ausradieren des
öffentlichen Raumes, Negation der Blicke. Sagen wir,
dass das nicht eben eine wirklich anziehende Vorstellung ist.
cog!to: Wir haben uns gefragt, warum Mode selten Gegenstand philosophischer Betrachtung wurde.
Und wenn sich Philosophen dann doch einmal mit
Mode beschäftigten, wurde sie wie z.B. bei Nietzsche
als schöner Schein betrachtet, der von der Wahrheit
ablenkt – tiefgründiger Betrachtung unwürdig. Woher diese Vorbehalte? Ist die Ablehnung der Mode
vielleicht auch „typisch deutsch“?
Vinken: Die deutschen Philosophen haben die Subjektphilosophie, von der Psychoanalyse dann vom Tisch
gewischt, maßgeblich verbrochen. Das protestantische, bürgerliche, deutsche 19. Jahrhundert des selbstredend männlichen Bildungsbürgers war maßgeblich
an der Konstruktion der Mode als einer orientalischen
Kolonie beteiligt. Es gibt natürlich Vorläufer wie Rous-
30
cog!to 07/2014
seau und Republikaner wie Emile Zola, die den selben
Topos ausgearbeitet haben. Sie können das übrigens
auch heute noch in ihrem Fach sehen, etwa bei der Reaktion der deutschen Philosophie auf Bewegungen wie
Dekonstruktion oder Poststrukturalismus: Man spricht
von leerem Wortgeklingel, nichtssagendem, aber trügerisch verführerischem Oberflächenspiel; signifikantenverliebt. Das gehe nicht in die Tiefe und sei ethisch
irrelevant, wenn nicht gar gefährlich. Man sollte in
Rechnung stellen, dass diese Topoi einen erstaunlichen
Beharrungscharakter haben. Die prägen unsere Art die
Dinge zu sehen, oft über Jahrhunderte hinweg. Hinter
unserem Rücken, wie Gadamer das sagte, bestimmen
diese Gemeinplätze unser Denken. Man kann das vielleicht auch so beschreiben: Nachdem in Frankreich die
Bourgeoise eher aristokratisch geprägt wurde, ist auch
das Weibliche nicht ganz ausgerottet worden, was immer ein auf das Erscheinen hin ausgerichteten Moment
hat. Das wird eher wertgeschätzt, als dass es automatisch mit Verachtung oder Geringschätzung, aber auch
Angst und Ambivalenz, bedacht wird.
cog!to: Welchen Einfluss auf die Mode haben Religionen? In romanisch-katholisch geprägten Ländern
wird, hat man den Eindruck, mit Mode anders umgegangen wird als im protestantischen Kulturkreis.
Vinken: Das Misstrauen gegen eine kosmische Ordnung, der der Mensch zum Schmuck und zur Zierde
gereicht, ist in protestantischen Kulturen ohne Zweifel
stärker ausgeprägt als in katholisch beeinflußten Kulturen. Die sich in ihrer Schönheit zeigende Welt wird
als täuschendes Blendwerk begriffen; es gilt, hinter den
schönen Schein zu sehen.
cog!to: Die Theoretiker die Mode als arbiträres
Spiel mit Zeichen betrachten, das Klassen- oder Geschlechtsgegensätze medialisiert, konzipieren auch
immer ein Ende der Mode, das erreicht würde, wenn
die Klassen oder Geschlechtsgegensätze überwunden sind. Loos witzelte in einem Vortrag von 1927
einmal, dass dank der „amerikanischen Weltherrschaft“ bald der Overall eingeführt werde, der dann
auch die Festkleidung sein wird.
Vinken: Der Overall war ja mal in Mode, und wissen Sie, wer den am meisten nach vorn brachte? Die
konstruktivistischen Designer in der Sowjetunion der
1920er Jahre. Es ist aber – Loos wird das erleichtern
– nicht allbeherrschend geblieben. Mode inszeniert
und performiert durchaus Identität und Authentizität;
gleichzeitig stellt sie diese aber auch als etwas Gemachtes aus. Man könnte sagen: Sie nimmt das alles
ein bisschen auf den Arm. Und daran ist offensichtlich
etwas Lustvolles, das uns sehr gefällt und von dem wir
nicht lassen wollen. Diese Lust verhindert, dass wir
jetzt hier im Overall sitzen – und man kann ja nur sagen:
Gott sei Dank, oder? Obwohl man einwenden könnte:
kommt immer drauf an, welcher Overall. Die Utopie einer modelosen Gesellschaft ist, scheint mir jedenfalls,
überholt. Im Moment steht die Frage im Mittelpunkt,
was mit dem Anzug passiert und ob sich darüber das
Die Zeit ist
eine Fassade
Geschlechterverhältnis ändert. Interessanter als
die Frage nach einem Ende der Mode ist, denke
ich, die Frage, ob eine Mode wie etwa die des
Dandys oder die Antimoden, die aus der männlichen Mode kommen, Mainstream werden könnten. Das heißt, ob wir die Geschlechterordnung
der Moderne hinter uns lassen. Das würde, wenn
es gut geht, mehr Mode heißen. (lacht) But only
God knows.
cog!to: Zum Schluss eine persönlichere Frage: Sie wurden einmal vom Monopol Magazin
die „glamouröseste Professorin Deutschlands“
genannt. Wird man in der glamourfernen
deutschen Universität mit einer Lust an Mode
manchmal belächelt oder schief angeguckt?
Vinken: Je n´y pense pas.
cog!to: C´est bien.
Foto: Kurt Rade
Das Interview führten Fabian Heinrich
und Miguel de la Riva
Hermann Schmitz
Phänomenologie der Zeit
336 Seiten. Gebunden
€ 29,–
ISBN 978-3-495-48627-6
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Barbara Vinken ist seit 2004 Professorin
für Allgemeine und Französische Literaturwissenschaft an der LMU München.
Sie interessiert sich gerade, wie sie
sagte, für Schneeberge über südlichen
Seen und überhaupt alles Romanische.
Zu ihren letzten Buchveröffentlichungen zählen „Flaubert – Durchkreuzte Moderne“ (Frankfurt 2009) sowie
„Bestien – Kleist und die Deutschen“
(Berlin 2011) . Gerade überlegt sie, ob
Deutschland ein Land für Frauen ist.
Mode interessiert sie von Kindesbeinen
an; ihre Mutter war Designerin. Fabian
und Miguel gestehen, dass sie vor dem
Interview mit einer Modetheoretikerin
überlegten, was sie bloß anziehen sollten. Letztlich verfielen sie auf den Klassiker: weißes Hemd und dunkle Stoffhose.
Im üblichen Verständnis gilt die Zeit als Rahmen
und Ordnungsform des Geschehens. Die phänomenologische Betrachtungsweise gräbt tiefer bis zu den
Schichten der Zeit, die für Identität, Subjektivität,
Einzelheit und die Welt (im bestimmten Singular)
benötigt werden. Zu Beginn der Untersuchung wird
unter anderem die ursprünglich intensive Natur der
Dauer und der Überschuss der offenen Zukunft über
die geschlossene aufgedeckt. Anfang und mögliches
Ende der Zeit und deren Aporien werden ebenso behandelt wie die Zeitform des Ganges der Geschichte.
Ein ausführliches Schlusskapitel sichtet die Geschichte der Zeit in den Händen der Philosophen.
B
cog!to 07/2014
VERLAG KARL ALBER
31
Weshalb du mir nicht
sagen kannst, wer du
wirklich bist
Erving Goffman im Portrait
Von Stefan Joller
Während einige das Leben extrovertierter
Superstars führen und spätestens nach
ihrem Ableben im Dunst der Popkultur
verschwinden, machen es andere anders.
Erving Goffman (1992-82) lebte als Marginal
Man und avancierte nach seinem Tod zum
Superstar der Soziologie: International
bekannt, viel zitiert, verehrt von den Einen
und verachtet von den Anderen. Mit seinen
feinen Analysen des Alltags veränderte er
nicht nur die Soziologie, sondern ebenso das
Selbstverständnis seiner Leserschaft.
E
rving Goffman in der Rubrik Personenkult zu portraitieren, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Nur
wenige Wissenschaftler von seinem Format erwehrten
sich derart systematisch
der öffentlichen Darstellung. Es existieren gerade
einmal eine Handvoll Interviews, in denen er dann
auch noch betont, dass
Vorstellungen von wissenschaftlicher Arbeit nicht
durch Fragen an den Autor,
sondern an dessen Texte
geschaffen werden sollten.
Hinzu kommt mit der
medial vermittelten Portraitierung eine soziale
Praxis, die zwar zweifelsohne zum öffentlichen Bild einer Person beiträgt, für
die sich Goffman aber doch herzlich wenig interessierte
– seine Faszination galt der Interaktion von Angesicht
zu Angesicht.
Bekannt wurde Goffman vor allem durch seine viel
zitierte Theatermetapher, die heute in keiner soziologischen Einführung mehr fehlt. Bereits in seiner ersten
Monografie The Presentation of Self in Everyday Life
(1959; dt.: Wir alle spielen Theater) gibt sich sein charak-
32
cog!to 07/2014
teristischer Forschungs- und Darstellungsstil zu erkennen. Eine scharfe Beobachtungsgabe in Verbindung mit
einer eingängigen Sprache, in der er Busfahrten oder
Warteschlangen ihrer vermeintlichen Trivialität entledigt.
Nach wie vor erhitzen seine Texte die Gemüter von
Fachkollegen, Nachbardisziplinen und populärwissenschaftlichen Rezipienten, die darin entweder einen der
bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts oder
aber die Verkörperung impressionistischer Beliebigkeit erkennen. Obschon sich Goffman kaum an kritischen Diskussionen seiner Schriften beteiligte, finden
sich immer wieder Stellen, an denen er oft humorvoll
– teils als überheblich attestiert – kritische Argumente
aufgreift, nur um die eigene methodologische Position
hochzuhalten: „Sicherlich sind viele dieser Daten von
zweifelhaftem Wert, und auch meine Interpretationen
– zumindest einige – mögen
fragwürdig sein, aber ein tastender und vielleicht großzügiger spekulativer Ansatz
zur Erforschung eines fundamentalen Verhaltensbereichs
erscheint mir besser zu sein
als totale Blindheit ihm gegenüber“ (Goffman 2009: 20).
Mit ebensolch scharfsinniger
Leichtigkeit referiert Goffman auch gerne zunächst
unsystematische Beobachtungen, ohne sich in umfassenden Erklärungen der Datengrundlage zu ergehen. Nirgends erfolgt dies aber
unreflektiert und grundlos.
Diese stete Reflexion knüpft an die fallibilistische
Haltung des amerikanischen Pragmatismus an, der
Goffman durch seine Zeit an der Universität Chicago
und dem Kontakt zu der äußerst prominenten Chicago School of Sociology prägte. Die urbanen Studien aus
Chicago, die ohne Berührungsängste unterschiedlichste Subkulturen durch teilnehmende Beobachtung er-
schließen, gingen auch an Goffman nicht spurlos vorbei. Deutlich ist diese ethnografische Ausrichtung in
seinen oft mehrere Monate dauernden Feldforschungen wiederzuerkennen: Bei den Bewohnern der kleinen
Shetland-Insel Unst (1959), in einer psychiatrischen Klinik (1961; 1963) oder auch in den Spielcasinos von Las
Vegas (1967). Wenn Goffman also alltägliche Interaktionen mit Hilfe von Begrifflichkeiten wie jenen des Rollenspiels, der Rollendistanz, der Vorder- und Hinterbühne oder der Selbstdarstellung analytisch durchdringt,
so verweist dies weniger auf einen pathetischen Ausruf
der Welt als großer Bühne, denn auf Erkenntnisse seiner Studien, die selbst wiederum zur Analyse des Alltags genutzt werden können.
„Wir alle spielen Theater“
- Über die Dramaturgie
des Alltags
Das Theater beginnt sobald „ein Einzelner mit anderen
zusammentrifft“ (Goffman 1969: 5). In diesem Sinne
lässt Goffman keinen Zweifel an seiner soziologischen
Grundhaltung in der Tradition Georg Simmels. Wie ist
Gesellschaft möglich? lautet die basale Frage, deren
Beantwortung nicht das Individuum, sondern die soziale Situation fokussiert. Denn hier treffen die Darstellungen der Einzelnen auf die Erwartungen eines
Publikums, welches stets interpretierend und mitunter
intervenierend seinen Teil zur Aufführung beiträgt. Rollenverteilungen sind folglich dynamisch, soziale Situationen fragil und das Publikum selten nur ein Publikum.
Stärker noch als im ‚echten‘ Theater sind die Rollen der
Darsteller direkt von den Rückmeldungen des Publikums abhängig und können sich nicht auf die Sicherheit
eines Skripts verlassen.
Gelungene Darstellungen hängen sodann nicht
nur von der Fähigkeit Einzelner ab, ihre verbalen und
non-verbalen Ausdrucksmöglichkeiten in Abgleich mit
gegebenen Requisiten und dem Bühnenbild zu kontrollieren. Ebenso bedeutend hängt das Gelingen von der
Bereitschaft des Publikums ab, die dargebotene Rolle
und die Inszenierungsleistung als solche zu bestätigen
und damit sozial zu festigen. So versucht der Einzelne
durch den Ausdruck, den er sich selbst gibt (face-work),
beim Publikum wiederum Ausdrücke hervorzurufen,
die seine Darstellung und somit sein Image (face) in
actu bestätigen.
Da das Publikum jedoch weiß, dass die Darsteller
jeweils an einer idealisierten Selbstdarstellung arbeiten, wird es aufmerksam beobachten und so den Raum
der Selbstinszenierung begrenzen. Aktive Intervention
ist dazu meist nicht einmal nötig – bereits die Wahrnehmung der Blicke des Publikums wirkt hier disziplinierend. Goffman geht es aber nicht um einen steten
Inszenierungs- und Entlarvungskampf unter Hobbesschen Wölfen. Im Anschluss an Émile Durkheim ([1912]
1994) verweist er auf den grundlegenden Willen zur
Wahrung der expressiven Ordnung, deren rituelle Pflege die Handelnden voreinander schützt. Entsprechend
vielfältig sind die Techniken Unpassendes zu übersehen
oder zu überhören, um die Situation nicht unnötig zu
gefährden.
Doch auch wenn die Dramaturgie des Alltags nicht
grundlegend vom Kampf aller gegen alle geprägt ist,
nimmt Goffman das Spiel der Inszenierung nicht weniger ernst. Das Blut fließt zwar (meist) nur metaphorisch, auf der Bühne der Interaktion werden aber dennoch (soziale) Existenzen verhandelt. Inszenierungen
entfalten ihre kreativen Räume demnach nicht zwischen Todesangst und Mordlust, sondern im spielerischen Umgang mit Requisiten und Rollenerwartungen.
Die Publikumserwartungen an die Rolle dürfen jedoch
nicht vollständig enttäuscht werden, da sonst die Aberkennung der Rolle und somit die Gefährdung der expressiven Ordnung droht. Zugleich wird bei allzu schematischer Erfüllung der Rollenerwartungen das Image
der Darsteller leicht auf die aktuelle Rolle reduziert. So
ist die in der Einführungsvorlesung strikt Folien referierende Person auf dem Podium des gefüllten Audimax
voll und ganz Dozent – nicht weniger, aber eben auch
nicht mehr.
Die Inszenierung einer gewissen Rollendistanz kann
über unterschiedliche Formen und Intensitäten des
Engagements kontrolliert werden und subtil auf das
‚Mehr‘ verweisen, welches die Rolle per se nicht bietet.
Zwar wird das Kernengagement durch die eingenommene Rolle vorgegeben: Der Dozent referiert über
Forschungszusammenhänge und nicht über seinen
favorisierten Biergarten. Doch Nebenengagements,
wie das zeitgleiche Bereitstellen eines Wasserglases,
helfen den Eindruck zu erwecken, der Darsteller werde
nicht vom eisernen Griff der situativen Erfordernisse
paralysiert. Rollendistanz meint also nicht das Ausbrechen aus einer Rolle, indem der Dozent ausschließlich
private Anekdoten zum Besten gibt, sondern dass er
private Anekdoten scharf auf die zuvor behandelte Problematik zurückführt und so im souveränen Spiel mit
den Rollenerwartungen über die Rolle als Dozent hinauswächst.
Zwischen Manipulation
und Inszenierungszwang
Stellt Goffman die Gesellschaft also unter Generalverdacht, wenn sich Jede und Jeder um vorteilhafte Selbstinszenierung bemüht? Ja – aber nicht im Sinne eines
darstellerischen anything goes oder einer Omnipräsenz
gezielter Manipulation. Natürlich ist Täuschung möglich. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Situationsdefinition allein dem Darsteller obliegt. Selbst wenn er
seinen Ausdruck in manipulativer Absicht zu kontrollieren versucht, sind die Routinen zur Entlarvung berechneter Spontaneität weitaus ausgereifter als jene der
Manipulation. Gleichviel ob es sich dabei um Blicke auf
Hinterbühnen handelt, auf denen Darstellungen vorbe-
cog!to 07/2014
33
reitet werden und Hochstapler vor ihrem Galaauftritt
ein breites Lächeln aufsetzen, oder aber um das Gefühl,
der schicke Anzug passe nicht so recht zu dem gerade
etwas groß geratenen Schluck aus dem Weinglas.
Goffman begründet die Unmöglichkeit der vollständigen Ausdruckskontrolle nicht anthropologisch durch
unser animalisches Erbe, sondern über die sozialen
Rahmen (frame), die der Darstellung zwingende (aber
nicht statische!) Gesetze vorgeben. Diese Anbindung
der Techniken der Imagepflege an situative Rahmen
begrenzt den Spielraum des Einzelnen und macht zugleich auf die Notwendigkeit der Deutung aufmerksam.
Jeder Einzelne muss sich fragen, was in der gegenwärtigen sozialen Situation vor sich geht. Denn nur durch
diese Interpretation hat er die Chance sich angemessen zu verhalten. Selbstinszenierung ist also nicht das
Handwerk der Trickdiebe, Bauernfänger und Hochstapler, sondern das Schicksal eines jeden interagierenden
Individuums.
Die Frage nach dem Echten, dem Authentischen,
der wahren Identität, dem Maskenträger hinter der
Maske, verweist auf das Problem, dass in sozialen Situationen immer nur ein Teil individueller Selbstwahrnehmung eine Bühne findet. Dieses Gefühl der stets
bloß fragmentarischen Entfaltung in Gesellschaft nährt
gleichzeitig das Verlangen, den sozial sichtbaren Teil
des Gegenübers auf das Verborgene hin zu befragen
und so die Maske zu entfernen. Während der Wegbereiter der Chicago School William James ([1890] 2010) und
später auch Georg Herbert Mead ([1934] 1967) noch
Identitätskonzepte entwarfen, die sich mit der Relation von Innenwelt und Außenwelt beschäftigen, vertritt
Goffman hier eine radikal soziologische Position. Vor
dem Hintergrund der Selbstwahrnehmung als (mehr
oder minder) kohärenter Entität und der Schwierigkeit dieses positive Gefühl sozial einzulösen, fokussiert
Goffman die soziale Dimension der Identität. Diese für
Goffman typische Herangehensweise verleitet ihn zur
provokanten These, dass im besten Falle nicht dem
Darsteller, sondern der dargestellten Rolle ein Image
zugeschrieben wird. Das Image ist also nicht die darstellende Person selbst, sondern dramaturgische sowie
dramatische Wirkung ihrer Selbstdarstellung in einer
sozialen Situation – und dadurch stets nur eine Leihgabe der Gesellschaft (Goffman 1969: 231).
Die Frage, ob nun eine Darstellung authentisch ist,
beantwortet Goffman aus pragmatischer Perspektive:
Mit James fragt er nicht danach was wirklich ist, sondern was wirklich wirkt. In diesem Sinne kann eine Darstellung Authentizität einfordern, wenn im Wechselspiel von Rollenerfüllung und Distanz die Abweichungen als konsistent und unkontrolliert erscheinen – ob
diese jedoch tatsächlich unkontrolliert erfolgten, wird
pragmatisch eingeklammert. Wenn das Image also sozial konstruiert wird und sich die Selbstwahrnehmung
in sozialer Interaktion auf diese Leihgabe beziehen
muss, dann steckt im Verlangen nach Authentizität der
Wunsch nach einer Wirklichkeit, die nur in ihrer sozialen Interpretation erfahrbar ist – oder in den Worten
Goffmans: „Es besteht also ein statistisches und kein
inhärentes Verhältnis zwischen Erscheinung und Wirklichkeit“ (ebd.: 66).
Literatur
Von Stefan Joller
Durkheim, Émile. [1912] 1994. Die elementaren Formen des
religiösen Lebens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Goffman, Erving. 1959. The Presentation of Self in Everyday
Life. New York: Doubleday & Company Inc.
–––––. 1961. Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates. New York: Doubleday
Anchor Books.
–––––. 1963. Stigma. Notes on the Management of Spoiled
Identity. Englewood Cliffs: Prentice-Hall.
–––––. 1967. Interaction Ritual: Essays on Face-to-Face Behavior. New York: Doubleday Anchor Books.
–––––. [1959] 1969. Wir alle spielen Theater. 5. Auflage, München: R.Piper & Co. Verlag.
–––––. [1963] 2009. Interaktion im öffentlichen Raum, Frankfurt a.M.: Campus.
James, William. [1890] 2010. “The Self and Its Selves”, in:
Lemert, Charles (Hrsg.). Social Theory, S. 161-166. Boulder: Westview Press,
Mead, Georg Herbert. [1934] 1967. Mind, Self, and Society
from the Standpoint of a Social Behaviorist. Herausgegeben von Charles W. Morris. Chicago: University of Chicago Press.
Stefan Joller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Soziologie der Universität Koblenz-Landau. Er studierte von 2005-2011 in Luzern und Konstanz Soziologie mit
Schwerpunkt Organisations- und Wissenssoziologie und trat
im Anschluss eine Stelle an der Universität Magdeburg an.
Derzeit promoviert er über die mediale Inszenierung öffentlicher Akteure im dynamischen Feld der Skandalberichterstattung. Erving Goffman lernte auch er in einer Einführungsvorlesung kennen und stellte bald fest, dass dies nicht der
erste und letzte Kontakt bleiben sollte – weder im privaten
noch im wissenschaftlichen Alltag.
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cog!to 07/2014
RUBRIK
SCHULENSTREIT
Im Schulenstreit wird zu kontroversen Themen in der
Philosophie Stellung bezogen. Ulrich Metschl, Erasmus Mayr und
Stephan Sellmaier gewannen wir diesmal dafür, die Frage zu erörtern,
ob man sein kann, wer man will.
cog!to 07/2014
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Kann man sein, wer man
will?
Von Zwiespalt, Lebenslügen und
Bedauern
Von Ulrich Metschl
Es gilt als ausgemacht, dass es dem modernen
Subjekt offen steht, sich stets selbst neu zu
erfinden. Doch unabhängig davon, ob man
mit dieser Aussicht eher eine Chance oder
eine Drohung verbinden will, erscheint eine
solche Auffassung nicht nur der gemeinen
Lebenserfahrung als übertrieben. Die
Vorstellung, es könne eine voraussetzungsfreie
Wahl der eigenen Ziele und Pläne ohne
Risiko geben, ist für die Ethik und die
Entscheidungstheorie erst recht fragwürdig.
D
ie Geschichte, die Ford Madox Ford seinen Helden
John Dowell in dem Roman The Good Soldier erzählen lässt, mag, wie Fords ursprünglich vorgesehener
Titel lautet, in der Tat „die allertraurigste Geschichte“
sein. Sie handelt von Freundschaft, Liebe, Verrat und
der tragischen Verstrickung in die gesellschaftlichen
Konventionen der englischen und neuenglischen Oberschicht in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Aber
das Unheil, von dem Dowell berichtet, entfaltet sich
nicht ganz mit der unausweichlichen Schicksalhaftigkeit einer griechischen Tragödie. Dowells Schuld, ohne
welche eine Tragödie bekanntlich nicht zu haben ist,
liegt in seiner Weigerung, den Tatsachen in Gestalt seiner ihn jahrelang hintergehenden Gemahlin Florence
sowie dem schwächlichen Charakter des befreundeten Edward Ashburnham, der seiner Sentimentalität
nicht Herr wird, ins Auge zu sehen. Kein übermächtiges
Schicksal ist es, das die beteiligten Personen ins Verderben zieht, sondern ein grotesker Mangel an Willen zu
Aufrichtigkeit seitens Dowells selbst. Sollte Unwissenheit tatsächlich ein Segen sein, dann hat John Dowell
jedenfalls gründlich missverstanden, wie das gemeint
sein könnte.
Am Ende der Geschichte, nachdem sich nicht nur
seine Gattin Florence das Leben genommen hat, sondern auch ihr Liebhaber Edward, findet sich Dowell einsam auf Edwards Landsitz wieder, nur noch der Pflege
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cog!to 07/2014
der der geistigen Umnachtung anheimgefallenen letzten Geliebten Edwards verschrieben. Doch obwohl er
sich schließlich der Wahrheit nicht mehr verweigern
kann, bleibt die Frage offen, was Dowell tatsächlich
wann gewusst haben könnte und wie groß sein Anteil
an den schuldhaften Verstrickungen ist. Hätte er sich
entscheiden können, die Dinge, die da über neun Jahre
vor sich gingen zwischen Florence und Edward, früher
zu wissen? War es gar eine willentliche, wenn auch nicht
ganz bewusste Entscheidung, es lieber nicht zu wissen?
Wäre es ihm nicht überhaupt ein Leichtes gewesen,
entschlossen sein Schicksal in die Hand zu nehmen und
Herr über das eigene Leben zu werden?
Es bedarf jedenfalls einigen Wohlwollens, um Dowell nur in einem Zwiespalt gefangen zu sehen zwischen treuer Ergebenheit, gesellschaftlicher Konvention und einem klein bisschen Mut zur Ehrlichkeit, ein
Zwiespalt, in dem er sich unseligerweise meistens für
das Falsche entschied. Dowell ist kein Mann, dem man
in der ganzen Geschichte recht trauen kann. Den Leser
beschleicht mehr als nur ein vages Gefühl, dass ausgerechnet er der größte Schurke in dem ganzen Stück gewesen sein könnte. Wie immer sein Charakter am Ende
zu bewerten ist, und der aristotelischen Idee der Tugendhaftigkeit als vernunftgemäßer Lebensform wird
er sicher nicht gerecht – es bleibt der Eindruck eines
Mannes, der gefangen in Konflikten zwischen Wahrhaftigkeit und Rücksichtnahme, zwischen blanker Indolenz
und Selbstbeherrschung sein Leben verfehlt.
Konflikt und moralische
Entscheidung
Konflikte wie diese, so hat uns John Dewey gelehrt,
sind das Korn für die Mühlen der Ethik (Dewey & Tufts
1932). Zu welchem Zweck aber diese Mühlen betrieben
werden, ist Gegenstand philosophischer Auseinandersetzung. Wer an aristotelische Tugenden glaubt, tut
sich mit einem Urteil über Dowells moralisches Versagen noch vergleichsweise leicht. Wer auf der Autono-
mie des Individuums besteht, die mit
realen Möglichkeiten, das eigene Leben wählen zu können, einhergehen
muss, tut sich schon schwerer.
Sartre etwa, der Dewey, was die
Rolle von Konflikten betrifft, zunächst
nicht widersprochen hätte, war der
Ansicht, dass das zur Freiheit regelrecht verurteilte Individuum im moralischen Konflikt den Moment findet,
sein eigenes Wesen zu bestimmen
(Sartre [1946] 1989). Doch diese Absage an jedes vorgängig bestehende Gefüge von moralischen Normen
und Werten wäre Dewey zu weit gegangen. Für ihn war ein moralischer
Konflikt vielmehr der Anlass, eine Art
ethische Forschung anzustrengen.
Notwendig wird eine entsprechende
Untersuchung, weil die unter situativen Gegebenheiten in einen moralischen Konflikt führenden Normen
und Werte mit eben diesem Konflikt
ihre handlungsorientierende Funktion verloren haben. Für handelnde
Personen bedeuten moralische Konflikte eine praktische Verunsicherung.
Eine erfolgreiche Untersuchung würde daher mit einer Neuordnung des
Wertegefüges enden müssen, die uns
genauer über Reichweite und Anwendungsbedingungen der uns leitenden
Normen informiert, deren uneingeschränkte Vereinbarkeit zuvor unkriAlbrecht Dürer (1471-1528), Melencolia I, 1514. Kupferstich, 24,1 x 19,2 cm.
tisch unterstellt worden war.
Deweys pragmatisches Bemühen um Problemlövoraus. Diese sind, als Grundlage nicht nur ethischer
sung scheint bescheiden im Vergleich zu Sartres VorBeurteilungsmaßstäbe, ihrerseits nicht immun gegen
stellung, sich im Akt der Wahl selbst erfinden zu könRevision. Deweys Anspruch, dass moralische Konflikte
nen. Und doch kann bei genauerer Betrachtung eher bei
durch eine ganz dem Geist neuzeitlicher Wissenschaft
Dewey als bei Sartre von einer Wahl oder Entscheidung
verpflichtete Untersuchung des Verhältnisses von Fakim eigentlichen Sinne die Rede sein. Dem jungen Mann
ten und Normen (sowie des Verhältnisses der Normen
in Sartres Beispiel, der sich im besetzten Frankreich
untereinander) behoben werden können, wäre unplauzwischen dem Widerstand gegen die Naziherrschaft
sibel ohne die Möglichkeit, moralische Normen hinterund dem Beistand für seine Mutter entscheiden muss,
fragen und gegebenenfalls revidieren zu können. Die
kann nichts geraten werden, weil es für diese Wahl
Konflikte, in die sich Fords Antiheld Dowell verwickelt
keine vorgängigen oder gar objektiven Kriterien gibt.
sieht, und zwar die moralischen ebenso wie die epiDoch Sartres Versuch, diesen Voluntarismus hinterher
stemischen, welche die Frage betreffen, was er wann
durch die zuversichtliche Erklärung moralisch einzufanhätte wissen oder glauben müssen, sind ein Beleg gegen, dass mit jeder derartigen Wahl zugleich die Idee
rade dafür, dass seine normativen Maßstäbe moralisch
der Menschheit ihre Bestimmung erfährt, verleiht dem
überprüft werden sollten.
Existenzialismus vielleicht eine humanistische Note, sie
Die Kritisierbarkeit von Entscheidungskriterien ist
ist aber wenig hilfreich für Zwecke der praktischen Entdaher auch ein Hinweis darauf, dass Handlungen, die
scheidungsfindung.
der kritischen Selbstreflektion nicht stand halten, nicht
Entscheidungen, auf eine nicht voluntaristische
nur als Ausdruck von Willensschwäche gewertet werWeise verstanden, sind nicht voraussetzungsfrei. Als
den sollten, bei der das erkanntermaßen Richtige aus
Resultante aus situativer Einschätzung und einer Beurpsychologischen Gründen vordergründig verlockendeteilung der Optionen bzw. ihrer Folgen nach ihrer Quaren Optionen unterliegt. Doch wie Deweys Beispiel des
lität oder Wünschbarkeit setzen sie normative Kriterien
Bankangestellten, der der Versuchung Gelder zu verun-
cog!to 07/2014
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„Normen und Werte erweisen sich als etwas den
jeweiligen Akteuren von außen Vorgegebenes –
dergestalt extern bestimmte Grenzen schränken
den Raum ein, innerhalb dessen ein Individuum
zum Autor seiner selbst werden kann“
treuen nachgibt, klar veranschaulicht, ist Willensschwäche zwar ein psychologisches Phänomen, wirft aber
keine genuin ethischen Fragen auf. Denn was am Handeln des Bankangestellten moralisch falsch ist, steht
ganz außer Frage, und zwar auch für diesen selbst.
Nun ist der Umstand, dass die Kriterien der individuellen wie übrigens auch der öffentlichen Entscheidungsfindung für revidierbar erklärt werden, kein Zugeständnis an Sartres Idee von Wahlfreiheit. Anpassungen, die im Gefüge der uns orientierenden Normen und
Werte vorgenommen werden, dienen der Wahrung der
Stimmigkeit, die mit der Kohärenz präferenzieller Ordnungen veranschaulicht werden kann. Doch auch dieser systematische Zweck ist instrumentell und ordnet
sich dem Ziel der praktischen Orientierung unter. Ein
lächerliches Streben nach Konsistenz mag, wie Ralph
Waldo Emerson einst kühl bemerkte, der Nachtalb von
Philosophen und anderen kleinen Geistern sein – doch
auch wer größer denkt, kommt an kritischer Selbstüberprüfung nicht immer vorbei. Wo die Vereitelung
eigener Ziele und der Verrat an den eigenen Interessen
drohen, wird jedenfalls die Kohärenz der Normen und
Werte, denen sich eine Person verpflichtet sieht, zu einer nicht bloß akademischen Aufgabe.
Die zeitgenössische Ethik allerdings hat den moralischen Konflikt vorwiegend in einer anderen Weise
gedeutet und zwar insbesondere als tragisches Dilemma, aus dem es kein schuldfreies Entkommen gibt.1 Ob
Antigones Wahl zwischen Gehorsam gegen den König
und ehrendem Gedenken ihres Bruders oder andere
Beispiele tragischer Konflikte aus der Literatur, für die
Moralphilosophie markierten solche Dilemmata vor allem das Ende der praktischen Vernunft.
Grenzen des sich selbst
Erfindens
Wer sich in einem nicht nur scheinbaren Konflikt zwischen Alternativen entscheiden muss, für den gibt es,
so eine verbreitete Auffassung, insofern keine richtige
Wahl, weil keine Entscheidung allen normativen Anforderungen gerecht wird. Wie auch immer sich Antigone
entscheidet, sie wird unweigerlich eine ihrer Pflichten
1 Siehe Bernard Williams (1973) sowie (1981). Andere Autoren mit einer verwandten Auffassung von moralischen
Konflikten sind B. van Fraassen oder R. Barcan Marcus.
38
cog!to 07/2014
verletzen. Soweit eine handelnde Person von der Gültigkeit solchermaßen kollidierender Verpflichtungen bzw.
konfligierender Normen überzeugt ist, kann sie den
Konflikt nur im Bewusstsein einer tragischen Verstrickung, zumindest aber mit Reue und Bedauern hinnehmen. Anhänger der Möglichkeit genuiner moralischer
Konflikte sehen in der vermeintlichen Inkonsistenz moralischer Verpflichtungen mitunter ein Argument gegen
einen naiven ethischen Realismus. Unabhängig davon
aber erweisen sich Normen und Werte als etwas den
jeweiligen Akteuren von außen Vorgegebenes – und
dergestalt extern bestimmte Grenzen schränken dementsprechend den Raum ein, innerhalb dessen ein Individuum zum Autor seiner selbst werden kann. Wieder
veranschaulicht John Dowell das Gemeinte: könnte er
ganz der sein, der er sein wollte, wie käme es dann je
zum Gefühl des tragischen Scheiterns an den Aufgaben
und Verpflichtungen als Freund, als Ehemann, ja sogar
als Person in ihrer Würde?
Unter Bezug auf Deweys Ethik hat Isaac Levi (1986)
in dieser Hinsicht allerdings Zweifel angemeldet. Moralische Konflikte als unauflösbar zu betrachten, erfolgt,
so Levi, um den Preis, den praktischen Anspruch an die
orientierende Funktion von Normen und Werten aufzugeben. Diesen beizubehalten verlangt umgekehrt einen
suspense of judgment hinsichtlich der Geltung normativer Urteile bzw. der darin mitgeteilten Verpflichtungen.
Die existenzielle Dimension des tragischen Konflikts,
auf welchen Akteure nur mit Reue reagieren können,
geht zwar unter dieser pragmatischen Betrachtungsweise verloren. Wir verstehen aber vielleicht besser, in
welchem Sinne Personen wählen können, wer sie sein
wollen. Aufgefordert, vernünftige Entscheidungen zu
treffen, die kritischer Betrachtung auch im Nachhinein
Stand halten und insofern den wohlverstandenen Interessen und Zielen einer Person entsprechen, können Akteure, die sich situationsbezogen an kohärenten Normen und Werten orientieren müssen, weder an Sartres
voluntaristisches fiat für eine creatio ex nihilo glauben
noch sich ganz der Vorstellung extern vorgegebener
Normen überlassen.
Die Freiheit des autonomen Individuums ist daher
immer auch die Freiheit, Normen und Werte zu hinterfragen, über deren Urheberschaft auch das autonome
Individuum nicht restlos verfügt.
John Dowell jedenfalls hätte sich den Ratschlag,
schon um seiner eigenen Würde willen, sich den Kon-
flikten zu stellen, um der zu werden, der er hätte sein
können, besser rechtzeitig zu Herzen genommen. Der
Rückzug in die Melancholie, der Dowells Lebenslügen
begleitet, entspricht jedenfalls kaum der pragmatischen Aufforderung Deweys oder Levis, gerade angesichts moralischer Konflikte eine vernünftige Wahl zu
treffen.
Wenn am Ende das
Bedauern bleibt
Aber auch dem Vernünftigsten ist die Melancholie nicht
fremd. In seiner Kritik an wohlfahrtsorientierten Ansätzen in der Verteilungsgerechtigkeit hat Ronald Dworkin
(1981) darauf hingewiesen, dass man auf zwei ganz unterschiedliche Arten Erfolg haben könne. Eine Person
könne zum einen insgesamt erfolgreich sein, wenn es
ihr geglückt ist, insgesamt ein Leben zu führen, das ihr
selbst als wertvoll und gelungen erscheint (overall success). Man könne aber auch erfolgreich sein hinsichtlich
der konkreten Ziele, die man sich selbst gesetzt hat,
ohne dass sich das Erreichen dieser situativ gewählten
Ziele schon zu einem gelungenen Leben summiert (relative success). Wer von einer großen Musikerkarriere
träumt, aber es wegen zufälliger Umstände oder auch
dem Mangel an dem letzten Quäntchen Talent nur dazu
bringt, gut in der musikalischen Ausbildung anderer zu
sein, mag insofern immer noch erfolgreich sein – und
kann doch ein insgesamt erfolgreiches Leben, gemessen an den eigenen Vorstellungen bestreiten (vgl. für
das Beispiel Roemer 1996: 243).
Es ist nicht klar, so Dworkin, was wir vernünftigerweise als unerfüllte Ziele eines Lebensentwurfs bedauern können, die Gegenstand egalitaristischer Kompensation sein sollten. Aber auch wenn offen bleibt, welche
Form des Scheiterns als eine unverschuldete Benachteiligung gelten kann, so sind die Reue und das Bedauern
über Entscheidungen, denen der erhoffte Erfolg nicht
gegönnt war, doch nicht nur verständliche, sondern
sogar berechtigte Reaktionen. Sie erinnern uns daran,
dass auch der Vernünftigste in einer Welt handelt, in der
nicht alle Pläne gelingen. Und vielleicht ist auch der Vernünftigste nicht davor gefeit, falschen Zielen nachzujagen. John Dowell mag moralisch versagt haben. Aber
auch solche reineren Herzens sind nicht immer die, die
sie zu sein erhofft hatten. Eben deshalb bleibt das Leben eine Herausforderung. Und genau darin beweist
sich der Wert kluger Entscheidungen.
Literatur
Dewey, John und James H. Tufts. 1932. Ethics. 2. Auflage.
New York: Holt.
Dworkin, Ronald. 1981. “What is Equality? Part 1: Equality of
Welfare”. Philosophy & Public Affairs 10: 185-246.
Ford, Ford Madox. [1915] 2012. The Good Soldier. A Tale of
Passion. Oxford: Oxford University Press.
Levi, Isaac. 1986. Hard Choices. Decision Making under Unresolved Conflict. Cambridge: Cambridge University Press.
Roemer, John E. 1996. Theories of Distributive Justice. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Sartre, Jean-Paul. [1946] 1989. Ist der Existentialismus ein
Humanismus? Frankfurt: Ullstein.
Williams, Bernard. 1973. Problems of the Self. Cambridge:
Cambridge University Press.
–––––. 1981. Moral Luck. Cambridge: Cambridge University
Press.
Zu unserem Gastautor:
PD Dr. Ulrich Metschl ist mittlerweile, nicht
nur altersbedingt, Senior Lecturer am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck.
Seine Interessen bewegen sich großflächig
zwischen schottischer Aufklärung und Sozialwahltheorie.
Von Ulrich Metschl
cog!to 07/2014
39
Kann ich sein, wer ich will?
Und wenn ja, wie:
Selbstbestimmung und
doxastischer Voluntarismus
Von Erasmus Mayr und Stephan Sellmaier
Autonomie beinhaltet nach einer
weit verbreiteten Vorstellung, dass
wir so sind, wie wir sein wollen, oder
zumindest so, wie wir es gut finden, dass
wir sind. Ein wunderbar einfacher Weg
dahin bestünde darin, einfach unsere
Vorstellung davon, wer wir sind und was
gut ist, unseren Wünschen anzupassen:
Aber steht uns dieser Weg offen?
D
ie Vorstellung, die Person zu sein, die ich sein will, und so zu sein, wie ich
sein will, ist für viele Menschen ein zentraler Bestandteil ihres Bildes von
einem selbstbestimmten und autonomen Leben. Dass ich mich selbst, wenn
ich autonom bin, in dieser Weise bestimme, unterscheidet mich nach dieser
Vorstellung gerade von Menschen, die durch äußere Umstände, ihre Erziehung
oder ihre genetische Veranlagung festgelegt sind.
Aber zugleich erscheint das Streben danach, sich in einer radikalen Weise
selbst zu bestimmen, leicht als notwendigerweise illusorisch: Denn sogar dann,
wenn ich damit, wie ich gerade bin, zufrieden sein sollte, heißt das ja noch
nicht, dass ich auch so bin, weil ich es will. Ich kann mich ja auch einfach damit
abgefunden haben, dass ich nicht anders sein kann und so meine Erwartungen
an mich der vielleicht etwas ernüchternden Realität angepasst haben. Vor allem bei zu hochtrabenden Zielen ist es eine sinnvolle – aber auch schmerzliche
– Einsicht, dass es besser ist, meine Ziele und Erwartungen an mich selbst herabzustufen und so an meine tatsächlichen Möglichkeiten anzupassen.
Da eine solche resignative Anpassung der eigenen Erwartungen an die eigenen Unzulänglichkeiten nicht wirklich unserem alltäglichen Verständnis von
Selbstbestimmung entspricht, erfordert dieses Verständnis wohl auch, dass ich
so bin, wie ich bin, weil ich es will. Mein Wunsch, wie und wer ich sein will, und
die Tatsache, dass ich so und derjenige bin, müssen nicht nur zusammenpassen, sondern diese Tatsache muss vorliegen, weil ich einen Wunsch dieses Inhalts hatte.
Aber mit dieser Vorstellung von Autonomie geraten wir, wie verschiedene
Philosophen betont haben, allzu schnell in einen Regress: Denn wie ich sein
will, hängt selbst wiederum entscheidend davon ab, wie ich schon bin. Wurde
ich in einem Mafia-Umfeld sozialisiert, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass ich
auch selbst ein Mafioso werden will. Dass ich sein kann, wie ich sein will, und
weil ich so sein will, muss also in einem nächsten Schritt erfordern, dass ich
auch die Wünsche habe, die ich habe, weil ich sie haben will. Aber warum habe
ich diese Meta-Wünsche, die Wünsche zu haben, die ich gerade habe? Nun,
40
cog!to 07/2014
wenn ich mich autonom selbst bestimmen soll, dann
deshalb, weil ich auch diese Meta-Wünsche haben will
... usf.1
Die Vorstellung, dass ich alle meine Wünsche deshalb habe, weil ich sie haben will, ist also illusorisch –
und damit ebenso die Vorstellung, dass ich bin, wer ich
bin, weil ich dies sein will. Aber sollen wir die Vorstellung, dass wir sein können, wer wir sein wollen, und weil
wir dies sein wollen, deshalb einfach aufgeben? Soll vielleicht Autonomie doch lediglich erfordern, dass wir sein
wollen, wer wir sind – gleichgültig, ob unser Wunsch
einfach nur auf der resignierten Einsicht beruht, dass
wir eh nicht anders sein können? Diese Vorstellung, die
sich schon bei den Stoikern findet – die die Einsicht in
das Unvermeidliche als wesentliches Charakteristikum
eines freien Charakters ansahen – , hat auch heute noch
ihre Sympathisanten.2
Aber sie erscheint doch als allzu weitgehend (oder
pessimistisch): Sicher ist es bezüglich bestimmter Eigenschaften, die man als Person besitzt, ratsam, sich
damit abzufinden, dass man sie hat, wenn man sie so-
die fraglichen Eigenschaften nicht einfach haben will,
sondern dass ich es auch für gut ansehe, diese Eigenschaften zu haben. Dieses Modell von Autonomie teilt
mit dem zuvor untersuchten ein reflexives Element: Es
ist entscheidend, dass wir unsere Charakterzüge und
Wünsche in einem Prozess von Selbstreflexion auch
‚unterschreiben’ können. Aber es deutet dieses ‚Unterschreiben’ nicht im Sinne von weiteren Wünschen,
sondern im Sinne von Werturteilen (vgl. Watson 1975).
Wenn ich z.B. ein altruistischer Mensch bin, der gerne
anderen hilft, dann macht mich nach diesem zweiten
Modell nicht die Tatsache zu einem autonomen Altruisten, dass ich so sein will – sondern vielmehr die Tatsache, dass ich bei einem Nachdenken darüber, wie ich
sein will, zu dem Schluss gekommen bin – oder, falls ich
explizit nachdenken würde, zu dem Schluss käme – ,
dass es gut ist, ein Mensch mit altruistischen Motiven
zu sein und nach ihnen zu handeln (weil ich z.B. einsehe, dass gute Gründe dafür sprechen, so zu sein).
Dieses evaluative Modell von Autonomie hat gegenüber einem Wunschmodell den großen Vorteil,
„Die Vorstellung, dass ich alle meine Wünsche
deshalb habe, weil ich sie haben will, ist also
illusorisch – und damit ebenso die Vorstellung,
dass ich bin, wer ich bin, weil ich dies sein will“
wieso nicht ändern kann (Obwohl: Auch in diesen Fällen
heißt das nicht immer, dass man auch so sein will – man
kann z.B. schwere charakterliche oder intellektuelle
Defizite, die man hat, zutiefst bedauern). Aber bezüglich anderer Eigenschaften erscheint ein solches Vorgehen als defaitistisch und keinesfalls autonom. Wenn ich
z.B. resigniert akzeptiere, dass ich ein leichtgläubiger
Mensch bin, und beschließe, damit zufrieden zu sein,
dann macht mich das keineswegs autonomer, als wenn
ich unglücklich über meine Leichtgläubigkeit wäre. Autonomer würde ich nur dann, wenn ich in Zukunft bei
meiner Überzeugungsbildung mehr acht gäbe und es
vermeiden würde, immer auf unzuverlässige Leute hereinzufallen, indem ich mir vor Augen halte, wie unzuverlässig sie sind.
Hinsichtlich derjenigen Eigenschaften, die dafür
mitkonstitutiv sind, wer ich bin, bin ich daher nicht automatisch autonom, sobald ich diese Eigenschaften auch
haben möchte. Denn wenn ich mich mit Eigenschaften, die ich eigentlich ändern könnte, einfach aus Resignation oder auch Selbstgefälligkeit abfinde, obwohl
mir eigentlich klar ist, dass diese Eigenschaften meine
Selbstbestimmung untergraben, macht mich das nicht
ipso facto autonom bezüglich dieser Eigenschaften.
Ein vielversprechenderes und anspruchsvolleres Modell von Autonomie verlangt demgegenüber, dass ich
dass es den oben dargestellten Regress zu vermeiden
verspricht. Der Regress entstand, weil ich, um selbstbestimmt etwas zu wollen, nach dem früheren Modell
wiederum wollen musste, dass ich dies will usf. Nach
dem evaluativen Modell muss ich hingegen, um z.B.
selbstbestimmt altruistisch sein zu wollen, keinen solchen weiteren Wunsch haben – es genügt, dass ich ein
entsprechendes Werturteil fälle.
Aber dass der oben beschriebene Regress vermieden wird, lässt das zweite oben beschriebene Problem
noch bestehen: Dass ich nämlich meine Eigenschaften
und Charakterzüge zwar als positiv beurteile, aber das
nur tue, weil ich einfach meine Auffassung darüber, was
gut ist, daran angepasst habe, wie ich selber bin – z.B.
weil ich mich dann besser fühle – oder weil ich einfach
begonnen habe zu glauben, dass ich die Eigenschaften,
die ich als gut ansehe, auch habe (und zwar unabhängig
1 Das ist eine Variante des „paradox of self-determination“
für Verantwortung, dass sich z.B. in S. Wolf (1990), Kap. 1,
oder G. Strawson (1994) findet.
2 Harry Frankfurts einflussreiches Modell von Selbstbestimmung auf der Basis einer Hierarchie von höherstufigen
Wünschen lässt z.B. zu, dass „a person can become resigned to being someone of whom he does not altogether
approve“, (1977), 64.
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41
n
n beei n f l u s se
u
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id
hm
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du
42
e ug u ngen
3 Vgl. die Unterscheidung zwischen ‚belief‘ und ‚acceptance‘
in Cohen (1992).
4 Eine andere Art, diesen Punkt zu machen, ist es, Wahrheit
als das intrinsische ‚Ziel‘ von Überzeugung ansehen, wie
dies z.B. David Velleman getan hat, vgl. ‚The aim of belief‘
in Velleman (2000).
er z
e
ng
Annahme folgt oder ich zukünftig nach bestätigenden
Gründen suchen möchte. Diese so gebildeten Überzeugungen sind aber hypothetische Annahmen, und nicht
im strengen Sinne Überzeugungen.3
Uns geht es aber im Folgenden um die Frage, ob ich
meine alltäglichen Überzeugungen direkt durch meine Entscheidungen beeinflussen kann. Könnte es beispielsweise denn nicht auch möglich sein, der zu sein,
der man sein will, indem man seine Überzeugunic h m
e i n gen über sich selbst seinen Wunschvorstele lungen anpasst? Wäre es beispielsweise
möglich, ein guter Philosoph zu werden indem ich mich – bar jeglicher
epistemischer Gründe – aus praktischen Erwägungen einfach dafür
entscheide einer zu sein? Oder falls
dergleichen zu weitreichende Folgen für die Kohärenz meines Weltbilds hätte, könnte ich mich nicht
dafür entscheiden, bestimmte lokale mich wurmende Überzeugungen
bezüglich meiner eigenen Leistungen
bzw. Fähigkeiten, meinen Wunschvorstellungen anzupassen? Könnte ich nicht einfach
beschließen zu glauben, dass mein letzter Aufsatz eine
bahnbrechende philosophische Leistung war, weil ich
dadurch sehr viel glücklicher würde – und zwar auch
dann, wenn alle dafür sind, dass er von peinlichen Fehlern nur so strotzte?
Diese Frage, ob wir überhaupt in der Lage sind,
Überzeugungen zu bilden, weil wir das wollen oder uns
entsprechend entscheiden, muss von der damit zusammenhängenden Frage getrennt werden, ob wir das
auch rationalerweise tun können. Die stärkere Verneinung des doxastischen Voluntarismus würde beinhalten, dass wir gar keine echten Überzeugungen bilden,
wenn wir uns einfach willkürlich entscheiden, etwas zu
glauben. Die schwächere Verneinung würde nur besagen, dass wir, wenn wir das tun, notwendig irrational
sind.
Für die schwächere Verneinung spricht, dass wir die
Adäquatheit von Überzeugungen danach bewerten,
inwieweit sie die epistemischen Gründe für und wieder
die Wahrheit der Aussage wiederspiegeln. Dass gute
praktische Gründe dafür sprechen, eine bestimmte
Überzeugung zu haben – dass z.B. der eifersüchtige
Ehemann sehr viel glücklicher wäre, wenn er glauben
würde, dass seine Frau ihm treu ist –, bedeutet nicht automatisch, dass diese Überzeugung auch als solche angemessen ist. Überzeugungen teilen diese Eigenschaft
– dass es nur bestimmte Charakteristika sind, die sie
angemessen machen können, und dass sich diese Charakteristika alle auf den Gegenstand der Überzeugung
und die Beziehung der Person zu diesem Gegenstand
beziehen (also auf die geglaubte Proposition und die
Gründe, die aus Sicht der Person dafür sprechen, dass
diese Proposition wahr ist) – mit anderen mentalen Zuständen, wie z.B. dem Gefühl der Dankbarkeit. Dass ich
Üb
davon, ob ich sie tatsächlich habe). Ist das nicht auch
eine mögliche Strategie, meine eigenen Eigenschaften
und meine Wertüberzeugungen einander anzupassen,
die die Mühsalen, die mit einem tatsächlichen Ändern
meiner schlechten Eigenschaften verbunden sind, vermeidet?
Diese Strategie ist aber nur dann überhaupt eine
mögliche Option, wenn ich meine Überzeugungen frei
wählen könnte – und ob ich das kann, ist alles ann
dere als klar. Sind wir bezüglich unserer UrKan
teile und Überzeugungen nicht passiv in
?
dem Sinn, dass es keinen Sinn macht zu
fragen, ob ich mich für ein Urteil oder
eine Überzeugung frei entschieden
habe, weil diese Einstellungen und
Akte unwillkürliche Antworten darauf sind, dass gute Gründe für die
Wahrheit der fraglichen Aussage
sprechen?
Die meisten von uns würden diese
Frage wohl bejahen. Sogenannte doxastische Voluntaristen hingegen gehen
davon aus, dass wir durchaus in bestimmten Grenzen uns dafür oder dagegen entscheiden können zu glauben, dass p der Fall ist. Diese Entscheidung ist für doxastische Voluntaristen nicht auf
rein epistemische Erwägungen begrenzt: Ich kann mich
auch aus genuin praktischen Gründen, die nichts mit
der Wahrheit oder Falschheit der Überzeugung zu tun
haben, dafür entscheiden, sie zu glauben.
Die Frage, ob wir uns für Überzeugungen entscheiden können oder nicht, muss streng von zwei anderen
Fragen getrennt werden, die wir relativ unproblematisch bejahen können. Zum einen können wir uns sehr
oft dafür oder dagegen entscheiden, etwas zu tun, was
bestimmte Überzeugungen in uns indirekt herbeiführt.
Es ist für mich z.B. sehr einfach, es durch eine Entscheidung zu vermeiden, dass ich eine Überzeugung hinsichtlich der Frage bilde, ob es regnet oder nicht – indem ich einfach beschließe, nicht aus dem Fenster zu
schauen und die Vorhänge geschlossen zu lassen. Und
es ist für mich genauso einfach herbeizuführen, dass ich
eine solche Überzeugung bilde, indem ich einfach ans
Fenster gehe und hinausschaue. Dass ich, indem ich
beschließe, bestimmte Evidenz zur Kenntnis zu nehmen oder nicht, in dieser Weise indirekt durch meine
Entscheidung beeinflusse, welche Überzeugungen ich
bilde, erscheint trivialerweise möglich. Ebenso – das
ist der zweite Fall – ist es für mich möglich, etwas aus
praktischen Gründen als Hypothese anzunehmen, weil
ich beispielsweise überprüfen möchte, was aus dieser
„Ist es nicht möglich, an einer Überzeugung
festzuhalten, für deren Falschheit ich gute Gründe
habe? Manchmal will ich etwas nicht glauben
oder etwas glauben, für das ich vermeintlich
schlechte Gründe habe. Zumindest in Situationen,
in denen keine durchschlagenden, nicht
hinterfragbaren epistemischen Gründe vorliegen,
scheint es doch möglich an Überzeugungen
festzuhalten, gegen die scheinbar alles spricht“
Willi dankbar bin, erfordert, dass ich glaube, dass Willi
mir etwas Gutes getan hat – wenn ich das nicht glaube,
dann kann ich rationalerweise Willi nicht dankbar sein,
auch wenn dieser Zustand für mich ungeheuer nützliche Folgen hätte. (Ich habe dann vielleicht gute Gründe,
ein Gefühl der Pseudo-Dankbarkeit bei mir herbeizuführen, um mir diese nützlichen Folgen nicht entgehen
zu lassen, aber das ist etwas anderes, als gute Gründe
dafür zu haben, Willi dankbar zu sein.) Überzeugungen
sind wie viele andere mentale Zustände Zustände, die
durch Gründe, die sich gerade auf den intentionalen Gehalt dieser Zustände beziehen, (content-based reasons)
angemessen gemacht werden, und nicht durch Gründe,
die sich auf die praktischen Vorteile des Besitzes dieser
Einstellungen beziehen (state-based reasons).4
Dies spricht stark dafür, dass es zumindest nicht rationalerweise möglich ist, sich aus anderen als epistemischen Gründen für oder gegen eine Überzeugung zu
entscheiden. Aber sollen wir auch die stärkere Form der
Verneinung der voluntaristischen These akzeptieren,
dass es nicht einmal möglich ist, eine genuine – wenn
auch irrationale – Überzeugung auf der Basis einer willkürlichen Entscheidung zu glauben zu bilden?
Ein einflussreiches Argument für diese stärkere
Verneinung hat Bernard Williams entwickelt (Williams
1970). Nach Williams stellen sich Überzeugungen für
die Person, die sie hat, auch so dar, dass sie eine von
dem Bestehen dieser Überzeugung (oder einer Entscheidung zu glauben) unabhängige Realität wiedergeben. Wenn ich eine Überzeugung habe, dass p, muss ich
also auch der Auffassung sein, dass ich das glaube, weil
p wahr ist (und nicht, dass ich meine Überzeugung unabhängig von der Wahrheit von p gebildet habe). Könnte ich mich dagegen frei und aus praktischen Gründen
für eine Überzeugung entscheiden, und mich an diesen
Ursprung meiner Überzeugung später erinnern, dann
würde dieser Zusammenhang gesprengt. Daher würde meine Erinnerung notwendig meine Überzeugung
selbst untergraben.
Aber ist es nicht möglich, an einer Überzeugung
festzuhalten für deren Falschheit ich gute Gründe
habe? Manchmal will ich etwas nicht glauben (z.B. den
Tod einer vermissten Person) oder etwas glauben, für
das ich vermeintlich schlechte Gründe habe (dass eine
Person ein Grubenunglück überlebt hat). Zumindest
in Situationen in denen keine durchschlagenden nicht
hinterfragbaren epistemischen Gründe gegen eine
bestimmte Überzeugung vorliegen, scheint es doch
möglich – wenn auch nicht besonders vernünftig – an
Überzeugungen festzuhalten gegen die scheinbar alles
spricht (besonders wenn es um negative Überzeugungen geht und ich etwas auf keinen Fall glauben will).
Fälle dieser Art scheinen Williams postulierten begrifflichen Zusammenhang zu unterlaufen. Es erscheint also
durchaus möglich, wenn auch nicht vernünftig, sich
ausschließlich aufgrund praktischer Überlegungen für
bestimmte Überzeugungen zu entscheiden.
Aber ist letzteres wirklich so, d.h. sind solche Entscheidungen notwendig irrational? Könnte nicht beispielsweise die Entscheidung des Fuchses aus der bekannten Äsopfabel, die Trauben nicht mehr zu wollen,
weil er die willentliche Überzeugung bildet, dass diese
sauer sind, eine vernünftige Entscheidung in seiner so
ausweglosen Situation sein? Und macht nicht der Fuchs
genau das, was doxastische Voluntaristen für sinnvoll
und möglich halten? Er passt seine erste Überzeugung
bezüglich der Trauben nach seinen vergeblichen Versuchen, sie von dem für ihn viel zu hohen Weinstock zu
fressen, entsprechend an. Denn das was er macht, – so
lautet es zumindest in der Fabel – ist nicht eine Veränderung seines Wunsches nach süßen Trauben, sondern
die Veränderung seiner epistemischen Überzeugung
bezüglich der Süße der erstrebten Trauben. Die von
ihm fortan als sauer geglaubten Trauben stellen für
ihn kein erstrebenswertes Ziel mehr dar. So gelingt es
ihm sein hoffnungsloses Unternehmen – die erstrebten
Trauben zu erreichen – als nicht erstrebenswertes Ziel
umzuinterpretieren.
Und ist genau dies nicht eine vernünftige, rationale
Strategie mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten umzugehen? Dieses Vorgehen hilft ihm auf alle Fälle, sich
mit seiner misslichen Situation zu arrangieren, indem
cog!to 07/2014
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er seine Überzeugungen bewußt seinen Bedürfnissen
anpasst. Aber ist dies wirklich rational – sogar dann,
wenn wir uns auf rein praktische Gründe beschränken?
Wäre es nicht vernünftiger in solchen Situationen einfach einzusehen, dass man nicht die entsprechenden
Mittel hat seine Ziele zu realisieren? Und ist nicht diese Einsicht gerade das, was zumindest uns Menschen
immer wieder zu neuen, innovativen Ideen im Umgang
mit unseren Unzulänglichkeiten antreibt? In unserem
Fall, der Erfindung von Werkzeugen wie der Leiter, zu
der wir schließlich nie gekommen wären, wenn wir beschlossen hätten, alles, was zu hoch hänge, sei zu sauer,
als dass es sich lohnen würde, danach zu streben.
Literatur
Cohen, Jonathan. 1992. An Essay on Belief and Acceptance.
Oxford: Clarendon Press.
Frankfurt, Harry. 1977. „Identification and Externality“. In:
ders. 1988. The Importance of What we Care about, S. 5868. Cambridge: Cambridge University Press.
Velleman, David. 2000. The Possibility of Practical Reason.
Oxford: Clarendon Press.
Watson, Gary. 1975. „Free Agency“. In: ders. (Hrsg.). 1982.
Free Will, S. 337-351. Oxford: Oxford University Press.
Williams, Bernard. 1970. „Deciding to Believe“. In: ders.
(Hrsg.). 1976. Problems of the Self, S. 136-151. Cambridge:
Cambridge University Press.
Wolf, Susan. 1990. Freedom Within Reason. Oxford: Oxford
University Press.
Von Erasmus Mayr und
Stephan Sellmaier
Zu unseren Gastautoren:
Erasmus Mayr ist zur Zeit Junior Research Fellow am
Queen‘s College Oxford. Stephan Sellmaier leitet
die Forschungsstelle Neurophilosophie und Ethik
der Neurowissenschaften an der LMU München
(http://www.neuro.philosophie.uni-muenchen.
de). Seine Forschungsschwerpunkte sind die philosophische Handlungstheorie, Theorie der Willensfreiheit und die Ethik der Neurowissenschaften. Er arbeitet zur Zeit an einer Monographie zum
menschlichen Handeln im Lichte neuer Erkenntnisse der Neurowissenschaften.
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cog!to 07/2014
RUBRIK
SCHNITTMengentheorie
In Schnittmengentheorie werden Artikel publiziert, die sich philosophischen
Fragen interdisziplinär nähern. Diesmal beschäftigt sich unser studentischer
Gastautor Michael Schultheis aus verschiedenen Perspektiven mit dem Mythos
und seiner Rolle in der sozialen Konstruktion kollektiver Identität.
cog!to 07/2014
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„Es war einmal, vor einer
langen Zeit...“
Die soziale Konstruktion kollektiver
Identität in Mythen
Von Michael Schultheis
Hören wir von Mythen, dann denken wir an alte Legenden, die griechische, germanische oder eine andere
Mythologie. In jedem Fall klingen sie fantastisch. Meistens handelt es sich um Geschichten und Sagen, die
mehr nach einem Hirngespinst klingen als nach einer Quelle unserer Identität. Die Bedeutung dieser Erzählungen für Kollektive wie Gruppen,Völker und Nationen ist nicht offensichtlich, aber dennoch vorhanden. Unsere Identität braucht Anhaltspunkte, an welchen sie sich orientieren kann und bisweilen beziehen Menschen
hier auch die kollektiven Einbildungen mit ein.
Soziale, nationale,
kulturelle, kollektive
Identität?
Was ist eine Nation? Wer ist Teil dieser Nation? Was ist
meine Kultur? Wer ist Teil dieser Kultur? Wichtig ist also
zu verstehen, wie Gruppen sich selbst beschreiben und
Mitgliedschaft definieren.
ass die eigene Identität von der Zugehörigkeit zu
oder dem Ausschluss von Gruppen abhängt, lässt
sich an vielen Alltagsbeispielen veranschaulichen: Sei
es, dass es um Cliquen auf dem Pausenhof geht, sei es,
dass man Fan einer bestimmten Sportmannschaft ist.
Für unser Selbstbild ist das Verhältnis zu Gruppen von
elementarer Bedeutung. Es formt die soziale Identität
von Personen. Dabei gilt es, verschiedene Ebenen der
Identität zu unterscheiden: Die kollektive, die kulturelle, die soziale als auch die nationale Identität. All diese
Aspekte beschreiben Metaebenen des Egos und stehen
in Verbindung miteinander, sind aber nicht deckungsgleich. Personen sind Teil mehrerer Gruppen und entwickeln auf dieser Grundlage eine individuelle soziale
Identität.
Gruppen und Individuen ihrerseits können wiederum Teil eines kulturellen Kollektivs sein und so eine
Identität entwickeln, die auf Aspekten wie etwa Religion, Sprache, Nation, etc. basiert. Schließlich wird die
nationale Identität im Allgemeinen als Spezialfall der
kulturellen Identität betrachtet. Sie beschreibt Überzeugungen und Verhaltensweisen, die Individuen zu einer Nation vereinen. Bei dieser Variante ist besonders
interessant, dass sie ganz offensichtlich eine Imagination sein muss, denn man kennt nicht alle Mitglieder
seiner Gruppe und dennoch existiert im Kopf das Bild
eines homogenen Kollektivs.
Eine Schwierigkeit, welche alle diese Formen von
Identität haben, ist jedoch die Definition der Gruppen.
Das Ungefähre und
Uneindeutige
D
46
cog!to 07/2014
Im Grunde beschreiben Gruppenidentitäten einen
simplen Sachverhalt, denn sie definieren nur, wie sich
ein bestimmtes Kollektiv wahrnimmt und durch welche
Mittel diese Selbstanschauung erfolgt. Nach diesem
theoretischen Ansatz äußerte sich diese Form der Identität in historischen Überlieferungen, Wertvorstellungen und Mythen. Weitere Merkmale können gemeinsame wirtschaftliche Ziele und ein gemeinsamer Plan für
die Zukunft sein. Folge dieser kollektiven Ansichten ist
in der Regel ein gemeinsames soziales Handeln. Jedoch
wirft dieser Begriff von Gruppenidentität auch einige
Probleme auf.
Eine prominente Kritik an dem Konzept einer kollektiven Identität im Singular stellt die empirische Kulturanthropologie dar. Sie argumentiert, dass Kultur als
Fluss zu beschreiben ist. Ein Mensch gehöre mehreren
Gruppierungen an, denn wir sind nicht nur Teil eines
einzigen kulturellen Kollektives. Diese definieren sich
zum Beispiel über eine gemeinsame Sprache, die Religion oder eine bestimmte Nation, etc. Allein diese drei
Punkte zeigen aber schon ganz gut die Pluralität der
menschlichen Gruppenzugehörigkeit auf, denn jede
Person würde bereits jetzt drei Kollektiven angehören.
Auch darf man nicht den Fehler machen, Identität mit
Gruppenidentität gleichzusetzen, denn die kollektive
Variante beschreibt zum Beispiel nicht die essentielin erster Instanz historische Erzählungen und Überlielen Eigenschaft einer Kultur, sondern geht aus den Geferungen, welche für sich einen gewissen Wahrheitsgewohnheiten einer Kommunikationsbeziehung hervor.
halt beanspruchen.
Gerade auch das Thema „Mythos“ lädt zu Kritik ein,
Der Mythos wird in der Regel dafür benutzt die Urdenn die Eigenschaften dieser Erzählungen schaffen
sprünge einer Kultur, eines Volkes, einer Religion, etc.
eigentlich keine gemeinschaftliche Übereinkunft. Mydarzulegen (Geschichts-, Ursprungs- und Gründungsthen sind in der Regel sehr unpräzimythen). Charakteristisch für Myse. Sie sind zwar so konstruiert, dass
then ist, dass sie akzeptiert werden,
ein Kollektiv Bezug dazu aufbauen „Der Grund, auf dem die
obwohl man kein Augenzeuge der
kann, jedoch lassen sie viel Raum für kulturelle Ordnung beruht
Begebenheit war. Ernst Cassirer
die unterschiedlichsten Interpreta- ist das Ungefähre und
führt dieses Phänomen auf die Tattionen.
sache zurück, dass der Mythos nicht
Uneindeutige“
Bernhard Giesen verdeutlicht
unterscheidet zwischen Immanenz
diesen schizophrenen Zug von Grupund Transzendenz (Cassirer 1973:
pen. Er stellt in seinen Arbeiten heraus, dass der Kern
60-80). Auch unterscheidet er nicht zwischen Illusion
eines Kollektivs nicht etwa gemeinsame Werte und
und Wirklichkeit oder den Sphären des Lebens und des
Normen sind, sondern etwas anderes: „Der Grund, auf
Todes. Der Mythos trägt also dazu bei, dass die kollekdem die kulturelle Ordnung beruht, ist das Ungefähre
tive Identität eine gewisse Fraglosigkeit konstruiert,
und Uneindeutige“ (Giesen 2013). Es gehört also zum
denn obwohl man nicht Teil der historischen GrünWesen von Erzählungen, die eine Gruppenidentität stifdungsereignissen war, werden die Mythen akzeptiert.
ten sollen, dass sie vage und interpretationsbedürftig
Durch diesen Sachverhalt entsteht natürlich eine
sind. Es liegt also sozusagen in der Natur der Sache,
gewisse Lücke, die die kollektive Identität nicht schliedass nicht trennscharf entschieden werden kann, wer
ßen kann, denn diese Geschehnisse sind einfach nicht
zur Gruppe gehört und wer nicht. Solche Fragen könempirisch beweisbar. Obwohl die meisten Mythen
nen nicht eindeutig beantwortet werden, denn wir entnachweislich auf Fiktionen basieren – vielleicht aber
scheiden individuell und unabhängig für uns selbst, wie
gerade deswegen – sind die Mitglieder einer so mit eiwir diese Fragen beantworten wollen.
ner Identität ausgestatteten Gruppe gezwungen, die
Dies könnte auch eine Erklärung dafür sein, dass wir
Erzählungen immer wieder vorzutragen und neu zu innicht nur die Elemente brauchen, welche uns als Gruppe
terpretieren, denn diese Leere ist offensichtlich gerade
vereinen, sondern auch die, die uns von anderen trenkein Problem für die Existenz einer kollektiven Identinen. Dieser Punkt hat natürlich dasselbe Problem, wie
tät. Vielmehr sind wir angehalten uns ständig mit den
die von Giesen angesprochene These zeigt, denn andeMythen unserer Gruppen zu beschäftigen und so das
ren Gruppen sind ebenfalls von Uneinigkeit geprägt und
Kollektiv am Leben zu erhalten. Der Mythos stellt eine
daher ist es schwer eindeutige Abgrenzungsmerkmale
erste Orientierungshilfe dar und fungiert damit nicht
zu finden. Die Theorie einer Gruppenidentität steht also
nur als historische Erzählung, sondern hat auch Einfluss
auf eher wackeligen Beinen. Da es aber offenkundig ist,
auf Gegenwart und Zukunft.
dass es Gruppenidentitäten gibt, stellt sich die Frage,
wer oder was sie stiftet. Hier ist eine eingehendere Betrachtung von identitätsstiftenden Erzählungen über
die Vergangenheit nötig, oder kurz: Mythen und ihre
Bei Mythen handelt sich um Illusionen, die von MenRolle innerhalb der kollektiven Strukturen.
schen konstruiert werden, die sie nicht als gegeben vorfinden. Beides wird bedingungslos hingenommen und
das obwohl die vermeintlich gemeinschaftlichen Elemente eher von Uneinigkeit zeugen, denn sowohl das
Zunächst gilt es festzustellen, dass nicht für jede GrupKonstrukt „Gruppe“, als auch Mythen geben eigentlich
penform Vergangenheitserzählungen relevant sind. Bei
keine klaren Auskünfte – weder legen sie trennscharf
Volksgruppen etwa ist der geographische Raum, die so
fest, wer zu der Gruppe gehört und wer nicht, noch, welgenannte „Heimat“, von großer Wichtigkeit. Dieser Asche Bedeutung eine bestimmte mythische Geschichte
pekt ist für andere Gemeinschaften völlig belanglos, bei
hat. Claude-Levi Strauss nannte es die „leere SignifiGruppen wie etwa einem Freundeskreis steht eher die
kante“ und meinte damit etwas Unkonkretes, dass in
Befriedigung der sozialen Bedürfnisse im Vordergrund,
seinen Augen zu allem möglichen werden konnte: „Wie
während bei Sportvereinen zum Beispiel das Ausüben
die Sprache ist das Soziale eine autonome Realität; die
der jeweiligen Sportart die gemeinsame Konstante bilSymbole sind realer als das, was sie symbolisieren, der
det.
Signifikant geht dem Signifikat voraus und bestimmt
Nach Erik H. Erikson ist neben diesem Faktor „Heies“ (Levi-Strauss 1978: 26). Da dieser Signifikant bei
mat“ primär die gemeinsame Vorstellung der VerganMythen jedoch auf Grund fehlender empirischer Fakgenheit des Kollektivs von Bedeutung und hier kommen
ten leer ist bzw. nicht genau definiert werden kann, ist
die Mythen wieder ins Spiel (Erikson 1973). Diese sind
es eben auch nicht möglich ihre Bedeutung eindeutig
Der leere Raum
Heimat und Geschichte
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zu bestimmen und damit festzulegen. Mythen werden
somit zu etwas Uneindeutigem.
Das sollte jedoch nicht als vernichtendes Urteil missverstanden werden. Nur weil etwas eine Konstruktion ist, muss das nicht heißen, dass es für die Realität
nicht von Bedeutung wäre. Ein Mythos will keine wissenschaftlichen Fakten liefern, sondern entlasten und
anregen. Unter anderen vertrat Hans Blumenberg die
Ansicht dass uns mythologische Geschichten von dem
„Absolutismus der Wirklichkeit“ befreien und wir uns
erst so den Herausforderungen des Lebens stellen
können. Er war der Auffassung, dass der Mensch einer
Realität ohnmächtig gegenübersteht, die er nur als absolut begreifen kann. Wir beherrschen also nicht die
Wirklichkeit, die Wirklichkeit beherrscht uns. Der Mythos hat nun die Funktion unsere realen Probleme erzählerisch zu verpacken, sodass es uns ermöglicht wird
einen gewissen Abstand zu gewinnen. Blumenberg ist
der Meinung, dass Distanz unbedingt notwendig ist um
eine sinnleere und übermächtige Wirklichkeit aushalten zu können (Blumenberg 1979: 9).
Dieser Punkt unterstreicht nochmal die Interpretationsfreiheit, die man bei Mythen hat, denn sie sind
auf fast alle Probleme anzuwenden. So individuell wie
wir diese Geschichten auslegen, so subjektiv nehmen
wir auch unsere Gruppen wahr. Fakt ist aber auch, dass
sie immer überflüssiger werden, denn nur noch wenige wenden diese narrative Bewältigungsmethode an
und auch als Stütze der Gruppenidentität verlieren sie
dadurch momentan immer mehr an Bedeutung. Es
gibt natürlich Ausnahmen im Bereich der nationalen
Identität und hier im Speziellen beim Nationalismus.
Schließlich aber kann man aber trotzdem feststellen,
dass Mythen für die Konstitution/Konstruktion einer
Gruppenidentität sehr wichtig sind, jedoch spielen sie
für die Mitglieder, obwohl sie natürlich von ihnen weitererzählt werden, heute keine so große Rolle mehr
wie während vergangener Jahrhunderte. Wäre eine Gemeinschaft ohne Mythen denn überhaupt denkbar?
Literatur
Blumenberg, Hans. 1979. Arbeit am Mythos. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
Cassirer, Ernst. 1973. Philosophie der symbolischen Formen.
Zweiter Teil. Das Mythische Denken. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Erikson, Erik H. 1973. Identität und Lebenszyklus. Frankfurt
am Main: Suhrkamp.
Giesen, Bernhard. 2013. Ungefähres. Gewalt, Mythos, Moral.
Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Levì-Strauss, Claude. 1978. „Einleitung“. In: Mauss, Marcel.
Soziologie und Anthropologie 1. Theorie der Magie, soziale
Morphologie, S. 7-38. Frankfurt am Main: Ullstein.
Von Michael Schultheis
Michael Schultheis studiert im 6. Semester Volkskunde/
Europäische Ethnologie an der LMU München. In der
Studierendenvertretung war er als Kulturreferent und
Geschäftsführer tätig. In der Philosophie interessiert er
sich für die Themenbereiche Identität und Kultur.
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RUBRIK
IDEENKreis
In Ideenkreis können sehr verschiedene Artikel ihren Platz finden:
Von wissenschaftlichen Analysen über journalistisch-feuilletonistische Essays
bis hin zu satirischen Darstellung. Was allen Artikeln gemein ist, ist die
Behandlung einer philosophischen oder artverwandten Fragestellung. In
dieser Ausgabe gibt uns Mathias Koch einen Überblick über John Lockes
Auffassung der Person, Fabian Heinrich erläutert, warum Forderungen nach
mehr Toleranz zeigen, dass unsere Gesellschaft noch nicht liberal genug ist
und Sandra Müller spürt den Möglichkeiten und Grenzen der
Gestaltung des eigenen Selbst nach.
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Die Schuld ist niemals
zweifellos
John Lockes Theorie der
Verantwortung auf Grundlage
personaler Identität
Von Mathias Koch
Kann ich eine Tat begehen, ohne dass ich
für sie verantwortlich bin? Ja, sagt John
Locke, denn eine Tat begehe ich als Mensch,
verantwortlich bin ich als Person. Das ist nicht
immer das gleiche, zum Beispiel dann nicht,
wenn man zu viel getrunken hat.
Ich habe einem Auto den Außenspiegel weggetreten
und muss mich dafür jetzt vor Gericht verantworten.
Meine Verteidigungslinie verläuft in etwa so: Ich bestreite, es gewesen zu sein. Diese Form der Verteidigung ist
bestechend einfach. Anstatt eine Tat aus tieferen Beweggründen zu rechtfertigen, ist man es einfach nicht
gewesen. Doch bin ich ein Student der Philosophie und
so ist für mich die Sache mit dem Ich, wie so manches,
ein wenig komplizierter. Kann ich die Tat nicht begangen haben, obwohl ich sie begangen habe?
Ich war an jenem Abend im Barschwein und hatte
dort einige Zeit getrunken. Am nächsten Morgen erwachte ich in meinem eigenen Bett und war zunächst
erleichtert: Soweit meine Erinnerung reicht hatte ich
keine Dummheiten gemacht. Dieser Glaube hielt, bis
mir meine Freunde ein Video zeigten, das sie während
des Abends von mir gemacht hatten. Darin sah man
mich, auf einem Tisch stehend und nur unter Schwierigkeiten das Gleichgewicht haltend, lautstark zu Kung
Fu Fighting von Carl Douglas grölen. Ich schämte mich
fürchterlich, als ich das Video sah. Doch je länger ich
den Betrunkenen beobachtete, desto mehr wich meine
Scham der Frage: War das wirklich ich? Natürlich zweifelte ich nicht an der Echtheit des Videos. Ich musste
wohl oder übel anerkennen, dass ich mit dem Abgebildeten in gewisser Hinsicht identisch war. Doch ohne
das Bewusstsein, in dem Augenblick auf dem Tisch gestanden und so furchtbar gesungen zu haben, blieb ich
mir auf eigenartige Weise fremd. Gab es eine andere
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Sicht auf die Dinge, in der ich nicht mit dem Abgebildeten identisch war?
Bewusstsein und
Personalität
Die Erinnerung an den Abend, das Video und mein Unbehagen verblich bereits, als mir zwei Wochen später
die Anzeige zugestellt wurde. Ich war schockiert, Gewalt gegen Menschen und Sachen ist mir völlig fremd,
doch auf der Polizeiwache wurde mir gesagt, mehrere
Zeugen hätten mich zweifelsfrei identifiziert. Mit dieser
Situation ist nicht zu spaßen, dachte ich, es ist Zeit sich
kundigen Rat zu holen.
Meine Recherche führte mich zu John Lockes An
Essay Concerning Human Understanding. Im 27. Kapitel
des zweiten Buches (Of Identity and Diversity) beschäftigt er sich ausführlich mit der Frage nach diachroner
Identität, das ist die Frage, nach welchen Bedingungen
etwas über Zeit hinweg mit sich selbst identisch bleibt.
Diese Frage lässt sich nach Locke nur beantworten, indem wir auf einen bestimmten Begriff rekurrieren und
so sagen, als was etwas mit sich selbst identisch bleiben soll. Dieser Begriff, unter den wir das Ding an zwei
verschiedenen Zeitpunkten subsumieren, gibt uns die
Kriterien an die Hand, ob wir es mit demselben Ding
dieser Art zu tun haben, oder ob es zwei verschiedene
Dinge dieser Art sind. Wenn es mir also darum geht, ob
ich jetzt derjenige bin, der früher betrunken gesungen
und Sachen beschädigt hat, so muss
im Körper einer Eiche auf bestimmich zuerst fragen, als was ich mit „Als was bin ich mit
te Art organisiert sein, und zwar
ihm identisch sein soll. Locke unter- mir identisch? Locke
derart, dass ein einheitliches Leben
scheidet drei Möglichkeiten: Identikonstituiert wird. Solange dieses
unterscheidet drei
tät als materieller Körper, Identität
spezifische Leben erhalten bleibt,
als Mensch und Identität als Person. Möglichkeiten: Identität als
haben wir es mit derselben Eiche zu
Jeweils, das ist der entscheidende materieller Körper, Identität
tun. Dasselbe gilt nun also für den
Punkt, gelten verschiedene Kriteri- als Mensch und Identität als
Menschen, und das heißt für mich,
en, ob ich identisch oder nicht iden- Person“
sodass ich als Mensch mit dem Betisch bin.
trunkenen identisch bin.
Ein materieller Körper ist genau
Doch Locke würde mir sagen:
solange mit sich selbst identisch, wie kein Atom den
Ich bin trotzdem eine andere Person als dieser. Wie
Materiehaufen verlässt oder ein neues Atom hinzukann das sein?
kommt. Offensichtlich bin ich als materieller Körper
Für die Identität als Person ist das Bewusstsein entnicht identisch mit mir zu jener Nacht, da sich meine
scheidend. Bewusstsein begleitet all unsere Gedanken
materielle Zusammensetzung seitdem fortlaufend geund Handlungen und führt diese zu einer Einheit zuändert hat, indem mein Körper manche Atome verlosammen. In dieser Einheit besteht unsere Personalität,
ren und andere neu aufgenommen hat.
das heißt, auf diese Einheit beziehen wir uns, wenn wir
Interessanter ist die Frage, ob ich als Mensch noch
von unserem ‚Selbst‘ sprechen. Indem ich mir also meiderselbe bin. Hier gibt uns Locke ein anderes Identiner Handlungen bewusst bin, eigne ich sie mir an und
tätskriterium: Die Erhaltung eines organischen Ganzen.
mache sie erst zu meinen Handlungen. Dabei erstreckt
Darin unterscheiden wir uns nicht von Pflanzen und Tiesich das Bewusstsein nicht nur auf gegenwärtige Handren. Eine Eiche bleibt solange dieselbe Eiche, wie sie ein
lungen, sondern in Form von Erinnerung auch auf verorganisches Ganzes ist, egal welche Atome sie in dieser
gangene. Indem ich mir einer vergangenen Handlung
Zeit aufnimmt oder abgibt. Was bedeutet das genau?
im gegenwärtigen Moment bewusst bin, indem ich
Während bei einem bloßen Materiehaufen die Atome
mich also an sie erinnere, mache ich diese vergangene
beliebig angeordnet sein können, müssen die Atome
Handlung zu meiner Handlung.
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Locke veranschaulicht diesen Gedanken wie folgt:
Angenommen es wäre im gegenwärtigen Moment Teil
meines Bewusstseins, die Arche Noah während der
Sintflut gesehen zu haben, ebenso wie es Teil meines
Bewusstseins ist, gestern in den Park gegangen zu sein.
So wären beide Handlungen – die Arche Noah gesehen
zu haben und in den Park gegangen zu sein – Teil meiner gegenwärtigen Person, sodass ich sagen würde: Ich
habe die Arche Noah gesehen und ich bin in den Park
gegangen. Eine vergangene Handlung gehört nicht
deshalb zu meiner gegenwärtigen Person, weil ich derselbe Mensch bin, der damals gehandelt hat und bis
heute dasselbe organische Ganze geblieben ist. Es ist
offenbar, dass ich nicht derselbe Mensch bin, der die Arche Noah gesehen hat (wenn es überhaupt einen Menschen gab, der sie gesehen hat). Derselbe Mensch zu
sein und dieselbe Person zu sein ist nicht das gleiche.
Personalität und
Verantwortung
Indem ich mir also im gegenwärtigen Augenblick sowohl meiner aktuellen als auch meiner vergangenen
Gedanken und Handlungen bewusst bin, führe ich diese zu einer Einheit zusammen und konstituiere mich so
als Person. Das bedeutet aber: Alle Handlungen, auf die
sich mein gegenwärtiges Bewusstsein nicht erstreckt,
an die ich mich also nicht erinnern kann, gehören nicht
zu mir als Person. Wenn sich mein gegenwärtiges Bewusstsein nicht auf den Moment erstreckt, in welchem
ich das Auto beschädigt habe, dann war es tatsächlich
nicht ich selbst, der das getan hat, sondern ein anderer.
Das heißt, es war kein anderer Mensch, aber eine andere Person.
Welche Konsequenz hat diese Unterscheidung? Für
Locke ist sie entscheidend für die Frage, wofür jemand
verantwortlich gemacht werden darf. Verantwortung
richtet sich für Locke einzig nach Identität als Person.
Steht die Frage im Raum, ob ich eine bestimmte Handlung ausgeführt habe und ob ich deshalb dafür zur Rechenschaft gezogen werden kann, so bezieht sich das
‚ich‘ auf zweierlei: Was die Ausführung der Handlung
betrifft, so ist mit ‚ich‘ der Mensch gemeint. Nur Menschen, nicht aber Personen führen Handlungen aus. Bei
der Frage, ob ich für die ausgeführte Handlung zur Rechenschaft gezogen werde, meint das ‚ich‘ die Person.
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Nur die Person, nicht aber der Mensch verantwortet
Handlungen. Es spielt also keine Rolle, dass derselbe
Mensch gehandelt hat, es war eine andere Person. Freispruch, ha!
Leider ist es nicht ganz so einfach. Ich kann nämlich nicht beweisen, dass ich mich nicht erinnern kann.
Könnte ich das, müsste ich nach Locke auf jeden Fall
freigesprochen werden. Dagegen steht es außer Zweifel, dass ich derselbe Mensch bin, der das Auto beschädigt hat. Ich werde also wahrscheinlich bestraft werden, wegen der für mich ungünstigen Beweislage. Lockes Theorie der Verantwortung ist hier mit einem gravierenden Problem konfrontiert: Eigentlich soll jemand
verantwortlich sein aufgrund seiner Identität als Person
und nicht aufgrund seiner Identität als Mensch. Da sich
meine Personalität jedoch allein durch unmittelbare
Selbstzuschreibung vergangener und gegenwärtiger
Handlungen konstituiert, ist sie für andere prinzipiell
unzugänglich. Als einen Menschen können mich andere identifizieren, meine Personalität bleibt ihnen jedoch
verschlossen.
Locke war sich dessen wohl bewusst, er sah darin
aber kein größeres Problem. Menschliche Gerichtsbarkeit hat für ihn nur vorübergehende Bedeutung. Eine
wahre Beurteilung nach unserer Personalität erfolgt
erst gegenüber Gott. Seine Allwissenheit erlaubt ihm,
mein Bewusstsein zu kennen: ‚In the great Day […] no
one shall be made to answer for what he knows nothing
of; but shall receive his Doom, his Conscience accusing
or excusing him’ (Locke 2008: 216).
Während der Verhandlung habe ich versucht, dem
Richter den Unterschied von Identität als Mensch und
als Person zu erklären und ihm nahegelegt, sich mehr
an einer göttlichen Gerichtsbarkeit zu orientieren. „Ich
war es nicht, obwohl ich es eigentlich war, verstehen
Sie? Es ist alles eine Frage des Begriffs!“ Ihm war diese
Strategie der Verteidigung erstaunlich unzugänglich.
Von Mathias Koch
Literatur
Locke, John. 2008. An Essay Concerning Human Understanding. Oxford: Oxford University Press.
Liberalismus und Toleranz
Deckungsgleich oder
spannungsreich?
Von Fabian Heinrich
„Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? Hat
nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge,
Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben
Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt,
denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben
Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben
dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr
uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt,
lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben
wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns
nicht rächen? Sind wir euch in allen Dingen ähnlich,
so wollen wir‘s euch auch darin gleich tun“ (Shakespeare 2004: 43f.).
Szenenwechsel. Deutschland, Februar 2014: Als im
Vorfeld der jährlich stattfindenden Islamkonferenz, der
Vorsitzende der türkischen Gemeinde, Kenan Kolat,
dem Bundesinnenminister einen Forderungskatalog
vorlegt, der die zukünftigen Themen der Konferenz bestimmen sollte, war der publizistische Aufschrei groß.
In dem Katalog wurden unter anderem muslimische
Seelsorger in Gefängnissen und Krankenhäusern und
mehr wertschätzende Aussagen von Politikern zum Islam gefordert, um seine öffentliche Wahrnehmung zu
verbessern. Größter Stein des Anstoßes war die Forderung nach einem muslimischen Feiertag in Deutschland. Kurz darauf sagte der Kölner Kardinal Meisner bei
einer Veranstaltung der konservativen katholischen Bewegung „Neokatechumenaler Weg“: „Ich sage immer:
eine Familie von euch ersetzt mir drei muslimische Familien.“ Etwa zur gleichen Zeit spricht Wolfgang Thierse in einem Zeitungsinterview davon, dass die Ehe zwischen Mann und Frau ein erstrebenswertes Ideal unserer Gesellschaft sei.
Zwischen 1600 und 2014 liegt ein langer Weg. Da
fragt man sich, warum Toleranzforderungen noch immer von so vielen Seiten so vehement geäußert werden. Eine Antwort darauf könnte so lauten: Unsere
Gesellschaft ist keine klassisch liberale Gesellschaft.
In einer wirklich liberalen Gesellschaft würden die beschriebenen Szenen nicht stattfinden können. Denn
Liberalismus und Toleranz sind zwei sich bedingende
Begriffe. Liberalismus wird in westlichen Demokratien
oft falsch verstanden und nur unzureichend praktiziert.
Nur aus dieser Schieflage des Liberalismus erklären sich
die Toleranzforderungen. Denn eine wirklich liberale
Gesellschaft ist eo ipso eine tolerante Gesellschaft. Die
Gleichung ist einfach: Wer liberal ist, und so handelt, ist
tolerant. Wer tolerant ist, und so handelt, ist liberal.
Die Ambivalenz dieser Stelle liegt auf der Hand: Eine
Toleranzforderung zur Befriedigung von Rachegelüsten. Auf der einen Seite wollen wir Shylock zustimmen
und seinen Appell an Menschlichkeit unterschreiben.
Auf der anderen Seite beschleicht den Leser ein unangenehmes Beklemmen. Die Wut und die Lust auf Rache
für zuvor erduldetes Unrecht scheinen auf den ersten
Blick verständlich, sind aber in letzter Konsequenz logische Folgen aus einer sich immer tiefer bohrenden
Spirale der gegenseitigen Intoleranz.
II
Wollten wir den Liberalismus auf einen allgemeinen
Nenner bringen, so können wir die bekannte Aussage
anführen, dass die Freiheit des Einzelnen dort endet,
wo die des Anderen beginnt. Diese Ansicht vertrat u.a.
John Stuart Mill, einer der Gründungsväter des Liberalismus. Freiheit ist für ihn der erste und stärkste Wunsch
der menschlichen Natur, der es ihm ermöglicht, sich
selbst zu entfalten. Staatliche Interventionen müssen
weitestgehend zurückgewiesen werden, da sie den
Forderungen nach Toleranz gegenüber anderen
sind in liberalen Demokratien laut und vielfältig.
Dabei sind diese Forderungen nur Symptom
einer Gesellschaft, in der sich der Liberalismus in
einer misslichen Lage befindet. Warum es in einer
wirklich liberalen Gesellschaft keiner Forderung
nach Toleranz bedarf.
I
enedig um 1600: In Shakespeares Kaufmann von
Venedig kommt es im dritten Akt auf dem Rialto zu
einer beeindruckenden wie verstörenden Szene. Der
Jude Shylock darf endlich seinen Anspruch auf ein Stück
Menschenfleisch aus der Brust des christlichen Kaufmanns Antonio in die Tat umsetzen. Dieser hatte sich
nicht an die zuvor vertraglich geregelten Bedingungen
eines Zinsgeschäftes gehalten und soll nun leiden. In
der Hoffnung um Milde wird Shylock von Antonio gefragt, ob er nicht lieber Gnade walten lassen wolle. Was
Shylock darauf entgegnet, gehört zu den bekanntesten
Toleranzforderungen der Weltliteratur:
V
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Einzelnen in seiner freien Entfaltung behindern. Der
Mensch gehört sich selbst und ist sein eigener Gesetzgeber: „über sich selbst, über seinen eigenen Körper
und Geist ist der einzelne souveräner Herrscher“ (Mill
1988: 16). Der Liberalismus eröffnet also dem Einzelnen
ein enorm weites Feld auf dem er sich erfahren und ausbreiten kann. Keine andere politische Idee der Geistesgeschichte räumt dem einzelnen Menschen solche Entfaltungsmöglichkeiten ein. In eine ähnliche Richtung
gehen die Gedanken Immanuel Kants. Für ihn hat jeder
Mensch qua seines Menschseins unveräußerliche Rechte. Kant nennt dieses Recht „Freiheit“ und führt aus:
„Freiheit (unabhängig von eines Anderen nöthigender
Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist
dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft
seiner Menschheit zustehende Recht“ (AA VI. 37).
Es scheint zu einer langen Tradition des liberalen
Selbstverständnis zu gehören, dass die Freiheit einer
Person ihre natürliche Grenze bei der Freiheit einer anderen Person findet. Im liberalen Freiheitsverständnis
wird also nie nur die eigene Freiheit betrachtet, sondern
ebenso die Freiheit des Anderen mitgedacht. Denn um
die Grenzen meiner eigenen Freiheit zu erfahren, muss
ich die Grenzen der Freiheit des Anderen kennen. Individuelle Freiheit kann man also nicht nur als ein Einzelphänomen betrachten, sondern sie koppelt sich immer
auch an die Mitmenschen, deren Freiheitssphäre man
nicht verletzen darf.
Dieser Kernpunkt des liberalen Selbstverständnis
steht in engem Zusammenhang mit der Toleranz. Denn
das Ausüben meiner Freiheit kommt ganz prinzipiell
immer mit einer Zumutung daher, nämlich dem Dulden
der Freiheitsausübung anderer. Dabei muss man weder Sympathien, noch Akzeptanz dafür aufbringen, ja,
man kann die Freiheitsauslebung eines Anderen auch
schlecht heißen und ablehnen, aber eines muss sie ein
Liberaler in jedem Fall: dulden. Es gibt keinen rational
nachvollziehbaren Grund dafür, die Freiheiten anderer
einzuschränken, weil einem persönlich diese Lebensführung missfällt. Liberalismus heißt insofern: Duldung
von Andersheit.
III
Nun könnte mit Goethe eingewendet werden: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein. Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden
heißt beleidigen“ (Goethe 2006: 23).
Bedarf es also mehr als Toleranz? Bedeutet dulden
tatsächlich beleidigen? Zwar muss man einräumen,
dass Duldung auch eine Ablehnung beinhalten kann,
aber das hat zunächst keine Auswirkungen auf das
friedliche Miteinander. In einer Gesellschaft unter Gleichen in dem Sinne, dass jeder Mensch die gleichen basalen Rechte und vor allem im persönlichen Lebensentwurf die gleiche Wertigkeit hat wie jeder andere auch,
ist Toleranz eine durchaus ausreichende Gesinnung um
ein friedliches Zusammenleben zu garantieren. An-
erkennung und Akzeptanz können möglich sein, aber
nicht erwartet oder eingefordert werden. Sollte der
Fall eintreten, dass eine aus Ablehnung erfolgende Duldung in Übergriffe auf diese Person umschlägt, ist der
Staat gefordert einzugreifen. Übergriffe sind in keinem
Fall zu dulden.
Doch der springende Punkt an den Forderungen
nach Anerkennung und Akzeptanz ist der folgende:
Eine solche Forderung, die über die Toleranz hinaus
geht, kann nur in einer Gesellschaft geäußert werden,
die keine gänzlich liberale ist. Nur in einer Gesellschaft,
in der beispielsweise eine Religion vom Staate bevorzugt behandelt wird, wird eine andere Religion nach
Anerkennung rufen. Nur in einer Gesellschaft – wie
unsere aktuelle – in der eine bestimmte Lebensart
als die Richtige und Gute angesehen wird, kann nach
Gleichberechtigung der anderen gerufen werden. Doch
gegen solch ein Verständnis des guten Lebens für alle
wendet sich der Liberalismus: Das gute Leben setzt
jeder selbst. Keine Gemeinschaft, keine Gesellschaft,
kein Staat und kein anderes Individuum als ich selbst
kann mir eine Definition über ein gutes Leben aufzwingen. Was ich als gut erachte, soll die gleiche Wertigkeit
besitzen wie das, was mein Nachbar als gut erachtet.
Solch ein Verständnis wird gemeinhin als Toleranz bezeichnet.
IV
Es zeigt sich: Liberalismus und Toleranz bedingen sich.
Die Spannungen, die wir heute in den liberalen Demokratien erleben, rühren aus besagter Schieflage des
Liberalismus. Eine tatsächlich liberale Gesellschaft
kennt keine bevorzugte Lebensform. Eine liberale Gesellschaft kennt auch keine Steuervorteile für Ehegatten, kennt kein Betreuungsgeld und kein Rauchverbot.
Was eine liberale Gesellschaft kennt, ist Verantwortung
für das eigene Handeln und Toleranz für das eigenverantwortliche Handeln anderer, so sehr es einem auch
widerstreben mag. Die liberale Botschaft ist daher simpel: Sei tolerant und handle verantwortungsvoll.
Von Fabian Heinrich
Literatur
von Goethe, Johann Wolfgang. 2006. Maximen und Reflexionen. München: C. H. Beck.
Kant, Immanuel. 1797. Die Metaphysik der Sitten, AA VI
Mill, John S. 1988. Über die Freiheit. Stuttgart: Reclam.
von Mises, Ludwig. 2006. Liberalismus. 4. Auflage. Sankt Augustin: Academia Verlag.
Shakespeare, William. 2004. Der Kaufmann von Venedig,
Stuttgart.
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Zwischen Determination
und selbstgewählten
Möglichkeiten
Wie weit reicht die eigene
Verantwortung für das Selbst?
Von Sandra Müller
Kann man seine Identität nach eigenen Wünschen
gestalten oder ist das Selbst Spielball seiner
sozialen Umgebung und des Schicksals? Die
folgenden Reflexionen decken die Grenzen
der Gestaltbarkeit von Identität auf: was kann
als Kriterium einer gelungenen Lebensführung
dienen und als Maßstab zur Beurteilung
divergierender Lebenskonzepte herangezogen
werden?
„Das bin ich“ – fast nichts ist für uns so selbstverständlich wie diese Feststellung. Doch was ist dieses Selbst?
Ist es ein Produkt unserer Entscheidung oder der gesellschaftlichen und biologischen Bedingungen denen wir
unterliegen? Je mehr ich mich damit beschäftige, desto
rätselhafter werden mir mein eigenes Selbst und ebenso die Lebenskonzepte meiner Mitmenschen. Denn
an die eigene Wahl der Lebensverwirklichung schließt
sich die Frage nach der Verantwortung als Mitglied der
Gesellschaft an und damit auch die Beurteilung der Lebenswege im Vergleich. Was berechtigt einen dazu auf
den eigenen Lebensentwurf stolz zu sein und anderen
vorzuwerfen, sie hätten Chancen nicht genutzt oder
würden sich im Wege stehen? Gibt es einen Grund dafür, dass man jemanden, der sich mit vollem Einsatz
an die Spitze eines Unternehmens gekämpft hat, mehr
Anerkennung zollt als dem Sohn des Chefs?
Mögliche Antworten auf die Frage nach der Genese des Selbst offenbaren zunächst zwei Tendenzen.
Einerseits ist man geneigt zu sagen, jeder sei für sein
Leben und dessen individuelle Ausgestaltung selbst
verantwortlich. Sonst würde sich eine Handlung nicht
von bloßem Verhalten unterscheiden. Ein Heiratsantrag und ein zufälliger Blick, der als Flirt interpretiert
wird, wären damit gleichwertig. Ebenso wenig gäbe
es einen eigenen Willen, der zur Handlung veranlasst.
Der Mensch wäre damit eingebettet in die natürliche
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Kausalkette ohne die Möglichkeit bewusst selbst eine
Ursache zu sein.
Lebenspraktisch hätte dies fatale Wirkung. Denn
räumt man dem menschlichen Handeln nicht zumindest eine gewisse Autonomie, Freiheit des Willens oder
Eigenverantwortlichkeit ein, landet man in einer Situation der Gleichgültigkeit. Ob man sich so oder anders
entscheidet, spielt keine Rolle. Bei Cicero findet sich
dieser Gedanke, den man als αργὸς λόγος kennt: „Ist es
über dich verhängt, von dieser Krankheit zu genesen,
so magst du einen Arzt beziehen oder nicht, du wirst
genesen. Ferner: ist es über dich verhängt, von dieser
Krankheit nicht zu genesen, so magst du einen Arzt beiziehen oder nicht, du wirst nicht genesen. Das Eine aber
oder das Andere ist vom Schicksal verhängt; folglich ist
es zwecklos, einen Arzt zu gebrauchen“ (Cicero: 28f.).
Dieser Schritt in Richtung Determinismus und fatum
scheint gerade in unserer heutigen Zeit kontraintuitiv.
Rechtzeitige Diagnose und Medikation entscheiden offenbar über das Weiterleben. Überlässt man seinen Lebensweg dem Schicksal und der göttlichen Vorsehung,
kann das leicht zur Selbstaufgabe führen: Wer sollte
denn dann entscheiden, urteilen oder kommunizieren?
Um das zu verhindern, muss man dem Menschen einen
gestalterischen Einfluss auf sein Leben einräumen.
Eine erste Tendenz zur Beantwortung der eingangs
aufgeworfenen Fragen sucht daher Eigenverantwort-
lichkeit in einem Vermögen der Freiheit. Platon beendet seine Politeia mit einem Mythos, der skizziert,
man würde sein körperliches und Zwängen unterliegendes Menschenleben in einem präexistentiellen Zustand durch Los frei wählen. Die Stoa versucht in der
Das In-der-Welt-Sein als
Grenze der Freiheit
συγκατάθεσις einen Raum für moralische Verantwortung und Entscheidungsfreiheit zu finden. Zwar könne
man äußere Umstände nicht ändern, wohl aber den
Umgang mit seinem Schicksal: „Wer will, den führt das
Schicksal, Doch ansonsten schleppt es ihn“ (Seneca:
107, 11). Und spätestens im Zuge der Aufklärung wird
die Freiheit in Zusammenhang mit der menschlichen
Vernunft gebracht. Sucht man nach Freiheit, vermutet
man sie am ehesten in einem innerlichen und geistigen
Vermögen. Die Grenzen des Körperlichen sind zu offensichtlich. Es ist vergänglich, begrenzt und abgegrenzt
zu anderem.
Die zweite Tendenz auf der Suche nach dem Selbst beschäftigt sich mit den Grenzen der menschlichen Freiheit. Nicht alles unterliegt dem eigenen Plan: wer in der
Welt handelt, setzt sein Tun lebensweltlichen Einflüssen und äußeren Umständen aus, die es verändern und
zu einem der Absicht gänzlich verschiedenen Ergebnis
führen.
Man kann das die Bedingtheit unseres Handeln
durch das In-der Welt-Sein nennen. Darunter verstehe
ich zunächst die Grundvoraussetzungen der Lebensgestaltung: die Beschaffenheit des eigenen Körpers als
auch die kulturellen, gesellschaftlichen Strukturen, in
die wir mit Eintritt in diese Welt und Zeit geworfen wurden. Es ist offensichtlich, dass eine erste wichtige Voraussetzung für das Selbst die Gesundheit ist. Deshalb
wird sie in der medizinethischen Debatte auch als „Primärgut“ (Schöne-Seiffert 2008: 178) bezeichnet, denn
sie sei ähnlich wie eine materielle Grundversorgung,
Ausbildung und Arbeitschancen Ausgangspunkt für die
Verwirklichung der eigenen Lebenspläne. Ernährung,
Freizeitgestaltung, Berufswahl und Tagesablauf unterliegen zuallererst der körperlichen Beschaffenheit des
Individuums, auf die der eigene Einfluss, wenn überhaupt, nur sehr gering gegeben ist. Ein weiterer Aspekt
der In-der-Welt-Sein-Grenze ist kultureller und sozialer
Natur. Unsere Erziehung und Bildung, die von dem jeweiligen Normenkostüm der Gesellschaft, in der wir
aufwachsen abhängen, prägen uns auch dahingehend,
welche Wege für uns überhaupt als gangbar erscheinen. Ein arabisch-muslimisches Mädchen einer Bauernfamilie wird andere Pläne verfolgen, als die Tochter
eines westlichen Unternehmers.
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Insoweit kann das In-der-Welt-Sein unser intendiertes Handeln in der Realisierung bedingen und verformen. Obwohl man eine gewisse Absicht verfolgt, sorgt
die Praxis dafür, dass ein ganz anderes Ergebnis herauskommt. Wenn man zum Beispiel alles auf eine gute Ausbildung setzt und zielstrebig seine Karriere verfolgt und
dann ungewollt schwanger wird. Oder immer pünktlich
und zuverlässig in der Arbeit ist und betriebsbedingt
gekündigt wird. Solche Verwirklichungsprobleme der
gewünschten Pläne leiten zu einer weiteren Grenze der
menschlichen Freiheit über.
Denn selbst wenn die Absicht gelingt, heißt das
nicht, dass auch die anderen das Getane so verstehen,
wie es gemeint war. Hier offenbart sich eine hermeneutische Bedingtheit des Verstehens und Verstandenwerdens von Akteuren und ihren Handlungen. Missverständnisse sind dafür ein Paradebeispiel: Komplimente, die anders als beabsichtigt das Gegenüber verletzen
oder konstruktive Kritik, die den anderen überfordert
und damit an sich zweifeln lassen statt zu helfen. Diese
hermeneutische Lücke führt zu der Frage, ob das Selbst
nur so ist, wie es von einem selbst gedacht ist oder wie
es die anderen verstehen. So oder so kann man aber
festhalten, dass Menschen als gesellschaftliche Wesen
sowohl von der eigenen Intention als auch von der Beurteilung durch die anderen geprägt werden.
Doch vor einer Betrachtung des Verstehen und Verstandenwerden stellt sich die Frage, ob wir das, was
wir wollen, auch wirklich wollen können. Vielleicht
könnte man diese Grenze einen psychologischen oder
erkenntnistheoretischen Bewusstseinszweifel nennen.
Arthur Schopenhauer formuliert dieses Bedenken so:
„Du kannst thun was du willst: aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblick deines Lebens, nur ein Bestimmtes wollen und schlechterdings nicht Anderes, als
dieses Eine“ (Schopenhauer: 58f.). Selbst wenn wir die
Handlungen von ihrer Verwirklichung in der Welt und
ihrer Sprachlichkeit trennen, darf berechtigterweise
angezweifelt werden, ob wir im Denken frei sind, ob zumindest das Denken unserem Einfluss unterliegt. Denn
das cogito, welches nach Descartes methodischem
Zweifel übrig bleibt, ist in seiner Beschaffenheit nicht
eindeutig zu erklären. Kant formuliert nicht zufällig in
seinen Reflexionen über das Selbstbewusstsein, das
Denkende sehr vorsichtig als „dieses Ich oder Er oder
Es (das Ding), welches denkt“ (Kant 1977:343). Der
zweiten Tendenz folgend, lassen sich die Grenzen der
menschlichen Freiheit und damit die Grenzen, der eigenen Verantwortung für den eigenen Lebensweg auf
unterschiedlichen Ebenen auffinden: dem materiellen
In-der-Welt-Sein, dem hermeneutischen Kommunizieren und der theoretischen Bewusstseinskonstitution.
Der Mensch als
Spannungsverhältnis
Die Frage, inwiefern wir unser Selbst selbst wählen und
dafür verantwortlich sind, wer wir sind, führt in das Span-
58
cog!to 07/2014
nungsfeld von Freiheit und Determination. Nehmen wir
die zwei Tendenzen als erste Orientierung, kommen wir
zu folgender These: Es gibt eine, wenn auch begrenzte
Eigenverantwortlichkeit des Menschen. Da man diese,
wenn man allen Menschen gleichermaßen zugestehen muss, untersucht man hier etwas Allgemeines: die
menschliche Natur. Die Rückbeziehung auf eine allgemeine menschliche Beschaffenheit ist es, was einen
Vergleich von Lebenskonzepten generell rechtfertigt.
Entweder jeder ist für sein eigenes Selbst verantwortlich oder niemand.
Beachtet man die eben entdeckten Grenzen der
menschlichen Freiheit und begibt sich innerhalb derer
auf die Suche nach der menschlichen Natur, tritt man
in die Spuren von Martin Heidegger. Er sucht das Allgemeine im Sein des Menschen. In Sein und Zeit schreibt
er: „Das Seiende, dem es in seinem Sein um dieses
selbst geht, verhält sich zu seinem Sein als seiner eigensten Möglichkeit. Dasein ist je seine Möglichkeit und es
‚hat‘ sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes.“ (Heidegger 2001:42) Das Selbst ist, als das, was es
ist, stets Möglichkeit seines Seins. Das ist die natürliche
und essentielle Seinsform des Daseins. Die verwirklichten Möglichkeiten sind keine bloße Dekoration eines
tieferliegenden Bewusstseins. Sie sind nicht nur akzidentiell, sondern substantiell. Diese Erklärung ist nicht
nur eine ontologische Daseins-Beschreibung, sondern
enthält zumindest unterschwellig eine normative Komponente. Das Dasein ist erst, was es ist, wenn es sich
selbst als seine Möglichkeiten begreift, sich eben nicht
nur werfen lässt, sondern beginnt sich zu entwerfen.
Diese Existenzverfassung des Daseins bietet für JeanPaul Sartre die Basis einer radikalen Konsequenz: hin
zur Freiheit und Verantwortung des Menschen. Sich explizit auf den Daseins-Begriff von Heidegger beziehend
schreibt er:
„Was bedeutet hier, daß die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, daß der Mensch erst existiert,
auf sich trifft, in die Welt eintritt, und sich erst dann
definiert. Der Mensch, wie ihn der Existentialist versteht, ist nicht definierbar, weil er zunächst nichts ist.
Er wird erst dann, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Folglich gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, sie zu ersinnen.
Der Mensch, er ist lediglich, allerdings nicht lediglich
wie er sich auffaßt, sondern wie er sich nach der
Existenz auffaßt, nach diesem Elan zur Existenz hin;
der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich
macht“ (Sartre 2012: 149f.).
In seinem Aufsatz „Der Existenzialismus ist ein Humanismus“ nennt Sartre dies das erste Prinzip des Existenzialismus. Der Mensch wird nicht gemacht, sondern er
macht sich. Der Mensch wählt aus seinen Möglichkeiten, die, wie zuvor erörtert, zwar durchaus begrenzt
sind, aber einen Spielraum lassen, innerhalb dessen
jeder Mensch die volle Verantwortung für seine Handlungen trägt, die ihn zu dem machen, was er ist. Wenn
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59
cog!to 07/2014
es wirklich so ist, dass die Existenz dem Wesen vorausgeht, der Mensch nicht a priori festgelegt ist, ist er
gänzlich frei und unabhängig.
Wir scheinen hier dem heutigen Individualitätsbegriff eindeutig näher gekommen zu sein. Es gibt keinen
Gott und auch keine feste menschliche Natur, die uns
determiniert, im Gegenteil: „der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein“ (Sartre 2012: 155). Trotzdem hat auch
diese freie Individualität eine Grenze. Sartre erinnert
den Menschen mit seinem Existenzialismus daran, dass
es im Universum keine andere gesetzgebende Instanz
gibt außer den Menschen selbst. Die individuellen Entscheidungen sind es, die unsere Gesellschaft kreieren
und damit erst ein Allgemeines schaffen. Es gibt keine menschliche Natur, aus der man feste Richtlinien
für moralische Entscheidungen ableiten kann. Alles ist
menschlich und beruht auf freiem Entschluss. Als Basis
dafür nennt Sartre, die menschliche conditio, die allen
gemein ist. Mit seinen Handlungen verantwortet man
demnach nicht nur sich selbst als Einzelnen, sondern
die gesamte Menschheit. Dadurch, dass Gott wegfällt
und auch eine dem Menschen über oder zugrunde liegende, von seinem verwirklichten Dasein unabhängige
Seinsform, rückt die Existenz der anderen Menschen in
den Mittelpunkt. Das Selbst ist auf die Wahrnehmung
durch die Anderen angewiesen, sonst wäre es nichts.
Diese Angewiesenheit führt zu einer Verantwortung,
die Existenz zu schützen. Einer Verantwortung nicht
nur für sich selbst, sondern für die gesamte Menschheit.
Welche Rückschlüsse kann man aus diesen Reflexionen auf das Selbst ziehen? Der Mensch scheint ein
Spannungsverhältnis zu sein: sein Selbstkonzept hat
Grenzen und innerhalb dieser sind es seine selbstgewählten Möglichkeiten. Mit Kant könnte man die
menschliche Natur als Antagonismus der ungeselligen
Geselligkeit auffassen – hier würde sich die Spannung
des eigenen Selbst zu den Anderen zeigen. Einerseits
braucht man die Mitmenschen, um alle seine Anlagen
zu entfalten. Andererseits sehnt man sich nach Vereinzelung, weil man doch gerne sein eigener Herr ist und
sich so einrichten möchte, wie man es selber für gut
hält. Auch kann man mit Heidegger auf den Kontrast
zwischen Geworfenheit und Entwurf hinweisen. Einerseits ist man eben in diese Welt geworfen und durch sie
determiniert. Andererseits hat man innerhalb dieser
Grenzen auch schöpferische Freiheit sich zu entwerfen.
60
cog!to 07/2014
Beides ist Inhalt der natürlichen menschlichen Verfasstheit. Unser Selbst liegt wohl zwischen Individualität
und Allgemeinem, zwischen Freiheit und Determination, zwischen Körper und Geist. Man hat nicht alle Möglichkeiten zur freien Selbstverwirklichung in seinem Leben zur Verfügung. Aber es liegt in der Verantwortung
eines jeden Menschen, die persönliche Freiheit, dort,
wo sie gegeben ist, zu nutzen. Einerseits um sich selbst
zu seiner bestmöglichen Verwirklichung zu bringen und
andererseits um mit diesem Konzept wiederum auf andere Menschen und deren Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung zu wirken. Versteht man die Welt als Spiel,
ist man als Mensch sowohl Spielfigur, die gespielt wird,
aber bisweilen auch die Instanz, die Züge macht und
Regeln mitgestaltet. Und ich glaube, je mehr man sich
dessen bewusst wird, wo die begrenzte menschliche
Freiheit zu finden ist, desto effektiver kann man auf
sie zugreifen. Will man sein Selbst oder die gewählten
Selbste der Anderen beurteilen, muss man sich also
fragen, ob sich das jeweilige Dasein seiner Möglichkeiten bewusst ist. Erst wenn man seine Möglichkeiten
erkennt und nutzt, hat man die Verantwortung für sich
und damit auch für die anderen übernommen. Erst in
dieser Bewusstwerdung ist man im eigentlichen Sinne
ein Selbst geworden.
Von Sandra Müller
Literatur
Cicero, Marcus Tullius. 1828. Vom Schicksal. Aus dem Lateinischen von Georg Heinrich Moser. Stuttgart: Metzler.
Heidegger, Martin. 2001. Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer .
Kant, Immanuel. 1977. Kritik der reinen Vernunft. In: Werke in
zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Sartre, Jean-Paul. 2012. Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays. Hamburg: Rowohlt .
Schöne-Seifert, Bettina. 2008. Grundlagen der Medizinethik.
Stuttgart: Kröner.
Seneca. 1965. Briefe an Lucillius. In: Gesamtausgabe II. Stoische Lebenskunst. Darmstadt: Rowohlt.
Schopenhauer, Arthur. 1978. Preisschrift über die Freiheit des
Willens. Hamburg: Meiner.
RUBRIK
PARTEINAHME
Die Beiträge in Parteinahme gehen der Verbindung von Philosophie
und Politik nach. Diesmal sprechen wir mit Micha Brumlik über
Heideggers Verbindungen zum Nationalsozialismus, führten mit dem
gegenwärtigen Dekan der Fakultät für Philosophie, Axel Hutter,
ein Interview – und nicht zuletzt verteidigen Niko Wolf und Gregor Bös die
Notwendigkeit von Freiräumen im Philosophiestudium.
cog!to 07/2014
61
War Heidegger
Nationalsozialist?
Im Gespräch mit Micha Brumlik über
„seinsgeschichtlichen Judenhass“,
vorbegriffliche Weltverhältnisse und
faschistische Philosophie
Das Interview führte Miguel de la Riva
cog!to: Anlässlich des Erscheinens der „Schwarzen
Hefte“1 wird erneut diskutiert, ob Martin Heidegger
Nationalsozialist war. Welche Verbindungen unterhielt Heidegger zum Nationalsozialismus?
Micha Brumlik: Martin Heidegger war überzeugter
Nationalsozialist. Er war über die ganze Zeit des Nationalsozialismus hinweg Mitglied der NSDAP und plädierte in seiner Eröffnungsrede2 als Rektor in Freiburg
1933 dafür, die Universität und das geistige Leben aus
seiner von ihm so genannten „Unverbindlichkeit“ zu befreien und dem Dienst am Volksganzen zu unterstellen.
Er spricht in dieser Rektoratsrede vom Arbeitsdienst,
vom Wehrdienst und von dem, was er den Studierenden empfiehlt, vom Wissensdienst, die alle auch Gegenstand von NS-Propaganda waren.
cog!to: Hier soll Wissenschaft in den Dienst eines
politischen Projekts gestellt werden – und das sollte
auch auf die Universitätsstruktur durchschlagen. Es
wird berichtet, dass Heidegger als Rektor das „Führerprinzip“ an der Universität durchsetzen wollte.
Was ist damit gemeint?
Brumlik: Die alte Professorenuniversität war gleichsam geistesaristokratisch verfasst: Die sich selbst verwaltenden Professoren, zusammengefasst im Senat,
wählten einen mehr oder weniger ohnmächtigen Rek1 Heidegger, Martin. 2014. Überlegungen II-VI (Schwarze Hefte 1931-1938). Herausgegeben von Peter Trawny. Frankfurt
am Main: Vittorio Klostermann. Heidegger, Martin. 2014.
Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39). Herausgegeben von Peter Trawny. Frankfurt am Main: Vittorio
Klostermann. Heidegger, Martin. 2014. Überlegungen XIIXV (Schwarze Hefte 1939-1941). Herausgegeben von Peter
Trawny. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.
2 „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“. In:
Heidegger, Martin. 2000. Reden und andere Zeugnisse eines
Lebensweges 1910-1976, S. 107-117. Herausgegeben von
Hermann Heidegger. Frankfurt: Vittorio Klostermann.
62
cog!to 07/2014
tor, der nicht mehr als ein „primus inter pares“ war. Die
Nationalsozialisten wollten das ändern – und Heidegger war einer derer, die das „Führerprinzip“ auch in den
Universitäten durchsetzen wollten. Das bedeutete,
dass die Rektoren nicht mehr von den Professoren gewählt, sondern von den Kultusministerien eingesetzt
würden, und sie wiederum die Dekane einsetzten – und
das galt am Ende der Kette dann auch für die Studentenvertreter.
cog!to: Kaum ein Jahr später trat Heidegger 1934
enttäuscht von seinem Rektorat zurück. Was lief
schief?
Brumlik: Es funktionierte nicht so, wie er sich das vorgestellt hat – weder waren ihm die meisten Professoren
zu Diensten, noch haben sich die Studierenden dieser
Führerstruktur und diesem Wissensdienst unterstellt.
Er merkte, dass er ein geistiger Führer des Führers der
nationalsozialistischen Bewegung sein wollte – damit
jedoch nicht einmal an der Universität durchschlagen
konnte. Zudem wurde ihm von anderen, ebenfalls
überzeugt nationalsozialistischen Professoren Nihilismus vorgeworfen, womit er nicht gerade das Vertrauen
der nationalsozialistischen Machthaber erwarb.
cog!to: Könnte man meinen, dass Heideggers nationalsozialistisches Engagement eine kurze, zeitgeistbedingte Episode war – und er sich später davon
abwendete?
Brumlik: Ich glaube nicht. Die kürzlich erschienenen
„Schwarzen Hefte“ zeigen, dass Heidegger ein überzeugter Nationalsozialist blieb, wenn auch auf eigene
Weise. Freilich wollte er sich von dem abheben, was als
biologistische oder rassistische Weltanschauung vertreten wurde, er wollte das nationalsozialistische Prinzip tieferlegen – noch hinter die Metaphysik zurück.
Der Herausgeber Trawny spricht, was den Antisemitismus angeht, von einem „seinsgeschichtlichen“ Antisemitismus, also Judenhass.
cog!to: In den „Schwarzen Heften“ finden wir
keit zu geben. Das erinnert an den „heroischen RealisSätze wie: „Aus der vollen Einsicht in die frühere
mus“ aus der konservativen Revolution in der Weimarer
Täuschung über das Wesen und die geschichtliche
Republik: Dem, was nicht plan- und steuerbar ist, ins
Wesenskraft des Nationalsozialismus ergibt sich erst
Auge zu sehen – aber zu versuchen sich in ihm zu bedie Notwendigkeit seiner Bejahung und zwar aus
haupten. Heidegger dachte, dass man auf dem Weg zu
denkerischen Gründen.“3 Wie kam ein Philosoph wie
einem neuen Weltverhältnis zunächst das Christentum
Heidegger dazu, den Nationalsozialismus so offensiv
überwinden müsse, um eine neue Gottesvorstellung zu
zu bejahen?
entwickeln – und damit mittelbar auch das Judentum.
Brumlik: In Sein und Zeit4 stellte Heidegger in einer
In den Schwarzen Heften ist es die Größe, die durch das
Weiterentwicklung der Phänomenologie Husserls die
Bestreben die Welt planerisch zu gestalten die VerbinFrage nach dem Sein neu – und damit auch die Frage
dung zum Ursprung verloren hat: „Eine der verstecktenach dem Menschen als demjenigem Seiendem, dem
sten Gestalten des Riesigen und vielleicht die älteste ist
es in seinem Sein um sein Sein geht. Heideggers erklärdie zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens
tes Vorhaben war es, das, was er für Metaphysik hielt,
und Durcheinandermischens, wodurch die Weltlosigzu destruieren und eine ursprünglichere Welterfahrung
keit des Judentums gegründet wird.“5 Dieses gleichsam
manipulative Verhalten, das hier den Juden zugeschriephilosophisch zu erschließen. Insofern war er ein Gegben wird, begründet Weltlosigkeit – und das heißt zuner begrifflich arbeitender Philosophie. Und das sollte
gleich, sich dem Geschick der Geschichte nicht mehr zu
auch seinen Ort im Politischen vorzeichnen – Politik
stellen: „Prophetie ist die Technik der Abwehr des Gesollte etwas „tieferem“ als lediglich Verfassungen o.Ä.
schicklichen der Geschichte. Sie ist ein Instrument des
entspringen. In Sein und Zeit lesen wir: „Dasein ist MitWillens zur Macht. Dass die großen Propheten Juden
sein“, und später versucht er das im Begriff des Volkes
sind, ist eine Tatsache, deren Geheimnis noch nicht gezu situieren. Schon in der Rektoratsrede meinte Heidacht worden (mit Antisemitismus
degger, dass sich Politik aus einer
hat die Bemerkung nichts zu tun,
ursprünglicheren Sphäre heraus
dieser ist so töricht und so verwerfentwickeln könnte. Vor diesem Dieser Rückgang auf den
lich wie das blutige und vor allem
Hintergrund, verbunden mit sei- Mythos, diese Abkehr von der
unblutige Vorgehen des Christennen in der Tat oberflächlichen rationalistischen Tradition,
tums gegen die Heiden).“6 Er meint
politischen Ansichten, die viele diese Abwehr des reflexiven
Intellektuelle in der Weimarer Re- Denkens – das ist faschistische also, er hätte eine nüchterne philosophische Feststellung getroffen
publik vertraten – sie konnten mit
Philosophie
– aus Briefen geht aber eindeutig
Demokratie nichts anfangen, wahervor, dass er Antisemit war.
ren überzeugt, dass Kapitalismus
cog!to: Wir haben bei Heidegger also eine Kritik
nicht gut ist, sahen in der angelsächsischen Welt einen
am neuzeitlichen Selbst- und Weltverhältnis; die hat
Gegner „deutschen Wesens“ und deutscher Politik –
etwas mit einem instrumentellen Weltverhältnis zu
kommt er dazu, den Nationalsozialismus als politische
tun, mit „Planen“ und „Rechnen“; das begründet
Option ernst zu nehmen und im Nationalsozialismus in
„Weltlosigkeit“ – und wird am Judentum festgeBezug auf das Volk so etwas eine Wiederbelebung einer
macht.
ursprünglicheren Sphäre zu vermuten.
Brumlik: Genau so ist es, weil das Judentum mit seicog!to: In Sein und Zeit übt Heidegger eine Kritik
ner Geschichtstheologie bei den Propheten den Anan einem Selbst- und Weltverhältnis, das er „seinsspruch erhebt die Geschichte in die Bahnen eines gottvergessen“ nennt und paradigmatisch im neuzeitgewollten Weltverhältnisses zu stellen. Da ist Heideglichen Rationalismus und einem von „Planen“ und
ger ganz dagegen. Geschichte soll, wie im heroischen
„Rechnen“ geprägten, instrumentellen NaturverRealismus, dem Geschick offen sein, dem, was unplanhältnis zum Ausdruck komme. Dabei scheint Heidegbar auf eine Person oder auf ein Volk zukommt.
ger zunächst der Ansicht, dass die nationalsozialisticog!to: Angesichts der antisemitisch anmutenden
sche Bewegung mit diesem „Rechenhaften“ bricht,
Äußerungen: Finden wir in den schwarzen Heften
einen Neuanfang im Seinsverhältnis markiert und
eine Auseinandersetzung mit dem Judentum? Man
daher zu bejahen ist. Später jedoch ordnet er den Nakönnte annehmen, dass Heidegger eine Kritik am Jutionalsozialismus selbst den „Machenschaften“ und
dentum nicht aus Antisemitismus übt, sondern weil
dem „Rechenhaften“ zu – bejaht ihn aber nichtsdeer es wie das Christentum oder die griechische Phistoweniger.
Brumlik: Ja! Und das auch noch in Vorlesungen von
3 Heidegger, Überlegungen VII-XI, a.a.O., S. 408.
1953, wo er darüber nachdenkt, ob es neben den bei4 Heidegger, Martin. 1927. Sein und Zeit. Tübingen: Max Nieden Gestalten rechenhafter Politik – also dem von ihm
meyer.
so genannten Bolschewismus und dem amerikanischen
5 Heidegger, Überlegungen VII-XI, a.a.O., S. 97
Kapitalismus – etwas anderes gibt, das diese ursprüng6 Heidegger, Martin. Anmkerungen II-V. Im Erscheinen. Zit.
liche Welterfahrung aufnimmt und, anders als die plan. Trawny, Peter. 2014. Heidegger und der Mythos der jüdinenden Bolschewiki und das planende angelsächsische
schen Weltverschwörung. Frankfurt am Main: Klostermann,
Kapital, bereit ist, dem Schicksal wieder eine MöglichS. 93.
cog!to 07/2014
63
losophie zu „seinsvergessenen“ Weltanschauungen
zählt.
Brumlik: In den Schwarzen Heften gibt es mit dem
Judentum keine Auseinandersetzung im engeren Sinne
– eher kurzschlüssige Äußerungen: „Die Juden ‚leben‘
bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten
schon nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch am
heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur
Wehr setzen.“7 Er will zeigen, dass Judentum, Christentum und griechische Philosophie die Seinsvergessenheit verstärken – und da muss man die ernsthafte philosophische Frage stellen: Kann es ein Philosophieren
geben, das hinter Begriffe und Metaphysik zurück geht
und eine ursprünglichere Erfahrung erschließt, wie sie
vielleicht Menschen in schriftlosen Kulturen hatten?
Heideggers Ziel war es, solches Denken und Erleben
philosophisch zu nobilitieren.
cog!to: Wollte Heidegger diese Texte veröffentlichen? Oder handelt es sich um kurzweilige Notizen,
denen man eine gewisse Anfälligkeit für den Zeitgeist nachsehen mag?
Brumlik: Es handelt sich nicht um flüchtig hingeworfene Tagebuchnotizen, sondern um ausformulierte, artikulierte Texte. Die Editoren gehen davon aus, dass er
sie nicht veröffentlichen wollte oder erst nach seinem
Ableben veröffentlicht sehen wollte. Meine Vermutung
wäre: Als eine Art philosophisches Vermächtnis, gleichsam als letztes Wort des Denkers an die Nachwelt.
cog!to: Haben wir bei Heidegger nach 1945 irgendeine Distanzierung oder Revision seiner nationalsozialistischen und antisemitischen Überzeugungen?
Brumlik: Nein, überhaupt nicht. Nach dem Krieg
wird Heidegger die „Fabrikation von Leichen“ mit industrieller Landwirtschaft oder Massentierhaltung vergleichen. Einen Begriff von der Würde und vom Leiden
einzelner Menschen hat er einfach nicht. Ihn interessierte der Mensch als philosophische Größe, nicht aber
als Individuum mit eigener Würde. Er dachte nicht in
solchen Kategorien.
cog!to: Was bedeutet das dafür, Heidegger als
Philosoph zu lesen? Geht seine nationalsozialistische
Gesinnung aus der Philosophie, die wir in Sein und
Zeit finden, folgerichtig hervor – oder haben wir es
mit einem Heidegger zu tun, der den Boden seiner
7 Heidegger, Überlegungen XII-XV, a.a.O., S. 56
früheren Auffassungen verlassen musste, um Nationalsozialist zu werden?
Brumlik: Das ist eine schwierige Frage. Natürlich
kam es dazu nicht mit zwingender logischer Konsequenz. Sie sprachen von „folgerichtig“, und das finde
ich schlüssig. Heidegger versucht tiefer zu gehen als
die Metaphysik der klassischen Philosophie und ihrer
Begriffe. Dann musste es mit einer gewissen Folgerichtigkeit dazu kommen, dass wenn Begriffe von Welt, von
Moral, von Metaphysik nichts mehr gelten und man
sich auf vermeintlich ursprüngliche, mythische Erfahrungen bezieht, dieser Mythos auch bebildert und ausbuchstabiert wird – im Guten wie im Schlechten. Für ihn
war das Christentum eine Form der Metaphysik – und
er wusste, dass im Christentum griechisches Denken
und Judentum zusammenkommen. Wenn man hinter
beides zurück will, muss man es kritisieren und versuchen, wie er sagt, es zu „verwinden“. Daraus folgen
dann antisemitische Äußerungen, die sich mit der politischen Programmatik des Nationalsozialismus ausgezeichnet vertragen, wenn auch nicht in ihrer biologistischen Spielart.
cog!to: Man könnte fast glauben, Heidegger sei
ein nationalsozialistischer Denker gewesen, den
man zu den Akten legen sollte.
Brumlik: Sein und Zeit wird als eine alltagsphänomenologische Wende Bestand haben. Dann aber fand
statt, was Heidegger als „Kehre“ seines Denkens bezeichnete. Diese besteht im Anspruch auf ursprünglichere Weltbezüge zurückzukommen und die Begriffe
und Kategorien dessen, was als westliches Denken bezeichnet wird, hinter sich zu lassen. Dieser Rückgang
auf den Mythos, diese Abkehr von der rationalistischen
Tradition, diese Abwehr des reflexiven Denkens, das ist
faschistische Philosophie. Man kann diesen Weg, wie
Heidegger zeigt, mit äußerst anspruchsvollen denkerischen Mitteln gehen – aber den Mythos als Weltverhältnis zu erneuern und politisch auszubuchstabieren, darin
scheint mir die Gefahr und bei manchen vielleicht die
Attraktivität dieses Denkens zu liegen.
Das Interview führte Miguel de la Riva
Mitarbeit: Sandra Müller und Janina Reichmann
Foto: Janina Reichmann
Zu Micha Brumlik:
Micha Brumlik ist Emeritus für Erziehungswissenschaften an der
Goethe-Universität Frankfurt und seit 2013 Seniorprofessor am
Zentrum für Jüdische Studien Berlin/Brandenburg. Er interessiert
sich insbesondere für entwicklungsbezogene Moralforschung
sowie Religionsphilosophie. Zu seinen letzten Veröffentlichungen
zählt „Messianisches Licht und menschliche Würde. Politische
Theorie aus den Quellen des Judentums“ (Baden-Baden 2013).
Derzeit forscht er über die jüdischen Schüler Hegels.
64
cog!to 07/2014
„Wir kommen nie zu Gedanken.
Sie kommen zu uns.“
Heidegger
Martin Heidegger: umstritten wie kein Zweiter. Dennoch gilt
er als einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Das Handbuch erklärt die Gründe für die anhaltende Faszination, die von Heideggers Schaffen ausgeht,
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cog!to 07/2014
65
Äpfel versus Birnen
Eine Replik auf Marisa Kurz´
„Ausgebrannte Chemiker, faule
Philosophen“
Von Niko Wolf und Gregor Bös
Geisteswissenschaftler nutzen ihre
akademische Freiheit um in der Sonne
auf dem Bauch zu liegen, während
Naturwissenschaftler vor dem Burnout
stehen. Für Marisa Kurz scheint das mehr als
nur ein Vorurteil zu sein – und eine große
Ungerechtigkeit. Zwei Doppelstudenten
antworten ihr.
Liebe Marisa,
am 25.03. hast du auf Spiegel Online den Artikel
„Stress im Studium: Ausgebrannte Chemiker, faule
Philosophen”1 veröffentlicht. In der folgenden Debatte
sahen viele ihre Vorurteile gegenüber Studierenden in
den Geisteswissenschaften endlich bestätigt – und das
von einer Biochemie- und Philosophiestudentin, die es
ja „wissen muss!“ Dort sammeln sich faule Nichtstuer,
denen Noten hinterhergeworfen werden, während nebenan in den Naturwissenschaften alle bis zum Burnout
schuften.
Als Philosophie- und Physikstudenten kennen auch
wir beide Seiten, kommen aber zu einem ganz anderen Bild. Dabei möchten wir uns aber nicht an der alten
Grundsatzfrage reiben, was ein Hochschulstudium leisten soll. Im Studium muss sowohl für freie Entfaltung
und kritisches Denken als auch für die Vorbereitung auf
einen Arbeitsmarkt Raum sein. Was uns interessiert, ist
der Vorwurf ungleicher und vor allem ungerechter Anforderungen in geistes- und naturwissenschaftlichen
Fächern.
Dabei hat die Fairness, die du vermisst, folgende,
zunächst plausibel scheinende Ansprüche:
(1) Unterschiedliche Studiengänge sollten möglichst ähnliche Anforderungen an ihre Studierenden stellen.
(2) Innerhalb eines Studiengangs sollten Studierende nach Leistung differenziert werden, damit
sich „Leistung auch lohnt.“
1Online abrufbar unter http://tinyurl.com/qchtpon
66
cog!to 07/2014
Dabei nimmst du an, dass die „idealen Studenten”,
die sich über das vorgeschriebene Mindestmaß hinaus
mit ihrem Fach auseinandersetzen, nicht der Regelfall
sind: „Natürlich sollte ein idealer Philosophiestudent
einen Anspruch an sich selbst haben: Aber handelt es
sich auch nur bei der Mehrheit der Studenten um ideale
Studenten?”
Für die Mehrheit der Studierenden gelte daher folgendes:
(3) Studierende verhalten sich üblicherweise wie
kleine, profitmaximierende ECTS-Unternehmer:
Sie versuchen mit möglichst geringem Aufwand
möglichst viele Credit Points mit möglichst guten
Noten zu ergattern.
Fairness innerhalb eines
Studiengangs
In einem naturwissenschaftlichen Studium besuchen
alle Studierende eines Jahrgangs die gleichen Vorlesungen und schreiben die gleichen Prüfungen. Dadurch
sind die Leistungen zumindest innerhalb eines Jahrgangs vergleichbar. Ein Philosophiestudium ist aber
ganz anders aufgebaut: Es gibt kaum ein Seminar, in
dem nicht der Zweitsemester und die Masterstudentin
miteinander diskutieren. Ihre Hausarbeiten gehen dann
aber von ganz anderen Vorkenntnissen aus. Schließlich
bescheinigt selbst beim Abschluss jedes Bachelorzeugnis ganz andere Studieninhalte.
Um Vergleichbarkeit zu schaffen, müsste der Aufbau
des Philosophiestudiums dem der naturwissenschaftlichen Studiengänge angenähert werden, mit einem linear gegliederten, klar definierten Wissenskanon. Wie
in der Physik klassische Mechanik vor Quantenmechanik gelehrt wird, müssten Studierende der Philosophie
erst Methodenkurse und Veranstaltungen in antiker
und mittelalterlicher Philosophie besuchen, um irgendwann zeitgenössische Autoren zu lesen. Das wäre absurd und widerspräche dem Konzept einer philosophischen Bildung. In der philosophischen Forschung gibt
es keine Großprojekte mit vorhandenen Fragen, in die
man sich eingliedern kann, nachdem man einen Studienkanon durchlaufen hat. Stattdessen wird von jedem
Einzelnen erhebliche Selbständigkeit erwartet. Und
»Wieder versuchen.
Wieder scheitern.
Besser scheitern«
Samuel Beckett: »Wostward Ho«
he
c
s
i
r
Baye ie des
m
e
d
a
s
k
n
A
e
b
i
Schre
L i t e r a t u rhaus
München
Seminare zum literarischen Schreiben für Studierende der Universitäten
Bamberg, Bayreuth, Erlangen, LMU München, TU München, Regensburg
Neue Ausschreibungen, Infos unter www.literaturhaus-muenchen.de/akademie
cog!to 07/2014
67
„Statt strengere Bewertungen zu fordern,
sollte man fragen, ob sich Leistungen in der
Philosophie überhaupt in eine objektive
Rangordnung bringen lassen“
auf dem Arbeitsmarkt bescheinigt der Philosophieabschluss keine spezifischen Fachkenntnisse, sondern allgemeine Fähigkeiten, für die es keine einheitliche und
überprüfbare Vermittlung gibt.
Darin, und nicht im Versagen der Dozierenden, liegt
auch begründet, dass das Notenspektrum nicht voll
ausgeschöpft wird. In der Folge sollte man statt strengere Bewertungen zu fordern besser fragen, ob sich
die Leistung von Studierenden in der Philosophie überhaupt in eine objektive Rangordnung bringen lässt.
Fairness zwischen
Studiengängen
Gleichzeitig kann man aber auch kein allgemeines
Anforderungsniveau von grundverschiedenen Studiengängen erwarten. Als Kriterium für faire Ansprüche
unterschiedlicher Studiengänge vergleichst du den verpflichtenden Arbeitsaufwand. Das geht aber an den Inhalten der jeweiligen Studiengänge völlig vorbei: Während in den Naturwissenschaften die Qualifikation für
Arbeitsmarkt oder Wissenschaft und das Fachstudium
Hand in Hand gehen, hat das Philosophiestudium für
das spätere Arbeitsleben oft nur unterstützende Relevanz – neben allgemeinen Fähigkeiten, die das Studium
vermittelt, muss man noch berufsspezifische Kenntnisse erwerben. Es ist daher nur vernünftig, dass neben
dem Studium Raum für eigene Projekte und Qualifikationsmaßnahmen bleibt. Und auch diejenigen, die an
der Universität bleiben möchten, brauchen Freiraum,
um abseits der Seminare einen Fuß im Feld zu fassen
und eigene Forschungsfragen zu entwickeln. Diese
Fragen finden sich nämlich nicht beim Abschütteln von
Prüfungsstress, sondern beim Querlesen in der Bibliothek.
Du schreibst außerdem, dass es in Philosophie sehr
viel einfacher ist, sich durch das Studium treiben zu lassen, ohne die Frage zu stellen, ob man hier denn wirklich
seine Bestimmung gefunden hat. Diese Kritik können
wir gut nachvollziehen, und die hohe Abbrecherquote,
auch in späteren Semestern, stellt tatsächlich ein Problem dar. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass Philosophie für die meisten kein Schulfach ist – zu beurteilen,
ob einem das liegt oder nicht, dauert länger als bei Fächern die man schon seit Jahren kennt. Außerdem lässt
sich das Studium eben auch nicht so klar strukturieren
wie in den Naturwissenschaften – man braucht länger,
um sich zurechtzufinden. Gerade deswegen ist die Erweiterung der Pflichtleistungen der falsche Ansatz. Dadurch fördert man nur das Credit-Sudoku: Je schwieriger es ist, den Minimalanforderungen zu entsprechen,
desto weniger Studierende schaffen es, eigene Fragestellungen zu entwickeln.
Auch wenn man erst lernen muss mit ihr umzugehen, hat die Freiheit im Philosophiestudium ihren wohlverdienten Platz. Es ist schade, wenn du diese Freiheit
in deinem Studium nur als fehlenden Druck wahrnehmen konntest. Aber bitte mache sie anderen nicht kaputt, indem du das alte Klischee bekräftigst, dass es
sich dabei um einen Freibrief zum Faulenzen handelt.
Viele Grüße,
Niko und Gregor
Zu unseren Gastautoren:
Niko Wolf (Fahrer) ist gegenwärtig Sprecher der
Fachschaft Philosophie an der LMU München. Gregor Bös (Beifahrer) ist aktives Fachschaftsmitglied.
Beide studieren im vierten Semester Philosophie
und Physik. Wenn Sie Ihre Freiheit nicht fürs Studium einsetzen, fahren Sie mit dem Auto über den
Balkan.
68
cog!to 07/2014
Reihe »zur Einführung«
Herbst 2013 /
Frühjahr 2014
ISBN 978-3-88506-068-0
14,90 Euro
ISBN 978-3-88506-697-2
15,90 Euro
ISBN 978-3-88506-072-7
14,90 Euro
ISBN 978-3-88506-080-2
13,90 Euro
ISBN 978-3-88506-081-9
13,90 Euro
ISBN 978-3-88506-062-8
13,90 Euro
ISBN 978-3-88506-069-7
12,90 Euro
ISBN 978-3-88506-665-1
13,90 Euro
ISBN 978-3-88506-075-8
14,90 Euro
ISBN 978-3-88506-076-5
13,90 Euro
ISBN 978-3-88506-077-2
13,90 Euro
cog!to 07/2014
69
Auf einen Kaffee mit dem
neuen Dekan
Im Gespräch mit Axel Hutter
über seine neue Position, die
Studierendenzahl an der Fakultät
und das Verhältnis von traditioneller
und moderner Philosophie
Das Interview führten Mathias Koch und Daniel Hoyer
cog!to: Sie sind als neuer Dekan gewählt. Welche Ziele verfolgen Sie? Gibt es eine Art Agenda?
Axel Hutter: Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass man
wie ein Politiker antritt mit einem Programm und deshalb von den Kollegen gewählt wurde, weil man eben
dieses Programm vertreten hat. Als Dekan sorgt man
dafür, und zwar möglichst unauffällig und im Hintergrund, dass die Selbstverwaltung der Fakultät sowie
die Forschung und Lehre an den einzelnen Lehreinheiten möglichst gut und liberal funktionieren. Diese Aufgabe hat einen sehr kleinen direktiven Anteil, und einen
großen kooperativen Anteil.
cog!to: Kennen Sie einen konkreten Fall, an dem
Sie in diese Richtung Einfluss nehmen konnten?
Hutter: Wichtig ist diese Funktion zum Beispiel bei
Berufungsverhandlungen. Dort ist der Dekan meist
der Vorsitzende, aber nicht in dem Sinne, dass er Dinge vorgibt oder dergleichen, sondern dass er versucht,
eine möglichst zielführende Sachdiskussion in Gang zu
bringen. Die Fakultät hat in ihren Gremien immer eine
kollegiale Verfassung, die Mitglieder begegnen sich auf
Augenhöhe. Der Vorsitzende versucht die Institution
des kollegialen Austausches am Leben zu halten und
diesen Austausch möglichst zu erleichtern.
cog!to: Unsere Fakultät wächst rasant. Wir erleben das in Seminaren, Sie haben den Blick von oben
auf diese Situation. Welche Chancen erwachsen daraus, welche Herausforderungen gilt es zu meistern?
Hutter: Das ist tatsächlich ein wichtiger Punkt. Wir
haben einen moderaten Zuwachs an Hauptfachstudierenden und einen besonders starken Zuwachs an Nebenfachstudierenden. Im Augenblick sind wir nach SLK
das zweitnachgefragteste Nebenfach der Universität.
70
cog!to 07/2014
cog!to: Wie bewertet die Fakultät das?
Hutter: Das ist eine komplexe Frage. Die Zahl der
Studierenden wird von der Fakultät selbst unter verschiedenen Aspekten betrachtet, genau wie sie von der
Hochschule und der Politik unter verschiedenen Aspekten betrachtet wird. Es gibt dabei zwei Extreme unter
den Betrachtungsweisen. Eine besagt: Die Zahl der Studierenden ist völlig irrelevant, die harte Währung, auf
die es ankommt, ist die Forschungsleistung. Die Vorbilder sind hier etwa Cambridge und Oxford, die von der
Studierendenzahl eher kleine Universitäten sind. Für
diese Universitäten ist es gerade ein Zeichen der Stärke, dass sie Zugangsbeschränkungen haben. Die andere Betrachtungsweise wäre, die Universität in erster
Linie als Lehrbetrieb zu sehen. Dann ist die Studierendenzahl das Wichtigste. Die Politik ist hin- und hergerissen, geht aber eher in die letzte Richtung und macht die
Mittelzuweisung abhängig von den Einschreibungen.
Und da steht die LMU im Vergleich zu den anderen bayerischen Universitäten zurzeit nicht besonders gut da,
auch weil die LMU die bayerische Universität mit den
meisten sogenannten „kleinen“ Fächern ist. Vor diesem
Hintergrund ist es gut, dass wir als Studienfach nachgefragt werden. Wir müssen hier einen Mittelweg finden,
zum Beispiel: Den Bachelor eher offen und liberal mit
geringen oder gar keinen Zulassungsbeschränkungen
gestalten, den Master hingegen mit klar definierten
Aufnahmekriterien.
cog!to: Welche Lehrer spielten in Ihrem Werdegang eine wichtige Rolle?
Hutter: Wichtig waren für mich Michael Theunissen,
bei dem ich später auch promoviert habe, und Ernst
Tugendhat. Was ich von meinen Lehrern gelernt habe
und nun selbst versuche weiterzugeben, ist ein starkes
anfangs, der Versuch, die Philosophie auf eine neue
Interesse an der klassischen deutschen Philosophie von
Grundlage zu stellen, immer wieder vorkommt. Die
Kant bis Hegel, und zwar in einer Weise, die diese grosehr schematische Entgegenstellung von 2000 Jahren
ßen philosophischen Entwürfe aus dem Museum einer
Tradition und einer Form von Neuheit in der analytirein historischen Betrachtung herausholt und versucht,
schen Philosophie, die es vorher nicht gab, ist historisch
die originalen Einsichten, die damals Epoche gemacht
wenig überzeugend. Es gibt meiner Einschätzung nach
haben und die bis heudrei Typen von
te die ganze Welt inter- Was ich von meinen Lehrern gelernt habe und nun philosophischem
essieren, in eine SpraDenken. Es gibt
weiterzugeben versuche ist ein starkes Interesse
che zu übersetzen, die
einmal die Traditian der klassischen deutschen Philosophie,
wir heute sprechen und
onspflege, die aus
und zwar in einer Weise, die diese großen
verstehen. Das ist keine
der Philosophiegeleichte Aufgabe! Wie
schichte gewonnephilosophischen Entwürfe aus dem Museum
bei jeder guten Überne Standards übt
rausholt und die Einsichten, die damals Epoche
setzung muss man
und
weitergibt.
gemacht haben und bis heute die ganze Welt
dabei das Kunststück
Dann gibt es selteinteressieren in eine Sprache zu übersetzen, die
fertigbringen, das Orine, starke Zäsuren,
wir heute sprechen und verstehen
ginal zu erhalten und
wo sich der Ton,
trotzdem die sachlidie Sprache, auch
chen Einsichten für heutige Zeitgenossen zugänglich
die Referenzpunkte deutlich ändern, beispielsweise bei
zu machen. Von meinen Lehrern habe ich das gelernt:
Descartes oder Kant. Doch auch hier gilt: Die Fragen,
Sich einerseits in eine Tradition der klassischen Philosodie sich die verschiedenen Philosophen stellen, müsphie zu stellen, daraus aber andererseits den Impuls zu
sen verwandt sein. Wenn sie völlig anders wären, dann
einer sehr gegenwärtigen, auch gegenwartskritischen
wäre es nicht mehr Philosophie. Es mag aber sein, dass
Philosophie zu entnehmen. Tugendhat ist zum Beispiel
die Aversion und die Kritik an der Art und Weise, wie
ein Denker, der eine moderne, an der analytischen Phiman bisher gefragt hat, überwiegt, sodass es erstmal
losophie geschulte Rezeption der klassischen Tradition
so scheinen kann, als würden die Fragen selbst verabanstrebt.
schiedet. Der dritte Typ thematisiert die Vermittlung
cog!to: Wie genau kann man das Verhältnis von
zwischen Bruch und Fortsetzung. Bei diesem Typ stellt
Tradition und dem neuen analytischen Projekt
sich nicht nur die Frage, wie sich bestimmte Autoren
fassen?
selbst verstanden haben, sondern eben auch, wie man
Hutter: Ich würde vorwegschicken, dass auch inihre Texte heute verstehen kann. Ich glaube, dass phinerhalb der sogenannten Tradition die Geste des Neulosophische Texte der Tradition umso zukunftsträchti-
cog!to 07/2014
71
ger und lehrreicher sind, je mehr diese Anbindung an
die eigene Sprache und das eigene Fragen gelingt. Ich
denke hier zum Beispiel an Wittgenstein, der die Neuausrichtung seines Denkens im Tractatus ganz stark in
den Dienst von Fragen stellt, die uralt sind.
cog!to: Bleiben wir bei Wittgenstein. Wenn man
den Tractatus liest, dann kommt man gegen Ende zu
Sätzen wie „Die Logik ist transzendental“, „Die Ethik
ist transzendental“, „Ethik und Ästhetik sind eines“,
bei denen man aus einer analytischen Erwartung heraus fragt, inwiefern hier tatsächlich etwas verständlicher geworden ist.
Hutter: Ich verstehe den Tractatus sehr stark von
dem Gedanken der Grenzziehung her. Zentral ist dabei die etwas paradoxe Struktur, dass man eine Grenze
zieht, ohne beide Seiten auf gleich verständliche Weise thematisieren zu können. Man kann aber Wittgenstein zufolge eine Grenze verständlich machen, indem
man die eine Seite möglichst präzise abschreitet. In der
Folge ergibt sich eine Dreiteilung des Denkens: Es gibt
Begriffe, die diesseits der Grenze liegen, das sind die
unproblematischen Begriffe bei Wittgenstein. Es gibt
die extrem problematischen Begriffe, die jenseits der
Grenze liegen. Die interessanten Begriffe aber, die auf
der Grenze liegen, sind die transzendentalen Begriffe.
cog!to: Lassen sich diese grenzziehenden Begriffe
aus einer diesseitigen Position heraus formulieren?
Hutter: Wittgensteins ziemlich tiefsinnige Antwort
ist: Nein, sie lassen sich nicht formulieren, aber sie zeigen sich in jeder Formulierung. Wenn wir überhaupt
etwas formulieren, bewegen wir uns innerhalb eines
durch die Grenze konstituierten Feldes von Möglichkeiten. Die Logik ist da das beste Beispiel. Jeder Satz, der
verständlich ist, ist den logischen Regeln gemäß gebaut. Für Wittgenstein war das Logische selbst zwar in
jedem Satz am Werke, ließ sich aber durch keinen Satz
aussagen. Sein sehr gutes Beispiel dafür ist die Tautolo-
gie: Warum Tautologien wahr sind, und zwar in einem
unüberbietbaren Sinne, lässt sich nicht sagen, es zeigt
sich.
cog!to: Was meint er damit? Man könnte zum Beispiel eine Wahrheitstafel anschreiben und derart ein
Erklärungsbild geben, das darstellt, warum eine Tautologie wahr ist.
Hutter: Für Wittgenstein waren solche Erklärungsversuche ein Missverständnis der frühen analytischen
Philosophie. Er würde sagen, jeder Begründungsversuch begeht einen Zirkelschluss. Weil die Begründung
der Tautologie immer nur funktioniert, wenn die Regel,
dass Tautologien wahr sind, bereits gilt. Sie können
schlicht keinen Beweis führen, bei dem Sie die Frage,
ob Tautologien wahr oder falsch sind, einklammern und
offen lassen.
cog!to: Sie planen gerade ein neues Projekt, das
sich Narrative Ontologie nennt. Was verstehen Sie
darunter?
Hutter: Das knüpft ganz gut an Wittgenstein an.
Die Idee des Projektes ist, dasjenige, was Wittgenstein
mit dem Bereich des Zeigens im Auge hat, sprachlich
zugänglich zu machen. Anders gewendet: Wie kann
man dasjenige, was sich der Normalsprache der Rationalität notwendig entzieht, aber zugleich dasjenige ist,
was erst diese Normalsprache der Rationalität möglich macht, einer sprachlichen Darstellung zugänglich
machen, ohne dabei die Differenz beider Bereiche zu
verschleiern? Das Projekt einer Narrativen Ontologie
besteht nun konkret darin, zu prüfen, ob die narrative
Eigenlogik von Erzählungen und Geschichten Ressourcen bereitstellt, an denen man sich hinsichtlich dieser
Frage philosophisch schulen kann.
Das Interview führten Mathias Koch
und Daniel Hoyer
Zu Axel Hutter:
Axel Hutter studierte in Berlin Philosophie, Germanistik, Musikwissenschaft und Medizin. Er promovierte bei Michael Theunissen über Schellings Spätphilosophie und war wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Hegel-Archiv der Universität Bochum. Seit 2006 ist
er Professor an der philosophischen Fakultät der Universität München, seit 2013 steht er der Fakultät als Dekan vor. Aktuell umfasst
sein Aufgabengebiet den deutschen Idealismus und Hegel.
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cog!to 07/2014
RUBRIK
BLÜTENLESE
In Blütenlese finden sich Artikel zu wissenschaftlichen Arbeiten der
Studierenden und Promovierenden der Münchner Philosophie, aber
auch regelmäßig Rezensionen von Neuerscheinungen sowie Berichte
von Konferenzen und anderen Veranstaltungen in der Philosophie. In
dieser Ausgabe gibt uns Nejma Tamoudi einen Einblick in Charles
Taylors Gedanken über Authentizität, dem Thema ihrer Magisterarbeit.
Oki Utamura rezensiert den kürzlich erschienen Briefwechsel zwischen
Paul Auster und John M. Coetzee und fragt danach, ob und wie sich
Freundschaften literarisch darstellen lassen.
cog!to 07/2014
73
Authentizität bei Charles
Taylor
Grundlagen und Reichweite eines
vielschichtigen Begriffes
Von Nejma Tamoudi
Der Ruf nach authentischer Selbstentsprechung
gilt als eines der wesentlichen Merkmale unserer
Zeit. Charles Taylors hieran anschließende
Überlegungen zum Begriff der Authentizität
führen in eine komplexe ideengeschichtliche
Analyse, an deren Ende die These steht, dass
auch die radikale Selbstsetzung des modernen
Subjektes eines gemeinschaftlichen Sinn- und
Bedeutungszusammenhanges bedarf, welcher
diese allererst als authentisch auszuzeichnen
vermag.
E
in wesentlicher Schwerpunkt des Denkens Charles
Taylors lässt sich in dessen Überlegungen zur (Patho-)Genese des modernen Selbst- und Weltverständnisses finden. Die Moderne versteht er dabei als einen
Raum potentieller Selbstentfaltung, welcher sich anhand der drei Fluchtpunkte einer in der Vernunft gründenden menschlichen Würde, der Güte der Natur sowie
der Ablehnung einer theistischen Grundlegung von
Welt definieren lässt. Folglich sieht sich das moderne
Subjekt in seinem Dasein stets an das spannungsreiche Gegen- und Miteinander zweier Geisteshaltungen
verwiesen, welche die Bezugnahme auf metaphysischtheologische Gewissheiten entweder zugunsten einer
Aufwertung des Vernünftigen oder aber des Natürlichen aufgegeben haben. Die damit einhergehende
schrittweise Ermächtigung des subjektiven Standpunktes bei gleichzeitig zunehmender Verinnerlichung unserer Quellen praktischer und theoretischer Erkenntnis
muss als grundlegend für ein Verständnis des Authentizitätsbegriffes bei Taylor aufgefasst werden.
Zwischen desengagiertem
Loslösen und engagiertem
Einfühlen
Die Aufwertung des Vernünftigen geht Taylor zufolge
mit einer Prädominanz des Epistemischen einher, welche sich in der erkenntnistheoretischen Grundhaltung
des Desengagements gegenüber der Welt zeigt. Ihre
Wurzeln liegen in den neuzeitlichen Bestrebungen einer
74
cog!to 07/2014
Entteleologisierung der Wirklichkeitsbezüge, welche
das Erkennen von Welt auf die szientistische Methode
einer Entzauberung und Objektivierung zurückführen. An die Stelle affektiven Bezugnehmens auf einen
als sinn- und bedeutungsvoll erlebten Kosmos tritt ein
evidenzbasierter, naturwissenschaftlicher Weltzugriff,
dessen oberster Maßstab die gesicherte Erkenntnis in
Form von Gewissheit ist – paradigmatisch vertreten in
der cartesianischen Wende zur Innerlichkeit. Das darin
zutage tretende fundamentum inconcussum samt seiner Unterscheidung einer beeinflussbaren Außen- und
einer autonomen Innenwelt führt letztlich zu einer Abwendung vom Objekthaft-Sinnlichen sowie einer Hinwendung zum Subjekthaft-Geistigen. Treibende normative Kraft hinter diesen Bestrebungen sei das Ideal
der Freiheit von jeglichen Formen sinnlicher sowie paternalistischer Fremdbestimmung.
Die erkenntnistheoretische Haltung eines solchen,
Taylor zufolge, naturalistischen Standpunktes geht
folglich mit der Annahme eines unbeteiligten, sich
von allen naturhaften sowie sozial bedingten Welten
distanzierenden Beobachters einher und findet dabei
nicht nur Anwendung auf die zu erfassende Objektwelt, sondern darüber hinaus auch auf das erkennende Subjekt selbst. Diese Radikalisierung der desengagierten Grundhaltung führt dabei zu einem nur mehr
in seinem Vermögen Dinge als Objekte zu fixieren und
prozedural den Regeln des richtigen Schließens zu folgen bestimmten Erkenntnissubjekt. Rationalität ist
folglich – wie bspw. im lockeschen Aufklärungsdenken
– keine primäre Eigenschaft des Denkinhaltes, sondern wesentliches Merkmal des Denkprozesses selbst.
Aufgrund dieses neuzeitlichen Vorgangs einer radikalreflexiven (Selbst-)Objektivierung des Geistes versteht
Taylor das naturalistische Erkenntnissubjekt im Sinne
eines ausdehnungslosen Punktes reinen Vermögens,
welcher herabgesetzt zu einem weiteren Erkenntnisgegenstand unter vielen, als radikal verdinglichtes Erkenntnisobjekt gilt. Das dabei angenommene apodiktische Modell theoretischer und praktischer Vernunft,
welches jegliche Ad hominem-Modelle der Welterfassung zurückweist, führe – damals wie heute – zu einer
Verdrängung der Ideale, welche die Verlagerung der
Quellen unseres Wissens von der Welt in das autonome Vernunftsubjekt ursprünglich motivierten. Diese
szientistisch orientierte Geisteshaltung, welche sich in
einem durch Neutralität und radikale Freiheit erzeugten Wertevakuum wähne, beziehe sich dabei lediglich
um den Preis der Inartikuliertheit grundlegender normativer Ideale wie Autonomie oder Freiheit auf die vorhandenen brute data (vgl. Taylor 1985b; 1995a; 1995b;
1996; 2002).
Die zweite, neben dem Naturalismus für Taylor entscheidende, ideengeschichtliche Strömung findet sich
im romantischen Expressivismus des 18. und 19. Jh.,
dessen Wurzeln bis ins augustinische Streben nach einer Verinnerlichung unserer erkenntnistheoretischen
und moralischen Quellen zurückreichen. Wie sich am
Begriff der Natur zeigen lässt, zielt diese zwar ebenfalls auf eine Ermächtigung des Subjektes zum primären Bezugspunkt allen Selbst- und Weltverständnisses,
ohne dabei jedoch auf eine Herauslösung aus umfassenden Ordnungen zu drängen: So richtet sich das Desengagement naturalistischer Strömungen lediglich auf
die Natur als das Sinnlich-Begehrende des Menschen
oder als rational wahrnehmbare sowie beeinflussbare
Außenwelt. Der romantische Expressivismus hingegen begreift diese als Quelle des Erfahrbaren, Erstrebenswerten und Guten. Natur bezieht sich dabei auf
eine im Menschen angelegte innere Stimme, welche
als Ursprung aller welterschließenden Affekte sowie
moralischen Intuitionen gilt. An die Stelle des allgemeinen Vernunftsubjektes tritt somit eine kreativ-emanzipatorische Aufwertung der Empfindsamkeit, welche
das Horchen auf das Innerste sowie den hierdurch geschaffenen Zugang zur Naturordnung als je individueller Erfahrung von Welt gegenüber einer übermächtig
erscheinenden allgemeinen Vernunft zu verteidigen
sucht. Taylor zufolge richtet sich die romantisch-expressive (Selbst-)Erkenntnis folglich weniger auf Freiheit durch Desengagement, denn auf Freiheit durch
Selbstbestimmung. Indem das menschliche Subjekt
dabei – wie bspw. im rousseauschen sentiment de l’existence – als Wesen mit unendlicher Tiefe begriffen wird,
könne es jedoch nie zur völligen Selbsttransparenz
gelangen. Der romantische Expressivismus verweise
folglich auf eine reflexive Haltung, welche sich nicht in
der Durchsichtigkeit reiner Potentialität vernünftigen
Schließens, sondern in der Empfindsamkeit für die eigene innere Stimme zeige.
Die Rückbesinnung auf die innere Natur als Grundlage von Welterfahrungen geht Taylor zufolge mit der
Annahme einher, dass es keine von unseren Äußerungen unabhängige, externe Ordnung gebe. Vielmehr
müssen Welt- und Bedeutsamkeitsstrukturen stets in
Abhängigkeit von unseren Expressionen verstanden
werden. Dies gilt letztlich auch für die Subjektkonstitution selbst, welche – in Anlehnung an die herdersche
Originalität – auf der Verwirklichung unserer je unverwechselbaren Art des Menschseins basiert. Das darin
zutage tretende normative Ideal der Authentizität vermag den Differenzen zwischen den Menschen insofern
Gewicht beizumessen, als es sich auf die je individuelle
Herstellung einer Verbindung zum Gefühl für das eigene Dasein als Grundlage unseres theoretischen sowie
praktischen Umgangs in und mit der Welt bezieht. Die
Verlagerung unserer Erkenntnis- und Moralquellen ins
Subjekt führt folglich nicht zu einem konsequentialistischen Verständnis als Mittel zum Zweck richtigen
Handelns – wie bspw. im Rahmen augustinischer Innerlichkeit. Vielmehr verweise sie, so Taylor, auf einen Autonomie- und Freiheitsbegriff, welcher in der Fähigkeit
zur Selbstbestimmung der eigenen Natur gründet (vgl.
Taylor 1995c; 1996; 2002; 2009).
Kritik einer ‚Kultur der
Authentizität‘
Der Einfluss der beiden genannten Geisteshaltungen
auf das moderne Zeitalter lässt sich Taylor zufolge besonders deutlich in einer heute weitverbreiteten Form
des Individualismus nachweisen, welcher zunächst
der rational-desengagierten Haltung zu entspringen
scheint. Indem diese jegliche über das Ich hinausweisenden Bedeutungshorizonte sowie Quellen der Erkenntnis ablehnt, führt sie nicht nur zu einer Zurückweisung des an sich Wertvollen, sondern überdies auch
zu einem atomistischen Gesellschaftsverständnis, welches das soziale Ganze lediglich ausgehend vom Individuum begreift (vgl. Taylor 1985a). Die Reichweite solch
eines methodologischen Individualismus zeige sich
bspw. in der Hochachtung des millschen Schadenprinzips und seines Achtungsgebots mit Blick auf Ideale wie
Freiheit, Gleichheit und Toleranz.
Diese Wertschätzung individueller Freiheit enthalte
jedoch zugleich expressivistische Anteile, welche der
subjektiven Wende neuzeitlicher Kultur entspringen.
Die Betonung einer romantischen Vertiefung ins eigene Ich entspricht dabei einer gegen Konformismus und
Instrumentalismus gewandten Haltung ganzheitlicher
Selbstentfaltung, wie sie sich bspw. in der offenkundig expressivistisch orientierten Kulturrevolution der
1960er zeigte. Aber auch die gegenwärtige Konsumkultur lasse noch immer das Streben nach dem je Individuell-Authentischen erkennen.
Indem der von Taylor beschriebene Individualismus
sowohl eine distanzierte Haltung gegenüber ethisch
Wertvollem als auch die Wertschätzung des je Individuellen betont, leiste er einem mildem Relativismus Vorschub, welcher für keine übergreifenden Ideale mehr
einzutreten vermag. „Ein solches Eintreten beinhaltet
nämlich (…), daß manche Lebensformen tatsächlich
höher stehen als andere, und vor derartigen Ansprüchen schreckt die Kultur der Toleranz gegenüber der individuellen Selbstverwirklichungsethik zurück“ (Taylor
1995c: 24). Unsere Kultur beschreibe folglich eine sich
in die Moderne als dem entzauberten Zeitalter einfü-
cog!to 07/2014
75
gende Kultur der Authentizität, welche die Existenz umfassender Horizonte derart zur Disposition stellt, dass
die Einzelnen in ihrer Sinnsuche stets auf das eigene
Selbst zurückgeworfen werden.
Laut Taylor ist es eben diese, zur Formulierung kohärenter Lebensgeschichten entscheidende, Suche
nach Bedeutungs- und Sinnstrukturen, welche nicht nur
zentrales Moment individueller Selbstverwirklichung,
sondern überdies Daseinsgrundlage unserer selbst als
handlungsfähige Akteure ist. Indem sie somit zugleich
als Teil der Identitätskonstitution des Einzelnen zu begreifen ist, stellt sie keine monologische Entäußerung
dar, sondern muss über die Dialogizität menschlicher
Vernunft in den Bereich der Anerkennung durch signifikante Andere verwiesen werden: „Ein Selbst bin ich
nur im Verhältnis zu bestimmten Gesprächspartnern: in
einer Hinsicht im Verhältnis zu den Gesprächspartnern,
die im Prozeß der Selbstbestimmung eine wesentliche
Rolle gespielt haben; in einer anderen Hinsicht im Verhältnis zu denen, die jetzt von maßgeblicher Bedeutung
sind für mein fortwährendes Erfassen der Sprachen der
Selbstverständigung“ (Taylor 1996: 71). Diese, auf die
Ontogenese des Selbst bezogenen, anthropologischen
Annahmen holt Taylor zudem normativ ein, wenn er
mit Blick auf die Kultur der Authentizität die Zurückweisung feststehender sowie die Wertschätzung flexibler,
stets neu zu verhandelnder Identitäten betont.
Auch wenn der jeweilige Selbstentwurf einer subjektiven Empfindung oder Einstellung entspringt, muss
folglich doch ein gemeinsam geteilter Bedeutungsund Werteraum angenommen werden, innerhalb dessen das Authentische überhaupt erst als ein solches
erkenn- sowie abgrenzbar wird. So gilt: „Wer (…) den
Versuch macht, zu einer sinnvollen Selbstdefinition zu
gelangen, muß sein Dasein vor einem Horizont wichtiger Fragen führen“ (Taylor 1995c: 50). Da die wertenihilistische Zurückweisung eines gegebenen Horizontes als metaphysischer Restbestand auf einer Gleichsetzung von authentischer Selbstwahl und spontaner
Selbstsetzung innerhalb eines moralischen Projektionismus beruhe, übersehe sie, dass eine derartig radikale Wahlfreiheit nicht zu realisieren sei. Der Verlust des
Bedeutungshorizontes würde auch der authentischen
Selbstwahl ihre Ausrichtung nehmen. Das der Selbstverwirklichungsethik innewohnende Neutralitätsgebot gegenüber dem Wert- und Bedeutungsvollen gilt
Taylor somit als Trugschluss. Und dies insofern, als es
auf Verinnerlichungs- sowie Subjektivierungsbewegungen beruht, welche ursprünglich motivierende Ideale –
wie bspw. dasjenige der Authentizität als Treue zu sich
selbst – in Vergessenheit haben geraten lassen.
Taylor strebt nun keineswegs die Re-Etablierung
einer altertümlichen Sittlichkeitsvorstellung oder gar
Metaphysik an. Vielmehr ist es sein Ziel den reduktionistischen Ontologien desengagierter Vernunft eine
reichhaltigere, normative Seinsweise von Welt gegenüberzustellen, deren Ermöglichungsbedingungen in
bestimmten, qualitative Unterscheidungen vorgeben-
76
cog!to 07/2014
den, gemeinsam geteilten Horizonten liegen. Indem er
dabei auf eine, dem romantischen Expressivismus entnommene Ausdrucksanthropologie verweist, öffnet er
die jeweiligen Sinn- und Bedeutungszusammenhänge
zugleich für einen Pluralismus der Weltanschauungen.
Der Mensch als expressives Wesen ist in seinem praktischen und theoretischen Umgang in und mit der Welt
zwar stets an ursprünglich gegebene Zusammenhänge
verwiesen. Diese sind aufgrund der in den verschiedenen Selbstentwürfen beständig betriebenen (Re-)Konstituierungen von Selbst und Welt jedoch immer nur
vorläufig und somit potentiell veränderbar (vgl. Taylor
1992; 1995c; 1996; 2007).
Wiedergewinnungsbewegung als alternative Modernekritik
Taylors Überlegungen zur Authentizität beruhen also
auf dem Problem einer Engführung expressivistischer
sowie rationaler Verinnerlichungsbestrebungen, wobei
ihr Ziel in einer (Re-)Artikulierung der hierbei verlorengegangenen Quellen unserer Wahrnehmung von Welt
liegt. Die Motivation zur Wiedergewinnung derselben
findet sich für Taylor in der Gefahr einer zunehmenden
Trivialisierung des Authentizitätsbegriffs im Sinne eines populärkulturellen Narzissmus oder egozentrierten Hedonismus. Zugleich wirkt darin aber auch das
Bewusstsein für einen ethischen Mangel, wie er sich in
den immer lauter werdenden Forderungen nach einer
Beseitigung normativer Leerstellen sowie in der kommunitaristischen Kritik einer Abnahme solidarischer
Bindungen liberaler Gesellschaften zeigt.
Dabei ist es durchaus zutreffend, dass die taylorsche
Modernekonzeption in so manchem Punkt kritikwürdig
ist. Sei es mit Blick auf die Monokausalität seiner ideengeschichtlichen Rekonstruktion, welche der Vielfalt
an Traditionslinien nicht gerecht zu werden scheint und
sich damit dem Vorwurf allzu vorschneller Verallgemeinerungen gegenübersieht. Oder aber mit Blick auf das
spannungsreiche Verhältnis zwischen authentischer
Selbstentfaltung einerseits und Rückgebundenheit an
gemeinschaftliche Wertehorizonte andererseits. V.a.
mit Blick auf Taylors politische Theorie sowie die darin
im Rahmen eines Liberalismus der Differenz vertretenen Sonderrechte zur Wahrung kultureller Authentizität wird dieser Punkt weiter an Gewicht gewinnen.
Letztlich stellt Taylors philosophischer Ansatz eine
spannende Alternative zu klassischen Ansätzen der
Modernekritik dar, welche sich aus einer ungewöhnlichen Verbindung französischer Existenzialphänomenologie mit heideggerscher Daseinsanalytik und
Deutschem Idealismus speist. Die Rückführung der gegenwärtigen Kultur samt ihres Authentizitätsideals auf
das spannungsreiche Gegeneinander unterschiedlicher
ideengeschichtlicher Einflüsse wird dabei nicht von einer kulturpessimistischen Haltung geleitet. Vielmehr
muss das taylorsche Denken als ein emanzipatorisches
Projekt verstanden werden, welches an die Grundlagen
unseres politischen, sozialen und ethischen Selbstverständnisses rührt um auf diesem Weg ein Bewusstsein
für das eigene Gewordensein zu ermöglichen. So gilt:
„Ein Mensch der Moderne, der beide Vermögen [das
Expressive und Rationale, N.T.] anerkennt, befindet
sich von vornherein in einem Zustand der Spannung“
(Taylor 1996: 679). Die dabei angestoßene Reflexionsbewegung strebt eine Wiedergewinnung der Grundlagen des gegenwärtigen Selbst- und Weltverständnisses
der Menschen an, welche – stets aufs Neue geleistet
– eine reichhaltigere, d.h. authentischere Seinsweise
ermöglichen soll.
Von Nejma Tamoudi
Literatur
Taylor, Charles. 1985a. „Atomism“. In: ders. Philosophy and
the Human Sciences. Philosophical Papers 2, S. 187-210.
Cambridge, New York: Cambridge University Press.
–––––. 1985b. „Rationality“. In: ders. Philosophy and the Human Sciences. Philosophical Papers 2. S. 134-151. Cambridge, New York: Cambridge University Press.
–––––. 1992. „Was ist menschliches Handeln?“ In: ders. Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus,
S. 9-51. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
–––––. 1995a. „Explanation and practical reason”. In: ders.
Philosophical Arguments, S. 34–59. Cambridge, MA: Harvard University Press.
–––––. 1995b. „Overcoming epistemology“. In: ders., Philosophical Arguments, S. 1-19. Cambridge, MA: Harvard
University Press.
–––––. 1995c. Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
–––––. 1996. Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
–––––. 2002. „Humanismus und moderne Identität“. In: ders.
Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie, S. 218–270. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
–––––. 2007. A Secular Age. Cambridge, MA, London, UK:
Harvard University Press.
–––––. 2009. Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Anzeige
Neue Schriftenreihe
zum Deutschen Idealismus
Band 1
soeben
erschienen
Thomas Sören Hoffmann (Hrsg.)
Die Philosophien Kants und des Deutschen Idealismus
stehen für eine ungemein schöpferische und exempla­
rische Epoche des philosophischen Denkens.
Während die Erträge dieser Epoche bis heute als
keineswegs ausgeschöpft gelten können, definiert die
Stellung zu ihr noch immer das denkerische Niveau:
etwa insofern sich mit ihr Reduktionismen aller Art
verbieten, insofern hier Geschichte und Systematik
des Denkens nicht gegeneinander ausgespielt werden
können oder insofern die Philosophie sich hier darauf
verpflichtet hat, niemals nur „Metawissenschaft“ zu
sein, sondern in umfassendem Maßstab „konkret“
zu denken.
Die Publikationsreihe „Begriff und Konkretion“
will die Präsenz und bleibende orientierende Kraft
dieser Epoche aufzeigen. Mit einem international
besetzten wissenschaftlichen Beirat trägt sie dabei
der Tatsache Rechnung, dass die klassische deutsche
Philosophie längst global rezipiert und fortgeschrie­
ben wird.
Das Recht als Form der
„Gemeinschaft freier Wesen als solcher“
Fichtes Rechtsphilosophie in ihren aktuellen Bezügen
Fichtes Vernunftrechtslehre zählt zu den überzeugendsten Versuchen philosophischer Rechtsbegründung. Ausgehend von
der Frage, wie der Freiheitsanspruch der Subjektivität unter
Bedingungen der Endlichkeit gewahrt werden kann, entwickelt
Fichte ein Konzept vom Recht als konkretem Freiheitsgedanken,
der basale Anerkennungsvollzüge und Urrechte ebenso einschließt wie den Bezug auf eine im Leib individuierte Freiheit.
Der vorliegende Band, aus dem Gespräch von Philosophie und
Rechtswissenschaft entstanden, würdigt Fichte entlang der verschiedenen Sphären des Rechts in umfassender Hinsicht.
299 Seiten, 2014
ISBN 978-3-428-14279-8
€ 79,90
Auch als E-Book erhältlich
www.duncker-humblot.de
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Zur Aktualität der
Brieffreundschaft
Anmerkungen zu: John M. Coetzee
und Paul Auster: Here and Now
Von Oki Utamura
Es ist nicht leicht, eine Freundschaft authentisch darzustellen. Here and Now gelingt
dies um den Preis der Belanglosigkeit. Dennoch hat der Briefwechsel zwischen
Paul Auster und J.M. Coetzee einen Vorzug: Im technisierten Zeitalter des globalen
Kapitalismus erinnert er an den Briefwechsel als veritables Medium einer Freundschaft.
Der vorliegende Briefwechsel ist der Freundschaft gewidmet. Er beginnt in medias res:
„Dear Paul, I have been thinking about friendships,
how they arise, why they last—some of them—so long,
longer than the passional attachments of which they
are sometimes (wrongly) considered to be pale imitations. I was about to write a letter to you about all of
this, starting with the observation that, considering
how important friendships are in social life, and how
much they mean to us, particularly during childhood, it
is surprising how little has been written on the subject“
(Auster & Coetzee 2013: 14.-15. 6. 2008).
Wie entstehen Freundschaften? Weshalb haben sie Bestand? Coetzees Brief gibt darauf keine befriedigende
Antwort. Gegen Ende des Buches findet sich aber ein
Hinweis:
„Dear John, […] A couple of days ago, I had a startling
revelation about the effect our correspondence has
had on me. We have been at it for close to three years
now, and in that time you have become what I would
call an ‚absent other,‘ a kind of adult cousin to the
imaginary friends little children invent for themselves.
I discovered that I often walk around talking to you in
my head, wishing you were with me so I could point
out the strange-looking person who just walked past
me on the sidewalk, remark on the odd scrap of conversation I just overheard […]. So there you are, John,
inside my head as I talk to you, and nothing like this
has ever happened to me—probably because I have
never corresponded with anyone so regularly—and the
effect, I can assure you, is an entirely pleasant one“ (22.
4. 2011).
Inzwischen ist aus dem Briefwechsel eine Brieffreundschaft entstanden. Hatte Coetzee jenen Brief vier Mo-
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nate nach seiner ersten persönlichen Begegnung mit
Auster verfasst (Klappentext), offenbart dieser, dass
sich Coetzee inzwischen – nach fast drei Jahren – einen
festen Platz in Austers Leben erschrieben hat. Mit dieser Feststellung lässt sich der Briefwechsel selbst als
Antwort auf beide Fragen verstehen: Wie entstehen
Freundschaften? Weshalb haben sie Bestand? Here and
Now nimmt zu diesen Fragen Stellung, indem es Entstehung und Verlauf dieser Freundschaft darstellt.
Probleme, eine
Freundschaft darzustellen
Aber eine Freundschaft darzustellen, ist kein triviales
Unterfangen. Die Frage nach den Bedingungen ihrer
Möglichkeit ist eine philosophische Frage. Ihre Klärung
trägt zum Verständnis dessen bei, was eine Freundschaft überhaupt ist. Dies und mehr hat Alexander
Nehamas (2010) in einem bemerkenswerten Aufsatz
klären können. Er nennt drei Probleme, welche die Darstellung einer Freundschaft aufwirft.
Das erste Problem betrifft den visuellen Aspekt: Es
gibt kein sichtbares Merkmal, das eine Freundschaft
mit Sicherheit identifiziert. Nehamas führt dies anhand eines rinascimentalen Gemäldes vor. Es zeigt
zwei Männer, die gemeinsam ein beschriebenes Blatt
in ihren Händen halten. Nur aus diesem Blatt geht ihre
Freundschaft hervor, denn es beinhaltet einen Auszug
aus Ciceros Über die Freundschaft. Dieses Bild einer
Freundschaft bedarf also eines Textes, geschriebener
Rede, um die Freundschaft darzustellen. Hingegen sind
Motive wie Sex and Crime visuell zugänglicher: „The visual indications of sexuality or killing are many but their
range is limited. Friendship is different: it has no sure
signs. In painting, friends […] can be doing almost anything together. And so they can in the world as well.“
Das zweite Problem betrifft den zeitlichen Asden bewältigt es mühelos: Die Darstellung der Freundpekt. Dem muss die glaubwürdige Darstellung einer
schaft erfolgt im Briefwechsel textuell, nicht visuell.
Freundschaft Rechnung tragen, denn „Friendship is
Durch den abgedeckten Zeitraum der 79 Briefe (Juli
manifested only through a series of actions that occur
2008–August 2011) kommt auch der zeitliche Aspekt
over time“. Nehamas bestreitet nicht, dass sich eine
zum Tragen. Aber das dritte Problem bleibt bestehen:
Freundschaft in einer Einzelhandlung bewahrheiten
Here and Now muss denen, die an der Freundschaft unkann. Doch er weist darauf hin, dass die Authentizität
beteiligt sind, langweilig und belanglos erscheinen.
dieser Handlung beglaubigt werden muss. Dazu bedarf
Dies wird in Terry Eagletons Rezension von Here
auch die nobelste Einzelhandlung einer alltägliche Rahand Now (2013) deutlich: In der Times Literary Supplemung. Fehlt diese, so
ment erhebt der britibüßt die Darstellung
sche Literaturkritiker
an
Glaubwürdigkeit
zwei Vorwürfe. Erstens
ein: „Passion between
kritisiert er den Inhalt
friends, in any case, has
des Briefwechsels. Sein
always proved suspivernichtendes Urteil:
cious: Achilles’ desper„Fans of baseball might
ate mourning for Pafind it more rewarding
troclus’ death and his
than friends of fiction.“
bloody revenge in The
Mit dem Namen der
Iliad prompted classiAutoren locke das Buch
cal Athens to see them
seine Leser – aber nur,
as lovers; and in Monum sie zu enttäuschen.
taigne’s ardent descripDenn die beiden Litetion of his feelings for
raten korrespondieren
Étienne de la Boétie,
öfter und leidenschafthis readers have somelicher über Sport als
times felt the stirrings
über Bücher. Als zweitof lust.“
er Vorwurf tritt die
Diese
alltägliche
Ideologiekritik hinzu
Rahmung führt zum
(Eagleton 2007): „It is
dritten Problem: die
a Romantic delusion to
Belanglosigkeit
der
suppose that writers
Ereignisse, die unter
are likely to have someFreunden üblich sind.
thing of interest to say
Um eine Freundschaft
about race relations,
als solche darzustellen,
nuclear weapons or
muss ihre Alltäglichkeit
economic crisis simply
zum Ausdruck komby virtue of being writJacopo da Pontormo (1494-1557), Freundschaftsbildnis,
men. Dann aber müsers“ (Eagleton 2013).
ca. 1522, Öl auf Holz, 88,2 x 68 cm.
sen die dargestellten
Es sei eine Anmaßung,
Ereignisse allen – außer den beteiligten Freunden
dass Auster und Coetzee ihre – zwar gelegentlich interselbst – belanglos erscheinen: „To establish a friendessanten – Ausführungen an die Öffentlichkeit tragen.
ship, a novel would have to include many inconsequenDenn, was die behandelten Themen betrifft, bezeutial moments and events, only against the background
ge Here and Now vor allem die fachliche Inkompetenz
of which […] would we be able to tell that the characters
seiner Autoren. Und dafür gäbe es keinen Bedarf: „This
act out of friendship and not out of duty, love or reckbook fills a much needed gap.“
lessness. […] But the events through which a friendship
Doch obwohl Eagletons Kritik auf richtigen Beobis manifested, if they are to serve their purpose, must
achtungen beruht, wird sie dem Anliegen der Autoren
be represented as insignificant, and a narrative of insignicht gerecht. Ein angemesseneres Urteil fällt Martin
nificant events is unlikely to absorb its readers.“
Riker (2013): „They did not set out to make a book, but
to make a friendship, and this fact accounts for many
of the book’s weaknesses as well as its strengths.“
Denn weshalb sollte eine Brieffreundschaft Rücksicht
auf Unbeteiligte nehmen? Warum sollte Fachkompetenz Voraussetzung für den freien Meinungsaustausch
unter Freunden sein? Dies lädt freilich zur Gegenfrage
Als veröffentlichte Brieffreundschaft ist Here and Now
ein: Wozu die Veröffentlichung einer solchen Brieffreundmit diesen drei Problemen konfrontiert. Die ersten beischaft?
Die Belanglosigkeit
des vorliegenden
Briefwechsels
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Der Briefwechsel als
Medium der Freundschaft
kompetenz zur Geltung. Als Schriftsteller üben sich Auster und Coetzee regelmäßig in der Schöpfung literarischer Welten. Dies geht aber mit grundsätzlichen Entscheidungen darüber einher, mit welchen technischen
und medialen Requisiten jene Welten auszustatten
sind. Solche Entscheidungen erfordern eine Sensibilität für das Verhältnis von Technisierung und Lebenswelt (Blumenberg 1981). Dies zeigt sich, wenn Coetzee
die Verbreitung von Mobiltelefonen nicht nur mit neuen Überwachungs­möglichkeiten assoziiert. Zugleich
bringt er die Verbreitung jener Technologie mit neuen
Organisationsmöglich­keiten des Ehebruchs in Verbindung, wie sie Ehebruchromane bis dato nicht gekannt
haben (14. 3. 2011). Diese schriftstellerische Sensibilität
kommt auch dann zum Ausdruck, wenn sich Coetzee
zum Einsatz der Technik in seinen Werken äußert:
Weder Inhalt noch literarische Qualität zeichnen Here
and Now aus. Seine inhaltliche Vielfalt ist zwar überraschend. Es enthält kultivierte, durchaus interessante
Überlegungen zu Freundschaft, Sport, Sprache, Literatur und Kultur, Politik (Wirtschaftskrise, Israel, Südafrika) sowie zur schriftstellerischen Existenz. Doch insgesamt ist Eagleton zuzustimmen: Oftmals sind diese
Überlegungen dilettantisch. Zudem verhindert die inhaltliche Vielfalt das Entstehen von literarischer Dichte.
Bestenfalls enthält Here and Now gut bis sehr gut geschriebene Briefe, wie sie unter kultivierten Freunden
ausgetauscht werden.
Aber das Bemerkenswerte an Here and Now ist seine Medialität als Briefwechsel. Dieser Veröffentlichung
„The telephone is about as far as I will go in a book,
kommt der Verdienst zu, an eine altehrwürdige Kulturand then reluctantly. Why? Not only because I’m not
technik zu erinnern: die briefliche Korrespondenz. Ihre
fond of what the world has turned into, but because if
Qualitäten bleiben auch im digitalen Zeitalter bestepeople (‚characters‘) are continually going to be speakhen. Im Gegensatz zu Telefonaten und Online-Chats
ing to one another at a distance, then a whole gamut
setzen Briefe eine größere Planung, Isolation und Reof interpersonal signs and signals, verbal and nonverflexion voraus. In der Abwesenheit des anderen verbal, voluntary and involuntary, has to be given up. Diafasst, transportieren sie schriftliche Rede. So muss ein
logue, in the full sense of the term, just isn’t possible
guter Brief anderen Ansprüchen genügen als ein gutes
over the phone“ (7. 4. 2011).
Gespräch: Während Letzteres wechselseitige Aufmerksamkeit erfordert, setzt Ersteres einseitige Arbeit vorDoch Coetzees Betonung der räumlichen Präsenz wirft
aus, deren Resultate sich aber wiederholter Lektüren
zugleich die Frage auf, ob eine Brieffreundschaft nicht
eignen. Diese erbrachte Vorleistung macht Briefe zum
letztlich doch hinter einer Freundschaft zurückbleiben
Medium einer besonderen Wertschätzung.
muss, die auf räumlicher Präsenz beruht. So hatte AriDarin ähneln sich analoge und elektronische Briestoteles sogar behauptet, dass sich Freunde dadurch
fe. Doch sie unterscheiden sich in ihrer Materialität:
auszeichnen, dass sie in räumlicher Nähe zueinander
Die Briefe zwischen Auster und Coetzee wurden – maleben (1995: 1157b16-25).
nuell oder maschinell – auf Papier
Dem ist aber zu entgegnen, dass
geschrieben, dem Briefkasten oder
auch die räumliche Präsenz nur
Telefax überantwortet, und schließ- Das Bemerkenswerte an
eine medial vermittelte ist. Denn
lich dem Empfänger ausgestellt. Als Here and Now ist seine Meselbst dort, in der Begegnung von
analoge Briefe üben sie eine mate- dialität als Briefwechsel. Der Angesicht zu Angesicht, ist Unmitrielle Präsenz aus: Bei mangelnder Veröffentlichung kommt der telbarkeit niemals gegeben: Auch
Ordnung fallen sie einem zufällig
Verdienst zu, an eine altehr- die Luft ist ein Medium für das Sein die Hände und wandern von der
hen und Hören (Aristoteles 1995:
Wahrnehmung in die Imagination. würdige Kulturtechnik zu
418b11-419b2). Ein solches Medierinnern
Dort vergegenwärtigen sie uns ihum ist auch der Brief – nur eben ein
ren Absender. Zwar beansprucht es
anderes. Demnach geht es weniger
mehr Zeit, sie zu sammeln und zu ordnen, als es E-Mails
darum, die verschiedenen Medien gegeneinander auserfordern (Soentgen 2014). Doch Briefe von Freunden
zuspielen. Wichtiger ist es, zum einen, die verschiedeversüßen solche ‚belanglose‘ Tätigkeiten: Ihr Lohn ist
nen Medien auf die jeweiligen Gestaltungsmöglichkeiweder käuflich noch konsumierbar. Denn Freundschaften hin zu befragen, die sie einer Freundschaft bieten;
ten sprechen uns persönlich an. Sie lassen uns Belangzum anderen, den Gebrauch der Medien den situativen
loses als bedeutsam, bewegend, gar als transformativ
Anforderungen einer jeden Freundschaft anzupassen:
erleben: Sie verändern uns, wer wir sind und sein wollen
So manche SMS erfordert als Antwort nicht eine weite(Nehamas 2010: 280ff.).
re SMS, sondern einen schnellen Rückruf – sei es auch
nur, um kurz die eigene Anteilnahme zum Ausdruck zu
bringen.
Mit diesem Hinweis auf die Medialität jeglicher
Kommunikation lässt sich die Frage nach der ReleAls Erinnerung an ein altehrwürdiges Medium kommt
vanz räumlicher Nähe relativieren. Nicht diese ist in
in Here and Now also doch – pace Eagleton – eine Fachden Vordergrund zu stellen, sondern die innere Nähe,
Die schriftstellerische
Fachkompetenz
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cog!to 07/2014
die sich innerhalb einer Freundschaft für die Freunde
selbst schrittweise einstellt und dort – bisweilen facie
ad faciem – kultiviert wird. Da sich aber Freundschaften durch ein Höchstmaß an Individualität auszeichnen (Nehamas 2010), wird nur im Einzelfall zu klären
sein, welche Arten der Kommunikationen sich wie auf
eine Freundschaft auswirken: ob die eine einer anderen
vorzuziehen ist. Hier scheint allein eine experimentelle
Haltung weiterführend. Es ist nicht im Voraus zu klären,
welche Rolle die räumliche Präsenz in einer bestimmten
Freundschaft einzunehmen vermag. Alleinfalls gibt es
ein äußeres Kriterium für die Qualität einer Freundschaft: Die beständig kultivierte Belanglosigkeit des
Alltäglichen, die von den Freunden selbst als Bereicherung wahrgenommen wird – oder für Außenstehende:
wahrgenommen zu werden scheint.
So zeigt auch Here and Now, gerade durch seine
über drei Jahre beständig kultivierte Belanglosigkeit,
dass der Briefwechsel für die Autoren zum veritablen
Medium einer Freundschaft geworden ist – und für andere auch werden könnte.
Literatur
Auster, Paul und John M. Coetzee. 2013. Here and Now. Letters: 2008 – 2011. London: Faber and Faber / Harvill Secker.
Aristoteles, The complete works of Aristotle. Herausgegeben
von Jonathan Barnes. 2 Bde. Princeton: Princeton University Press.
Blumenberg, Hans. 1981. „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“. In: ders. Wirklichkeiten in denen wir leben; S. 7-54. Stuttgart: Reclam.
Eagleton, Terry. 2007. Ideology. An introduction. London:
Verso.
–––––. 2013. „What am I to make of this, John?“. In: The Times
Literary Supplement. http://www.the-tls.co.uk/tls/public/
article1266164.ece
Nehamas, Alexander. 2010. „The Good of Friendship“. In: Proceedings of the Aristotelian Society 110 (3): 267-294.
Riker, Martin. 2013. „Pen Pals. ‚Here and Now‘ by Paul Auster
and J. M. Coetzee“. In: The New York Times (online). http://
www.nytimes.com/2013/03/17/books/review/here-andnow-by-paul-auster-and-j-m-coetzee.html
Soentgen, Jens. 2014. „Outlook™, der sanfte Tyrann“. In:
Merkur 780 (Mai): 471-476.
Von Oki Utamura
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