Der +Ethik-Skandal und die Tiermedizin

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GASTEDITORIAL
TIERethik
8. Jahrgang 2016/1
Heft 10, S. 7-13
Der +Ethik-Skandal und die Tiermedizin
Bernhard H. F. Taureck
Tiermedizin bildet das gesellschaftlich zentrale Expertentum für unseren
Tierbezug. Tiermedizin begleitet Zucht, Aufzucht, Transport und
Schlachtung von Tieren, deren Fleisch den Menschen als Nahrung dient.
Tiermedizin begleitet Zoologische Gärten, Schaustellung mit Tieren und
steht den Haltern von Haustieren zur Verfügung. Andere Tierexperten –
bezüglich Ernährung (Landwirte, Nutztierhalter), Unterhaltung (Zoologische Gärten, Zirkusse), Liebhaberei (Haustierindustrie), Bekleidung
(Pelzindustrie) – bleiben auf tierärztliches Wissen angewiesen. Aus diesem Expertentum ergibt sich – jedenfalls auf den ersten Blick – eine
mehrfache Verantwortung der Veterinärmediziner, eine diagnostischtherapeutische und eine ethische. Amtstierärztinnen und Amtstierärzte
besitzen eine Garantenstellung für das Tierwohl. Werden sie nicht für das
Wohl der Tiere tätig, so begehen sie aus juristischer Sicht eine Straftat
durch Unterlassen (Kemper 2006). Diese Funktion als beschützende Garanten kann als Teil der ethischen Verpflichtung der Tierärzte gelesen
werden. Angesichts gravierender Missstände in der Wahrnehmung dieser
Garantenpflicht sollten jene Personen als Vorbilder zur Nachahmung
empfohlen werden, die sie in mustergültiger Weise erfüllen, wie zum
Beispiel der Veterinär Hermann Focke. Hinzuzunehmen ist noch eine
dritte Art der Verantwortung, nämlich eine informationelle: Jede veterinärmedizinisch tätige Person verantwortet ihren Wissensstand über Tiere.
Da das biologische Wissen über Tiere sich nicht lediglich quantitativ
erweitert hat, sondern auch teilweise unerwartete Kenntnisse über die
Relation von Mensch und Tier zeitigt, entsteht durchaus ein informationeller Verantwortungsdruck. Dazu ein aktuelles Beispiel: Am 22.01.2016
meldete der Deutschlandfunk („Forschung aktuell“) etwas, das niemand
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erwartet hatte, der sich ein wenig mit der Verhaltensbiologie der Tiere
beschäftigt. Dem niederländischen Forscher Frans de Waal folgend, war
man davon ausgegangen, dass ein Empathieverhalten im Tierreich nur bei
Menschenaffen vorliegt und mit kognitiven Strukturen korreliert. Empathie sei dabei verstanden als Fähigkeit, die Gefühle oder Erfahrungen
eines anderen zu teilen, indem die Vorstellung in einem selbst gebildet
wird, die einem mitteilt, was es bedeuten würde, wenn man selbst in der
Situation des anderen wäre. Nun zeigt James Burkert als Mitarbeiter von
Frans de Waal an der Emory University of Atlanta, dass ausgerechnet
vom Menschen kaum beachtete Kleintiere nicht nur monogam leben und
sich gemeinsam um den Nachwuchs kümmern, sondern dass sie ihren
Artgenossen bei Bedarf mit Hilfe und Trost beistehen. Diese Kleintiere
sind: Präriewühlmäuse! Wie begründet vermutet wird, hängt deren Empathie nicht von der Hirngröße, sondern von einem Hormon namens Oxytocin ab. Das aber ergibt keinen Einwand gegen die Empathieleistung.
Denn teils hängen auch unsere eigenen Tugendleistungen von chemischen Prozessen in uns ab, teils gilt: Wenn ein Präriewühlmäuschen seine
verängstigte Schwester tröstet, dann wird Oxytonin abgegeben. Wenn
jedoch Oxytonin abgegeben wird, dann folgt daraus nicht notwendig eine
Trostgeste.
Diese Einsicht lässt sich in folgenden ethischen Rat übersetzen: Man
unterlasse es, Tiere hinsichtlich ihrer Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft gering zu schätzen! Das Beispiel hat trotz seiner lokalen Bezüge makrologische Implikationen und führt zu einem zweiten methodologischen Rat: Anstatt Tiere nach ihrer Ähnlichkeit und Unähnlichkeit mit
Menschen zu klassifizieren, suche man nach einem Dritten, das heißt
nach einem Feld, nach einer Landkarte, in welcher Menschen und verschiedene Tiere eingetragen werden. Zwar sind wir daran gewöhnt, bei
bestimmten Eigenschaften zu bemerken: „Wie wir Menschen!“ Doch
weshalb? Weshalb macht ein Empathiephänomen Präriewühlmäuse uns
ähnlicher? Besteht nicht vielmehr Grund, die Mäuse-Mäuse-Empathie
von der unseren deutlich zu unterscheiden, weil die kleinen Tiere ausnahmsloser, eindeutiger und weitaus zuverlässiger den anderen Trost
spenden als menschliche Individuen?
Zurück zu den drei Verantwortungen, der diagnostisch-therapeutischen, der informationellen und der ethischen: Diese Unterscheidung
hat sich in der Weise eingebürgert, dass bei allen menschlichen Tätigkeiten seit einiger Zeit zu allen spezifischen Handlungsformen eine eigene
Dimension des Ethischen hinzugefügt wird. Sei es in Politik, Wissenschaft, Kunst, Pädagogik, Humanmedizin, Wirtschaft, Militär, Religion,
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Finanzwesen – stets wird eine ethische Verantwortung hinzugefügt. Es
ist, als solle eine Formel spezifische Handlung + Ethik erfüllt werden.
Dieses +Ethik-Verfahren erscheint insofern nützlich, als niemand vergessen darf, dass sein Handeln nicht lediglich technisch-praktischer, sondern
ebenfalls moralisch-praktischer Art ist. Der Schein trügt indes. Das allseitig als selbstverständlich propagierte +Ethik-Verfahren bietet eine EthikRhetorik der Behinderung von Ethik. Dies fällt jedoch weder auf, noch
besteht ein gesellschaftlicher Bedarf nach Aufdeckung der Ethikbehinderung mittels Ethikpropagierung.
Es ist nicht sonderlich schwer, die Augen für diesen Irrtum zu öffnen.
Soll Ethik einer Handlungsweise hinzugefügt werden, so setzt dies voraus, dass die Handlungsweise selber ethikfrei erfolgt. Nach welchen
Lehrplänen unterrichtet wird, nach welchen Kriterien Bankkunden beraten werden, auf welcher Strategie eine Verteidigung beruht, mit welchen
Verfahren Tiere aufgezogen und geschlachtet werden – all dies ist ethikfrei, bevor Ethik hinzugefügt wird. Demzufolge ist es auch ethikfrei,
Menschenleben mittels einer militärischen Strategie absichtlich zu gefährden oder Rinder, Schafe, Schweine, Hühner, Fische zu töten, um sie
zu Nahrungsmitteln zu verarbeiten. Nehmen wir einmal an, jede Art
menschlichen Tuns besäße einen ethikfreien Bereich, dem Ethik hinzugefügt werden könne oder solle. Ethikfrei bedeutet hierbei: Dass es diesen
Bereich überhaupt gibt und wie er bearbeitet wird, ist ethischen Überlegungen und Forderungen entzogen. Was aber bleibt dann noch für die
Ethik übrig, die hinzuzufügen ist? Worauf bezieht sich dann noch das
+Ethik-Verfahren? Hinsichtlich dieser Frage wird sich folgender Konsens
finden lassen: Ethik bezieht sich nicht auf die Existenz des Bereichs und
seinen Inhalt, sondern auf die Art, wie der Bereich bearbeitet wird. Demzufolge ist es kein Thema der Ethik, dass Menschen kollektiv der Tod
angedroht oder angetan wird, sondern lediglich, auf welche Weise, traditionell verstanden etwa als die Frage, ob es noch ein „ius in bello“ gibt
und worin es besteht. Demzufolge ist es ebenfalls kein Thema der Ethik,
ob Tiere allein zu dem Zweck gezüchtet und aufgezogen werden, um sie
zwecks Nahrungsgewinnung zu töten. In gleichem Sinn ist es kein Thema
der Ethik, dass Tiere zum Zweck humanmedizinischer Forschung gequält
oder getötet werden. Ethik bezieht sich in den Fällen von Schlachtung
und Tötung bei Experimenten allein darauf, wie die Tötungen geschehen,
etwa dass eine Betäubung verlangt wird, mit dem Ziel, das Wohl des
Tieres nicht durch Hinzufügung von Schmerz und Leid zu gefährden.
Sicherlich ist es einer Kultur seit langem gelungen, Tierschlachtung und
Tierfleischverzehr als positive Einstellung und positives Verhalten zu
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etablieren. Zudem ist es gelungen, dieses Positivum als etwas Ethikfreies
darzustellen mit der Begründung, für Ethik sei die +Ethik zuständig. Erwachsene verhalten sich in dieser Angelegenheit oft blinder als Kinder.
Es gibt nämlich Kinder, die den Fleischkonsum verweigern, sobald sie
erfahren, dass sie Teile zuvor getöteter Lebewesen verspeisen. Sie verstehen intuitiv, dass weniger das Wie der Tötung als die Tatsache, dass Tiere getötet werden, um dem Menschen zu nützen, die eigentlich ethisch
relevante Entscheidung darstellt. Landwirte beispielsweise reagieren
gereizt, sobald ethische Forderungen auf Tierhaltung und Tierschlachtung
ausgedehnt werden. Landwirtschaftliche Betriebe seien keine Kuschelhöfe, und in den agrarischen Umgang mit Tieren habe man sich als NichtLandwirt gefälligst nicht einzumischen. Der landwirtschaftliche Umgang
mit Tieren solle, mit anderen Worten, ethikfrei bleiben.
In einer Zeit von immer wieder aufflackernden Skandalen um verdorbenes Fleisch besteht der eigentliche Skandal darin, dass es nach wie vor
gelingt, die Tiernutzung einschließlich ihrer Tötung als gesellschaftlich
ethikfreie Vorgabe zu behandeln und mit einer +Ethik ideologisch erfolgreich zu tarnen. Einwenden ließe sich, man sei mit einem Dilemma konfrontiert, das sich allenfalls abschwächen lasse. Das Dilemma besteht –
hinsichtlich unseres Umgangs mit Tieren – zwischen der Vorgabe, dass
das Wohl der Tiere zu achten sei, und der Tatsache, dass gleichzeitig
Tiernutzung eine selbstverständliche Gegebenheit bildet. Paragraph 90a
des Bürgerlichen Gesetzbuches kann als Ausdruck dieses Dilemmas gelesen werden: „Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt. Auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.“ Selten
ist ein Gesetz derartig offen kontradiktorisch formuliert worden. Will
man es verstehen, so bleiben nur Nonsens-Formeln übrig, wonach Tiere
Sachen und keine Sachen darstellen (Taureck 2015, 74). Der gesellschaftlich verwendete Tier-Begriff ist längst gespalten in Tiere der Wildnis, des
Heims, der Unterhaltung und der Nutzung. Wenn Tiere generell als Minus-Wesen gegenüber den Menschen gelten, so werden die Nutztiere als
Minus-Wesen von Minuswesen betrachtet und behandelt, nämlich als
nachwachsende Ressourcen. In einer Tiernutzungsgesellschaft bleiben
alle protektiven Tiergesetze Tiernutzungsgesetze. Auch der tierwohlbemühte „Codex Veterinarius“ der vor 20 Jahren gegründeten „Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz“ vermag das Dilemma nicht aufzulösen.
Solange Tiere, um sie zu nutzen, getötet werden, weil sie getötet werden
dürfen, wird jede Bemühung um ihr Wohl am Ende zunichte gemacht.
Wäre die Tiernutzung ein Fels, der sich wegrollen ließe auf eine Anhöhe,
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so würde er dem Gesetz der Sisyphos-Sage folgen und jeder TierwohlBemühung trotzen, die ihn ein für alle Male fortrollen möchte.
Das Dilemma zwischen Tiernutzung und Tierwohl entsteht jedoch nur
deshalb, weil die Tiernutzung als ethikfreier Bereich behandelt wird.
Ethikfreie Bereiche bilden indes eine Fiktion. Tiere sind keine Sachen,
sondern werden als solche behandelt. Die Schlachtung von Tieren zur
Nahrungsgewinnung ist kein unveränderliches Faktum, sondern eine
ethisch zu verantwortende Entscheidung. Tierwohl und Tiernutzung bilden einander entgegengesetzte Imperative. Das Dilemma ist ein Scheindilemma, das aus dem Skandal der +Ethik-Logik folgt, mit dem unsere
bedenkliche Tierliebe ihren blinden Tiernutzungstrieb pseudo-rational zu
bemänteln sucht.
Weil sie als Expertin für alle Tierbelange installiert wurde, ist die
Tiermedizin dem Scheindilemma in besonderem Maße ausgesetzt. Ihr
Verhalten fügt sich der +Ethik-Ideologie. Welche andere Ethik steht denn
auch zur Verfügung? Ist Ethik nicht überhaupt ein problematischer Bereich? Angenommen, gerechtes Entscheiden und Handeln sei Gegenstand
der Ethik. Angenommen ferner, man verstehe in Anlehnung an John
Rawls Gerechtigkeit als Fairness (für alle gelten gleiche Rechte und
Pflichten, und soziale Ungleichheiten sollen im Sinn der Benachteiligten
ausgeglichen werden): Ist es dann nicht unausweichlich, dass jedes Tun
gemäß dieser Grundsätze insofern unbefriedigend bleibt, als es weder
Kriterien gibt, die faires Handeln zweifelsfrei identifizieren, noch Garantien, dass Betroffene Handlungen als fair akzeptieren? Ethik ist einem
Anwendungs- und einem Akzeptanzproblem ausgesetzt, das nicht gelöst
wird, sondern das einer Verschiebung in die Zukunft ausgesetzt bleibt. Es
mag tröstlich erscheinen, dass im pädagogischen Bereich dieses Problem
dadurch umgangen wird, dass junge Menschen bereit sind, alles Begründete so zu übernehmen, wie es gegeben wird, und sich auch später an das
Gelernte halten. Doch dieser Erfolg widerspricht dem Ziel der Erziehung,
das nicht verstetigte Fremdeinwirkung, sondern Erziehung zur Selbsterziehung bedeutet. Doch leider gilt, dass westliche Gesellschaften einen
latenten pädagogischen Konsens praktizieren, für den Karnivorismus
normal und Veganismus abnormal ist. Das Beispiel des Kindes, das den
Fleischverzehr ablehnt, sobald es vom Leid der Tiere erfährt, deckt zugleich eine ideologische Prämisse der Pädagogik auf. Das grundsätzliche
Anwendungs- und Akzeptanzproblem der Ethik kann auch zu einem
Missbrauch des Anwendungsproblems führen. Die 1999 zeitgleich vom
Bundesverfassungsgericht und von der EU gesetzten Normen für „ausgestaltete Käfige“ für Legehennen wurden keineswegs selbstverständlich
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umgesetzt, ganz abgesehen davon, dass eine Käfighaltung für Geflügel
(und alle Nutztiere) artwidrig ist (vgl. Focke 2007, 297-320). Die 2012
von der EU verbotene Käfighaltung wird in Europa nicht hinreichend
umgesetzt, obwohl außerhalb der EU die Schweiz uns vorexerziert (in der
Schweiz besteht seit 1992 Käfigverbot!), dass für dieses Verbot gar kein
Anwendungsproblem existiert.
Es hat sich noch nicht herumgesprochen, dass es einen und genau einen Bereich der Ethik gibt, der kein Anwendungs- und Akzeptanzproblem kennt. In ihm kann ein ethischer Imperativ restlos erfüllt werden. Mit
seiner Erfüllung würden, sofern sie graduell erfolgt, wir Menschen davon
befreit, anderen Lebewesen Schmerz und Leid zuzufügen und zugleich
die Voraussetzungen unseres eigenen Wohlergehens optimiert. Es handelt
sich um den Imperativ des Beendens aller Tiernutzung, somit um eine
vollständige Entnutzung der Fauna. Mit ihr würde die gesamte Problematik, welchen Tieren aufgrund welcher Ähnlichkeit mit den Menschen
welche Rechte zuzubilligen seien, überflüssig. Alle Tiere haben ein einziges Recht, ein IUS MAGNUM AD PLENAM LIBERTATEM ANIMALORUM, das Recht auf Freilassung und ungehinderte Selbstregulation ihrer Bedürfnisse. Die Natur besitzt kein Anwendungs- und Akzeptanzproblem. Werden dagegen bestimmten Tieren bestimmte Rechte
zugebilligt, so erzeugen wir Anwendungs- und Akzeptanzprobleme mit
unabsehbaren Streitfolgen, wobei das Wohl der Tiere in den Hintergrund
tritt und unsere Rechthaberei im Namen von Rechten die Szene dominieren würde. Das Ähnlichkeitskriterium bildet ein anthropozentrisches
Wunschdenken. Das kontinuierliche Empathieverhalten der uns fernstehenden Präriewühlmäuse bleibt uns so fremd, wie wir Menschen einander
entfremdet wurden.
Das bezeichnete IUS MAGNUM begründet sich nicht konsequenzialistisch, sondern deontologisch. Es ähnelt einem Buch, das zutrifft, auch
wenn es nicht gelesen wird. Konsequenzialistische Überlegungen spielen
jedoch eine bedeutsame Rolle für das IUS MAGNUM, nämlich als Entdeckungskontext. Dass von den Tieren Unglück abgewehrt wird, hilft
dabei, den Entnutzungsimperativ zu entdecken.
Was würde dann jedoch aus der Tiermedizin? Auf lange Sicht würden
mit einer vollständigen Entnutzung der Fauna die Aufgaben der Tiermedizin erheblich reduziert und auf Strategien der Notwehr gegen Angriffe
aus der Fauna und auf Nothilfe gegenüber Tieren beschränkt. Dafür wäre
tiermedizinisches Tun von ökonomisch begründeten Imperativen der
Tiernutzung befreit. Das alles mag unvorstellbar erscheinen. Doch vor
Einführung der massenhaften Haltung und Tötung von Tieren erschienen
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weder diese und ihr Ausmaß vorstellbar noch die Erzeugung von global
bedrohlichen Treibhausgasen als Tierhaltungsfolge, noch schließlich eine
globale Ernährungsunsicherheit, die zur Folge hat, dass jährlich mehr als
zehn Millionen Menschen, darunter Millionen Kinder, qualvoll an Hungerfolgen sterben, weil die benötigten Soja- und Getreidemengen nicht
für sie, sondern für die Tierfütterung bereitzustehen haben. Die Entnutzung der Fauna würde unsere Lebensweise als jene Horrorgeschichte der
Dummheit und Gier beenden, in welcher jährlich 1.051 Milliarden Tiere
für den Verzehr einer einzigen Spezies getötet werden. Es handelt sich
um eine Spezies, die seit etwa 12.000 Jahren insgesamt kaum mehr als
100 Milliarden Individuen zählt, somit um eine Spezies, die in einem
einzigen Jahr gut hundertmal mehr Tiere tötet, als sie im Laufe ihrer
12.000-jährigen Gesamtgeschichte an Individuen hervorgebracht hat.
Literatur
Focke, H. (2007). Tierschutz in Deutschland: Etikettenschwindel?! Der gequälten Kreatur
gewidmet. Berlin: Pro Business.
Kemper, R. (2006). Rechtsgutachten über „Die Garantenstellung der Amtstierärztinnen
und Amtstierärzte im Tierschutz“. URL: Rechtsanwalt Rolf Kemper, Berlin.
Taureck, B. H. F. (2015). Manifest des Veganen Humanismus. Paderborn: Fink (umfassendes Votum für eine vollständige Entnutzung der Fauna, welches das kleine „Manifest der Tiere“, das Sina Walden und Gisela Bulla am Schluss ihres 1992 bei Rowohlt
erschienenen Buches Endzeit für Tiere. Ein Aufruf zu ihrer Befreiung (289-291) und
andere ähnliche Bestrebungen fortsetzt und zusammenführt).
Zur Person
Bernhard H. F. Taureck, Philosophieprofessor i.R. an der TU Braunschweig, Verfasser von 30 Büchern, zahlreichen Aufsätzen und Hörfunkessays. Zuletzt erschien bei Fink 2015 sein Manifest des Veganen Humanismus.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Bernhard Taureck
Auf der Hill 2
56859 Alf, Deutschland
E-Mail: [email protected]
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