Lernen aus Sicht der Neuropsychologie

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Lernen aus Sicht der Neuropsychologie
Referat vom 7. November 2001 in Langnau und vom 14. November
2001 in Burgdorf im Rahmen der Weiterbildungsveranstaltungen
der LEBE Emmental
von
Dr. Willi Stadelmann
Bildungsplanung Zentralschweiz, Luzern
Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Kolleginnen und Kollegen
Ich möchte mein Referat mit drei Zitaten wichtiger Persönlichkeiten aus
verschiedenen Epochen beginnen. Sie bedeuten mir viel und eignen sich gut für die
Reflexion der folgenden Ausführungen.
Alles Flexible und Fliessende neigt zu Wachstum,
alles Erstarrte und Blockierte verkümmert und stirbt.
Lao Tse
Man kann einen Menschen nicht lehren,
man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu tun.
Galileo Galilei
In der Welt der unendlichen Fülle
ist nur durch Beschränkung etwas zu erreichen.
Hartmut von Hentig
Zur Einleitung möchte ich noch etwas Definitorisches klären: Wenn ich von „Wissen“
spreche, das wir uns aneignen oder das wir unseren Schülerinnen und Schülern
zugänglich machen wollen, dann meine ich damit immer sowohl kognitives Wissen
als auch Verhaltensweisen. Das Gehirn verarbeitet und speichert beides in gleicher
Weise. Auch das Aneignen von Verhaltensweisen ist ein Lernprozess (Lernen als
Veränderung von Verhaltensweisen).
Zur Neuropsychologie des Lernens: Im Sinne eines Überblicks möchte ich Ihnen zu
Beginn des Referats ausgewählte fünf Punkte vorstellen, die ich anschliessend
vertieft näher betrachten werde. Dazu eine Bemerkung: Die Erkenntnisse der
Neuropsychologie sind nicht dergestalt, dass sie die gesamte bisherige Pädagogik
quasi über den Haufen werfen und absolut Neues für den Unterricht bringen. Sie
leisten aber einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Lernprozesse und
ermöglichen eine Unterstützung von pädagogischen Anliegen. Ich erwarte deshalb
von der Neuropsychologie einen Schub für die Schule, einen zusätzlichen Antrieb für
Lehrpersonen, pädagogische Ziele zu überdenken und konsequenter anzugehen.
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Einige ausgewählte Beiträge der Neuropsychologie zum Thema „Lernen“:
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Das Gehirn verändert sich beim Lernen physisch: Jeder Mensch hat seine
eigene Lernbiografie. Lernen verändert unser Gehirn ein Leben lang; durch
Lernprozesse findet eine lebenslange Hirnentwicklung statt.
Informationsübertragungen werden durch Veränderungen an Synapsen
verbessert oder durch neue Verknüpfungen gar neu geschaffen. Es finden
Wachstumsprozesse im Gehirn statt; parallel dazu werden jedoch auch
Verknüpfungen, die nicht mehr gebraucht werden, abgebaut. Lernen prägt die
Mikrostruktur des Gehirns. Man spricht von Plastizität des Gehirns. Jeder
Lernprozess schafft Grundlagen für neue, weiterführende Lernprozesse. Nicht nur
Wissen wird gelernt, sondern es entstehen gleichzeitig neue Potenziale und
„Strategiemöglichkeiten“ für weiterführendes Lernen. Jede neue „Bahnung“ und
Verknüpfung im Gehirn dient im übertragenen Sinne als Sprungbrett für weitere
Entwicklung. So ist Lernen ein individueller Prozess, gesteuert durch die
Beeinflussung von aussen, die dazu führt, dass die Gehirne der Menschen sich in
ihrer Mikrostruktur unterscheiden, ähnlich, wie sich Fingerabdrücke
unterscheiden. Durch Lernen entsteht Individualität.
Vielseitige Tätigkeiten fördern die Hirnentwicklung, ein Leben lang. Die
aktive Auseinandersetzung mit der Welt entwickelt unser Gehirn weiter.
Tätigkeiten, nicht passives, unbeteiligtes Hinnehmen führen bevorzugt zur
physischen Veränderung des Gehirns und damit zum nachhaltigen Lernen.
Das Gehirn ist das vernetzteste System, das wir kennen; kein anderes
natürliches oder künstliches Netzwerk weist einen derartigen
Vernetzungsgrad auf. Das Gehirn ist auf Vernetzung angewiesen und lebt
von ihr. In unserem Gehirn befinden sich nach Schätzungen etwa 120 Milliarden
Neuronen (Nervenzellen), die dreidimensional vernetzt sind. Ein Neuron kann
dabei mehrere Tausend Kontakte mit anderen Neuronen haben. So entsteht ein
sehr dichtes Netzwerk von Verbindungen und Kontakten, das eine Faserlänge
von etwa 400 000 km erreicht (Schätzung). In beziehungsweise zwischen den
Neuronen laufen elektrische und chemische Prozesse ab, welche das
Aufnehmen, Interpretieren und Abgeben von Informationen ermöglichen.
Die Stärke, die Leistungsfähigkeit, das Potenzial des Gehirns liegen insbesondere
in der Fähigkeit, Informationen verknüpfend zu verarbeiten. Lernen bedeutet
vernetzen, verbinden, einbauen in das bisherige Netzwerk, aufbauen auf dem
bisherigen Netzwerk. Wir können davon ausgehen, dass Lernprozesse, welche
die Vernetzung fördern und die Fähigkeiten des Gehirns zu vernetzen ausnützen,
erfolgreicher sind. Deshalb sind Unterrichtsmethoden, die verschiedene
Eingangskanäle der Wahrnehmung ansprechen, vielseitige Fähigkeiten,
Fertigkeiten und Tätigkeiten anregen und so das Gehirn vielseitig beanspruchen,
zu bevorzugen.
Wissen wird nicht als Ganzes abgelegt. Wissen wird im Gehirn nicht als
„Ganzes“, sozusagen in fest umrissenen Schubladen abgelegt. Wissen wird sehr
verstreut im Gehirn gespeichert. Bevorzugt werden individuell besonders
beeindruckende „Eckwerte“ des Wissens abgelegt und zwar je nach Qualität an
verschiedenen Orten des Gehirns. Farbeindrücke an anderen Stellen als
Eindrücke über Form oder Materialbeschaffenheit oder als Gerüche oder Töne.
Beim Erinnern setzt das Gehirn das Gelernte aus den abgelegten „Eckwerten“
wieder neu zusammen. Reproduzieren heisst interpretieren. Alles was wir
reproduzieren, wird im Lichte unserer Lernbiografie neu zusammengesetzt, also
interpretiert. Somit sind Erinnerungen nicht identisch mit dem ursprünglichen
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„Lerngegenstand“. Wissen im Massstab 1:1 an Schülerinnen und Schüler zu
übergeben, ist nicht möglich; immer sorgt jedes individuelle Gehirn für eine
eigene Interpretation.
Emotionen spielen bei Lernprozessen eine wichtige Rolle. Individuell als
bedeutsam, wichtig, emotionell prägend empfundene Ereignisse werden schneller
und besser gespeichert. Emotionen und Lernprozesse gehören eng zusammen;
Emotionale Fähigkeiten sind Teil der Intelligenz.
Ich werde nun nach dieser ersten Zusammenfassung einige mir besonders wichtig
erscheinende Erkenntnisse vertiefen und versuchen, Folgerungen für den Unterricht
und für die Schule zu ziehen.
Zum besseren Verständnis der Vorgänge im Gehirn muss ich aber zuerst noch etwas
vorausschicken, in aller Kürze und ohne all zu hohe wissenschaftliche Ansprüche zu
erfüllen: Alles was in unser Gehirn zur Verarbeitung gelangt, seien es Lichteindrücke
über die Augen, taktile Eindrücke über unsere Tastorgane, Töne und Geräusche
über unsere Ohren, Gerüche über die Nase..., wird umgewandelt in elektrische
Impulsmuster. Ins Gehirn hinein kommen weder Bilder noch Wärme noch sonst reale
Gegebenheiten; alles Aufgenommene gelangt in Form von Nervenimpulsen, also
„kodiert“ ins Gehirn. Die Farbe Rot zum Beispiel existiert im Gehirn nicht wirklich; ein
definiertes Impulsmuster, das durch den Augennerv ins Gehirn gelangt, erzeugt den
Eindruck „Rot“. Das Gehirn hat also die Fähigkeit, elektrische Impulsmuster in
Bewusstsein umzuwandeln. Alle Verarbeitungen im Gehirn und auch alle Signale des
Gehirns an die Peripherie laufen in Form solcher Impulsmuster ab. Wir erleben die
Welt also nie so, wie sie real existiert; wir erleben sie nur im Masse der Möglichkeiten
unserer Sinnesorgane, der Qualität der Umwandlung in elektrische Impulsmuster und
der Umwandlung in Bewusstsein.
Das Gehirn hat also keinen direkten Zugang zur Aussenwelt, sondern nur indirekte
Verknüpfungen über Sinnesreize, die aber nach Massgabe bereits bestehender
Verknüpfungen im Gehirn wahrgenommen werden oder nicht. Wir erleben die Welt
nie so, „wie sie ist“, sondern so wie unser Gehirn fähig ist, sie zu interpretieren.
Lernen fördert die Wahrnehmungsfähigkeit und Interpretationsfähigkeit des Gehirns,
weil neue Erfahrungen wieder neue Möglichkeiten eröffnen.
Plastizität des Gehirns
Neuronen übertragen Informationen auf andere Neuronen, auf Muskeln oder auf
Drüsenzellen. Vom Zellkörper gehen etliche Fortsätze aus. Das von der Zelle
wegführende Axon gibt Informationen an andere Neuronen weiter; es kann sich zwar
verzweigen und eigene Fortsätze aussenden; jedoch entspringt jedem Zellkörper nur
ein Axon. Stark verzweigte Fasern, Dendriten genannt, führen dem Neuron
Information zu. Durch ihre starke Verzweigung und Verästelung bilden die Dendriten
eine riesige Informationen aufnehmende Oberfläche der Nervenzelle.
Betrachtet man Kontaktstellen zwischen Neuronen unter dem Elektronenmikroskop,
stellt man fest, dass das Präsynaptische Neuron, von dem her Nervenimpulse
übertragen werden sollen, und das Postsynaptische Neuron, das die Impulse
übertragen erhalten soll, durch einen Spalt voneinander getrennt sind, der für
Nervenimpulse (also für Informationen) unüberbrückbar ist. Diesen Spalt nennt man
Synapse oder Synaptischen Spalt. Grundsätzlich sind die Neuronen voneinander
isoliert; das Gehirn ist also, um in der Elektriker- Sprache zu sprechen, nicht kurz
geschlossen.
Soll Information in Form von elektrischen Impulsmustern erfolgreich weitergegeben
werden, sind recht komplizierte biochemische Prozesse nötig. Auf Seite der
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Präsynapse werden chemische Moleküle synthetisiert und in den Synaptischen Spalt
abgegeben; wenn sie ihn überwinden und bei der Postsynapse mit ihrer räumlichen
Molekülstruktur in Rezeptoren passen, wie ein Schlüssel in ein Schlüsselloch passt,
dann kann die Information weitergegeben werden. Wir haben es also mit chemischen
Botenstoffen zu tun, den Neurotransmittern. An der Informationsübertragung können
pro Synapse mehrere Neurotransmitter beteiligt sein. Es gibt aktivierende und
hemmende Neurotransmitter, die im Zusammenspiel für eine koordinierte
Informationsübertragung sorgen. Es besteht eine Art „Ja-Nein-Prinzip“.
Eine erfolgreiche Übertragung von Information, ein erfolgreicher Aufbau eines
Netzwerks im Gehirn erfordern also Kontaktstellen zwischen Neuronen (oder ihren
Fortsätzen) und eine möglichst gute Funktion von Neurotransmittern. (Ich gehe hier
absichtlich nicht mehr ins Detail). Das ganze System wird so gesteuert, dass bei
Lern- und Denkprozessen diejenigen Teile des Gehirns, die für die spezifische
Tätigkeit benötigt werden, optimal verbunden sind, die anderen Teile isoliert bleiben.
Das Gehirn konzentriert sich also bei der Arbeit auf notwendige Bereiche, die
aktiviert werden. Konzentration bedeutet also hier Ausblendung von Information und
von Netzwerkteilen, die für die Tätigkeit nicht nötig sind oder gar störend sein
könnten. Wie diese Steuerung ermöglicht wird, ist noch weitgehend unbekannt.
Die Synapsen bilden also die Orte der eigentlichen Informationsübertragung. Hier an
den Synapsen ist eine Schlüsselstelle für Lernen und Denken, denn hier wird
gezielte Verknüpfung und Informationsübertragung gewährleistet.
Welchen Einfluss auf das System der Synapsen hat Lernen?
Beim Lernen lassen sich in der Tat Veränderungen an den Synapsen feststellen.
Durch Tätigkeiten werden neue Kontakte zu Neuronen geschaffen; damit wird das
Netzwerk erweitert. Bestehende Synapsen- Kontakte werden verbessert durch
Verdickung der Kontakt- Oberfläche und durch Vermehrung der synaptischen
Verbindungen. Dies alles mit dem Ziel, das neuronale Netzwerk zu verbessern und
die Informationsübertragung zu optimieren. Parallel dazu werden aber auch
Verbindungen abgebaut, falls die entsprechenden Tätigkeiten nicht mehr ablaufen;
wir sprechen dann von „vergessen“. Eigentlich bedeutet „vergessen“, dass kein
Zugang zum gespeicherten Wissen mehr besteht.
Diese Prozesse laufen ein Leben lang, im Alter allerdings mit mehr Aufwand
verbunden. Lernen bedeutet lebenslang Aufbau von Netzwerkteilen und
Verbesserung der Informationsübertragung einerseits und Abbau von
Netzwerkverbindungen andererseits. Das Gehirn verformt sich in seiner Mikrostruktur
unter dem Einfluss der „Umwelt“. Es ist plastisch. Das Gehirn verändert sich in
Abhängigkeit von seinem „Gebrauch“.
Die persönliche Lernbiografie jedes Menschen wiederspiegelt sich in der
Mikrostruktur des Gehirns.
Wissen wird in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt und der inneren Welt
erworben. Ich mache darauf aufmerksam, dass dazu auch verinnerlichte Aktivitäten
gehören. Aktivität heisst also nicht ausschliesslich „selbst motorisch tun“. Auf der
Suche nach einem bestimmten Objekt bilden wir davon in unserer Vorstellung ein
Schema. Bildgebende Methoden (PET, EEG) zeigen, dass bei dieser Einbildung die
gleichen Hirnregionen aktiv sind wie bei der entsprechenden realistischen
Wahrnehmung des Objekts. Oder: Wenn z.B. Slalom- Fahrerinnen vor dem Start
noch einmal die Strecke innerlich, in ihrer Vorstellung durchfahren, sie eventuell mit
der Bewegung ihrer Hände nachvollziehen, dann werden gleiche Hirnregionen aktiv,
wie beim wirklichen Durchfahren der Strecke.
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Dies lässt den ideologischen Kampf zwischen Frontalunterricht und „eigentätigen“
Unterrichtsformen wie Werkstatt, Projekte etc. etwas in anderem Licht erscheinen:
Frontale Unterrichtssequenzen sind nicht per definitionem schlecht; wenn Sie durch
frontales Unterrichten erreichen, dass in Ihren Schülerinnen und Schülern
verinnerlichte Aktivitäten ablaufen, dann können Sie gute Lernergebnisse erzielen.
Allerdings steht für mich fest, dass jedes Monopol einer Unterrichtsform über eine
längere Zeit, also z.B. ausschliesslich Frontalunterricht vom Morgen bis am Abend
während Wochen, nicht den verschiedenen Lernbiografien der Kinder entspricht.
Langfristig guter Unterricht erfordert eine Methodenvielfalt, einen geplanten Einsatz
eines Methoden- Repertoires. Mit jeder Methode erreichen Sie eine Schülergruppe,
die auf Grund ihrer Lernbiografie besonders auf sie anspricht. Methodenvielfalt und
die Vielfalt schulischer Sozialerfahrungen streuen das Risiko rein negativer LernErlebnisse der einzelnen Kinder.
Diese Erkenntnisse der Neuropsychologie machen verständlich, dass Wahrnehmung
nur möglich ist mit Hilfe eines Gedächtnisses, das die Fähigkeit hat, Neues mit
Vergangenem zu vergleichen. Lernen ist auf ein Gedächtnis zum Vergleich
angewiesen. Ohne Wahrnehmung und Lernen ist kein Gedächtnis möglich; sowohl
Gedächtnis als auch Wahrnehmung sind mit Lernen, mit Plastizität verbunden. Stets
vergleicht unser Gehirn mit der bisherigen Erfahrung, mit bisherigem Wissen und
bisherigen Eindrücken. Wahrnehmung ist dadurch stark beeinflusst. Wahrnehmung
beeinflusst künftige Wahrnehmung; Wahrnehmung ist individuell, subjektiv. “Das
Gehirn organisiert sich auf der Basis seiner eigenen Geschichte“ (Schmidt, 1991).
Im frühen Kindesalter ist die Plastizität des Gehirns sehr ausgeprägt. Es sind gerade
Erfahrungen der frühen Kindheit, die prägend wirken für künftige Erfahrungen. Dies
gilt auch ganz besonders für das Lernen von Sprachen und für das Lernen von
Musikinstrumenten.
Das Lernen von Sprachen
Aus aktuellem Anlass möchte ich ein paar Worte zum früheren FremdsprachenLernen sagen. Wir führen ja in der Schweiz Diskussionen über den Beginn des
Unterrichts in der Einstiegs- Fremdsprache im dritten Schuljahr. Ich befürworte den
frühen Fremdsprachenunterricht sehr, nicht zuletzt aufgrund der eben vorgestellten
Erkenntnisse der Neuropsychologie. Die ausgeprägte Plastizität des Gehirns kleiner
Kinder erlaubt ein sehr effizientes Lernen von Sprachen in der Kindheit. Frühes
Sprachenlernen schafft zusätzlich zur entsprechenden Sprachkompetenz
Lernstrategien für das Lernen weiterer Sprachen. Wir können also davon ausgehen,
dass durch das frühe Lernen einer Fremdsprache ein Lernpotenzial geschaffen wird,
welches das Lernen weiterer Sprachen begünstigt. Ich erhoffe mir durch das frühe
Sprachenlernen eine allgemein verbesserte Sprachen- Lernfähigkeit der Kinder. Das
frühe Lernen der Einstiegsfremdsprache fördert das folgende Fremdsprachenlernen
ganz allgemein. Wir erwarten in der Zentralschweiz mit dem Englischunterricht ab
der dritten Klasse auch positive Auswirkungen auf den Französisch- Unterricht, der in
der fünften Klasse beginnen wird.
Im Übrigen gilt das auch für die Standardsprache! Gute Kompetenz in der
Standardsprache fördert den Lernerfolg in der Einstiegsfremdsprache, davon bin ich
überzeugt. Deshalb ist es wichtig, in der ersten und zweiten Klasse grosses Gewicht
auf die Standardsprache zu legen. Sie bereiten damit verbessertes FremdsprachenLernen vor.
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Musik und Plastizität des Gehirns
Neuere Untersuchungen (Hans- Günter Bastian, 2000) bestätigen, dass Musik ein
hohes Potenzial für die Hirnentwicklung aufweist. Instrumentalunterricht (untersucht
ist speziell das Lernen von Tasteninstrumenten), wenn er früh einsetzt (vor dem
achten Altersjahr), hat intensiven Einfluss auf die Mikrostruktur des Gehirns. So
belegt die Studie, dass das Gehirn professioneller Musikerinnen und Musiker sich
signifikant unterscheidet von demjenigen musikalischer Laien. Im Lichte der
Erkenntnisse über die Plastizität des Gehirns erstaunt diese Tatsache nicht. Das
Spielen eines Stücks vom Blatt ist für das Gehirn ein hochaktiver, komplexer
Vorgang. Das Umwandeln des abstrakten Notenbilds letztlich in Feinmotorik der
Hände erfordert komplexe und koordinierte Tätigkeiten des Gehirns. Dies unter der
anspruchsvollen Bedingung der Ungleichzeitigkeit, muss doch die Instrumentalistin
mit den Augen immer einen oder ein paar Takte voraus schauen, wenn sie spielt,
und das Ohr „hört nach“, was die Kontrolle über das Gespielte ermöglicht. Diese
vielseitigen Tätigkeiten regen das Gehirn intensiv an und fördern
Entwicklungsprozesse im Rahmen der Plastizität. Instrumental- Unterricht fördert die
Gehirnentwicklung im Sinne der Entwicklung des räumlichen Vorstellungsvermögens
sowie, als Folge davon, des abstrakten Denkens, was sich wiederum positiv auf die
Mathematik- Kompetenzen auswirkt. Ein paar detailliertere Resultate der Studie, die
wir Ihnen im Ausschnitt auf Video vorstellen, seien kurz zusammengefasst.
Die Bastian- Studie konnte belegen, dass früher Musikunterricht unter anderem
folgendes bewirkt:
• eine signifikante Verbesserung der sozialen Kompetenz der Kinder
• eine Steigerung der Lern- und Leistungsmotivation
• einen bedeutsamen IQ- Zugewinn
• eine Kompensation von Konzentrationsschwächen
• eine Förderung musikalischer Leistung und Kreativität
• eine Verbesserung der emotionalen Befindlichkeit
• eine Reduzierung von Angsterleben
• überdurchschnittlich gute schulische Leistungen trotz zeitlicher Mehrbelastungen
durch den Musikunterricht.
Die Forschungsergebnisse zeigen deutlich, dass Musikunterricht, vor allem, wenn er
früh einsetzt, viel zur Entwicklung unserer Kinder beitragen kann. Die Bildungspolitik
muss diesen Tatsachen Rechnung tragen: Musikunterricht hat einen wichtigen Platz
im Lehrplan der Schulen, beginnend in Kindergarten- Unterstufe. Übrigens: Folgen
auf die Hirnentwicklung durch Instrumentalunterricht sind auch bei Erwachsenen
nachweisbar; es lohnt sich also auch später noch, ein Instrument zu lernen; die
Folgen auf die Hirnentwicklung sind dann allerdings nicht mehr so tiefgreifend wie bei
den Kindern.
Was heisst Wissen „vermitteln“?
Die Vorstellung, wir könnten als Lehrpersonen unseren Schülerinnen und Schülern
Wissen vermitteln, also direkt übergeben, wie man ein Paket übergeben kann, muss
revidiert werden. Bedeutung und Wissen können grundsätzlich nicht übertragen
werden. Die Bedeutung dessen, was ich „vermittle“, wird ausschliesslich im Gehirn
des Empfängers erzeugt. Ich kann zwar erzwingen, dass meine Schülerinnen und
Schüler mich physisch hören, aber ich habe keine Macht über die Bedeutungen, die
ihr Gehirn meinen Lautäusserungen zuordnet. Kommunikation bedeutet deshalb
wechselseitige Konstruktion von Bedeutung zwischen zwei oder mehr Partnern.
Wissen muss in jedem Gehirn jedes Schülers und jeder Schülerin neu geschaffen
werden. Ich kann als Lehrperson fördernd wirken, indem ich durch meinen Unterricht
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Möglichkeiten eröffne, dass in den Gehirnen der Schülerinnen und Schüler die
Prozesse so ablaufen, dass sie Wissen nach meiner Anleitung neu schaffen können.
Es gibt keinen direkten Übertrag des Wissens von Person zu Person. Über das
Lehren ist also kein direkter Durchgriff auf das (individuelle!) Lernen möglich. Die
Aufgabe für Lehrpersonen ist: Wie kann ich meinen Schülerinnen und Schülern
helfen, „es in sich selbst zu tun“ (vgl. Galileo Galilei).
Computer- Einsatz zur Förderung des Lernens?
Ich möchte vorweg nehmen, dass ich den Gebrauch von Computern als Hilfsmittel in
der Schule als sehr wichtig erachte. Wir können Kinder nicht an dieser neuen
Kulturtechnik vorbei schulen; Computer gehören zur Welt der Kinder und
Erwachsenen und beeinflussen unser Leben immer mehr. Trotzdem seien einige
konstruktiv- kritische Anmerkungen erlaubt: Computer und Internet gelten heute als
der Zugang zum Wissen. Dies ist sicher richtig; doch zu welchem Wissen? Es
braucht viel Übung und Erfahrung, um das Internet zu nutzen, um zum Beispiel
heraus zu filtern, was aus der Fülle der Informationen wirklich verwendbar,
zuverlässig, gesichert ist. Schliesslich kann ja jedermann alles ins Internet geben.
Das Internet gaukelt vielen Schülerinnen und Schülern vor, mit dem Abrufen von
Information sei auch schon gelernt. Immer wieder höre ich Schülerinnen und Schüler
(vor allem in der Sekundarstufe II) sagen: „Wozu brauchen wir eigentlich noch den
ganzen Schulkram mit Unterricht usw.; wir können doch alles ganz einfach aus dem
Computer runterladen!“ Computer und Internet spiegeln also vor, dass man sehr
schnell und ohne Anstrengung zu Erkenntnissen kommen kann. Dies führt zur Idee
bei vielen Schülerinnen und Schülern, man müsse nichts mehr mit eigener Aktivität
und Anstrengung erarbeiten, nachvollziehen.
Der Computer nimmt die persönliche Auseinandersetzung mit Lerngebieten nicht ab;
auch der Computer kann Wissen nicht „vermitteln“. Auch hier müssen aktive
Prozesse im Gehirn der Kinder ablaufen, damit Lerneffekte entstehen. Hartmut von
Hentig hat dies 2001 an einem Vortrag wie folgt formuliert: „Computer drohen zu
schlechten Schulbüchern zu werden, bei denen nicht mehr die Phänomene der
Ausgangspunkt des Fragens und Rätselns sind. Vielmehr werden den Schülern
Fragen ins Maul geschmiert und die Antworten gleich hinterhergeschoben.“
Lehrpersonen müssen den Einsatz von Computern gut planen, damit sie wirklich als
Hilfsmittel für das Lernen wirken. Hier ist übrigens noch viel Arbeit im didaktischen
Bereich zu leisten. Ich stelle bei Gesprächen mit Lehrpersonen und bei
Unterrichtsbesuchen zum Teil recht grosse Hilflosigkeit fest, wie Computer im
Deutsch-, Französisch-, Geschichte- und ... Unterricht eingesetzt werden können.
Immer noch wird computergestützter Unterricht vor allem der Mathematik und den
Naturwissenschaften „zugeschoben“.
Der Einsatz von „E- learning“ darf die Primärerfahrungen der Schülerinnen und
Schüler nicht schmälern. Es wäre aus uns nun einsichtigen Gründen fatal, wenn
Schülerinnen und Schüler lernen fast ausschliesslich über den Bildschirm, über eine
Metaebene, erfahren müssten. Der direkte Kontakt zu den Phänomenen ist
unabdingbar. Ich plädiere deshalb dafür, dass Lehrpersonen als eine Art KontrastVerhalten zum „E- learning“ Primärerfahrungen und soziale Erfahrungen der
Schülerinnen und Schüler besonders fördern.
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Einschub: Das „Bauchhirn“
Sibylle Birkenmeier hat es uns vorgeführt: Durch den Nabel hört sie auf ihren Bauch.
Neuere Erkenntnisse weisen darauf hin, dass es ein „Bauchhirn“ gibt, das offenbar
recht grossen Einfluss hat. Die Eingeweide sind von mehr als 100 Millionen
Nervenzellen umhüllt, die offensichtlich nicht der Verdauung dienen. Dies sind mehr
als im ganzen Rückenmark zu finden sind. In diesen „Bauchhirn“- Zellen werden
psychoaktive Substanzen produziert, die mit Gefühlslagen in Verbindung stehen:
Serotonin, Dopamin, Opiate. Es lässt sich zeigen, dass wesentlich mehr
Informationen vom Bauchraum zum Gehirn laufen als umgekehrt. Offensichtlich
erhält also das Gehirn aus dem Bauchraum laufend Informationen. Hier können wir
gespannt sein, was die entsprechende Forschung noch alles zu Tage fördert...
Vernetztes Gehirn und vernetzender Unterricht
Ich habe Sie zu Beginn des Referates auf den riesigen Vernetzungsgrad des Gehirns
und auf seine lebenslange Fähigkeit, Vernetzungen zu verändern, hingewiesen.
Unterrichtsformen, welche diese Vernetzungsfähigkeit ausnützen, sollten daher
bevorzugt werden, wenn immer es geht. Nachhaltiger Unterricht muss stärker als
heute auf das Betrachten und Verstehen von Systemen ausgerichtet sein und nicht
fast ausschliesslich auf die Ansammlung und Analyse von Teilen, auf das Anhäufen
von Informations- Splittern. Schliesslich tun uns ja die Phänomene und Probleme
dieser Welt nicht den Gefallen, sich nach der vorgegebenen Ordnung unserer
Wissenschaftsdisziplinen und Schulfächer zu richten. Die Welt steht den Kindern und
ihren Gehirnen ja nicht disziplinär gegenüber. Seit Jahrzehnten versucht man in den
Schulen, einen mehr vernetzenden Unterricht zu etablieren. Leider mit recht wenig
Wirkung auf die Unterrichtspraxis, besonders wenn wir Unterricht in weiterführenden
Schulen betrachten. Als ein Grund, der eine Entwicklung in dieser Richtung
behindert, wird immer wieder die Beurteilung (Notengebung) genannt.
Interdisziplinäre, vernetzende Leistungen der Kinder könne man nicht benoten!
Offenbar hat Ivan Rickenbacher Recht, wenn er in einem Vortrag gesagt hat: „Wenn
es ernst wird, wird es disziplinär“. Ich hoffe, dass Sie durch meine Ausführungen
animiert werden, vermehrt vernetzende Unterrichtssequenzen zu realisieren. Gerade
im Kanton Bern ist mit der NMM- Lehrmittelreihe eine ausgezeichnete Basis für
vernetzenden Unterricht zwischen den entsprechenden Gebieten geschaffen
worden.
Emotionalität und Lernen
Einige Hirnteile sind ganz besonders steuernd an Lern- und Gedächtnisprozessen
beteiligt: Hippocampus und Amygdala im medialen Temporallappen, basales
Vorderhirn und präfrontaler Cortex sowie Gebiete des Hirnstamms. Grob umrissen ist
dies das Gebiet des limbischen Systems. Hippocampus und Amygdala sind u.a.
mitverantwortlich für die Auswahl und die Bewertung der eintreffenden
Erregungsmuster und für ihre Speicherung in anderen Teilen des Gehirns. Diese
Hirnregion wirkt also als eine Art Schalt-, Auswahl- und Bewertungsstelle für
eintreffende Informationen. Der Hippocampus sorgt offenbar für kurzzeitige
Speicherung der Information, für die Auswertung und für den Vergleich mit bereits
vorhandener Information (Bewertung). Er sendet die ausgewählte Information
anschliessend in verschiedene Teile des temporalen Cortex, wo sie dann gespeichert
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wird. Die Amygdala trägt ganz besonders zu einer emotionellen Bewertung von
Informationen bei; sie enthält recht hohe Konzentrationen an Endorphinen und
Enkephalinen (hirneigene, opiumartige Stoffe), die auf die Stimmungslage auswirken.
Das limbische System ist für emotionales Erleben und für das Gedächtnis wichtig. Es
wirkt als Filter, als Flaschenhals, den Informationen passieren müssen, sollen sie im
Gehirn weiter verarbeitet und gespeichert werden. Das limbische System ist damit
die Instanz, die als relevant und wichtig empfundene Inhalte aussortiert und mit
Emotionen versieht. Emotionell gefärbte Inhalte passieren den Filter bevorzugt und
werden der Verarbeitung im Gehirn bevorzugt zugeführt. Emotionen sind deshalb für
Lernprozesse, für die persönliche Identifikation mit dem zu Lernenden von grosser
Wichtigkeit. Starke Erlebnisse werden vom Gehirn anders behandelt als persönlich
belanglosere; sie werden fester und tiefer gespeichert. Die Erinnerungsfähigkeit ist
stark vom emotionalen Gehalt des „Lerngegenstandes“ abhängig, von der
persönlichen Betroffenheit, von der Stimmungslage, vom persönlichen Interesse,
vom eigenen Engagement während des Lernens. Auch hier gilt: Was für den
einzelnen Schüler oder die einzelne Schülerin Emotionen,
Aufmerksamkeit, Betroffenheit, Interesse auslöst, was zum Erlebnis wird, bestimmt
nicht primär die Lehrperson, sondern jedes einzelne Gehirn der Lernenden.
Bezüglich Motivation der einzelnen Schülerin, des einzelnen Schülers ist die
Aussage des deutschen Lernpsychologen Edelmann treffend: „Ein aktuelles
leistungsmotiviertes Handeln findet besonders dann statt, wenn die Tendenz
`Hoffnung auf Erfolg` die Tendenz `Furcht vor Misserfolg` überwiegt.“
Schule wohin? Versuch eines Ausblicks
Das folgende „Fazit“ nimmt einiges auf, das schon seit längerer Zeit als wichtig für
die Schul- und Unterrichtsentwicklung betrachtet wird; also auch hier nichts Neues.
Mir kommt es fast so vor, als gäbe ich Gemeinplätze weiter. Aber vielleicht dienen sie
doch als Denkanstösse im Lichte der heutigen Ausführungen:
• Weg vom „Rucksack- fürs- Leben- Mythos“. Wir haben keine Chance mehr,
Wissensrucksäcke zu packen, aus denen unsere Schülerinnen und Schüler sich
ein Leben lang mit Wissen alimentieren können sollen. Sicher wirken vor allem
Verhaltensweisen, Einstellungen, Lernstrategien, Sprachenkompetenzen usw. ein
Leben lang; sie sind in der Schule intensiv zu fördern. Unverdaute, unverknüpfte,
individuell nicht als wichtig empfundene Wissensdetails jedoch dienen nicht zur
lebenslangen Alimentation. Ganz abgesehen davon, dass wir viel an „Ballast“
sehr schnell vergessen und dass Detailwissen heute sehr schnell veraltet. Wir
müssen im Rahmen des „Lebenslangen Lernens“ vom Bild des Rucksacks oder
des Reservoirs wegkommen etwa zum Bild des reissenden Flusses des Wissens,
aus dem wir ein Leben lang fähig sein müssen, zu schöpfen und in ihn
einzutauchen. Vergleichen Sie diese Aussage mit dem Zitat von Hartmut von
Hentig am Beginn des Referats.
• Sprachschulung steht im Zentrum. Sprachliche Fähigkeiten sind ein Sprungbrett
für kognitive Prozesse. Standardsprache intensiv fördern; mit Fremdsprachen früh
beginnen, natürlich mit kindgerechter Didaktik.
• Musikalische Schulung (aber auch gestalterische und Bewegungs- Schulung)
nicht unterschätzen! Im Gegenteil: frühe Förderung auf diesen Gebieten ist
grundlegend; sie bildet eine Basis für die Intelligenzentwicklung und die
Entwicklung der (schulischen) Leistungsfähigkeit der Kinder. Wir schaffen damit
Grundkompetenzen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass diese Gebiete nicht
aus dem Schul- Curriculum verdrängt werden.
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Systemisches Denken schulen, Zusammenhänge ins Zentrum stellen,
verknüpfende Lernansätze priorisieren.
Computergestützer Unterricht ja; aber flankierend dazu Primärerfahrungen der
Kinder und soziale Unterrichtsformen fördern.
Wissensaneignung mit dem Aufbau von Lernstrategien verbinden. Das Lernen
von „Stoff“ in den Dienst der Einübung von Verhaltensweisen, Haltungen,
Fähigkeiten, Fertigkeiten stellen
Für die Kinder emotionale und erlebnisreiche Lernsituationen schaffen.
Im Sinne der Motivation durch „Hoffnung auf Erfolg“ die Stärken der Schülerinnen
und Schüler ins Zentrum stellen. Also die „Defizit- Orientierung“, die „RotstiftOrientierung“ der Schule abbauen.
Beurteilung der Schülerinnen und Schüler in den Dienst der Förderung stellen
(Förderorientierte Beurteilung).
Soweit meine Ausführungen.
Die folgenden Workshops werden Ihnen nun Gelegenheit bieten, das Gesagte zu
reflektieren und Beispiele für die Umsetzung in die Praxis zu studieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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