Ethische Konflikte als Herausforderung für die Seelsorge

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Prof. em. Dr. Johannes Fischer
Ethische Konflikte als Herausforderung für die Seelsorge – Welches Verständnis von
Ethik ist für die Seelsorge anschlussfähig?
1. Einleitung
Wenn man – wie der Titel meines Vortrags – fragt, welches Verständnis von Ethik für die
Seelsorge anschlussfähig ist, dann verweist dies auf ein Unbehagen:
Erfahrung – die der eine oder die andere vielleicht schon selbst im Kontakt mit
professionellen Ethikerinnen und Ethikern gemacht hat –, dass offenbar nicht jedes
Verständnis von Ethik für die Seelsorge anschlussfähig ist. Dieses Unbehagen findet sich
auch bei Medizinerinnen, Pflegenden usw.
Ich selbst bin Ethiker, kein Spezialist für die Seelsorge, und ich möchte das hier liegende
Problem von Seiten der Ethik in den Blick nehmen. Es hat nach meiner Auffassung mit einer
bestimmten Art des ethischen Denkens zu tun, die sich erst in der Moderne herausgebildet
hat, und die man als regelethisches Paradigma bezeichnet. Es bestimmt heute den mainstream
nicht nur des philosophisch-ethischen Denkens, sondern auch des theologisch-ethischen
Denkens bis hinein in kirchliche Erklärungen z.B. seitens der EKD.
In der Perspektive dieses Denkens geht es bei ethischen Konflikten – z.B. Sterbehilfe,
Schwangerschaftskonflikt usw. – darum, nach rational begründeten, objektiven Lösungen zu
suchen.
Haltung des Desengagements
Zuständig für solche Konflikte ist dementsprechend nicht die Seelsorgerin oder der
Seelsorger, sondern die Ethikerin oder der Ethiker.
Das verbindet sich häufig bei professionellen Ethikerinnen und Ethikern mit der Auffassung,
dass Seelsorger (oder auch Medizinerinnen, Pflegende) über keinerlei ethische Kompetenz
verfügen, da sie nicht in dieser Art des ethischen Denkens geschult sind bzw. kein
Ethikstudium absolviert haben.
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Ich halte es für wichtig, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger diese Art des ethischen Denkens
kennen und sich mit ihr kritisch auseinandersetzen können. Es genügt ja nicht, ihr eine andere
Art des ethischen Denkens, die für die Seelsorge anschlussfähig ist, einfach bloss
entgegenzusetzen, so als könne man sein ethisches Denken beliebig wählen. Man sollte
wissen, wo die Aporien dieser Art des Denkens liegen und warum man mit guten Gründen
ihm nicht folgt und folgen sollte.
Wie ich verdeutlichen will, besteht hierzu gerade auf dem Hintergrund der protestantischen
Tradition aller Grund.
Ich werde also so vorgehen, dass ich zunächst das regelethische mainstream-Denken in
Philosophie und Theologie vorstelle, um über dessen Kritik die Frage zu beantworten,
welches Verständnis von Ethik für die Seelsorge anschlussfähig ist.
2. Das regelethische mainstream-Paradigma und seine Kritik
Ausgangspunkt sei eine Lehrbuchdefinition, über die heute breiter Konsens besteht:
„In einem allgemeinen Verständnis lässt sich Ethik … als philosophische Reflexion auf Moral
verstehen.“ (Marcus Düwell u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, 2., aktual. und erw. Auflage,
Stuttgart: Metzler, 2006, 2)
Ethik ist gemäss dieser Bestimmung kritisches Nachdenken über Moral. Das heisst: Ethik ist
nicht Propagieren der eigenen moralischen Überzeugung, sondern: kritisches und vor allem
selbstkritisches Überdenken moralischer Überzeugungen hinsichtlich ihrer Gültigkeit
(Wahrheit); das heisst
-
Distanznahme vom eigenen moralischen Standpunkt;
-
Bereitschaft, diesen zur Diskussion zu stellen und im Lichte besserer Gründe zu
überprüfen;
-
die faire Erwägung von anderen Auffassungen und Einwänden und der Verzicht auf
polarisierendes Schwarz-weiss-Denken;
-
die Einladung an andere, an diesem Reflexionsprozess mit offenem Ausgang
teilzunehmen.
3
Die Meinung, dass derjenige sich am „Ethischsten“ verhält, der am Unbeirrbarsten einen
bestimmten moralischen Standpunkt vertritt, beruht auf einem Missverständnis von ‚Ethik’.
Die entscheidende Frage für die Klärung des Ethikverständnisses ist somit, was genau unter
Moral zu verstehen ist.
Exemplarisch für die heutige mainstream-Auffassung sowohl in der philosophischen als auch
in der theologischen Ethik ist das folgende Zitat aus Dieter Birnbachers Buch „Analytische
Einführung in die Ethik“:
„Im Mittelpunkt der Moral stehen Urteile, durch die ein menschliches Handeln positiv oder
negativ bewertet, gebilligt oder missbilligt wird. Neben Urteilen über Handlungen gehören
zur Moral auch Urteile über moralische Verpflichtungen, moralische Urteile über Personen,
Motive, Absichten und Verhaltensdispositionen, moralische Emotionen, moralische Ideale
und Utopien und bestimmte normative Menschenbilder. Aber alle diese weiteren Stücke aus
dem moralischen Repertoire stehen in einem unverkennbaren Bezug zum menschlichen
Handeln als ihrem letztlichen Zielpunkt und beinhalten Urteile über dieses Handeln.
Personen, Motive, Absichten und Handlungsdispositionen werden als moralisch löblich oder
verwerflich beurteilt in dem Masse, in dem sie in der Regel zu moralisch zu billigendem oder
zu missbilligendem Handeln führen…“
Dieses Zitat enthält zwei Thesen:
1. Im Mittelpunkt der Moral stehen moralische Urteile.
2. In der Moral dreht sich alles um das menschliche Handeln.
Ad 1: Im Mittelpunkt der Moral stehen moralische Urteile.
Beispiel für ein moralisches Urteil:
„Es
ist
moralisch
geboten,
Organtransplantationen spendet.“
dass
man
an
seinem
Lebensende
Organe
für
4
Wenn man nach der Begründung eines solchen Urteils fragt, dann gibt es im Prinzip zwei
Wege:
1. Die Vergegenwärtigung der Situation von Menschen, die auf ein Spenderorgan
warten, und der Hinweis darauf, was eine Organtransplantation (oder deren
Ausbleiben) für sie und ihre Angehörigen bedeutet;
2. Die Ableitung des obenstehenden Urteils aus anderen, übergeordneten moralischen
Urteilen oder Prinzipien.
Ein Beispiel für 2.:
1. Es ist moralisch geboten, Glück zu vermehren und Leid zu vermindern.
(Utilitaristisches Prinzip)
2. Mit einer Organspende wird Leid vermindert und Glück vermehrt.
3. Es ist moralisch geboten, Organe zu spenden.
Wie gesagt, bezeichnet man diese Art des ethischen Denkens als Regelethik. Die Begründung
moralischer Urteile erfolgt top-down aus übergeordneten Regeln oder Prinzipien wie hier aus
dem utilitaristischen Prinzip.
Diese Art des ethischen Denkens ist typisch für die Moderne (Hinweis: Antike und moderne
Ethik). Sowohl die Kantische Ethik als auch der Utilitarismus folgen diesem Paradigma.
Es ergibt sich hier top down die folgende Stufung:
Ethische Theorie (deren Aufgabe die Begründung des leitenden Prinzips, z.B. utilitaristisches
Prinzip oder Kategorischer Imperativ ist)
Prinzip (z.B. utilitaristisches)
Regeln mit beschränkter Reichweite
Singuläre moralische Urteile
5
Eine allgemeine Charakterisierung der regelethischen Vorgehensweise:
„Den
Ausgangspunkt
der
Ethik
bilden
moralische
Überzeugungen.
Moralische
Überzeugungen beziehen sich darauf, was gut ist, welche Handlung moralisch unzulässig ist,
welche Verteilung als gerecht gelten kann etc. Die ethische Theorie versucht, allgemeine
Kriterien für gut, richtig, gerecht etc. zu entwickeln, die im Einklang sind mit einzelnen
unaufgebbar erscheinenden moralischen Überzeugungen und andererseits Orientierung in
Fällen bieten können, in denen unsere moralischen Auffassungen unsicher oder sogar
widersprüchlich sind.“ (Julian Nida-Rümelin, Angewandte Ethik)
Diese Auffassung von Ethik hat in der Moderne in erheblichem Masse auch die theologische
Ethik beeinflusst.
Hinweis:
-
Theologische Ethik als eigene Disziplin gibt es erst seit dem 17. Jahrhundert. Vorher
galt Ethik als eine exklusiv philosophische Disziplin, und es gab daher auch kein
Abgrenzungsproblem oder Konkurrenz-verhältnis zwischen philosophischer und
theologischer Ethik (Hinweis: Melanchthon).
-
Das Aufkommen der theologischen Ethik fällt mit dem Paradigmenwechsel in der
philosophischen Ethik von der antiken zur modernen Ethik zusammen. Um sich als
Ethik gegenüber der philosophischen Ethik zu legitimieren, musste die theologische
Ethik Anschluss an das moderne Paradigma suchen.
Gemeinsam mit der philosophischen Ethik ist der theologischen Ethik dann die Auffassung
-
dass im Mittelpunkt der Moral moralische Urteile stehen und
-
dass die Aufgabe der Ethik darin besteht, solche Urteile top down aus übergeordneten
Prämissen zu begründen.
Der Unterschied zur philosophischen Ethik besteht dann in der Art dieser Prämissen bzw. in
der Art dieser Begründung. Wo die philosophische Ethik hierzu auf vernünftige Prämissen in
Gestalt ethischer Theorien wie dem Utilitarismus rekurriert, rekurriert die theologische Ethik
auf Prämissen des christlichen Glaubens wie das christliche Wirklichkeitsverständnis/
Menschenbild oder Gottes offenbarten Willen.
Hierin scheint dann das Eigentümliche, das „Proprium“ der theologischen gegenüber der
philosophischen Ethik zu bestehen.
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Beispiel aus neuerer Zeit: Wilfried Härle, Ethik, de Gruyter 2011. Härle konzipiert seine
Ethik ausdrücklich als Regelethik. Dabei bestreitet er der praktischen Vernunft die Fähigkeit,
moralische Urteile und Normen begründen zu können, und er vertritt den Standpunkt, dass
moralische Normen nur theonom im Rekurs auf Gottes offenbarten Willen begründet werden
können.
Diese Art des prinzipiellen, aus Glaubensprämissen deduzierenden ethischen Denkens
begegnet bis in kirchliche Stellungnahmen. Das Hauptargument in der Stellungnahme des
Rates der EKD zur Präimplantationsdiagnostik
1. Alles menschliche Leben ist von Gott gewollt und hat von daher einen unverlierbaren
Wert.
2. Bei
der
Präimplantationsdiagnostik
wird
zwischen
lebenswertem
und
nichtlebenswertem Leben unterschieden, indem Embryonen mit genetischen Defekten
aussortiert und verworfen werden.
3. Die Präimplantationsdiagnostik ist unvereinbar mit Gottes Willen und daher moralisch
und rechtlich abzulehnen.
Zur Problematik des regelethischen Denkens:
A. Zur Problematik der Übertragung des regelethischen Paradigmas auf die theologische
Ethik
In der Moral geht es um Wissen. Diese Einsicht begegnet an entscheidender Stelle auch in der
Bibel (vgl. Gen 3, 22). Wissen aber lässt sich nur aus Wissen ableiten und begründen.
Wenn daher moralische Urteile aus Prämissen des christlichen Glaubens abgeleitet werden,
dann muss entweder der Glaube als ein Quasi-Wissen in Anspruch genommen werden. In
diesem Fall wird aus dem christlichen Glauben eine religiöse Ideologie im Sinne eines
Glaubens, für den der Status von Wissen reklamiert wird, um damit Dinge zu legitimieren, die
– wie die Moral – dem Bereich des Wissens zugehören.
In seinem Buch „Die ethische Forderung“ hat Knud Eilert Løgstrup diese ideologische
Inanspruchnahme des christlichen Glaubens einer scharfen Kritik unterzogen:
„Man pretendiert, ein göttlich garantiertes Wissen darüber zu besitzen, was in der gegebenen
Situation gesagt und getan werden soll, und wie die Verhältnisse zwischen uns geordnet
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werden sollen. Gott ist zum Argument geworden, rechtlich, moralisch und politisch. Das
Schweigen ist gebrochen, oft auf eine sehr lärmende Art der Rechthaberei oder mit einem
unerträglichen und phrasenhaften Besserwissen.“1
Oder – das ist die andere Seite der Alternative – das moralische Wissen muss zu einem
Glauben herabgestuft werden, der aus Prämissen des christlichen Glaubens abgeleitet wird. In
diesem Fall liefert man die Moral dem religiösen Fundamentalismus aus. Was das moralisch
Richtige und Gute ist, das wird zu einer Frage der Rechtgläubigkeit.
B. Zur Problematik des regelethischen Denkens im Allgemeinen, d.h. in Bezug auf die
philosophische und theologische Ethik
Grundannahme des regelethischen Paradigmas: „Im Mittelpunkt der Moral stehen moralische
Urteile.“
Darin liegt die Unterstellung, dass Sich-moralisch-Orientieren heisst: sich an moralischen
Urteilen über richtig, falsch, gut oder schlecht orientieren.
Der Ethik fällt dann, wie gesagt die Aufgabe zu, diese Urteile aus Prinzipien, Theorien, dem
christlichen Wirklichkeitsverständnis usw. zu begründen.
Darin liegt eine Verschiebung des ethischen Denkens vom Praktischen ins Theoretische:
-
Im Fokus des regelethischen Denkens stehen nicht praktische Gründe, d.h. solche, die
Grund geben für ein bestimmtes Handeln;
-
Im Fokus stehen vielmehr theoretische Gründe, d.h. solche, mit denen moralische
Urteile begründet werden.
Wenn Klaus auf die Frage, warum er zu spät zur Arbeit gekommen ist, antwortet „Meine Frau
ist heute Nacht schwer erkrankt, und ich musste sie in eine Klinik bringen und verschiedene
Dinge für sie regeln“, dann nennt er damit einen praktischen Grund, der in der Situation
seiner Frau liegt.
1
Knud Eilert Løgstrup, Die ethische Forderung, 2. Aufl. Tübingen 1968, 122. Der Satz „Das Schweigen ist
gebrochen“ spielt darauf an, dass die ethische Forderung, d.h. der Anspruch, der von der Person des anderen
an unsere Einstellung und unser Verhalten ausgeht, stumm ist, wie Løgstrup es ausdrückt, womit gemeint ist,
dass uns dieser Anspruch nicht über formulierte Erwartungen, Wünsche, Forderungen, Gebote, Regeln oder
argumentative Begründungen erreicht. Was die Schärfe von Løgstrups Kritik betrifft, so darf man nicht
vergessen, was alles innerhalb der evangelischen Ethik unter Berufung auf Gott und seinen Willen
gerechtfertigt worden ist. Dazu gehört die Todesstrafe (z.B. bei Paul Althaus) ebenso wie die Verurteilung der
Homosexualität.
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Seine Antwort hat die sprachliche Form eines Narrativs, und unter normalen Umständen
betrachten wir sie als eine hinreichende Begründung dafür, dass Klaus das in dieser Situation
moralisch Gebotene getan hat.
Geht es nach der regelethischen Konzeption, dann müsste die Begründung der moralischen
Gebotenheit seines Handelns die folgende Form haben:
(1) Es ist moralisch geboten, der eigenen Frau im Falle einer schweren Erkrankung
beizustehen und dafür andere Dinge zurückzustellen. (Generelles moralisches Urteil)
(2) Die Frau von Klaus ist schwer erkrankt. (Deskriptives Urteil über einen singulären
Sachverhalt)
(3) Es ist moralisch geboten, dass Klaus seiner Frau beisteht und dafür andere Dinge
zurückstellt. (Singuläres moralisches Urteil)
In diesem Syllogismus sind (1) und (2) theoretische Gründe für die Begründung des Urteils
(3). (2) ist hier kein Narrativ, sondern eine Tatsachenfeststellung bzw. Beschreibung der
Situation der Frau von Klaus, auf die das wertende generelle Urteil (1) appliziert wird.
Das also ist der Kern der Kritik am regelethischen Paradigma: Es zieht das ethische Denken
von der Anschauung und dem genauen Verstehen der konkreten Situationen und Lebenslagen,
in denen Menschen sich befinden, fort und setzt an deren Stelle eine rein gedankliche
Ableitungsbeziehung zwischen Urteilen.
Folge: Umstellung der ethischen Reflexion von Klugheit auf Scharfsinn.
-
Klugheit ist der Sinn für die praktischen Gründe, auf die es in einer Situation
ankommt
-
Scharfsinn manifestiert sich demgegenüber in der Konstruktion gedanklicher
Ableitungen nach Art des oben stehen Syllogismus
Beispiel für das Kontraintuitive dieses Denkens aus dem medizinethischen Bereich: MasterDiplomarbeit über Wahnerkrankung und Schweigepflicht.
Andere Folge: Ignoranz gegenüber den Erkenntnissen der empirischen Moralforschung in
Psychologie und Neurobiologie hinsichtlich der Bedeutung von Emotionen für die Moral.
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Die Gegenthese zur regelethischen Auffassung, wonach im Mittelpunkt der Moral moralische
Urteile stehen, lautet also:
Im Mittelpunkt der Moral stehen praktische Gründe in Gestalt der Situationen und
Lebenslagen, in denen Menschen sich befinden und die Grund geben für ein bestimmtes
Handeln.
Hinweis: Die Kritik an einem prinzipiellen ethischen Denken, das die Bewertung von
Handlungen als gut oder schlecht, richtig oder falsch in den Fokus stellt und der Ethik die
Aufgabe der Begründung derartiger Bewertungen zuweist, liegt gerade auf der Linie der
protestantischen Rechtfertigungslehre.
Vgl. Luthers Freiheitstraktat: Wenn das Gottesverhältnis im Glauben gründet, dann sind die
Werke davon entlastet, dass der Mensch sich mit ihnen – als guten Werken – vor Gott etwas
verdienen muss. Sie können ganz und ungeteilt um des Nächsten willen geschehen.
Ein Christenmensch tut, was er tut, nicht deshalb, weil es als gut bewertet wird – sei es
durch Gott oder durch die Menschen – oder weil es als gut zu bewerten ist, sondern um des
Nächsten willen bzw. aus Liebe zu Gott und dem Nächsten:
„Darum soll seine Absicht in allen Werken frei und nur dahin gerichtet sein, dass er andern
Leuten damit diene und nütze sei, nichts anderes sich vorstelle, als was den andern not ist.“
(Luther, Freiheitstraktat)
„Nur dahin gerichtet sein/ nichts anderes sich vorstelle“ heißt: nicht noch mit der
Nebenabsicht verbunden sein, etwas Gutes zu tun, um sich damit bei Gott etwas zu verdienen
oder selbst gut zu werden oder zu sein.
Das bedeutet: Im Fokus einer Ethik in evangelischer/protestantischer Perspektive stehen nicht
philosophische oder theologische Theorien, aus denen das Richtige oder Gute abgeleitet wird,
sondern praktische Gründe für Handlungen in Gestalt der Situationen und Lebenslagen, in
denen Menschen (oder andere Lebewesen) sich befinden.
Eine als Regelethik konzipierte theologische Ethik steht daher im Widerspruch zur
Rechtfertigungslehre.
Diese Eigenart des protestantischen „Blick“ auf die moralischen und ethischen Phänomene
wird übrigens auch von aussen, von Nichttheologen wahrgenommen:
10
Bei einem Symposium aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Zeitschrift für Evangelische
Ethik (ZEE) 2006 in Berlin hat der Berliner Philosoph Volker Gerhardt im Rahmen einer
Diskussion mit dem damaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Bischof Wolfgang Huber, 10
Thesen zur Rolle und Bedeutung einer protestantischen Ethik vorgetragen. In der 8. These
heißt es:
»Im biowissenschaftlichen Diskurs, der die öffentliche ethische Debatte seit gut zehn Jahren
dominiert, haben einzelne evangelische Theologen hohe Kompetenz bewiesen. Sie haben
schon vorher auf die anstehenden Probleme aufmerksam gemacht und haben in den EthikKommissionen verschiedener Provenienz mit Erfolg interdisziplinär vermittelt. Dabei haben
sie nicht selten einen offeneren Horizont als mancher Schulvertreter aus der Philosophie
bewiesen. Während Philosophen gelegentlich als Exegeten einer auf Aristoteles, Thomas,
Kant oder John Stuart Mill gegründeten Lehre auftreten, achten die Theologen stärker auf die
lebensweltlichen Bezüge ihrer Einsicht. Ihre philosophische Bildung hat eine stärker praktisch
ausgerichtete Perspektive. Eben das ist es, was wir in bioethischen Fragen brauchen.
Dieses Lob gilt (mit der Ausnahme eines mutigen Jesuiten) nur für Theologen
protestantischer Konfession. In ihrem Fall erweist es sich als Vorteil, dass sie nur selten
Ehrgeiz entwickeln, neue systematische Ansätze zu exponieren. Sie neigen daher auch
weniger zu den in der Philosophie nahe liegenden methodologischen Purismen der Schulen.
Durch ihre Verbindung zu den kirchlichen Diensten stehen sie der Wirklichkeit des
menschlichen Handelns näher. Sie nehmen die Entscheidungsnot wahr, in denen sich Eltern
mit dem Wunsch nach einem gesunden Kind befinden, oder Schwangere in einer ausweglos
erscheinenden Lage oder Schwerstkranke, die keine weiteren Therapien wünschen. Daher ist
es den protestantischen Theologen in den letzten Jahren gelungen, in schwierigen Fragen zu
vermitteln, obgleich die Position der höchsten Kirchenleitung dem entgegenstand und leider
immer noch entgegensteht.«2
Fazit: Die Alternative zum regelethischen Denken in Philosophie und Theologie ist ein
ethisches Denken bottom up, das von den konkreten Situationen ausgeht, in denen Menschen
sich befinden, und fragt, was eine Situation oder Handlung für den betroffenen Menschen
bedeutet und was hieraus für das eigene Handeln folgt. Hier geht es nicht um Begründen,
sondern um genaues Hinschauen und Verstehen.
2
Volker Gerhardt, »Protestantische Ethik. Zehn Thesen zur Diskussion mit Bischof Huber«, in: Protestantische
Ethik für das 21. Jahrhundert. 50 Jahre Zeitschrift für Evangelische Ethik, Sonderheft, erscheint 2007.
11
Zum Phänomen der Bedeutung im moralischen Bereich:
J. Fischer, Warum überhaupt ist Suizid ein ethisches Problem? Über Suizid und
Suizidbeihilfe (erschienen in der Zeitschrift für medizinische Ethik 2009, abrufbar unter
www.profjohannesfischer.de)
Christopher Cordner, Ethical Encounter. The Depth of Moral Meaning.
Eine Auffassung von Ethik, wie sie in den vorstehenden Überlegungen skizziert worden ist,
ist ersichtlich anschlussfähiger an die Seelsorge als ein prinzipielles ethisches Denken, wie es
sowohl in Philosophie als auch in Theologie bis in kirchliche Stellungnahmen zu ethischen
Fragen anzutreffen ist.
Es geht nicht darum, das moralisch Richtige oder Gebotene objektiv aus philosophischen oder
theologischen Theorien abzuleiten, sondern vielmehr darum, es unter Aufbietung aller
Ressourcen der eigenen Einsicht und Klugheit selbst herauszufinden.
Vgl. hierzu Løgstrup, Die ethische Forderung:
Die ethische Forderung „will gerade nicht mit irgendeiner göttlichen Anweisung darüber, was
gesagt und getan werden soll, den einzelnen dazu bringen, seine eigene Verantwortung, seine
eigenen Überlegungen und seinen Einsatz mit allen Möglichkeiten des Irrens und Versagens
zu überspringen.“3
„Würde sich die Forderung in ihrer Eigenschaft als Gottes Forderung detaillieren lassen, so
wäre das, was Gott dem Menschen schenkt, nicht unser Leben mit all seinen Möglichkeiten,
sondern es wären Meinungen, Lebensanschauung, Theologie, wenn man will. Und die
Forderung wäre die rein äusserliche: die Meinungen, die Lebensanschauung oder die
Theologie ohne eigene Verantwortung, ohne irgendeinen Einsatz der eigenen Menschlichkeit,
Phantasie und Einsicht anzuwenden.“4
B.
Im Mittelpunkt der Moral steht das menschliche Handeln.
Als Beispiele für die Problematik dieser Auffassung: Christopher Cordners Kritik am
ethischen Denken von Peter Singer
3
4
Løgstrup, aaO. 121.
aaO. 122.
12
Ein zentraler Punkt dieser Kritik bezieht sich darauf, dass Singer die Ethik auf die moralische
Beurteilung von Handlungen als richtig oder falsch, geboten oder verboten reduziert und
dabei die Haltungen und Einstellungen, mit denen Menschen handeln, völlig ausblendet.
Damit aber ignoriert er eine Dimension der Moral, der für das menschliche Zusammenleben
fundamentale Bedeutung zukommt.
Cordner illustriert dies am Beispiel einer Frau, deren schwerkranker Mann sie bittet, ihr ein
tödliches Mittel zu besorgen, damit er seinem Leben ein Ende machen kann. Die Frau wird
dadurch in einen tiefen Konflikt gestürzt. Sie besorgt das Mittel aus einer inneren Gewissheit
heraus, dass sie dies für ihren Mann angesichts seiner verzweifelten Situation und seiner
inständigen Bitte tun muss. Und gleichzeitig hat sie das Gefühl, etwas Schreckliches zu tun,
das ihr in ihrer Liebe zu ihrem Mann das Äusserste abverlangt – obgleich sie weiss, dass sie
es tun muss.
Cordner fragt: Ist nicht diese innere Hemmung, dieser Konflikt ganz ebenso Manifestation der
Liebe dieser Frau zu ihrem Mann, wie es die Tatsache ist, dass sie seinem Verlangen folgt
und ihm das Mittel besorgt? Wäre es nicht zutiefst irritierend, wenn die Frau hier keinen
Konflikt empfinden und sich stattdessen nüchtern kalkulierend sagen würde:
Es ist der inständige Wunsch meines Mannes; er ist urteilsfähig, sein Wunsch wohlerwogen
und angesichts seiner verzweifelten Situation nachvollziehbar; für ihn ist es das Beste, wenn
ich seinem Wunsch nachkomme und er aus dem Leben scheiden kann. Von einem
utilitaristischen Standpunkt aus betrachtet ist diese Überlegung zweifellos richtig. Doch
würde eine solche, von keinem inneren Konflikt belastete Erwägung auf Seiten der Frau nicht
Fragen aufwerfen bezüglich der Beziehung oder Einstellung, die sie zu ihrem Mann hat?
Die von Cordner kritisierte Reduktion von Moral und Ethik auf das Handeln ist
charakteristisch für die moderne Ethik und bis heute für weite Teile des ethischen Denkens
der Gegenwart (bis in die theologische Ethik hinein: vgl. die Lehrbücher evangelischer Ethik).
Dabei ist es ein Leichtes, sich anhand geeigneter Beispiele zu vergegenwärtigen, dass es
entscheidend die Haltungen oder Einstellungen sind, mit denen wir einander begegnen, die
die Atmosphäre unseres zwischenmenschlichen Umgangs prägen. Ein und dieselbe Handlung
kann freundlich oder unfreundlich, liebevoll oder lieblos, fürsorglich oder gleichgültig
vollzogen werden, und das hat atmosphärische Auswirkungen auf die Person, der gegenüber
sie vollzogen wird.
13
Das gilt auch für die Haltung bzw. Einstellung, mit der Seelsorgerinnen und Seelsorger denen
begegnen, die sich an sie wenden.
Unterscheidung zwischen
-
Handlungen und
-
emotional bestimmtem Verhalten mit seiner atmosphärischen Ausstrahlung
3. Fragen und Hinweise:
-
Gibt es auch in der Seelsorge Tendenzen zur Reduktion auf das Handeln, wofür
vielleicht die Rede vom „seelsorgerlichen Handeln“ ein Indiz sein könnte?
-
Gegenüber einem auf das Handeln reduzierten Menschenbild, wonach der Mensch der
freie und selbstbestimme Urheber seines Handelns und Verhaltens ist, geht es hier um
die passive Seite des menschlichen Lebensvollzugs, insofern Menschen über ihre
emotionalen Verhaltenseinstellungen nicht einfach selbstbestimmt verfügen.
-
Theologisch verweist die auf die These von der Unfreiheit des Willens.
-
Hinweis auf die Bedeutung solcher Verhaltenseinstellungen in der biblischen und
christlichen Überlieferung (z.B. 1. Kor 16,14)
-
Ist das, was sich in der Seelsorge vollzieht, anstelle eines Handelns seitens der
Seelsorgerin/ des Seelsorgers nicht eher ein – gewiss im Vollzug ständig reflektiertes
und dabei bewusst mitgestaltetes – Geschehen, das diese passive Seite in Gestalt eines
emotionalen Involviertseins mitumfasst?
-
Seelsorge als eine Poiesis, d.h. eine Tätigkeit, die ein Ziel ausserhalb ihrer selbst
verfolgt (vgl. Psychotherapie)? Oder als eine Praxis, d.h. eine „Tätigkeit“ der
Begleitung und Stützung, die ihr Ziel in sich selbst hat?
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