Zum 70. Geburtstag von Helmut Lachenmann

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Gerhard R. Koch
Zum 70. Geburtstag
von Helmut Lachenmann
www.musikderzeit.de – melos © Schott Musik International
Gerhard R. Koch: Zum 70. Geburtstag von Helmut Lachenmann
janusköpfigen Blicks. Man kann eine lange, komplexe Entwicklung, ja Lebenleistung resümieren,
zugleich aber auch den Blick in die Zukunft rich-
Lieber Helmut Lachenmann,
meine Damen und Herrn,
ten, ins noch Offene
schauen, überlegen, viel-
leicht auch nur spekulieren, wie es weitergehen
könnte, was noch kommen mag. Helmut Lachen-
Wer wüsste es nicht: Auch und gerade der
Kulturbetrieb wird durch den Kalender bestimmt,
nicht zuletzt die ewig gleichen Rituale der
Festivals. Hinzu kommen die großen "runden"
Jubiläen, die Gedenktage, Geburts- und Todes-
mann hat selber schon eine Teilantwort gegeben,
in seinem jüngsten Werk, "Concertini", die Perspektivenvielfalt seines Komponierens nach Art eines Spektralspiels noch weiter aufgefächert.
jahre, die Erinnerungen an epochale Ereignisse,
Gleichzeitig passiert noch mehr als ohne-
wie etwa vor hundert Jahren Albert Einsteins
hin, die orchestrale Zentralperspektive wird gänz-
Relativitätstheorie oder Albert Schweitzers Bach-
lich aufgegeben, interne Raumaktionen greifen um
Buch. Und das Mozart-Jahr steht vor der Tür –
sich. Obwohl Lachenmann mit der eine zeitlang
mehr eine kommerzielle Drohung als eine künstle-
fast leicht inflationären "Musik im Raum" sonst
rische Verheißung. Denn eines ist klar: Schon der
Begriff
des
Musiklebens
erscheint
als
ein
Widerspruch in sich, ist doch das Lebendige aus
diesem oft allzu sehr gewichen. Kafka sprach von
der Last der Jahrhunderte, an der wir zu tragen
weniger im Sinn hat. Natürlich kann man bei ihm
nicht gerade von einem Paradigmenwechsel sprechen. Blockhaft verfestigt jedoch hat sich seine
Ästhetik nicht im Mindesten.
haben. De facto hat sie sich immer mehr der puren
Seit ich Helmut Lachenmann und seine
Neokrophilie angenähert. Hauptsächlich das
Musik kenne, zu kennen glaube, also seit den spä-
Vergangene wird kultiviert, der Totenacker um
ten sechziger Jahren, hat sie mich, in unterschied-
und um gegraben. Das gilt selbst für die maßlos
licher Intensität, einen anderen Satz Kafkas assozi-
übertourte Interpretationssphäre: vor lauter
Furtwängler- und Callas-Beschwörung tritt das
hier und heute erst recht in den Hintergrund.
Und um noch einmal kurz auf Mozart zu
ieren lassen: Ein Buch müsse sein wie die Axt für
das gefrorene Meer in uns. So sollte Kunst eigentlich generell auf uns wirken: uns verändern,
kommen: Was dessen Musik für die Gegenwart
womöglich aufsprengen. Ich meine dies nicht im
bedeuten könnte, welche Impulse, falls über-
Sinne einer Erbaulichkeits-Ideologie, derzufolge
haupt, für das Komponieren ausgehen könnten –
Musik bessere Menschen aus uns mache. Man
es scheint kaum jemanden zu interessieren. Und
gebe sich gerade da keinen Illusionen hin:
beklommmen erinnert man sich eines abgrundtief
Schlimme, sadistische Schergen des Totalitarismus
dialektisch-pessimistischen Ausspruchs Arnold
Schönbergs: die zweite Hälfte des zwanzigsten
Jahrhunderts werde durch Überschätzung das an
ihm schlecht machen, was die erste durch
waren kultivierte Musikliebhaber.
Die
Veränderungsenergie,
die
von
Lachenmanns Musik ausgehen kann, zumindest
Eine
könnte, ist nicht die eines wertbeständig program-
Menetekel-Formel, die für vielerlei Rezeptions-
matischen Gut-Menschtums. Ihre Emanationen,
geschichte gilt.
die gibt es sicherlich, führen im Gegenteil in die
Unterschätzung
gut
gelassen
habe.
Der siebzigste Geburtstag eines noch dazu
Irritation, sie verunsichern das tradierte ästheti-
lebenden Künstlers, hier und heute sogar leibhaf-
sche Gravitationssystem. Wenn Lachenmann ein-
tig anwesend, bietet den Vorteil eines immerhin
mal formulierte: Komponieren bedeute für ihn Ein
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Gerhard R. Koch: Zum 70. Geburtstag von Helmut Lachenmann
Instrument bauen, dann heißt dies nichts anderes
Adorno hat Lachenmanns Musik nicht
als etwa das Orchester neu zu erfinden. Im Prinzip
mehr ernsthaft kennen lernen können. Wohl aber
haben Berlioz, Wagner, Mahler, Debussy oder
hat Lachenmann, ohne ein Adept zu sein, Adorno
Varèse auch nichts anderes getan. Nur hat
sehr genau rezipiert, in dem Essay "Zum Problem
Lachenmann noch weit entschiedener die lieb
des musikalisch Schönen heute" 1976 Adornos
gewordene Idee von der phalanxhaften Kollektiv-
Stuttgarter Vortrag "Das Altern der Neuen Musik"
Totale in Frage gestellt. Die Aggressionen, die ihm
von 1954 "wahr und prophetisch" genannt. Liest
entgegenschlugen, resultierten sehr genau aus sol-
man Adornos Text heute, also ein halbes
chem Tabubruch wider die verschworene Liaison
Jahrhundert später, noch einmal, so ist man ver-
aus Masse und Macht.
blüfft, wie recht Lachenmann damals nicht nur
Und wer weiß, ob nicht für Lachenmann
hatte, sondern wie aktuell er geblieben ist – und
der Text aus Ernst Tollers Masse Mensch, den er
wie sehr er all diejenigen widerlegt, die glaubten,
1967 seiner "Consolation I" zugrunde gelegt hat –
Adorno auf den Dogmatiker des angeblich die
"Gestern standst Du an der Mauer, Jetzt stehst Du
Welt erobernden Darmstädter Serialismus mitsamt
wieder an der Mauer" – auch vorwegnehmend
aller Technologie- und Materialgläubigkeit festle-
und später stets aufs Neue bestätigt das Gefühl
gen zu können. Geradezu das Gegenteil war der
der wahrhaft trostlosen Ausgeliefertheit vor einem
Fall: als Plädoyer für das Offene, das Risiko, das
Wall destruktionsbereiter Ablehnung so symbo-
nicht durch Prozeduren Abgesicherte. Derlei mag
lisch wie konkret artikuliert hat. Gewiß war und ist
mittlerweile fast ein wenig pathetisch klingen.
der Komponist nicht in der Situation dessen, der
Aber Lachenmanns Komponieren, das immerhin
da vor einem Exekutionskommando an der Mauer
nicht eben wenig von Adornos Forderungen einlö-
steht. Trotzdem können das Ausmaß von Abwehr,
ste,
ja Hass, die dem ästhetischen Außenseiter ent-
Autonomieästhetik vom in sich stimmig abge-
gegenschlagen, eine potentiell reale Bedrohung
schlossenen Kunstwerk hinaus, indem es nicht nur
immerhin erahnen lassen.
auf die Veränderungen innerhalb der Objekt-
ging
noch
um
einiges
über
die
Lachenmann hat – Sie werden es nachher
Sphäre zielte, sondern nicht minder die subjektive
hören können – darauf hingewiesen, dass er erst
Rezeptionsperspektive intensivierte. Immer wie-
später
italienischen
der hat Lachenmann betont, dass es ihm nicht nur
Originaltext zu "Zwei Gefühle" kennenlernte und
um den neuen Klang ginge, sondern um das neue
überrascht feststellen mußte, daß Leonardo
Hören, um eine Musikerfahrung quasi in statu
zunächst Gefühle nicht einmal thematisierte, son-
nascendi. Auch wenn sich Lachenmann nicht pla-
dern, quasi gefühllos, nur von "due cose" sprach,
kativ als Linker präsentiert hat: Die Umwälzung
zwei Dingen oder auch nur "zweierlei". Dies aber
der gesellschaftlichen Verhältnisse hat er als
ist weit mehr als nur eine philologische Variante.
Komponist mit den ihm genuin zur Verfügung ste-
Denn genau diese Art von Versachlichung wirkt
henden Mitteln sehr wohl angestrebt.
Leonardo
Da
Vincis
ebender semantischen Verdinglichung entgegen,
Um von Adorno und der Vergangenheit
die das hehre Wort "Gefühle" evozieren könnte:
loszukommen und uns der Zukunft zuzuwenden:
so, als seien diese etwas fix Abrufbares. Also eine
Peter Ruzicka ist ja nicht nur Intendant der
dialektische Korrektur im Sinne der immanenten
Salzburger Festspiele, sondern, für ihn selber wohl
Kritik Adornos.
wichtiger, Komponist, Dirigent und Ästhetiker. Als
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Gerhard R. Koch: Zum 70. Geburtstag von Helmut Lachenmann
solcher setzt er sich seit einiger Zeit nachdrücklic
absorbierte – oder aber, ob dieses in all seiner In–
für den Begriff der "Zweiten Moderne" ein, gewiss
ständigkeit stillschweigend den Prachtrahmen
eher ein hypothetisches Postulat als ein Faktum.
außer Kraft setzte, Veränderung bewirkte. Da sich
Heinrich Klotz, übrigens Mitgründer des ZKM,
derlei kaum definitiv klären läßt, kann man zumin-
und der Münchner Soziologe Ulrich Beck haben
dest mutmaßen, daß eben doch nicht alles ein für
ihn geprägt. Beck überlegte schon 1997 "wie die
allemal nur beim Alten bleiben muß.
Orthodoxie der Ersten Moderne gebrochen wer-
Insofern hat Lachenmann Recht, wenn er
den kann". Und forderte zugleich: "Was an
Begriffen wie "Verweigerung" auch ein wenig miss-
Sicherheit verloren geht, kann als Freiheit gewon-
traut, suggerieren sie doch recht undialektisch
nen werden." Lachenmann, für Ruzickas Re-
einen absolut starren Gegensatz zwischen radikal
flexionen ein wichtiger Gewährsmann, gewinnt da
kritischer Kunst und ihren Rezipienten wie In-
in der Tat an schier janusköpfiger Bedeutung.
stitutionen. So viel Grund zur Resignation hat er
Denn zur Heroengeneration der Nachkriegs-
nun wieder auch nicht. Im Übrigen ginge man in
Avantgarde wie Boulez, Stockhausen, Nono, auch
die Irre, hielte man ihn für einen asketischen Dok-
Ligeti gehört er nicht mehr. Doch mit der
trinär. Daß er nicht mit den Wölfen der Kon-
Postmoderne, ihrem "anything goes", ihrer
vention heulen will, versteht sich. Aber Richard
bequem konsumierbaren Beliebigkeit ist seine
Strauss’ Alpensinfonie, manche Film-Soundtracks
Ästhetik, und das ist auch eine Frage der Moral,
von Ennio Morricone oder selbst Frederic Rzewkis
völlig inkompatibel. Angebiedert hat er sich nie –
Klaviervariationen über das chilenische Kampflied
und war wohl sogar selber nicht wenig überrascht,
"El pueblo unido jamas sera vencido" haben ihn
dass ausgerechnet sein Musiktheater Das Mädchen
durchaus affiziert. Es ist ganz sicher nicht seine
mit
der
Musik; aber dass von außen Fremdes hereintönt,
Hamburger Uraufführung wie bei den Folge-
wehrt er nicht mehr generell rigide ab. Was nun
interpretationen in Paris, Stuttgart und Salzburg
wirklich nicht heißen soll, dass ihm an neotonalen
ganz erheblichen Anklang fand, zumal im Zu-
Beschwichtigungsstrategien gelegen sei.
den
Schwefelhölzern
sowohl
bei
sammenhang mit den in ihrer Weise autonomen
Wogegen er sich immer gewehrt hat – und
Bildwelten von Achim Freyer und Peter Mussbach.
mit gutem Grund – ist der Wahn, man könne sich
Die für mich irritierendste und darin auch
so einfach ins gemachte Bett der Musikgeschichte
wieder bestätigendste Lachenmann-Erfahrung war
legen, bequem historische Materialien, Techniken
die
den
und semantische Topoi adaptieren – so tun, als
Schwefelhölzern im prunkvollen Traditionstempel
könne man das Schalwerden von Tradition einfach
des Palais Garnier der Pariser Opéra. Denn kaum
ignorieren.
Premiere
des
Mädchens
mit
eine andere Institution läßt sich denken, die so
Wenn Lachenmann Cage und Nono, einst
sehr für den Glanz des Schönen Scheins, die
wohl auch von ihm als eher unvereinbar angese-
Wohllaut-Gier der "Mélomanen", die opulenteste
hen,
Fassade gesellschaftlicher Repräsentation steht:
Wahrnehmung bezeichnet, dann belegt dies stetig
sicher in vielem die krasse Gegenwelt zu Lachen–
wachsende Offenheit für auch heterogene Mög-
manns sperrig verschlüsselter Leidens-Botschaft.
lichkeiten von Musik überhaupt.
als
Bezugspersonen
einer
befreiteren
Nur stand man vor der Frage, ob die so überaus
Um uns dem Gegenpol zuzuwenden:
prächtige Schatulle das Werk neutralisierend
Lachenmann hat keinen Hehl daraus gemacht,
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dass ihm eine stark technologisch akzentuierte
Ästhetik wenig bedeutet. In dieser Hinsicht hat er
sogar Distanz zu den Live-Elektronik- und Raumklang-Explorationen Luigi Nonos bekannt, der für
ihn, über manche Brechungen hinweg, die zentrale Orientierungsfigur nicht nur der Nachkriegsmusik gewesen ist. Doch simple Technikfeindlichkeit schiene auch Lachenmann reaktionär.
Dass er heute hier im ZKM zu Gast ist, lässt sich
auch als auf jeden Fall fruchtbare Spannung deuten. Auch wenn er nun schwerlich zum ComputerKomponisten werden dürfte.
Spannung freilich kann vieles bedeuten,
etwa die zwischen Form und Materie, zwischen
Geist und Institution, zwischen Kunstanspruch
und Publikum. Und solange Spannung herrscht,
findet auch Energieaustausch statt, und zwar in
beide Richtungen. Zumindest sollte es so sein.
Diesen komplexen Zusammenhang hat, übrigens
schon hundert Jahre vor Adorno, Eduard Hanslick,
durch Wagners ressentimentgeladene Invektiven
leider immer noch diskriminiert, sehr schön formuliert: «Nichts irriger und häufiger, als die
Anschauung, welche ,schöne Musik’ mit und ohne
geistigen Gehalt unterscheidet. Sie faßt den Begiff
des Schönen viel zu eng und stellt sich die kunstreich zusammengefügte Form als etwas für sich
selbst Bestehendes, die hineingegossene Seele
gleichfalls als etwas Selbständiges vor und teilt
nun konsequent die Kompositionen in gefüllte
und leere Champagnerflaschen. Der musikalische
Champagner hat aber das Eigentümliche, er
wächst mit der Flasche.» Über Hanslick hinausgehend, müsste man freilich heute auch umkehrend
ergänzen: Die Flasche wächst mit dem Inhalt. In
diesem Sinne hat Helmut Lachenmann nicht nur
die Ästhetik der Tonkunst, sondern sogar auch
noch über das Komponieren hinaus den Musikbetrieb selber überaus heilsam geweitet.
Ich danke Ihnen.
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