Vom christlichen Antijudaismus zur säkularen Islamophobie: Übertragung gleicher Vorurteile? Einige vorläufige Notizen zum Verständnis und zur Verständigung Von Ian Leveson Einführung In der Auseinandersetzung um die Integration der in Deutschland lebenden Muslime helfen uns der Begriff "Rassismus" und Vergleiche mit rassistischem Antisemitismus nur bedingt weiter. Um die derzeitige Institutionalisierung, aber auch die Verteufelung des Islam zu verstehen, ist der vor 200 Jahren geführte ideologische Diskurs des christlichen Antijudaismus über die JudenEmanzipation möglicherweise aufschlussreicher. Ich möchte diesen mit dem heutigen politischen Diskurs, der islamophobe Züge aufweist, anhand von Beiträgen aus beiden Zeiten vergleichen. Ich betrachte diesen Vergleich als eine noch offene Forschungsfrage. Dies heißt nicht, dass die christlich-jüdische Auseinandersetzung mit den Problemen gleichzusetzen ist, die eine säkularisierte christliche Gesellschaft mit ihren muslimischen Mitbürgern hat. Von einer gradlinigen Fortsetzung der früheren Auseinandersetzungen kann man nicht ausgehen. Trotzdem gibt es eine gewisse geschichtliche Übertragung: Es scheint, dass die säkulare Argumentation frühere Ressentiments gegen Juden aufgreift, wenn sie die muslimische Lebensweise in einem säkularen Umfeld verurteilt. Eine Aufstellung der Spannungen und Konflikte zwischen religiösen Praktiken und dem alltäglichen säkularen Leben zeigt die Nähe des Judentums und des Islams in der Praxis und stellt deshalb die "jüdisch-christliche Tradition" als Verallgemeinerung in Frage. Ich will drei im 18. und 19. Jahrhundert gängige christliche antijüdische Vorurteile beschreiben, die in der Gegenwart in Vorurteilen über Muslime wieder erkennbar sind. Zum Schluss wird ein Denkmodell vorgestellt, das der Annäherung der Religionen und gleichzeitig dem Aufbau des Respekts zwischen ihren Mitgliedern (und zwischen Religiösen und Konfessionslosen) förderlich sein dürfte. Teil 1 Religiöse Praktiken und Institutionen im alltäglichen Leben Für verschiedene soziale Bereiche (Bildungswesen, Arbeitswelt, Gesundheitswesen, juristisches System, im Wehrdienst und in Gefängnissen oder einfach im öffentlichen Raum) beschreibe ich in Tabelle 1, wo eine säkulare Umgebung für religiöse Praktiken Schwierigkeiten bereitet. Ich ordne die religiösen Praktiken in spirituelle Kategorien ein, z.B. Gebet, Reinheit, Bescheidenheit, d.h. eine bestimmte Praxis kann mehrmals vorkommen abhängig von ihrer spirituellen Bedeutung und ihren Auswirkungen in unterschiedlichen sozialen Bereichen. Daraus leite ich ab, wo eine "Verdichtung" der Spannungen oder der Diskriminierung für einzelne Religionen besteht. Christliche Gebräuche kommen in der Tabelle nicht vor, entweder weil es wenige gibt, die so streng befolgt werden, oder weil die vorherrschende Kultur in der Gesellschaft für deren Einhaltung schon gesorgt hat, aber es ist eindeutig erkennbar, dass ein frommer Jude oder Muslim auf verschiedenste Weisen im tagtäglichen Leben benachteiligt wird. Beispielsweise spielen Unterschiede in den Tages- oder Jahresabläufen für das Gebet und religiöse Feiertage eine Rolle. Die Verfügbarkeit von entsprechend zubereiteten Medikamenten ist ein Beispiel für die durch Reinheitsvorschriften aufgeworfenen Probleme. Auch wird mitunter dem Geist religiöser Gesetze über Bescheidenheit durch Kleiderordnungen widersprochen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Gemeinschaftsleben einer religiösen Minderheit ist die Akzeptanz der Mehrheitsgesellschaft für ihre Riten (z.B. Begräbnis oder Beschneidung). Generell lässt sich sagen, dass der Einfluss der Minderheit auf alltägliche Lebensläufe von der Mehrheitsgesellschaft jedoch oft noch nicht akzeptiert wird. Derzeit wird die staatliche Aufsicht auf die muslimische Praxis ausgedehnt und im Fall der jüdischen Praxis intensiviert. Die rechtliche Regulierung des Islam dürfte also das rechtliche Umfeld auch für das Judentum beeinflussen. Dadurch könnten ältere institutionelle Arrangements den Juden in Deutschland neu zur Verhandlung kommen oder sogar zur Disposition gestellt werden. Der Assimilationsdruck auf das Judentum lässt jedenfalls kaum nach, wenn auch nicht unbedingt der muslimischen Bevölkerung wegen. Tabelle 1: Beispiele für versteckte und offensichtliche Diskriminierung nach religiösen Kategorien in sozialen Bereichen Religiöse Kategorien ò Soziale Bereiche ð Organisation von Gebets- und Fastenzeiten Privatbereich/ Haushalt Die Geselligkeit ist eingeschränkt. (Muslime können im Ramadan vor dem Fastenbrechen Gästen kein Essen anbieten.) Öffentlicher Bereich, Schule, Universität, Arbeitswelt Gesundheitswesen Rechtssystem Zeitliche Abläufe und Räumlichkeiten nehmen keine Rücksicht auf Gebetszeiten und Fastenzeiten. Feiertage nicht-christlicher Religionen werden nicht berücksichtigt. Zeitliche Abläufe und Räumlichkeiten nehmen keine Rücksicht auf Gebetszeiten und Fastenzeiten. Das Rechtssystem berücksichtigt an vielen Stellen nicht die Gebetszeiten. (Die Einrichtung eines Eruv in England versucht der jüdischen Bevölkerung gerecht zu werden.) Reinheitsvorschriften Regeln zur Bescheidenheit Zugehörigkeit Die Geselligkeit ist eingeschränkt. Die Geselligkeit ist eingeschränkt. (Ein jüdisches oder muslimisches Kind kann nicht an den Essen von andersgläubigen oder nichtgläubigen Freunden teilnehmen.) (Nutzung einer gemeinsamen Küche ist problematisch für die Juden. Nicht-Trennung von Tieren ist für Juden und Muslime problematisch. Eine fachgerechte Schächtung kann nicht vorausgesetzt werden.) Aktivitäten sind eingeschränkt. Kleiderordnung wird nicht berücksichtigt. (Diskobesuch, Modische Kleidung besonders für Frauen) (Öffentliche Bäder sind in der Regel nicht getrenntgeschlechtlich, Foto ohne Kopftuch z.B. im Ausweis widerspricht der Kleiderordnung. Ausflüge von muslimischen Mädchen ohne männliche Begleitung sind problematisch.) Freundeskreis ist unter Umständen eingeschränkt. In der Schule werden Schüler dem jeweiligen Religionsunterricht zugeordnet. (Der Tagesablauf bei der Armee oder in (Geistlicher Beistand Gefängnissen nimmt in Notsituationen wenig Rücksicht auf unterscheidet nicht Gebetszeiten oder zwischen Religionen.) Feiertage). Etikettierungen und Beipackzettel von Medikamenten nehmen keine Rücksicht auf die Vorschriften. Kleiderordnung wird Ordnungen werden nicht berücksichtigt. nicht berücksichtigt. (Muslimin im (Foto ohne Kopftuch Krankenhaus kann bei Festnahme, die Regeln zur Bescheidenheit nicht Eidesformel.) einhalten.) Die Anwendung der ReproduktionsTechnologie (künstliche Befruchtung) wird unterschiedlich behandelt. Teil 2 Vorurteilsbehaftete Diskurse Vergleichbarkeit islamophober und judeophober Rhetorik Während der Auseinandersetzung um die Emanzipation der Juden von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hat der antisemitische Diskurs je nach den Sorgen und Anliegen der jeweiligen Epoche eine Vielfalt von Vorurteilen transportiert. Christlicher Antijudaismus verwandelte das Judentum „... in ein statisches Judentum der Vergangenheit... und benutzte eine künstliche Trennung eines alten Israel von einem Judentum nach dem Exil, um zeitgenössische jüdische Institutionen und Identität zu delegitimieren“. Nationalisten, die sich um die Bildung homogener Nationalstaaten bemühten, „übersetzten Konflikte zwischen einer jüdischen Gemeinschaftsidentität und dem Nationalstaat [in] Widersprüche innerhalb des Judentums“ (Pasto, 1998 „Islam´s `Strange Secret Sharer“: S.466). Rassistischer Antisemitismus trat erst im Anschluss an die jüdische Assimilierung und die gleichzeitige Verbreitung sozialdarwinistischer Ideen in den Vordergrund. Gilman (1986 „Jewish Self-Hatred: Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews“) hat jedoch die Neigung kritisiert, dies als getrennte Prozesse wahrzunehmen: „...die Einteilung antijüdischer Einstellungen in bestimmte Zeitabschnitte war in sich falsch. [Dies] hieß, die oberflächliche Rhetorik zu betrachten, in die die universellen Einstellungen gegenüber dem Anderen gekleidet war.“ Die Annahme, dass die Rhetorik an diejenige Gruppe angepasst wird, die zum momentanen Zeitpunkt als die Antithese zur dominanten gesellschaftlichen Macht definiert wird, weist schon darauf hin, dass Islamophobie und Judeophobie rhetorisch äquivalent sein könnten. Ohne in eine detaillierte Diskussion von Edward Saids Konzept des „Orientalismus“ einsteigen zu wollen, ist es doch interessant, an dieser Stelle folgende Bemerkung Saids einzubringen: „.... nehmen wir den Zusammenhang... zwischen Islamophobie und Antisemitismus. Man hätte doch erwarten können, dass viele Wissenschaftler und Kritiker den Zusammenhang wahrgenommen hätten, dass die Feindseligkeit gegenüber dem Islam im modernen christlichen Westen in der Vergangenheit Hand in Hand mit... Antisemitismus ging.“ (Said,1985 „Orientalism Reconsidered“ S.9). Dies wurde durch Pasto umformuliert (s.o.1998: S.472): „[Saids Konzept des] Orientalismus ist ein ‚judaisierender’ Diskurs, da er Muslime und Araber in der jüdischen Metahistorie der Unterdrückung durch den Westen verortet.“ Kabbani (1989 „Letter to Christendom“ S.11) meint dazu treffend: „Es fand in der heutigen säkularen westlichen Kultur eine Verschiebung der Verachtung von Juden hin zu Muslimen statt.“ Mit dem „neuen Antisemitismus“ (Taguieff, 2002; Iganski and Kosmin, 2003), der Israel als Pariah unter den Nationen begreift und dabei Juden das Recht zur Selbstbestimmung abspricht, beobachtet man, dass die Verachtung für Muslime die für Juden nicht abgelöst hat. Vielmehr werden die Vorurteile gegen die beiden Gruppen gleichzeitig durch eine Rhetorik ausgedrückt, die den jeweiligen ideologischen Gräben zu der dominanten Gesellschaftsgruppe entspricht. Ein Vergleich der antijüdischen Vorurteilsmuster des 19. Jahrhunderts mit den islamophoben des 21. Jahrhunderts Im Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts lassen sich drei zentrale Vorurteile erkennen: (1) Juden bleiben dies nur, weil sie von ihren religiösen Führern oder Gemeindevorstehern gezwungen werden, und wenn sie nur von diesem Zwang befreit wären, würden sie ganz natürlich ihre altmodischen Religionen zugunsten der Reize des Christentums oder der weltlichen Gesellschaft aufgeben; (2) sie sind nicht vertrauenswürdig: Insbesondere wo es irgendeine Zweideutigkeit über die Bedeutung ihrer Rituale gibt, wird ihnen keinerlei Spielraum eingeräumt, ihrem eigenen Glauben anzuhängen, sondern vielmehr müssen sie demonstrativ das Verhalten der Mehrheit annehmen, um ihre Loyalität unter Beweis zu stellen; (3) da sie (siehe 1) nicht freiwillig konvertieren und (2) nicht vertrauenswürdig sind, bleibt unklar, wie dafür empfängliche Juden zum Wechsel bewegt werden können – sie müssen ermutig werden (aus Sicht der Optimisten) oder gezwungen (aus Sicht der Pessimisten), da sie ja ohne solche Nachhilfe die Lebensweise der Mehrheit nicht übernehmen. Dies führt von der Akkulturierung zur Assimilierung. Erzwungene, rückwärtsgewandte, ungebildete Frömmigkeit Christlichen Theologen zufolge waren Juden der sogenannten Tyrannei ignoranter und legalistischer Rabbiner unterworfen. In ihrem Versuch, die Modernität des Christentums zu beweisen, leugnen die damaligen deutschen Kommentatoren, dass das talmudische Gesetz (Halacha) eine lebendige mündliche Tradition mit offenem Ausgang ist: Sie lassen nicht zu, dass der jüdische Glaube eine Gegenwart und eine Zukunft hat. Sie beanspruchen die Definitionshoheit darüber, was relevant ist, und ignorieren dabei die Quellen jüdischer Gesetze und Autorität außerhalb der niedergeschriebenen Torah, die sie als fundamentalistisch verurteilen. Es scheint, dass dieses statische Bild auf die Muslime und den Islam übertragen wird. Nach dem säkularen Verständnis ist der Islam da kaum anders, und daher ist die Wiederkehr dieses Leitmotivs der erzwungenen Unterwerfung in der aktuellen Kopftuchdebatte kaum überraschend: „Ich [bin] der gleichen Meinung wie Alice Schwarzer [2003 „Die Machtprobe“ Spiegel 26/2003]: Das Kopftuch ist ein Zeichen des Fundamentalismus oder einer klaren islamistischen Position, die keineswegs im Koran vorgeschrieben ist. Es ist in meinen Augen ein Verstoß gegen die Frauenemanzipation, sich mit dieser unterwürfigen Kleidung in bestimmte religiöse Rituale einzuordnen, zu denen auch immer die Zweitrangigkeit hinter den Männern gehört... Und wenn eine prinzipiell intolerante islamistische Richtung erproben will, wie weit sie kommen kann, dann muss man an einer bestimmten Grenze mauern." (Wehler, 6.2.2004 Interview Spiegel). Einerseits setzt dieser Vorwurf des intoleranten und nicht vertrauenswürdigen Islam die europäischen Situation den konservativsten Mullahs der iranischen Diktatur gleich, was diesem keineswegs entspricht, andererseits werden dadurch zivilgesellschaftliche Prozesse, in denen Frauen ihre Rechte in jeder Gemeinschaft erkämpfen (auch in der muslimischen) nicht gefördert. Vielmehr werden diejenigen, die nicht gleichzeitig auch den Säkularismus annehmen wollen, als enttäuschend zurückgewiesen. Von der Akkulturierung zur Assimilierung Obwohl die Juden die Ghettos individuell verließen und dafür ihre Mitgliedschaft in der kollektive Kehillot aufgeben mussten (Elazar; Trigano, 1995 „How European Jewish Communities Can Choose and Plan Their Own Futures“ S.17), wurden sie kollektiv beurteilt. Angesichts gesellschaftlicher Vorurteile wurden sie daher mit denen in einen Topf geworfen, die sich am stärksten gegen eine Assimilierung zur Wehr setzten und deren angebliche Renitenz eine Ausrede für die dominanten gesellschaftlichen Gruppen darstellte, auch denen, die zur Assimilation bereit waren, die volle soziale Akzeptanz zu verweigern (Wertheimer, 1987 „Unwelcome Strangers: East European Jews in Imperial Germany“). Wie wir im Zitat von Wehler gesehen haben, wird der Islam heute u.a. deshalb nicht akzeptiert, weil manche Musliminnen ein Kopftuch tragen wollen – vergleichbar mit der geschichtlichen Figur des "Kaftanjuden". Trotz der bestehenden negativen Freiheit eines "gleichen Rechts zur Religionswahl" für Individuen (Parekh, "Rethinking Multiculturalism", 2000), ein liberale "Toleranz" die eher eine Duldung entspricht, gab es auch weiterhin "keine Emanzipierung des Judentums" (Katz, "Judenemanzipation und ihre soziale Folgen", 1975: 192). Juden machten die Erfahrung, dass sie "sich einzig an den Prozess der Assimilierung assimilierten" (Bauman, "Modernity and Ambivalence", 1991: 145) und dass sie sich bloß in der Gesellschaft anderer hoffnungsvoller Assimilanten wiederfanden, d.h. sich in rein jüdischen Kreisen bewegten (Katz, 1975: 194-5): Parallelgesellschaften werden durch den versperrten Zugang zur Mehrheitsgesellschaft erzeugt. Die Versuche der jüdischen Reformbewegung, sich durch die Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft Respekt zu verdienen, scheiterten endgültig am Holocaust. Die Sackgasse, in die man sich begeben hatte, wurde aber schon viel früher erkannt – spätestens um 1900 (Meyer, 2001b „Should and Can an `antiquated`Religion Become Modern?“ S.221), aber die damals versuchten Auswege wurden ihrerseits vom Holocaust begraben. Die Reformbewegung stellt für uns heute keinen gangbaren Weg dar, denn die Assimilierung beseitigte die Diskriminierung nicht. Sollten Juden jetzt, da der Antisemitismus diskreditiert ist, nicht als das akzeptiert werden, was sie wirklich sind? Das Problem ist nicht mehr, die Modernisierung gegen den Willen des preußischen Staates durchzusetzen, sondern eher umgekehrt: Der Diskriminierung, die als Modernisierungsdruck verschleiert wird, zu widerstehen. Diese Erfahrung sollte auch den jüdischen Blick auf die Integration des Islams beeinflussen. Fehlende Vertrauenswürdigkeit Es gibt einen ganzen Komplex verwandter Vorurteile in Hinblick auf den angenommenen Mangel an Vertrauenswürdigkeit der Juden: Unzuverlässigkeit in Wort und Tat (siehe z.B. die Diskussion über das „Mauscheln“ in Gilman, 1986 s.o.) oder die Solidarität mit anderen Juden, die zu den Anschuldigungen führte, Juden stellten wahlweise einen Staat innerhalb des Staates dar (Katz, 1969 „A State within a State“) und hätten eine gespaltene Loyalität zum Staat, in dem sie wohnen. In der jüngsten öffentlichen Debatte in Deutschland über die muslimischen Immigranten erinnert die Forderung, man müsse die Entwicklungen sogenannter „Parallelgesellschaften“ (z.B. SchilyInterview, Teil 3, SZ 26.6.2002) verhindern, an das "Staat-im-Staate"-Argument. Doppelte Loyalitäten werden untersucht ("Türken ... 'sehr loyal' zum Staat", taz, 19.12.2001), dementiert ("Ich war nie ein Muslimbruder", taz, 4.8.2003) oder vermutet (Süddeutsche Zeitung, 31.10.2003). Mitunter wird der generelle Schuldverdacht sogar als "Kompromissvorschlag" präsentiert ("Thierse: Kopftuch? Nein, aber!", taz, 22.3.2004) "Dabei müsse die Bewerberin zeigen, dass sie auch mit Kopftuch grundgesetzkonform unterrichten wird" Misstrauen zeigt sich auch in der Diskussion über die Schulen und Lehrpläne. In der Vergangenheit sind jüdische Schulen durch staatliche Schulen und Unterricht in der Landessprache ersetzt worden. Heute geht es um den Islamunterricht an staatliche Schulen: "[Diesen] fordert der Fuldaer Bischof Heinz Josef Algermissen. Er fürchtet sonst, dass Jugendliche nicht kontrollierbare Koranschulen besuchen" (taz, 4.9.2001). Es spiegelt sich auch in der Sorge wider, dass Imame aus den Herkunftsländern der Immigranten politische Ziele verfolgen ("Islamunterricht schon kommende Woche", taz, 4.9.2001) und sich nicht an die hiesige Situation angepasst haben (Schily-Interview in der SZ, 26.06.2002). Besserungsbedarf Wenn Juden oder Muslime, deren Fähigkeit zur Selbstverbesserung nicht einschätzbar erscheint (Hess, 2002: 1-135; Pasto, 1998 s.o. S.459), das Judentum oder den Islam nicht von sich aus aufzugeben im Stande sind – entweder zugunsten des (idealer weise) Christentums oder des Säkularismus – dann wird überlegt, wie man ihnen helfen könnte, sich vor sich selbst zu retten. Die Machthaber im 19. Jahrhundert forderten, dass das Judentum neu definiert und verändert werden müsste: „Juden sollten ‚Rechte zugunsten von Erneuerung’ aufgeben. Dies bedeutete, dass Juden sich selbst und ihre Religion als ein Ebenbild des deutschen Protestantismus neu erschaffen sollten“ (Pasto, 1998 s.o. S. 450).Nun sind die Muslime aufgefordert, sich und ihre Religion als Ebenbild des säkularisierten Christentums neu zu erschaffen, wodurch die Religion ausgehöhlt werden könnte (so wie das Reformjudentum seinerzeit das Judentum ausgehöhlt hat). Die, die sich diesem Prozess widersetzen, werden pauschal als „fundamentalistisch“ eingestuft. Die jüdische Gemeinschaft sollte damals selbst die Überwachung der Sitten übernehmen (Wertheimer, 1987 s.o.), und heute die muslimische Gemeinschaft dafür sorgen, dass die Muslimen von allen als falsch, rückständig und verwerflich eingeschätzten Verhaltensweisen abrücken (Sciolino, 7.5.2003 „France Envisions a Citizenry of Model Muslims“ New York Times). Stimmen, die behaupten, die Muslime seien nicht integrierbar (Wehler, 17.9.2002 „Das Türkenproblem“ Die Zeit), haben ihre Vorläufer in der Geschichte der jüdischen Emanzipation, welche aber durch die Erfahrung widerlegt wurden (Meyer, 2001a „Judaism within Modernity: essays on Jewish history and religion“). Die Verwässerung der Unterschiede sind Merkmale dieses Prozesses der „Besserung“. Ein Beispiel ist der muslimische Wehrpflichtige, der die religiösen Gesetze nicht streng einhält, aber trotzdem als ein Fall der gelungenen Integration dargestellt wird ("Stahlhelm auf dem Kopf, Koran unterm Arm", taz, 28.2.2001). Natürlich wird dann von anderen erwartet, dass sie sich genauso "leicht" integrieren lassen wie er. Es gibt auch Fälle, wo Juden von Vertretern der Kirchen mit Verweis auf angebliche "gemeinsame jüdisch-christliche Werte" ungefragt in die Ablehnung des Kopftuchtragens einbezogen wurden (Interview mit Bischof Huber, Berliner Zeitung, 6.10.2003), indem die Pflicht der Kopfbedeckung für verheiratete Jüdische Frauen verschwiegen wurde. Eine Schlüsselrolle in diesem Prozess könnte die westeuropäische Ausbildung von (in beiden Religionen dringend benötigten) Geistlichen und ReligionslehrerInnen spielen, die mit der europäischen Gesellschaft vertraut sind ("Imame und Rabbis made in Germany", taz, 22.12.2001; "Die Uni des Propheten: Keine importierten Imame mehr", taz, 13.2.2002). Man muss aufpassen, dass keine Vereinnahmungsängste wegen des Theologie-Anteils am Studium entstehen. Im Prinzip ist der Einwand der Chefin des Berliner Verfassungsschutzes, Claudia Schmid, die "...sagte, nur wenn es der deutschen Gesellschaft gelinge, die friedensstiftenden Kräfte im Islam zu aktivieren, gebe es Hoffnung auf eine Lösung der Sicherheitsprobleme." (SZ, 31.10.2003) zutreffend. Aber diese Hoffnung darf nicht dazu missbraucht werden, legitime religiöse Unterschiede bzw. die gesellschaftlichen Kräfte, die vielleicht schwieriger einzuordnen sind, weil sie sich an religiöse Gesetze halten, ohne stichhaltige Beweise zu unterdrücken. Sie darf auch nicht dazu verwendet werden, um in innerreligiöse Debatten einzugreifen und durch eine Strategie von „teilen und herrschen“ unangenehme Stimmen zum Schweigen zu bringen. Man will die terroristischen Zähne eines politischen Islam ziehen. Aber eine durch Islam inspirierte Politik, die die Übernahme des Staats nicht beabsichtigt und im Rahmen des Rechtsstaates bleibt, zu verbieten und gleichzeitig etwa die CSU zu erlauben wäre heuchlerisch. Schlusswort: demokratische Partizipation von Judentum und Muslimen Wir erleben also eine Wiederholung der Auseinandersetzungen während der Judenemanzipation über die Vereinbarkeit von zivil und religiös definierten Rechtssystemen. Die Bestimmung der gesellschaftlichen Grenzen bleibt dennoch prinzipiell immer offen und ist unter Einbeziehung aller demokratisch ausgerichteten zivilgesellschaftlichen Gruppen, inklusive des Judentums und Islam, abzustimmen. Wenn alle drei Religionen eine säkulare Basis anerkennen, ermöglicht dies Glaubensfreiheit und – Vielfalt. Der einzelne hat auf der einen Seite das Recht der geschützten Ausübung seiner Religion und auf der anderen Seite die Möglichkeit ohne Sanktionen seine Religionsgemeinschaft zu verlassen. Offen bleibt nur der Grad des Schutzes aber auch der Grenzen in der Religionsausübung im öffentlichen Raum. Man darf argumentieren, dass in dieser Hinsicht die Emanzipation des Judentums nie richtig abgeschlossen wurde, und in diesem Sinne ist die derzeitige Auseinandersetzung die Fortsetzung. Wo historische Vorurteile mehr oder weniger eins zu eins übertragen werden, da gibt es Gemeinsamkeiten von Juden und Muslimen, dagegen vorzugehen. Und weil es Ähnlichkeiten bei manchen religiösen Praktiken gibt, könnte es auch Bereiche geben, wo Juden und Muslime gute Gründe haben, sich trotz der unterschiedlichen Theologien politisch zu verständigen. Es lassen sich vielleicht Lehren aus den Erfahrungen der Juden ziehen – etwa daraus, wie sich jüdische Reaktionen auf diese Art Argumente in der Praxis ausgewirkt haben, um islamische Antworten darauf zu finden. Als wahrscheinlich einzige Bedingung von jüdischer Seite wird die ausdrückliche Unterstützung von Muslimen bei der Bekämpfung von Antisemitismus – auch gegen den manchmal von der muslimischen Seite stammenden – erwartet. Teil 3 Denkmodelle über die Einbeziehung verschiedener Religionen in die Gesellschaft Wie kann man die Diskriminierung der Religionen in Deutschland oder die ungleichen Machtverhältnisse zwischen ihnen vermindern? Die folgenden Überlegungen sind kein Versuch, politische Strategien aufzuzeigen. Sie sollen aber eine Sensibilität für die Problemstellung erwecken. Vielleicht handelt es sich dabei um die ersten Schritte, die zu weiteren Schritten in Richtung einer politischen Lösung ermutigen. Dreieck Übung Christentum Die Zeichnung stellt das Verhältnis der drei Religionen zueinander dar. An der oberen Spitze steht das Christentum, da es in Deutschland die Mehrheitsgesellschaft repräsentiert. Islam Judentum Islam Christentum Diese Zeichnung stellt die Chronologie der drei Religionen dar. Das Judentum ist die älteste Religion, der Islam die jüngste. Judentum Diese Zeichnung stellt weiterhin die Chronologie der drei Religionen dar. Islam Christentum Judentum Christentum Islam Gleichzeitig zeigt diese Zeichnung, dass Islam und Judentum näher beieinander sind und der Abstand zum Christentum größer ist. Die Darstellung gibt den Stand der Religionen in Deutschland wieder: Islam und Judentum sind Minderheiten in Deutschland, das Verständnis eines Monotheismus ist anders als beim Christentum, in der Ausübung der Religion gibt es mehrere Reibungspunkte in einer christlich geprägten Gesellschaft, um nur einige Punkte zu nennen. Diese Zeichnung versucht das Ideal im Verhältnis der Religionen darzustellen: Alle drei Religionen stehen im gleichen Abstand zueinander. Dies stellt die Frage, wie man vom vorigen, ungleichen Dreieck zu diesem gleichschenkligen Dreieck kommt: Welche gesellschaftlichen Änderungen werden notwendig, um alle drei Religionen gleichberechtigt im vollen Respekt leben zu lassen? Judentum Das Judentum bildet das Fundament als die älteste Religion, von deren Tradition einiges von den anderen beiden Religionen aufgriffen wurde. Nimmt man das Judentum weg, verlieren die beiden anderen den Halt.