Schutzgewährung gegenüber Nichtmuslimen. Zum Bedeutungswandel ordnungspolitischer Konzeptionen im Islam Stephan Kokew Mit seinen derzeit ca. 1,7 Mrd. Gläubigen repräsentiert der Islam die zweitgrößte monotheistische Weltreligion. Die Vielfalt seiner unterschiedlichen Ausprägungen und Erscheinungsformen reichen vom Pluralismus theologischer und rechtlicher Schulen und Denkströmungen über den weiten Raum der islamischen Mystik bis hin zur Ideologie des politischen Islam. Dieser plurale Islam entstand nicht in einem luftleeren Raum, sondern hat sich aus dem multireligiösen Umfeld der Arabischen Halbinsel heraus entwickelt und über Jahrhunderte hinweg Einflüsse verschiedener Religionen und Kulturen in sich aufgenommen. Zur Zeit der größten geografischen Ausbreitung des abbasidischen Kalifats erstreckte sich der Islam von Marokko bis an den Indus und vereinte unter seiner Herrschaft eine Vielzahl multipler Gesellschaften. Mit den Osmanen regierte über Jahrhunderte ein muslimisches Herrscherhaus über den mehrheitlich christlich-geprägten Balkanraum. Der Islam und die Muslime sahen sich demnach seit jeher mit einer stark diversifizierten Umwelt konfrontiert, auf die mit unterschiedlicher Art und Weise theologisch und rechtlich reagiert wurde. Die Institutionen des Schutzbefohlenen-Status (ḏimma) und des Fremdenschutzes (amân) repräsentieren zwei ordnungspolitische Konzeptionen des Islam, die für die nachhaltige Festigung und Kontinuität einer in sich heterogenen, aus unterschiedlichen Ethnien, Kulturen und religiösen Minderheiten zusammengesetzten, „muslimischen Ökumene“ (Noth 1987a, S. 63) von entscheidender S. Kokew (*) Erlangen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 O. Hidalgo et al. (Hrsg.), Christentum und Islam als politische Religionen, Politik und Religion, DOI 10.1007/978-3-658-13963-6_15 287 288 S. Kokew Bedeutung gewesen sind. Beide Konzeptionen basieren auf der Idee einer gebotenen Schutzgewährung gegenüber bestimmten Gruppen von Nichtmuslimen. Das islamische Recht unterscheidet hierbei zwischen Personen die im Herrschaftsbereich des Islam (dâr al-islâm) entweder eine dauerhafte Sicherheitszusage (Sg. ḏimmî) besitzen, oder als mustaʼmin befristeten Fremdenschutz genießen. Es soll im Folgenden aufgezeigt werden, inwieweit anhand der Auslegungen dieser beiden Institutionen im historischen Kontext die Idee der Schutzgewährung im Islam einen dynamischen Bedeutungswandel verzeichnet hat, der bis in die Gegenwart anhält. Im Hinblick auf den Schutzbefohlenen-Status wird dieser anhand ausgewählter Interpretationen vor ihrem jeweiligen historischen Kontext nachgezeichnet. Einen interessanter Wandel der Deutungen des amān-Begriffs im heutigen muslimischen Denken zeigen gegenwärtige Neubewertungen seines ethischen Gehalts. 1Schutzgewährung als vorislamische Tugend Der Schutzbefohlenen-Status und der Fremdenschutz gehen auf das altarabische Konzept des „Nachbarschaftsschutz“ (ǧiwār) zurück (Heffening 1975, S. 11). Sie entstammen somit vorislamischer Rechtspraxis. Die tribale Gesellschaftsordnung des altarabischen Stammeswesens sah keine Existenz außerhalb der eigenen Stammesföderation vor. Wer sich nicht in der Obhut seiner Sippe oder seines Stammes befand, galt rechtlich gesehen als „vogelfrei“ (Heffening 1975, S. 87). Außenstehende, seien es nun Fremde oder von ihrem eigenen Stamm Verstoßene, konnten ihren Rechtsstatus nur wiederherstellen, wenn sie bei anderen Stämmen um Schutzgewähr baten, indem sie sich unter den Schutz eines Stammesangehörigen stellten. Als Hauptgrund für das Ersuchen des ǧiwār galt der Ausstoß eines Stammesmitglieds aus der eigenen Stammesgemeinschaft (Shoukri 2011, S. 7). Ebenso war die Verarmung von Stammesmitgliedern ein Grund, bei reicheren Stämmen um Schutzgewährung bitten. So soll der altarabische Dichter al-Ḥuṭai’a den ǧiwār erteilt bekommen haben soll, als er unter Hunger und Armut litt (Shoukri 2011, S. 8). Das mitunter entscheidendste Element der Eingliederung von Außenstehenden in die Stammesgemeinschaft bestand in dem Grundsatz, dass der Schützling (ǧār) fortan als unantastbar und gleichberechtigt gegenüber den anderen Stammesmitgliedern galt (Heffening 1975, S. 93). Zudem war neben dem Schutzherrn auch der gesamte Stamm zur Schutzgewährung verpflichtet. Das Schutzverhältnis einzuhalten zählte zu den höchsten Tugenden des altarabischen Wertekanons (Goldziher 1889, S. 13). Schutzgewährung gegenüber Nichtmuslimen … 289 Auch die Begriffe ḏimma und amân entstammen der altarabischen Geisteswelt. Sie bezeichneten hier ursprünglich den Schutz Gottes gegenüber dem Menschen (ḏimmat allâh, amân allâh) (Heffening 1975, S. 11). Verträge, die als ḏimma bezeichnet wurden, galten als sakrosankt; ihre unversehrte Einhaltung wurde von dem Ehrenkodex der jeweiligen Vertragspartner getragen. In der bis heute gebräuchlichen arabischen Redewendung „bei meiner Ehre“ (‘alâ ḏimmatî) wird diese ursprüngliche Bedeutung von ḏimma ebenso sichtbar wie anhand dessen modernen Konnotationen, die von „Schutz“, „Sicherheit“ „Garantie“ über „Ehre“, „Ehrlichkeit“ und „Verantwortlichkeit“ reichen (Wehr 1985, S. 431). 2Inklusion und Wandel unter islamischen Vorzeichen Mit dem Auftreten des Islam wurde das ǧiwâr-Schutzverhältnis in die muslimische Rechtstradition integriert. In der um 622 von Muḥammad begründeten Gemeindeordnung von Medina wird es an mehreren Stellen als Schutzkonzeption erwähnt. Der ǧiwâr ist somit fester Bestandteil eines Dokuments, das von einem Teil der heutigen Muslime als „erste muslimische Verfassung“ aufgefasst wird (Lohlker 2008, S. 45). Gemäß dem vorislamischen Verständnis gilt auch hier der muslimische wie auch der nichtmuslimische Schützling (ǧâr) als gleichberechtigt gegenüber allen Mitgliedern der Gemeinde (Watt 1956, S. 224; Lohlker 2008, S. 46). Der feindschaftlichen Einstellung Muḥammads und seinen Gefolgsleuten gegenüber den polytheistischen Mekkanern entsprechend, wird der ǧiwâr in dem Abkommen jedoch gegenüber den Anhängern des Quraiš-Stammes und all jenen, die sie unterstützen, als verboten erklärt (Watt 1956, S. 224; Heffening 1975, S. 90). Auch der Begriff ḏimma fand Einzug in die islamische Normenlehre. Er wurde nun gleichbedeutend mit „Vertrag/Abkommen“ (‘ahd) und mit dem Gedanken der Unversehrtheit (ḥurma) einer vertraglichen Schutzgarantie verknüpft (Ibn Manṣūr. 1993, Bd. 5, S. 59.). In dieser Bedeutung taucht ḏimma auch im Koran in Sure 9,8 auf1: Wie? Und wenn sie über euch siegen und weder Vertrag noch Schutzverhältnis euch gegenüber beachten? Übersetzung der Koranverse folgt der Übersetzung sowie der Anordnung von Hartmut Bobzin 2012. 1Die 290 S. Kokew Sie stellen euch mit ihrer Rede zufrieden, doch ihre Herzen lehnen ab. Daneben findet sich in der Hadithliteratur auch die vorislamische Bedeutung von ḏimma als „Schutz Gottes gegenüber den Menschen“ wieder. So stehen Gläubige, die im Gebet versunken sind, unter Gottes ḏimma. Sie in ihrem Handeln zu stören oder gar Schaden zuzufügen, zieht Strafe im Jenseits mit sich (Ayoub 1983, S. 175). Entgegen dieser Ansiedelung des ḏimma-Begriffs auf der Ebene des Gott-Mensch-Verhältnisses war für dessen spätere Ausformung als islamische Rechtskonzeption letztendlich der vorislamische Kontext mit seiner Lokalisierung von ḏimma auf der Mensch-Mensch-Ebene entscheidend gewesen (Ayoub 1983, S. 176). Dieser findet sich ebenfalls in der Hadithliteratur, wo ḏimma einen Rechtsanspruch (ḥaqq) meint (Ibn Manṣūr. 1993, Bd. 5, S. 59.). Der Schutzbefohlenen-Status und der Fremdenschutz wurden schließlich Bestandteil der islamischen Völkerrechtsordnung und somit der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh). Gegenstand des fiqh war und ist die Auslegung der šarīʿa, der islamischen Rechts-und Werteordnung, die den gesamten Korpus ethischer Maximen und rechtlicher Bestimmungen der islamischen Religion umfasst (Schacht 1964, S. 1). Konzeptionen von Schutzgewährung, finden sich folglich hauptsächlich in der eigenen Rechtsliteratur wieder, deren Entstehung erst ein Jahrhundert nach dem Tode des Propheten, im 8. Jahrhundert, einsetzen sollte (Ebert 2005, S. 200). Dies hatte vor allem praktische Ursachen; die großen muslimischen Eroberungen waren zu dieser Zeit bereits weitgehend zum Erliegen gekommen, die seit Mitte des achten Jahrhundert in Bagdad residierenden Kalifen konnten sich nun verstärkt der inneren Verwaltung ihres von Spanien bis an den Indus reichenden Imperiums sowie dem Ausbau diplomatischer Beziehungen mit den sie umgebenden nichtmuslimischen Staaten und Regionen widmen. Entscheidend für diesen Prozess war, dass die muslimischen Gelehrten die menschliche Vernunft (‘aql) als Grundlage der Rechtsschöpfung etablierten. Denn dem islamischen Verständnis zufolge habe Gott den Menschen mit der Vernunft ausgestattet, damit dieser seine Gebote verstehe und in der Lage sei, diese so gut wie möglich umzusetzen. Die im fiqh vollzogene Rechtsetzung ist damit Ausdruck der menschlichen Interpretation der von Gott geoffenbarten šarī‘a (Nagel 2001, S. 13). Unter Teilen zeitgenössischer muslimischer Juristen und Theologen wird deshalb auch bewusst zwischen den Begriffen šarī‘a und fiqh unterschieden, um den zeitlosen, göttlichen Charakter der šarī‘a von dem zeitgebundenen und damit kritisier- und wandelbaren fiqh abzugrenzen (Krämer 1999, S. 51). Eine Tendenz, die sich nicht zuletzt in den gegenwärtigen Diskussionen um den ḏimmī-Status und dem amān-Begriff wiederspiegelt. Schutzgewährung gegenüber Nichtmuslimen … 291 3Zum Wandel des Schutzbefohlenen-Status im historischen Kontext 3.1Schriftbesitzer als Schutzbefohlene Gemäß ihrer Kategorisierung als „Schriftbesitzer“ (ahl al-kitâb) avancierten zunächst Juden und Christen als anerkannte Religionsgemeinschaften zu „Schutzbefohlenen“ (ahl aḏ-ḏimma) der Muslime. Dabei spricht der Koran mal im Sinne bloßer Duldung, mal in anerkennender Weise über die Schriftbesitzer. Einerseits wird ihnen gegenüber ein wohlwollendes Verhalten geboten, da sie gemeinsam mit den Muslimen an denselben Gott glauben würden: Streitet mit den Buchbesitzern nur auf schöne Art, doch nicht mit denen von ihnen, die freveln. Sprecht: „Wir glauben an das, was auf uns herabgesandt und was auf euch herabgesandt wurde. Unser Gott und euer Gott sind einer. Ihm sind wir ergeben.“2 Andererseits werden in Sure 5,51 die Muslime dazu ermahnt, Juden und Christen nicht als Vertraute zu nehmen. Das gegenüber den Schriftbesitzern überhaupt irgendeinen „Schutz“ zu gewähren sei, wurde schon von frühen muslimischen Koranexegeten – sunnitischen wie auch schiitischen – durch Sure 2,256 „Kein Zwang ist in der Religion“ (lâ ikrâha fî d-dîn) legitimiert (aṭ-Ṭabarî 1994, S. 133; aṭ-Ṭabarsî 1997, S. 126). Ein Vers, der heute von liberalen Muslimen als eine originär islamische Anerkennung von Glaubensfreiheit – positiver wie auch negativer – angesehen wird (al-‘Alwânî 2006, S. 92; Abou El Fadl 2002, S. 18; al-Ġarbâwî 2006, S. 89; Sorûš 1997, S. 16). Im Gegensatz zu den Polytheisten durften dem Grundsatz „Kein Zwang in der Religion“ zufolge, Juden und Christen als Schutzbefohlene nicht um ihres Glaubens Willen verfolgt werden und konnten ihre Religion beibehalten. 3.2 Dimma als Vertragsverhältnis Das ḏimma-Schutzverhältnis war ein Vertragsverhältnis. Es umfasste die Zusage vonseiten der muslimischen Herrscher, Leben und Eigentum der Schriftbesitzer 2Sure 29,46. 292 S. Kokew nicht nur unversehrt zu lassen, sondern eben auch zu „schützen“. Das NichtVerfolgen der ḏimmîs wurde u. a. aus dem Prophetenhadith „Wer einen Schutzbefohlenen tötet, wird nicht ins Paradies einkehren“ (al-Buḫârî 1908, S. 326) abgeleitet. Im kultischen Bereich wurde den Schutzbefohlenen religiöse Selbstverwaltung zugestanden, zu der auch eine eigene Gerichtsbarkeit zählte. Die Muslime standen den ḏimmîs somit theoretisch jene grundlegenden Rechte zu, die das islamische Gesetz generell als schützenswert erachtet: Religion (dîn), Individuum (nafs), Vernunft (ʻaql), Nachkommenschaft/Familie (nasl), Eigentum (milk) (al-Ġazâlî 1997, S. 417). Die Tatsache, dass diese Garantien, jenen Privilegien ähneln, auf denen sich schon der Rechtsstatus der Juden unter römischer Herrschaft gegründet hatte (Stern 1995, S. 345), lässt vermuten, dass die Bestimmungen des Schutzbefohlenen-Status sich durchaus an das römische Rechtssystem angelehnt haben könnten. Als Gegenleistung für den von den Muslimen erhaltenen Schutz mussten alle männlichen Mitglieder unter den Schutzbefohlenen eine spezielle Kopfsteuer (ǧizya) an die muslimischen Herrscher entrichten. Frauen, Kinder und Geisteskranke sowie christliche Mönche waren von der Zahlung dieser Steuer ausgenommen (Abû Yûsuf 1979, S. 122; al-Ḥillî 1969, S. 327). Vermutlich dem sassanidischen und byzantinischen Steuerrecht entlehnt (Moreen 2006, S. 643) besaß die ǧizya dabei stets einen ambivalenten Grundcharakter. Dieser wird bereits in der arabischen Wortwurzel ǧazâʼ erkenntlich, die einerseits „vergelten“ und „bestrafen“ wie auch „ausgleichen“ und „ersetzen“ bedeuten kann (Wehr 1985, S. 183). In Sure 9,29 erscheint die Zahlung der ǧizya gar mit dem Aspekt der Erniedrigung verbunden: Kämpft gegen die, die nicht an Gott glauben und auch nicht an den Jüngsten Tag, die das, was Gott und sein Gesandter verboten haben, nicht verbieten und die nicht der Religion der Wahrheit angehören – unter den Buchbesitzern –, bis sie erniedrigt den Tribut aus der Hand entrichten. Nicht zuletzt hat dieser Vers muslimischen Gelehrten über die Jahrhundert hinweg als scheinbar nie versiegende Legitimationsquelle gedient, die ǧizya in erster Linie als eine bloße Strafzahlung für die in ihrem Unglauben verharrenden Schutzbefohlenen zu legitimieren (Rohe 2009, S. 154). Eine Auffassung, die letztlich den entscheidenden Punkt der kontroversen Wahrnehmung des ḏimmî-Status widerspiegelt: die rechtliche Ungleichbehandlung der Schutzbefohlenen gegenüber den Muslimen. Ḏimmîs war theoretisch der Zugang zum Militär verwehrt (Fattal 1958, S. 231). In Fragen des Personalstatuts sowie in Schutzgewährung gegenüber Nichtmuslimen … 293 strafrechtlichen Angelegenheiten schlägt sich in der klassischen islamischen Rechtsliteratur ebenfalls eine Ungleichbehandlung nieder (Rohe 2009, S. 255 ff.). Hohe Staatsämter waren für ḏimmîs theoretisch ebenfalls nicht zugängig, wobei Positionen, bei denen es sich um reine Ausführungsorgane handelte, von dieser Regelung ausgenommen werden konnten (Khoury 1980, S. 166). Entgegen dieser in der islamischen Rechtsliteratur verankerten Ungleichbehandlung, muss die Praxis zu bestimmten Zeiten jedoch eine andere Sprache gesprochen haben. So waren bereits bei Feldzügen Muḥammads und an bestimmten Kriegskampagnen der Umayyaden auch Schutzbefohlene als Bestandteile des Heeres beteiligt gewesen (Fattal 1958, S. 233 ff.). In dem unter der Herrschaft des Abbasidenkalifen al-Ma’mûns (reg.: 813–833) in Bagdad gegründeten „Haus der Weisheit“ (bait al-ḥikma), einer Übersetzerschule mit angeschlossener Bibliothek, in der christliche und zoroastrische Gelehrte antike Schriften ins Arabische übersetzten, fungierten christliche Gelehrte wie Ḥunain ibn Isḥâq (gest. 873) als Direktoren (Halm 2010, S. 43). Letztendlich repräsentierte die Institution des Hofjudentums im muslimischen Andalusien, durch welche Juden zu Beratern eines muslimischen Herrschers aufsteigen konnten, ebenfalls eine pragmatische Relativierung der ḏimma-Bestimmungen. 3.3Zur Ausweitung des d-immī-Status auf weitere Religionsgemeinschaften Mit der Ausdehnung des muslimischen Herrschaftsgebietes im Zuge der muslimischen Expansion wurde der ḏimmī-Status über Juden und Christen hinaus auch auf andere Religionsgemeinschaften ausgeweitet, die im Koran nicht explizit als ahl al-kitâb klassifiziert worden sind. Dies galt zunächst für die Sabier und die Anhänger des Zoroastrismus, der in Persien bis zur muslimischen Eroberung als Staatsreligion fungierte. Eine Ausweitung des ḏimmî-Status auf gerade diese beiden Gruppen erschien allein schon mit Blick auf den Koran nicht allzu problematisch. Schließlich werden Sabier und Zoroastrier in Sure 22,17 in die Nähe der ahl al-kitâb gerückt: Siehe, diejenigen, die glauben, die Juden sind, die Sabier, die Christen, die Zoroastrier und die beigesellen – siehe, Gott entscheidet zwischen ihnen am Tag der Auferstehung. Siehe, Gott ist Zeuge über alles. 294 S. Kokew In einem der frühesten Werke der islamischen Geschichtsüberlieferung, dem „Buch der Eroberungen der Länder“ (Kitāb futūḥ al-buldān) des Chronisten al-Balâḏurî (gest. 892), wird berichtet, dass gemeinsam mit den Juden Bahrains auch die dortigen Zoroastrier von Muḥammad vor die Wahl gestellt wurden, entweder den Islam anzunehmen, oder die ǧizya zu zahlen (al-Balâḏurî 1987, S. 108). Al-Balâḏurî gibt zudem die Begebenheit wieder, wie sich eine Gruppe von Polytheisten – die als „Beigeseller“ (mušrikûn) keinen Anspruch auf den Schutzbefohlenen-Status besaßen – sich in polemischer Art über dieses Arrangement des Propheten empörten, eine nicht explizit als Buchreligion klassifizierte Religionsgemeinschaft unter den Schutz der Muslime zu stellen (al-Balāḏurī 1987, S. 108). Dass es zur Klärung dieser Ausweitung des ḏimmî-Status, wie bei al-Balâḏurî zu lesen ist, der Offenbarung eines Koranverses bedurfte (Sure 5,105), kann als Indiz dafür gesehen werden, wie strittig diese Entscheidung Muḥammads von seiner Umwelt letztendlich aufgenommen worden sein muss. Im Zuge der arabisch-muslimischen Eroberungsphase (futûḥ) wurde der Schutzbefohlenen-Status auch auf weitere Religionsgemeinschaften wie Hindus und Buddhisten (Friedmann 2012) sowie auf die Anhänger des Konfuzianismus (Krämer 2010, S. 45) ausgeweitet. Der frühislamischen Geschichtsschreibung nach soll im Falle des Buddhismus die eigenmächtige Schlussfolgerung des arabisch-muslimischen Heerführers Muḥammad ibn al-Qâsim (gest. 715) ausschlaggebend gewesen sein, der auf einem seiner Feldzüge in Westindien einen buddhistischen Tempel nicht zur Plünderung durch seine Truppen frei gegeben haben soll, mit der Begründung, dass ein Buddha-Tempel nichts anderes sei „als die Gotteshäuser der Christen und Juden und die Feuer-Heiligtümer der Zoroastrier“ (zitiert nach Noth 1987a, S. 66; al-Balāḏurī 1987, S. 617). 3.4Schutz, Diskriminierung und Pragmatismus Wurde der Schutzbefohlenen-Status generell als ein von beiden Parteien einzuhaltendes Vertragsverhältnis aufgefasst, vollzogen sich dessen Auslegungen vor dem Hintergrund der sich stetig wandelnden historischen und gesellschaftspolitischen Bedingungen. In seinem 2002 erschienen Essay „The Place of Tolerance in Islam“ verweist der muslimische Reformdenker Khaled Abou El Fadl auf ein Ereignis aus der islamischen Frühzeit, das den reziproken Grundzug des ḏimma-Status widerspiegelt: im Zuge der Eroberung Syriens Mitte des 7. Jahrhunderts, sollen die Muslime den mehrheitlich christlichen Bewohnern der ehemals byzantinischen Stadt Homs, die zuvor eingezogenen ǧizya-Zahlungen – die hier noch mit dem allgemeinen arabischen Begriff für „Steuer“ als ḫarāǧ bezeichnet ­werden – wieder aushändigt haben, da sie sich nicht in der Lage sahen, die Schutzgewährung gegenüber Nichtmuslimen … 295 Bewohner der Stadt vor den anrückenden Truppen des byzantinischen Kaiser Herakleios zu schützen (Abou El Fadl 2002, S. 21; zur Episode siehe al-Balâḏurî 1987, S. 187). Abou El Fadl versucht anhand dieser Episode dem Leser zu verdeutlichen, dass der Aspekt der vertraglich zugesicherten Schutzvereinbarung die eigentliche Kernintention des ḏimma-Konzepts ausmacht. Dabei ist das Prinzip der Schutzverpflichtung als Bestandteil eines als reziprok einzuhaltenden Vertragsverhältnisses in der muslimischen Rechtsliteratur fest verankert, getreu dem Grundsatz: „Wenn die islamische Gemeinschaft diese Pflichten nicht erfüllt, dann sind die Dhimmis von der Entrichtung der festgelegten Tribute und Abgaben befreit“ (zitiert nach Khoury 1980, S. 139). Ebenfalls aus frühislamischer Zeit stammt das Sendschreiben des vierten Kalifen‘Alî (reg.: 656–661) an dessen Gouverneur Mâlik al-Aštar, der Mitte des 7. Jahrhunderts als Statthalter über das ehemals byzantinische Ägypten fungierte, das unter seiner Amtszeit noch eine mehrheitlich christliche Bevölkerung aufwies. In dem Schreiben wird Mâlik al-Aštar (gest. 658) vom Kalifen u. a. dazu aufgerufen, nicht despotisch über seine Untertanen herzufallen, sondern Muslime wie Nichtmuslime gleichwertig zu behandeln und ihnen gegenüber mit Liebe (maḥabba) und Barmherzigkeit (raḥma) zu begegnen (‘Alî ibn Abû Tâlib 2014, S. 326). Ungeachtet der Frage, ob dieses Schriftstück ein historisches Dokument darstellt oder eine später angefertigte literarische Fiktion (al-Qâḍî 1978, S. 77) sind die darin enthaltenen Aufforderungen zu einem humanen Umgang gegenüber den eigenen Untertanen – Muslimen wie auch Nichtmuslimen – umso bedeutender, als dass‘Alî als vierter der sunnitischen „rechtgeleiteten Kalifen“ und als erster Imam der Schiiten in den beiden großen Strömungen des Islam eine der wichtigsten religiösen Autoritäten repräsentiert. Es verwundert demnach nicht, dass in gegenwärtigen – oftmals apologetisch gefärbten – muslimischen Argumentationen, diese ethischen Anweisungen als wichtige Quelle einer originären islamischen Ethik der anerkennenden Toleranz gegenüber Nichtmuslimen angeführt werden (Reza Shah-Kazemi 2010, S. 181). In einem anderen Licht erscheint der Schutzbefohlenen-Status dagegen unter der Regentschaft manch anderer muslimischer Herrscher, wie der des Abbasidenkalifen Hârûn ar-Rašîd (reg.: 786–809). Dieser ließ während seiner Herrschaft entgegen den ḏimma-Bestimmungen Kirchen zerstören und führte zumindest in Bagdad spezielle Kleidungsvorschriften ein, die eine nach außen hin sichtbare Abgrenzung von ḏimmîs und Muslimen beabsichtigten (Fattal 1958, S. 100; Krämer 2005, S. 84). Diese sind ausführlich in dem „Buch der Steuern“ (Kitâb al-ḫarâǧ) des sunnitischen Bagdader Oberrichters Abû Yûsuf (gest. 798) verzeichnet, das von Hârûn ar-Rašîd selbst in Auftrag gegeben wurde. Hierzu zählen die Vorschriften dass sich ḏimmîs durch das Tragen spezieller Kleidungsstücke, 296 S. Kokew wie einem als zunnâr bezeichneten Gürtel, gegenüber den Muslimen nach außen hin unterscheiden sollten (Abû Yûsuf 1979, S. 127). Vor dem Kontext der lang anhaltenden Kriege Hârûn ar-Rašîds gegen das christliche Byzanz sowie seiner von religiösem Eifer bestimmten Persönlichkeit lassen sich diese Rechtsbestimmungen durchaus als Ausdruck eines spezifischen Zeitgeistes bewerten, der auf eine nach außen hin sichtbaren Abgrenzung gegenüber den nichtmuslimischen Schutzbefohlenen abzielte. Für eine zeitliche Kontextualisierung der spezifischen Kleidungsvorschriften spricht die Tatsache, dass sie jenen Verordnungen ähneln, die im Mittelalter den europäischen Juden vonseiten der Christen auferlegt wurden (Fattal 1958, S. 112; Rohe 2009, S. 155). Spätere muslimische Gelehrte, wie der hanbalitische Jurist Ibn Qayyim al-Ǧauzîya (gest. 1350) haben den Ursprung dieser Regelungen dagegen präziser bestimmt, indem sie sie auf ein Vertragswerk des zweiten Kalifen ‘Umar (reg.: 634–644) zurückführten, das in der muslimischen Rechtsliteratur als die „‘umarschen Bestimmungen“ (šurûṭ al-‘umarîya) bekannt ist. Von diesen „Bestimmungen“ sind unterschiedliche Varianten überliefert, wobei das Vertragswerk selbst nicht als authentisch betrachtet wird (Fattal 1958 S. 97; Lewis 1987, S. 32). Albrecht Noth hat darauf hingewiesen, dass derartige Verordnungen gegenüber Schutzbefohlenen – spezielle Kleidungsvorschriften, Verbot des Neubaus von Gotteshäusern und des Glockenläutens, Verdeckung christlicher und jüdischer Symbole etc. – in erster Linie eine nach außen hin sichtbare Unterscheidung und Abgrenzung gegenüber Nichtmuslimen bewirken sollten (Noth, 1987b, S. 314). Dass sie eine konfessionsübergreifende Kontinuität besessen haben, zeigt die Tatsache, dass sie sich ebenfalls in der klassischen zwölferschiitischen Rechtsliteratur nahezu identisch wiederfinden (al-Ḥillî 1969, S. 329–330) und auch unter dem ismailitischen Fatimidenherrscher al-Ḥâkim (reg.: 966–1021) durchgesetzt wurden (Scheiner 2012, S. 43 ff.). Im 14. Jahrhundert werden sie in dem bisher umfangreichsten Vorschriftenkatalog für das Verhalten von Schutzbefohlenen des ausgehenden Mittelalters (Friedmann 2003, S. 38), den „Bestimmungen des ḏimmî-Status“ (Aḥkâm ahl aḏ-ḏimma) des Ibn Qayyim al-Ǧauzîya, noch um einige diskriminierende Vorschriften erweitert, wie jenen, dass ein ḏimmî gegenüber einem Muslim seinen Platz anbieten muss, wenn dieser sich setzen möchte (Ibn Qayyim al-Ǧauzîya 1997, S. 1160) oder die ǧizya in einer unterwürfigen Körperhaltung aushändigen soll (Ibn Qayyim al-Ǧauzîya 1997, S. 122). Muslimische Kritiker dieser Ausführungen haben darauf hingewiesen, dass diese zeitgebunden, vor dem Kontext des Unterlegenheitsempfindens des sunnitischen Islams im Zuge des Untergangs des abbasidischen Kalifats (1258) und der desaströsen Folgen des Mongolensturms gedeutet werden müssten (Brunner 2011, S. 10). Manche zeitgenössische Gelehrte, wie Ibn Taimîya (gest. 1328), Schutzgewährung gegenüber Nichtmuslimen … 297 der in den Mongolen nichts anderes als gottlose Ungläubige sah, hatten den Sturz des Kalifats im religiösen Sinne gedeutet und als das Resultat einer fehlerhaften Umsetzung der šarî‘a proklamiert, die es nun neu zu überdenken und gegenüber Nichtmuslimen, einschließlich Schutzbefohlenen, noch entschiedener abzugrenzen galt. Dabei ist die Mongolenherrschaft im Nahen Osten nicht ausschließlich von einem religiösen und kulturellen Niedergang geprägt gewesen. Bereits Ende des 13. Jahrhunderts zum Islam konvertiert, verhielten sich die neuen Herrscher in religiösen Fragen eher indifferent. Der Ausdruck der Niedergeschlagenheit der eigenen religiösen Orientierung war damit ein Phänomen, das in erster Linie die zeitgenössische sunnitische Orthodoxie betraf; für die Schia kam es unter mongolischer Herrschaft dagegen zu einer wahren Blütezeit (Halm 1988, S. 81 ff.). Ein bemerkenswerter Wandel im Umgang mit den Bestimmungen des ḏimmaKonzepts lässt sich schließlich am Beispiel der im Osmanischen Reich gängigen Aushebungspraxis von zukünftigen Eliteeinheiten (devşirme) nachweisen. Bei diesem in bestimmten Abständen vollzogenen Verfahren, wurden Söhne von christlichen Familien aus dem Balkan und dem Kaukasus im Kindesalter als Tributabgabe in den Dienst des jeweiligen amtierenden Sultans gestellt. Sie wurden zum Islam bekehrt und durchliefen eine militärische, religiöse wie auch geistige Unterweisung, die sie nach ihrer Freilassung dazu befähigte, als Janitscharen in Militär und Verwaltung hohe Posten zu bekleiden (Matuz 1985, S. 56 ff.). Die Idee, Eliteeinheiten nicht aus der muslimischen Mehrheit des Kalifats oder Sultanats auszuheben ist dabei keine Erfindung der Osmanen gewesen. Sie lässt sich bis in die Zeit der Abbasiden zurückverfolgen, die als erste muslimische Dynastie türkische Waffensklaven aus Zentralasien importierten. Mit den Mamluken (reg.: 1250–1517) herrschte vom Mittelalter bis in die Neuzeit gar ein eigenes Herrscherhaus von ehemaligen Militärsklaven nichtmuslimischer Herkunft über Ägypten und Syrien. Die Praxis der devşirme widersprach diesen „traditionellen“ Aushebungsmethoden jedoch in dem entscheidenden Punkt, als dass sie auf Nichtmuslime innerhalb des islamischen Machtbereichs abzielte, die als ḏimmîs, ihrem Rechtsstatus zufolge, nicht zu einer Annahme des Islam gezwungen werden durften (Wittek 1955, S. 271). Die osmanischen Juristen lösten die Problematik auf „islamische“ Weise, indem sie auf das aus Sure 8,41 abgeleitete Beutefünftel verwiesen, das jedem muslimischen Herrscher zustehe, dem sich die unterworfenen Nichtmuslime nicht freiwillig ergeben hatten (Krämer 2005, S. 209). Mit der im 19. Jahrhunderts einsetzenden osmanischen Reformperiode (Tanẓîmât) wurde der ḏimmî-Status durch das Reformabkommen Hatt-i Hümayun von 1856 theoretisch aufgehoben (Findley 1982, S. 343). Die ǧizya wurde durch eine allgemeine Militärbefreiungssteuer ersetzt und der Zugang zum 298 S. Kokew Militärwesen und anderen Staatsämtern jedem Bürger des Osmanischen Reiches, unabhängig seiner Religionszugehörigkeit, zugestanden (Matuz 1985, S. 230). Im schiitischen Iran wurde die ǧizya 1907 im Zuge der Konstitutionellen Revolution für abgeschafft erklärt und auch nach der Islamischen Revolution von 1979 nicht wieder eingeführt (Brunner 2011, S. 3). Diese Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts kontrastieren nach wie vor in einem hohen Maße mit jüngeren islamistischen wie auch traditionalistischen Auffassungen, die diese größtenteils ignorieren und stattdessen an einer ungleichen Behandlung von Nichtmuslimen als originäre Essenz eines „islamischen“ Staatswesens festhalten (Rohe 2009, S. 256). 4Zu gegenwärtigen Neubewertungen des Fremdenschutz (amân) Neben dem Schutzbefohlenen-Status regelte der Fremdenschutz (amān, wörtlich „Sicherheit“, „Schutz“) die Beziehungen der muslimischen Gemeinschaft gegenüber der sie umgebenden nichtmuslimischen Umwelt. Er ging ebenfalls auf das vorislamische Schutzprinzip des ǧiwār zurück und führte diesen sozusagen unter islamischen Vorzeichen auf staatsrechtlicher Ebene weiter (Heffening 1975, S. 11). Der islamischen Rechtslehre zufolge, war die Erteilung des amān gegenüber jenen Nichtmuslimen vorgesehen, die sich als Händler, Reisende oder diplomatische Gesandte im Herrschaftsgebiet des Islam aufhielten. Dies war im Kontext der vormodernen Rechtspraxis ein entscheidendes Kriterium, denn nur so konnten Nichtmuslime aus nichtmuslimischen Territorien überhaupt einen Rechtsstatus im dār al-islām erlangen. Allein durch die Sicherheitsgarantie des amān wurden sie als Schutzberechtigte (mustaʼmin) unter den Kollektivschutz der muslimischen Gemeinschaft gestellt. Im Unterschied zum ḏimmī-Status war der Aufenthalt eines mustaʼmin auf muslimischen Territorium zeitlich begrenzt, sodass auf ihn nach Ablauf einer bestimmten Frist (ungefähr ein Jahr) der Schutzbefohlenen-Status angewandt wurde, was einer dauerhaften Sicherheitsgarantie gleich kam. Ein entscheidender Punkt, der auch in gegenwärtigen muslimischen Diskussionen um eine Neubewertung des amān hervortritt, war der von den muslimischen Juristen erarbeitete Grundsatz, dass jeder einzelne Muslim – Männer, Frauen, Kranke und Greise – den amān gegenüber einem Nichtmuslim erteilen durfte. Strittig blieb die Frage, ob auch Sklaven den amān erteilen durften; die amān-Erteilung durch einen nichtmuslimischen Schutzbefohlenen, galt dagegen einhellig als verboten (Heffening 1975, S. 22 ff.). Schutzgewährung gegenüber Nichtmuslimen … 299 Mit dem Wegfall der Legitimität der traditionellen Konzepte dār al-islām und dār al-ḥarb im Zuge der Abschaffung des Kalifats 1924, wurden die staatsrechtlichen Bestimmungen des amān obsolet. Lediglich islamistische Auffassungen betonen noch die universelle Kontinuität einer derartigen Einteilung der Welt in ein „Gebiet des Islam“ und ein „Gebiet des Krieges“, wohingegen sie von der Mehrheit muslimischer Gelehrter als das juristische Erfordernis eines bestimmten historischen Kontextes angesehen werden, entwickelt zu und relevant für eine Zeit, als sich Muslime und Nichtmuslime permanent feindlich gegenüber standen und der Kriegszustand den Normalfall repräsentierte. Dieser Zustand sei, nach Ansicht des einflussreichen konservativen sunnitischen Rechtsgelehrten Wahba az-Zuḥailī (gest. 2015), so in dieser Form nicht mehr vorhanden, da die Staaten der Welt sich in internationale Bündnisse – az-Zuḥailī nennt hier als Beispiel die Vereinten Nationen – zusammengeschlossen hätten und sich muslimische und nichtmuslimische Staaten als Vertragspartner anerkennen würden. Aus Sicht der islamischen Jurisprudenz müsse diese Realität anerkannt werden und alle nichtmuslimischen Staaten als „Länder des Vertrags“ (dār al-‘ahd) definiert werden (Aldeeb Abu-Sahlieh 1996, S. 51). Vor diesem Hintergrund sind in gegenwärtigen muslimischen Diskursen Impulse für eine Neubewertung des amān-Konzepts zu beobachten. So betont die marokkanische Völkerrechtlerin Khadija Elmadmad, dass der amān als Konzept einer islamisch legitimierten Asylgewährung gegenüber Flüchtlingen verstanden werden müsse. In einer 2014 erschienen Studie der in Großbritannien ansässigen muslimischen Nichtregierungsorganisation Islamic Relief wird der Begriff mustaʼmin als Bezeichnung für alle Formen erzwungener Migration verwendet, denen ein Recht auf Schutz vonseiten einer islamischen Regierung zusteht (Islamic Relief 2014, S. 6). In beiden Positionen wir deutlich, Schutzgewährung als Beleg und Ausgangspunkt islamischer Humanität zu begreifen. Dabei wird von dem Standpunkt heraus argumentiert, dass Emigration zum einen ein Menschenrecht, zum anderen die religiöse Pflicht eines jeden Muslim sei, wenn dieser sich in einer bedrohlichen Situation für seine Person oder seinen Glauben befinde (Elmadmad 2008, S. 54). Ein Grundsatz, der sich auch in diversen „islamischen“ Menschenrechtserklärungen wiederfindet, wie der 1981 vom Islamrat für Europa verabschiedeten Universal Islamic Declaration of Human Rights (UIDHR), der Cairo Declaration on Human Rights in Islam (CDHRI) der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) von 1990 und der Arab Charter on Human Rights von 2004 (Türk 2008, S. 9). Legitimiert wird dieser Standpunkt mit Verweis auf die Praxis des Propheten, genauer gesagt auf dessen Flucht (hiǧra) von Mekka nach Medina im Jahr 622. Denn Muḥammad sei schließlich selber ein Flüchtling gewesen, der die Erfahrung erzwungener Migration am eigenen Leib erfahren 300 S. Kokew habe und für den das Asyl, das ihm seine Gefolgsleute in Medina erwiesen hatten, von existenzieller Bedeutung war (Elmadmad 2008, S. 53; ‘Abd al-Rahim 2008, S. 20). Das Recht auf Emigration aus Glaubensgründen, wird zudem mit dem ersten Teilvers von Sure 4,100 des Korans, „Wer auf dem Wege Gottes auswandert, der findet im Land viele Zufluchtsstätten und weiten Raum“ legitimiert (Elmadmad 2008, S. 54; Abou El Wafa 2009, S. 106). Eine islamische Pflicht zur Asylgewährung wird aus Sure 9,6 abgeleitet: Wenn einer von den Beigesellern dich um ein Nachbarschaftsbündnis bittet, so gewähre es ihm, auf dass er das Wort Gottes hören kann, dann lasse ihn an einen Ort gelangen, der für ihn sicher ist! Dies, weil sie Menschen sind, die kein Wissen haben. Muslimische Koranexegeten haben diesen Vers als eine generelle Aufforderung zur Aufnahme und zum Schutz von Nichtmuslimen verstanden, jedoch verknüpft mit der Absicht der religiösen Unterweisung und möglichen Bekehrung des Schützlings zum Islam (aṭ-Ṭabarī 1994, Bd. 4, S. 83; Faid al-Kāšānī 2008, Bd. 2, S. 107). Auch moderne Exegeten betonen eine zwingende Verknüpfung von Schutzgewährung und Missionierung. So könne einem der bedeutendsten zwölferschiitischen Exegeten der Moderne, Muḥammad Ḥusain Ṭabāṭabā’ī zufolge, der amān nur jenen Nichtmuslimen geboten werden, die eine ernsthafte Beschäftigung mit der Botschaft des Islams beabsichtigen (Ṭabāṭabā’ī 1997, Bd. 9, S. 158). Für den Wegbereiter des politischen Islams, Saiyid Quṭb (gest. 1966), repräsentiert der amān gar eine von vielen Methoden, den Menschen zu dem einzigen richtigen Glauben zu führen (Quṭb 2005, Bd. 3, S. 1602 ff.). Elmadmad und andere Protagonisten einer Neubewertung des Asylgedankens betrachten diese Interpretationen dagegen als obsolet. Sie interpretieren den Vers in einem ganz anderen Licht, indem sie die Versstelle von Sure 9,6 „auf dass er das Wort Gottes hören kann“, nicht als Bedingung, sondern als Möglichkeit deuten, dem mustaʼmin während seines Aufenthalts den Islam näher zu bringen. Die eigentliche Intention des amān bestehe demnach nicht in der Missionierung, sondern darin, dem musta’min uneingeschränkten Schutz zu gewähren (Elmadmad 2008, S. 54; Shoukri 2011, S. 82). 5Schlussbetrachtung Aus den vorhergegangenen Ausführungen kann geschlussfolgert werden, dass der Schutzbefohlenen-Status und der Fremdenschutz einen dynamischen Auslegungsund Bedeutungswandel aufweisen. Beide Rechtsinstitute garantierten bestimmten Schutzgewährung gegenüber Nichtmuslimen … 301 Gruppen von Nichtmuslimen Schutz und Anspruch auf eine gewisse Autonomie im religiösen und rechtlichen Bereich. Gleichzeitig war die Idee der Schutzgewährung in beiden Fällen stets mit der rechtlichen Ungleichheit gegenüber den Muslimen verbunden gewesen. So stand der ḏimmî-Status einerseits für ein reziprok angelegtes Schutz-und Rechtsverhältnisses zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Andererseits konnte er aber auch genauso den Charakter einer bloßen Diskriminierungsmaßnahme annehmen. Ebenso wie das ḏimma-Konzept hat auch das amân-Konzept einen Wandel innerhalb der muslimischen Ideengeschichte zu verzeichnen. Dies bezeugen nicht zuletzt zeitgenössische Diskussionen um eine islamische Verpflichtung zur Asylgewährung. Entscheidend ist, dass auch hier ein Wandel in der Bewertung beider Konzepte eingesetzt hat, der sich anhand einer zunehmenden Konzentration auf Fragen nach der ethischen Kernintention von klassischen Rechtskonzeptionen äußert. So wie Abou El Fadl auf den scheinbar vergessenen Grundsatz der Reziprozität des ḏimma-Konzepts verweist, erkennt die Völkerrechtlerin Elmadmad das amân-Konzept als Ausgangspunkt für eine neu zu formulierende islamische Ethik der Humanität an. Es ist anzunehmen, dass derartige rechtsphilosophische Fragestellungen auch in Zukunft eine wichtige Rolle in muslimischen Reformdiskursen spielen werden. Literatur ‘Abd al-Rahim, Muddathir. 2008. Asylum: A moral and legal right in Islam. Refugee Survey Quarterly 27 (2): 15–23. 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