Orthorexia nervosa- eine neue Erkrankung?

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Orthorexia nervosaeine neue Erkrankung?
Facharbeit im Leistungskurs Psychologie
Vorgelegt von: Clara Emilia Lang
Humboldt-Gymnasium Köln
Schuljahr 2015/2016
Fachlehrerin: Frau Ackers
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
3
2. Begriffsklärung
4
2.1. Was ist Orthorexie?
4
2.2. Was ist psychische Erkrankung und wo fängt sie an?
6
3. Beurteilung der Krankheitswertigkeit unter verschiedenen Einflusskriterien
3.1. Einfluss der momentanen gesellschaftlichen Situation
8
8
3.2. Sind orthorektische Symptome eher einer Zwangs- oder einer Essstörung
zuzuordnen?
4. Diskussion der Problemstellung
9
12
4.1.Handelt es sich bei der Orthorexie um eine neue Erkrankung,
die eine eigene Diagnose erfordert?
12
5. Fazit
15
6. Anhang
16
7. Literaturverzeichnis
25
8. Erklärung zur Selbstständigkeit der Arbeit
27
2
1.Einleitung
Eine gesunde und ausgewogene Ernährung ist wichtig für uns Menschen, das steht außer
Frage. Doch kann der Wunsch, sich gesund zu ernähren auch zu stark werden und
vielleicht sogar zu einer Erkrankung führen? ,,Orthorexia nervosa“ ist der Name für diese
vermeintliche Erkrankung, in der Betroffene geradezu besessen von einer gesunden
Ernährungsweise sind und diese zu ihrem Lebensinhalt machen. Handelt es sich bei der
Orthorexie jedoch tatsächlich um ein eigenständiges Krankheitsbild? Oder nur um eine
Variante einer Zwangsstörung oder Essstörung? Oder um ein Phänomen, dass aus unserer
derzeitigen medienorientierten Überflussgesellschaft resultiert? Dieser Fragestellung
möchte ich im Rahmen meiner Facharbeit nachgehen, da mir durch die Medien und auch
durch die Menschen in meinem Umfeld aufgefallen ist, welch enorm hohes Maß an
Bedeutung, gesunden Lebensmitteln und gesunden Ernährungsweisen wie dem
Veganismus zugesprochen wird und dabei die Frage in mir aufkam, ob es sich hierbei
lediglich um einen ,,Hype“ handelt, dem wir nachgehen um uns der Gesellschaft
anzupassen oder ob diese Gesundheitsorientierung tatsächlich in einer Erkrankung enden
kann. Um die zentrale Problemstellung hinreichend beantworten und diskutieren zu
können, werde ich zunächst einmal den Begriff ,,Orthorexie“ und das derzeitige
psychiatrische Verständnis von dem Begriff ,,Erkrankung“ erläutern, da diese beiden
Aspekte im Fokus der Facharbeit stehen. Auf die beiden Definitionen werde ich im Laufe
der Arbeit noch zurückgreifen und diese als Grundlage nutzen. Daraufhin werde ich mich
meiner Fragestellung widmen, indem ich das Phänomen der Orthorexie und deren
Existenz unter unterschiedlichen Einflusskriterien betrachten und bewerten werde.
Hierauf folgt die Diskussion der zentralen Problemstellung. In diesem Teil werde ich die
erarbeiteten Ergebnisse nutzen, um die Aspekte, die für oder gegen die Existenz eines
eigenständigen Störungsbildes sprechen, einander gegenüberzustellen. Anschließend
werde ich meine Ergebnisse zusammenfassen und meine Position verdeutlichen und
begründen. Als Basis der gesamten Arbeit, dienen die beiden Interviews, die ich mit
einem Psychiater und einer Psychologin geführt habe und durch die ich auf neue Aspekte
aufmerksam geworden bin.
3
2. Begriffsklärung
Im Folgenden werde ich erst einmal ein Grundverständnis der zentralen Begriffe
,,Orthorexie“ und ,,Erkrankung“ schaffen. Dabei werde ich sowohl das Krankheitsbild
der Orthorexie veranschaulichen, als auch auf die möglichen Folgen des orthorektischen
Verhaltens eingehen. Zudem werde ich erläutern, welche Problematik bei der
Kategorisierung von Menschen in normal und krank besteht und nennen, welche Kriterien
dem Klassifikationssystem DSM-5 zufolge erfüllt sein müssen, damit ein Verhalten als
krankheitswertig gilt.
2.1. Was ist Orthorexie?
,,Orthorexia nervosa“ bezeichnet die dogmatische Fixierung auf eine gesunde und
unbelastete Ernährungsweise.1 Der Begriff stammt ursprünglich aus dem griechischen,
,,Orthos“ bedeutet übersetzt ,,richtig“, ,,orexia“ Appetit und ,,nervosa“ Fixierung.2 Diese
,,Fixierung auf den richtigen Appetit“ wurde erstmalig 1997 von dem USAlternativmediziner Steven Bratman beschrieben, da dieser selbst unter den Symptomen
der Orthorexie litt und somit aus seiner eigenen Leidensgeschichte ein neues Störungsbild
entworfen hat. Dies ist gleichzeitig einer der Gründe, weshalb es sich bei der Orthorexie
um noch kein anerkanntes Krankheitsbild handelt, das in dem Krankheitsregister zu
finden ist, da sich die Theorie Bratmans größtenteils auf seine subjektiven Erfahrungen
beschränkt.3 So genannte Orthorektiker zeigen ein stark ausgeprägtes Verlangen danach,
sich zwanghaft gesund zu ernähren und schenken ähnlich wie Anorektiker, Lebensmitteln
ein übermäßiges Maß an Wichtigkeit.4 Anders als bei Anorektikern jedoch, ist für
Orthorektiker nicht die Menge der Lebensmittel entscheidend,5 sondern die Qualität steht
im Vordergrund.6
1
Klotter Christoph, Depa Julia, Humme Svenja: Gesund, gesünder, Orthorexia nervosa; Modekrankheit
oder Störungsbild? Eine wissenschaftliche Diskussion, Wiesbaden (Springer Fachmedien) 2015, S.10
2
Bratman, Steven: ,,Health food junkies” Overcoming the obession with healthful eating. New York:
(Broadway Books.) 2000, S. 21
3
Vgl. Klotter Christoph, Depa Julia, Humme Svenja, S.4
4
Vgl. Klotter Christoph, Depa Julia, Humme Svenja, S.3,4,12
5
Barthels,Friederike: Orthorektisches Ernährungsverhalten Psychologische Untersuchungen zu einem
neuen Störungsbild, Düsseldorf, Mai 2014, S.9; Z.4-5
6
Vgl Klotter Christoph, Depa Julia, Humme Svenja, S.11
4
Sie beschränken sich bei ihrer Ernährung ausschließlich auf Bioprodukte und
Vollwertkost7, zudem müssen diese unbelastet und frei von jeglichen Zusatz- oder
Schadstoffen sein. Des weiteren essen Orthorektiker nichts, über dessen Herkunft und
Nährwerte sie nicht genau Bescheid wissen und entwickeln den Zwang, Lebensmittel in
,,gesund“ und ,,ungesund“ zu klassifizieren.8 Dabei haben sie meist ihre ganz eigenen,
skurrilen Begründungen, weshalb bestimmte Lebensmittel in ihren Augen schlecht für sie
und ihren Körper sind und andere ihrer Vorstellung von ,,Reinheit“ entsprechen.9 Der
Grund für dieses dogmatische Verhalten von Orthorektikern ist die Angst, durch
ungesunde Lebensmittel zu erkranken. Somit führen sie diese extreme Ernährungsweise
ein, da sie der festen Überzeugung sind, auf diese Weise Krankheiten vorbeugen zu
können.10 Meist nimmt diese Auseinandersetzung mit Lebensmitteln ihre gesamte Zeit
und Kraft in Anspruch, sodass andere wichtige Lebensbereiche wie die Arbeit oder
soziale Kontakte vernachlässigt werden.11 Der Genuss von Essen wird vollkommen
unbedeutend und die Erfüllung des Hungergefühls ebenfalls. Wird gegen die selbst
aufgestellten Regeln verstoßen, treten Schuldgefühle auf und sie versuchen diese mit
Bestrafungen, wie beispielsweise Fasten, zu kompensieren. Die Zahl der als für ungesund
befundenen Lebensmittel nimmt stetig zu, bis sich ihre Ernährung nur noch durch wenige
Lebensmittel definiert. Dies kann zu Mangelerscheinungen und Abmagerung führen, da
es dem Körper durch diese einseitige Ernährung an essentiellen Nährstoffen fehlt. Eine
weitere mögliche Folge der Orthorexie ist die soziale Isolation. Diese tritt oftmals ein, da
sich Orthorektiker durch ihre bewusste und kontrollierte Ernährungsweise anderen
Menschen überlegenen fühlen und daraufhin versuchen, diese zu missionieren und von
ihrer Ernährung zu überzeugen. Zudem ist es Orthorektikern nicht möglich in der
Öffentlichkeit zu essen, da sie sich außer bei selbst zubereiteten Speisen nie sicher sein
können, dass das Essen ihrer Vorstellung von gesund und rein entspricht und all ihren
Ansprüchen gerecht wird.12
7
http://www.stern.de/gesundheit/ernaehrung/erkrankungen/diagnose-orthorexie-dieernaehrungsfanatiker-3092022.html , zugegriffen am 19.02.2016
8
Vgl. Klotter Christoph, Depa Julia, Humme Svenja, S.11
9
Vgl. Bratman 2000, S. 12
10
Vgl. Klotter Christoph, Depa Julia, Humme Svenja, S.10 ff.
11
Dr. Beate Schumacher: Kann gesunde Ernährung eine Krankheit sein? Aktuelle Meidzin, Interview mit
Friederike Barthels, 2013
12
Vgl. Klotter Christoph, Depa Julia, Humme Svenja, S.11 ff.
5
Dieser Aspekt trägt ebenfalls dazu bei, dass Orthorktiker den Kontakt zur Außenwelt nach
und nach verlieren. Somit entwickeln Orthorektiker im extremen Falle tatsächlich eine
ernst zu nehmende Angst vor der Konfrontation mit ungesunden Lebensmitteln, welche
ihr gesamtes Leben dominiert.
2.2. Was ist psychische Erkrankung und wo fängt sie an?
Die Grenze zwischen krankhaft und normal ist unklar, variabel und zudem kultur- und
zeitabhängig.12 Doch was zählt überhaupt als Erkrankung? Wo fängt sie an? Ab wann ist
die Grenze der ,,Normalität“ überschritten? Inwiefern ist es überhaupt möglich
beziehungsweise sinnvoll, Menschen in gesund und krank zu klassifizieren? Mit Hilfe
des ICD-10 Diagnoseschlüssels (International Classification of Diseases) und des DSM5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), der ,,Bibel“ der Psychiatrie,
sollen gerade solche Kriterien festgelegt und differenziert werden. Das DSM-5 soll dazu
dienen, psychische Störungen zielgerichtet und zuverlässig behandeln zu können und
dabei die mangelnde Übereinstimmung psychiatrischer Diagnosen zu reduzieren. In
diesem Diagnostikmanual sind hunderte von psychischen Symptomkomplexen zu finden,
die in der Medizin als anerkannte Geisteskrankheiten gelten und somit den aktuellen
Stand
der
Wissenschaft
abbilden.13
Es
enthält
eine
operationalisierte
Merkmalsbeschreibung, die es möglich machen soll, durch explizite Diagnosekriterien,
eine psychische Störung empirisch und biologisch genauso begründen zu können, wie ein
körperliches Gebrechen.14
Das aktuelle Verständnis des Begriffes psychische Erkrankung laut des DSM-5, bezieht
sich auf klinisch bedeutsame Verhaltensmuster oder psychisches Syndrome, unter denen
der Mensch selber oder andere in erheblichen Ausmaße leiden. Zudem muss für eine
Diagnose eine gravierende Beeinträchtigung in einem oder mehreren wichtigen
Funktionsbereichen vorliegen, sodass die Person an einem Verlust an Freiheit leidet. Es
darf nur das als Krankheitsentität definiert werden, für das es hinreichende biologische
Begründungen gibt.15
12
Interview mit PD Dr. med. Karsten Wolf, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie vom 22.02.2016
Blech, Jörg: Wahnsinn wird normal, SPIEGEL, Nr.4 21.01.2013, S. 110,112,113
14
Gehirn&Geist : Wie viel Störung darf es sein? Interview mit Hans-Ulrich Wittchen, Juni 2012,S. 42,46
15
American Psychiatric Association: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5 : Deutsche Ausgabe (HOGREFE) 1.12. 2014, S.979
13
6
Eine zeitliche Frist, die bestimmen soll, wie lange ein Symptom anhalten muss, damit es
als krankheitswertig gilt, ist ebenfalls festgelegt. Zudem existieren Angaben, welche und
wie viele Symptome vorliegen müssen, um eine bestimmte Diagnose stellen zu können.16
Durch diese verschiedenen Kriterien, die der DSM-5 enthält, soll der Schweregrad eines
Syndroms bestimmt, und die Willkürlichkeit und Widersprüchlichkeit von Diagnosen
reduziert, sowie die Zuverlässigkeit verbessert werden. Auch andere Fehler der
vorherigen Systeme, wie die mangelnde globale Übereinstimmung sollen im DSM-5
behoben sein.17 Jedoch gibt es zahlreiche Kritiker, die sowohl die Klassifikationskriterien,
als auch die Effektivität dieses Manuals in Frage stellen. ,,Es ist falsch, alle möglichen
Befindlichkeitsstörungen mit einem Krankheitsbegriff zu belegen.“(Andreas Heinz,
Nervenarzt; SPIEGEL 2013,S.133) Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass bisher mit jeder
Neuauflage des DSM auch die Zahlen der gestellten Diagnosen gestiegen sind.18 Eine der
Ursachen dafür ist, dass die Diagnosekriterien zwar immer differenzierter werden, jedoch
die zeitliche Frist, das heißt wie lange ein psychischer Zustand andauern muss, damit der
Mensch offiziell an einer psychischen Störung leidet, immer kürzer wird.19 Auch andere
Kriterien zur Diagnostizierung von Symptomen werden immer weiter gefasst.
Beispielsweise wurde bei der Anorexie der BMI von 17,5 auf 18,5 hinauf gesetzt.
Dementsprechend sind auch die Zahlen der psychisch kranken gestiegen, alleine aufgrund
der Änderung der Definition. 20
Zusammengefasst scheint es als sei ein Diagnosesystem oder eine Definition, die genau
festlegt, welches Verhalten noch als ,,normal“ angesehen wird und was schon psychisch
krank ist, beinahe unmöglich. Lässt man Psychiatern und Psychologen beim Erstellen von
Diagnosen ihre Freiheit, wird die Willkürlichkeit und Unzuverlässigkeit dieser kritisiert.
Werden jedoch operationale Kategorien festgelegt, wie im DSM-5, die versuchen exakt
vorgeben, welche Befindlichkeiten offiziell als krankhaft gelten, wird kritisiert, dass
dieses zu allgemein und fest wäre.
16
Vgl. Blech, Jörg, S.118
Vgl. Gehirn&Geist, Juni 2012, S. 42
18
Vgl. Blech, Jörg, S.114
19
Vgl. Blech, Jörg, S.118
20
Vgl. Klotter Christoph, Depa Julia, Humme Svenja, Vorwort
17
7
Insofern wird die Problematik bei der Definition von Erkrankung deutlich, da es
unmöglich scheint, eine klare Grenze zwischen psychischer Normalität und psychischer
Störung festzulegen.
3. Beurteilung der
Einflusskriterien
Krankheitswertigkeit
unter
verschiedenen
Nachdem ich nun die beiden, im Zentrum stehenden Begriffe erläutert und definiert habe,
werde ich mich im Folgenden meiner Fragestellung widmen. Um diese zur Genüge
beantworten zu können, werde ich das Thema ,,Orthorexie“ erst einmal unter
unterschiedlichen Aspekten betrachten, die meiner Ansicht nach entscheidend für die
Entstehung dieses Phänomens sind
3.1. Einfluss der momentanen gesellschaftlichen Situation
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Überfluss herrscht und unsere Sinne geradezu von
dem erheblichen großen Nahrungsangebot überflutet werden. Dem Thema Ernährung
wird immer mehr Bedeutung zugesprochen, daraufhin entwickeln sich ständig neue
Esstrends und Vorstellungen, welche Ernährungsweise die Gesündeste und Beste für uns
Menschen ist.21 Vegetarier, Veganer, Frutarier, Rohköstler, Low Carbler,… - Menschen
beginnen sich durch ihre Ernährungsweise zu definieren und fühlen sich aufgrund dieser
einer bestimmten Gruppe von ,,gleich Essenden“ zugehörig. Es scheint, als seien
diejenigen, die sich bewusst, kontrolliert und gesund ernähren bessere Menschen und
somit anderen überlegen. Vor allem durch die Medien wird einem permanent suggeriert,
dass eine gesunde und bewusste Ernährungsweise einen Menschen erfolgreicher und
begehrenswerter macht und ihn moralisch aufwertet. Glück und Wohlergehen sollen
ebenfalls durch eine gesunde Ernährung erreichbar sein.22 Die Medien haben einen
erheblichen Einfluss auf unser Essverhalten und unsere Wahrnehmung, da sie Normen,
wie beispielsweise das Schlankheitsideal, bestimmen23
und vorgeben welche Lebensweise für gut befunden werden darf.
21
Interview mit der Diplom Psychologin Ruth Schreiber vom 16.02.2016
Vgl. Klotter Christoph, Depa Julia, Humme Svenja, S.21 ff.
23
http://www.spektrum.de/lexikon/ernaehrung/medien-und-ernaehrungsverhalten/5683 , zugegriffen am
2.03.2016
22
8
Meiner Ansicht nach fördert unsere gesellschaftliche Situation die Entstehung solcher
Symptome, wie die der Orthorexie enorm und trägt einen entscheidenden Teil dazu bei,
dass sich neue vermeintliche Erkrankungen entwickeln. Aufgrund unserer wohlsituierten
Lebensumstände ist uns die Möglichkeit gegeben gewisse Ansprüche an unsere
Lebensmittel zu haben, wogegen generell nichts sprechen mag. Dennoch zeigen solche
Phänomene wie das der Orthorexie, dass eine gesunde Ernährung definitiv zu wichtig
genommen werden kann und unsere Gesellschaft mit dem übermäßigen Nahrungsangebot
nicht richtig umzugehen weiß.
3.2. Sind orthorektische Symptome eher einer Zwangs- oder einer Essstörung
zuzuordnen?
Um beurteilen zu können, ob es sich bei der Orthorexie tendenziell eher um eine Zwangsoder Essstörung handelt, muss zunächst einmal geklärt werden, was unter den beiden
Störungsbildern verstanden wird und durch welche Symptome sich diese äußern.
Die
charakteristischen
Merkmale
einer
Zwangsstörung
sind
wiederkehrende
Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Bei Zwangsgedanken handelt es sich um
Ideen, Vorstellungen oder Impulse, mit denen sich die betroffene Person permanent
stereotypisch beschäftigt. Solche Zwangsgedanken sind meist belastend, zumal sie als
unkontrollierbar erlebt werden. Menschen, die unter solchen Zwangsgedanken leiden,
verabscheuen deren Inhalte zwar meist und empfinden sie als ideomotorisch. Unter
Zwangshandlungen werden Rituale und Stereotypien verstanden, die kontinuierlich
ausgeübt und wiederholt werden. Betroffene empfinden diese weder als angenehm, noch
bieten sie ihnen in irgendeiner Form einen Vorteil. Oftmals werden sie als Vorbeugung
eines Geschehens erlebt, das aus der Sicht des Patienten Leid oder Gefahr bringen könnte
oder zur Vorbeugung eines möglicherweise ansonsten selbst verursachten Schadens.
Objektiv betrachtet ist es meist ziemlich unwahrscheinlich, dass dieses gefürchtete
Ereignis eintrifft, womit die Befürchtungen unberechtigt sind. Aufgrund der Tatsache,
dass solche Zwangsgedanken als vollkommen sinnlos und ineffektiv erlebt werden,
versuchen die Betroffenen ständig gegen diese anzukommen.24
24
WHO-World Health Organization WHO Press Mr Ian Coltart: Internationale Klassifikation psychischer
Störungen: ICD-10 Kapitel V(F) - Klinisch-diagnostische Leitlinien (Hogrefe) – 21.09 2015, F42.-
9
Wird jedoch versucht, die Zwangshandlungen zu unterdrücken und sie zu meiden,
verstärkt dies die vorhandene Angst. Meist existiert ein Gedanke oder eine Handlung, die
im Fokus der Störung liegt und der nicht widerstanden werden kann.25
Essstörungen, wie beispielsweise die Anorexia nervosa, charakterisieren sich durch den
mit Absicht erfolgenden Gewichtsverlust. Betroffene haben eine immense Angst vor
einem zu dicken Körper und führen aufgrund dessen extreme Maßnahmen in der
Ernährung ein, um nicht an Gewicht zuzunehmen. Anorektiker leiden unter einer
Körperbildstörung, das heißt sie haben eine verzerrte Wahrnehmung ihres eigenen
Körpers und verlieren in diesem Punkt vollkommen den Bezug zur Realität. Ihre
mangelhafte Ernährung führt zu lebensbedrohlichem Untergewicht, welches zudem zu
körperlichen und kognitiven Funktionsstörungen führen kann.26
Im Falle der Orthorexie lässt sich sagen, dass sie sowohl Züge einer Zwangsstörung als
auch einer Essstörung aufweist. Betroffene einer Zwangsstörung haben ähnlich wie
Orthorektiker eine sehr zwanghafte und perfektionistische Persönlichkeit, welche sich
durch ihr Verhalten äußert.27 Jedoch sind sich Zwangsgestörte über die Sinnlosigkeit ihres
Verhaltens bewusst und empfinden dieses als äußerst anstrengend und quälend, während
Orthorektiker vollkommen überzeugt von ihrer Ernährungsweise sind und ihr Verhalten
weder als einschränkend oder unangenehm empfinden. Gegen die Zwangshandlungen
wird von Betroffenen ständig versucht anzukommen und diese zu unterdrücken, wogegen
orthorektisches Verhalten keineswegs unterlassen oder geändert werden möchte. Somit
zeigen Zwangsgestörte eine hohe Krankheitseinsicht, die Orthorektiker keineswegs
besitzen. Jedoch weisen die zwanghaften Gedanken, die ein wesentliches Merkmal einer
Orthorexie sind darauf hin, dass sich diese durchaus einer Zwangsstörung zuordnen lässt.
Solche orthorexiebezogenen Zwangsgedanken äußern sich durch die permanente
kognitive Beschäftigung mit einer gesunden und reinen Ernährung und die übermäßige
investierte Zeit in die Zubereitung dieser.28 Diese zwanghaften Gedanken resultieren
sowohl bei der Orthorexie, als auch bei einer Zwangsstörung aus einer tief liegenden
Angst.29
25
Vgl.WHO, F42.Vgl. WHO, F50.27
Vgl. Interview mit PD Dr. med. Karsten Wolf
28
Vgl. Klotter Christoph, Depa Julia, Humme Svenja, S. 36-37
29
Vgl.WHO, F42.26
10
Die auffälligste Übereinstimmung zu einer Essstörung ist das betont problematische
Essverhalten. Im Zentrum der beiden Störungsbilder steht die permanente Beschäftigung
mit Nahrung und deren kontrollierte Zuführung. Sobald gegen die selbst aufgestellten
Ernährungsregeln verstoßen wird, plagen sowohl Anorektiker, als auch Orthorektiker
schwere Schuldgefühle, da ihr Selbstwertgefühl von ihrer Ernährung abhängt. Aus
diesem Grund versuchen sie die Schuldgefühle mit Bestrafungen, wie Fasten, zu
kompensieren. Zudem mangelt es beiden an der Krankheitseinsicht, da Orthorektiker
ebenso wie Anorektiker fest überzeugt von ihrer Ernährungsweise sind und diese als
Stärke, nicht als Problem ansehen. Sie definieren sich durch diese und bauen aufgrund
dessen ein Gefühl der Überlegenheit auf. Jedoch tragen Menschen mit orthorektischen
Symptomen ihre Ernährungsweise nach außen und machen die Personen in ihrem Umfeld
darauf aufmerksam, dass sie sich nach ihrem Befinden besser ernähren und versuchen sie
somit zu missionieren. Anorektiker dagegen sind bemüht den Anschein einer normalen
beziehungsweise
ausreichenden
Ernährung
aufrecht
zu
erhalten
und
keine
Aufmerksamkeit auf ihr Essverhalten zu richten. Der Perfektionsdruck ist bei beiden
Störungstypen immens stark und die Anforderungen an das eigene Selbst meist so hoch,
dass es extreme Kontrolle erfordert, um diesen gerecht zu werden. Aufgrund der nicht
hinreichenden Nährwerte und Kalorien in der Nahrung nehmen Orthorektiker ebenso wie
Anorektiker auffallend stark ab, sodass es bis zu einem lebensbedrohlichen Untergewicht
führen kann. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in der Intention, mit der das
problematische Essverhalten entwickelt wird. Anorektiker führen diese disziplinierte
Mangelernährung aufgrund der Angst vor einer Gewichtszunahme ein und versuchen
dadurch ihre Vorstellung von einem vollkommenen, möglichst dünnen Körper zu
verwirklichen. Das Motiv von Orthorektikern hingegen liegt nicht in der
Gewichtsabnahme, diese tritt nur als zusätzliche Folge der beschränkten Ernährung ein.
Sie haben eine übermäßige Angst um ihre Gesundheit und beschäftigen sich aufgrund
dessen dermaßen fixiert und ausgiebig mit der Qualität der Nahrung und nicht wie
Anorektiker mit der Quantität.
Unter diesen Aspekten weisen orthorektische Symptome ebenso Parallelen zu einer
Zwangsstörung, wie zu einer Essstörung auf. 30
30
Vgl. Klotter Christoph, Depa Julia, Humme Svenja, S.37-38
11
Meiner Ansicht nach lässt sich das Phänomen der Orthorexie jedoch keines der beiden
Störungsbilder definitiv zuordnen, da es sowohl in Verbindung mit einer Zwangs- als
auch einer Essstörung vorkommen kann. Ich denke, dass es von großer Wichtigkeit ist,
die Dinge, die hinter dem orthorektischen Verhalten liegen zu betrachten und zu
versuchen festzustellen, aufgrund welcher Ursache speziell diese und keine anderen
Symptome entstanden sind.
4. Diskussion der Problemstellung
Nachdem ich nun die grundlegenden Begrifflichkeiten definiert, und auf die Aspekte
eingegangen bin, die meiner Ansicht nach einen bedeutsamen Einfluss auf die Entstehung
des Phänomens der Orthorexie haben, komme ich zum Diskussionsteil dieser Arbeit. Ich
werde auf Grundlage der vorherigen Informationen und Kriterien, abwägen, ob es sich
bei der Orthorexie um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt, das eine eigene
Diagnose benötigt. Die beiden Interviews, die ich persönlich geführt habe (siehe
Anhang), dienen mir ebenfalls als Diskussionsbasis, um meine Fragestellung bestmöglich
beantworten zu können.
4.1. Handelt es sich bei der Orthorexie um eine neue Erkrankung, die eine eigene
Diagnose erfordert?
Es ist offensichtlich, dass Menschen die orthorektische Symptome aufweisen, dem
Thema Ernährung ein übersteigertes Maß an Bedeutung beimessen und sich durch ihre
gesunde und bewusste Ernährung definieren. Die Tatsache, dass Orthorektiker
Lebensmittel zwanghaft in gesund und ungesund klassifizieren, sich ständig mit dem
Gedanken ,,es muss gesund sein“ konfrontieren, müsste eigentlich ein Hinweis darauf
sein, dass sie durchaus Zwangsgedanken haben, die sie in ihrem Leben erheblich
einschränken und somit einen Leidensdruck verspüren. Die Symptome und das extreme
Ausmaß, das ein solches Verhalten nehmen kann, liefern ebenfalls Hinweise auf die
Existenz eines eigenständigen Krankheitsbildes. Vor allem die soziale Isolation und das
lebensbedrohliche Untergewicht deuten darauf hin, dass es sich bei diesem Verhalten
mehr als nur um eine Modeerscheinung handelt, die durch unsere derzeitige Gesellschaft
verursacht wird. Die Beeinträchtigung wichtiger Lebensbereiche außerhalb der Nahrung,
wie beispielsweise Freunde, Familie, Freizeit oder der Beruf, die laut des DSM-5 eines
12
der Diagnosekriterien ist, um ein Syndrom als krankheitswertig zu klassifizieren, ist
ebenfalls ein Anzeichen dafür. Die tief liegende Angst vor der Erkrankung des eigenen
Körpers und die Verbindung dieser mit der Zuführung von als schlecht und unrein
befundenen
Lebensmittel
demonstrieren
ebenso,
dass
dieses
Verhalten
von
krankheitswertigen Gedanken beeinflusst wird. Ein passendes Beispiel dafür scheint mir
die Aussage einer jungen Orthorektikerin aus einer Dokumentation zu sein (Galileo, Mein
Leben als Orthorektikerin, 13.09.2011 19:05 | 10:35 Min). Sie schilderte welchen Ekel
sie gegenüber Fisch verspürt, da dieser im Meer lebt und das Meer voll von Schmutz und
Schadstoffen ist und diese Stoffe ihrer Ansicht nach beim Verzehr des Fisches in ihren
Körper gelangen und ihn somit verschmutzen würden. Anhand dieser Schilderung wird
deutlich, dass Orthorektiker in diesem Punkt den Bezug zur Realität, nämlich dass der
menschliche Körper in der Lage ist Schadstoffe abzubauen und auch zu vertragen,
vollkommen verlieren und ihre kognitiven Fähigkeiten durchaus eingeschränkt sind.
Bedenklich sind meiner Ansicht nach zudem die Schuldgefühle, die beim Verstoß gegen
die aufgestellten Ernährungsregeln aufkommen, da durch sie deutlich wird, unter welch
immensen Perfektionsdruck Betroffene stehen und welch hohe Ansprüche sie an das
eigene Selbst haben. Die Erwartungen und der übermäßige Wunsch nach Kontrolle
charakterisieren die Symptomatik der Orthorexie.
Dies alles klingt plausibel, doch inwiefern leiden sie tatsächlich unter ihrem Verhalten?
Für die Existenz eines Leidensdrucks gibt es keine hinreichenden Forschungen und somit
auch keine empirischen Hinweise. Die Betroffenen scheinen keinen Leidensdruck zu
entwickeln. Somit kann dieses Verhalten unter dem Aspekt nicht als krankheitswertig
gelten. Zu fragen ist hier, inwiefern es sinnvoll ist, jedes krankhafte Verhalten zu
benennen, eine eigene Diagnose zu entwickeln und es medizinisch zu behandeln oder ob
eine eigene Diagnose im Falle der Orthorexie die Häufigkeit eines solchen Symptoms
vielleicht sogar verstärken würde.
Zudem stellt sich hierbei die Frage, ob die Orthorexie, sobald sich der Wohlstand unserer
Gesellschaft reduziert, nicht mehr existieren würde und dieses Verhalten somit
ausschließlich das Produkt unserer derzeitigen Überflussgesellschaft ist. Es muss
berücksichtigt werden, dass nicht jeder Mensch, der Wert auf eine gesunde und
ausgewogene Ernährung legt und dieser mit einer ausgeprägten Vorliebe nachgeht, gleich
eine Orthorexie hat. Sowie ein sich vegan ernährender Mensch ebenfalls nicht
automatisch mit einer Orthorexie in Verbindung gebracht werden darf. Es geht darum das
13
Ausmaß des Verhaltens zu betrachten und die Intention, die dabei im Fokus steht zu
erkennen. Es kommt die Frage auf, ob die Ursache dieses zwanghaften Verhaltens
tatsächlich die Orthorexie ist oder ob die orthorektischen Symptome zunächst einmal nur
ein Anzeichen drauf sind, dass sich hinter diesen eine bereits abhandelbare Störung
verbirgt. Anhand der beiden Interviews, die ich durchgeführt habe, ist deutlich geworden,
dass orthorektische Symptome bisher selten im Vordergrund der Störung liegen, sondern
in der Wahrnehmung der Praktizierenden meist nur Symptome sind, hinter denen sich
eine Zwangs-, Angst- oder Essstörung befinden kann. Zudem zeigt die Tatsache, dass
vielen Psychiatern und Psychologen der Begriff Orthorexie fremd erscheint, aber das
Verhalten, das unter diesem Begriff definiert wird durchaus bekannt ist, dass
orthorektische Symptome bereits unter vorhandenen Diagnosen subsumiert werden
können. Insofern ist eine Behandlung auch ohne eine eigene Diagnose möglich.31 Daher
bin ich der Ansicht, dass es sich bei der Orthorexie zwar um etwas Eigenes handelt,
jedoch nicht um ein eigenes psychisches Störungsbild. Meines Erachtens ist die
Diskussion und Beschreibung des Phänomens wertvoll und es ist wichtig, dass die
Behandler es erkennen, um eine adäquate Behandlung zu ermöglichen.
Orthorexie
kann in den verschiedensten Störungszusammenhängen auftreten und liefert einen
wichtigen Baustein um die Symptomatik zu verstehen. Denn um es mit den Worten des
befragten Psychiaters zu sagen: „Orthorexie ist ein Endsymptom wie Fieber. Beim Fieber
gucke ich auch genau, was dahinter steckt.“
31
Vgl.. Christoph Klotter, Julia Depa, Svenja Humme, Vorwort VI
14
5.Fazit
Im Rahmen dieser Arbeit habe ich mich sowohl intensiv mit dem Phänomen der
Orthorexie, deren Symptome und Krankheitswertigkeit auseinander gesetzt, als auch mit
der Klassifizierung von Menschen in psychisch gesund und psychisch krank und der
Problematik, die Grenze zwischen Normalität und psychischen Störungen zu erkennen
und zu bestimmen. Durch die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Faktoren, die
einen entscheidenden Einfluss auf das Entstehen der orthorektischen Symptome haben,
konnte ich die Fragestellung aus verschiedenen Perspektiven betrachten und diskutieren.
Meines Erachtens ist die Orthorexie etwas Eigenes. Jedoch keine eigenständige
Erkrankung, die eine eigene Diagnose erfordert, sondern vielmehr ein Verhalten
beziehungsweise ein Symptom, welches in Verbindung mit Zwangs-, Angst- oder
Essstörungen auftreten kann. Sicherlich können orthorektische Symptome auch isoliert
vorkommen, dennoch ist es wichtig, wie bei den meisten Dingen in der Psychologie
beziehungsweise Psychiatrie, den Fokus auf die Ursachen, die hinter diesem Verhalten
liegen zu richten und auf diese einzugehen. Solange die Symptome der Orthorexie
mithilfe der bereits vorhandenen Diagnosen und Behandlungsmöglichkeiten erfasst und
behandelt werden können, sehe ich keine Notwendigkeit darin eine eigene Diagnose für
dieses Verhalten zu entwickeln, aufgrund der Befürchtung, dass eine Diagnose und eine
Aufnahme im Krankheitsregister die Häufigkeit des Symptoms verstärkt. Dennoch ist es
wichtig den Blick der Gesellschaft auf das Phänomen der Orthorexie zu richten und die
durchaus problematischen Folgen dieses zwanghaften Verhaltens zu erkennen und auch
ernst zu nehmen. Vor allem ist es wichtig bewusst zu machen, dass sich ein solches
Verhalten von dem anderer psychischer Störungen unterscheidet und es auch nicht nur
als eine neue Trendernährung anzusehen. Zudem bin ich der Ansicht, dass das
orthorektische Verhalten zwar durch unsere momentane Gesellschaft geprägt und auch
verstärkt wird, jedoch nicht ausschließlich aus dieser resultiert. Abschließend lässt sich
sagen, dass es nicht unbedingt immer hilfreich ist, aus jedem Symptom und Verhalten der
Menschen, auch wenn es krankhaft scheinen mag, eine eigene Erkrankung zu machen.
Psychische Probleme sind nun mal anders als körperliche Erkrankungen, schwer zu
erfassen.
15
Anhang
Interview mit der Diplom Psychologin Ruth Schreiber vom 16.02.2016
1. Sollte Orthorexia nervosa als ein eigenständiges Krankheitsbild anerkannt und in den
Krankheitsregister aufgenommen werden?
A: Ich persönlich beziehe die Position, dass es nicht sinnvoll ist aus dem Krankheitsbild
der Orthorexie eine eigene Diagnose zu machen, das heißt es im Krankheitsregister
aufzunehmen. Ich finde es jedoch wichtig es als ein Phänomen zu beschreiben, das Teil
einer Krankheit sein kann. Ich glaube nämlich, dass es eine Orthorexie selten isoliert gibt.
2. Ist Orthorexie denn eher einer Essstörung oder einer Zwangsstörung zuzuordnen?
A: Es ist erst einmal wichtig mein Grundverständnis von Diagnosen zu erläutern. Ich
denke, dass Diagnosen an und für sich erstmal nichts beschreiben, das wirklich so ist,
sondern lediglich Hilfsmittel sind, um Dinge einzuteilen und die Welt für uns zu
strukturieren. Wenn ich jetzt an die anderen Essstörungen denke, wie beispielsweise
Anorexie oder Bulimie, ist es schließlich auch so, dass diese meistens im Zusammenhang
mit anderen psychischen Problemen stehen. Von daher denke ich, ist es auch bei der
Orthorexie erstmal wichtig zu erkennen, dass da jemand ein wirkliches Problem mit
Essen hat und sich alle Gedanken um die gesunde und richtige Ernährung drehen. In der
Therapie kommt es dann darauf an, genau zu verstehen welche Funktion, also welchen
Krankheitsgewinn hat das für denjenigen, der diese orthorektischen Symptome zeigt.
Allgemein denke ich, dass Orthorexie zum Teil unter die Essstörung subsumiert werden
kann, aber auch viele Züge einer Zwangsstörung oder auch einer Angststörung aufweist,
da betroffene die Angst haben etwas ungesundes zu essen, also eine Vermeidungstendenz
an sich tragen.
Es ist wichtig, die dahinter liegenden Dinge zu beachten.
4. Würden Sie sagen, dass die Orthorexie eine Art Vorstufe der Anorexie sein kann?
A: Ich denke, dass es einen großen Unterschied zwischen Orthorexie und Anorexie gibt.
Und zwar ist der Unterschied, dass sich in der Anorexie eine Struktur verändert. Es ist
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häufig ein Wechsel zwischen einer Verhaltensproblematik in der Folge einer körperlichen
Problematik, die dann wiederrum auf die Psyche wirkt, sodass man hinterher ein Problem
hat, das nicht mehr nur ein Verhaltens und psychisches Problem ist, sondern auch ein
körperliches, welches dann wiederum psychische Probleme verursacht und darum auch
so schwierig aufzulösen ist. Zudem ist es bei der Anorexie so, dass in einer bestimmten
Phase des Hungerns das Denken durch das Hungern eingeschränkt ist und sozusagen das
Denken dadurch, dass sich der Körper in einem so gravierenden Mangelzustand befindet,
beeinträchtigt ist. Bei einer Orthorexie ist das weniger so. Von daher unterscheidet sich
diese schon deutlich von der Anorexie. Was jedoch ähnlich ist, ist das sowohl zu Beginn
einer Anorexie also auch einer Orthorexie sehr strenge Anforderungen an die eigenen
Leistungen und an das eigene ,,Selbst“ gestellt werden, denen das ,,Ich“ oftmals schwer
gerecht werden kann. Betroffene haben ein ganz hohes Idealbild, das sie versuchen
anzustreben, um ihr eigenes Selbstwertgefühl zu steigern. Unter diesem Aspekt denke
ich, das Orthorexie durchaus ein Stück weit ,,verwandt“ mit der Anorexie ist, da es sich
bei beiden um diesen strengen, sehr disziplinierten Umgang mit Lebensmitteln handelt
5. Sind Sie der Meinung, dass vor allem dadurch das unsere Gesellschaft momentan so
sehr darauf fixiert ist sich möglichst gesund zu ernähren und gesunde Ernährungsweisen
wie der Veganismus auch in den Medien so sehr gepriesen werden, das Thema Orthorexie
immer aktueller wird?
A: Ja, genau so denke ich ist das. Wir leben in einer Überflussgesellschaft, in der es nun
einmal ein so großes Nahrungsangebot gibt und in der es immer im Moment immer
wichtiger wird, sich gesund zu ernähren. Das ist wie mit der Anorexie und dem
Schlankheitsideal, das ebenfalls von unserer Gesellschaft vorgegeben wird. Ich bin aber
auf jeden Fall der Meinung, dass es wichtig ist, in einer Zeit, in der es so viel um gesundes
Essen geht, dieses Phänomen, dass wir eigentlich genug zu essen haben und daraufhin
dann anfangen immer neue Essmoden zu entwickeln, zu benennen.
6. Was spricht Ihrer Meinung nach denn konkret dagegen, dass Orthorexie als ein
eigenständiges Krankheitsbild anerkannt wird?
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A: Zwei Aspekte: Der eine ist, dass ich denke das man eigentlich mit den bereits
vorhandenen Konzepten wie zum Beispiel Zwangsstrukturen, Angststrukturen, den
tiefenpsychologischen Über-Ich Strukturen oder auch bei der Verhaltenstherapie mit den
Lernstrukturen wenn es um Ich-Ideale geht, eine Orthorexie gut erfassen kann. Und es
somit keine eigene Kategorisierung oder ein eigenes Behandlungsverfahren braucht, da
man die Behandlungsmöglichkeiten einer Orthorexie gut aus denen ableiten kann, die es
bereits gibt. Kategorien sind dazu da, um die Krankheitswertigkeit einer Störung
abzuwägen, um dann eben Therapie darüber begründen zu können. Und das alles ist auch
noch nicht abgeschlossen, das heißt es ist in der Forschung nicht so, dass genügend
Forschungen dazu existieren, um begründen zu könnten, dass Orthorexie ein eigenes
Störungsbild ist, das eine eigene Therapie erfordert.
Der andere Aspekt ist : Das mag vielleicht auch eine persönliche Einstellung sein, aber
ich denke, dass es zwar wichtig ist, dass man sich bewusst ist und das Augenwerk darauf
richtet, dass es in unserer Gesellschaft eine Gruppe von Menschen gibt, die das
ausgeprägte Verlangen danach haben sich zwanghaft gesund zu ernähren, jedoch eine
immer weitere Differenzierung dieser Kategorien nicht unbedingt hilfreich ist. Es ist auf
jeden Fall wichtig zu sehen, dass es dieses Phänomen bzw. Problem der Orthorexie gibt,
trotzdem sehe ich es als nicht Notwendig es in den Krankheitsregister aufzunehmen.
7. Führt der Veganismus zur Orthorexie?
A: Man kann das ein bisschen zur Anorexie parallelisieren. Eine schlanke junge Frau ist
schließlich nicht automatisch eine Anorektikerin, eigentlich. Bei der Orthorexie ist das
das gleiche. Sich gesund zu ernähren und dafür vielleicht auch einen kleinen Spleen
zuhaben, wie es oftmals die Veganer haben, ist nicht sofort ein Krankheitsbild. Vegan zu
leben ist möglicherweise erstmal, vor allem in der Jugend ein Versuch sich und die Welt
zu optimieren und deshalb nicht gleich krankhaft. Die Frage ist: Wo fängt überhaupt
Krankheit an? Und wo ist es ,,normal“? Das ist ja auch beim schlank sein so. Wenn du
mal um dich herum schaust, wie viele deiner Freundinnen haben schon mal gesagt ,,Ich
bin viel zu dick, ich muss abnehmen“, obwohl sie bei weitem nicht dick sind? Das also
das eigene Körperbild nicht mit dem übereinstimmt was man von außen sieht bzw. nicht
der Realität entspricht. Das heißt aber noch lange nicht, dass es sich bei ihnen um eine
Anorexie handelt. Es ist oftmals eine Tendenz zu einer gestörten Selbstwahrnehmung auf
dem Weg sich selbst zu finden. So ist das bei der Orthorexie auch, dass es während der
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Selbstfindung einen Übergang gibt, der lediglich ein Spleen ist, womit die Person ihre
Umwelt nervt und sich das Leben unschön macht, indem sie sich durch eine gesunde
Ernährung definiert. Ich glaube aber auch, dass es die Freiheit eines jeden Menschen ist
sich das Leben manchmal unschön zu machen ohne das es gleich krankheitswertig ist.
8. Aber spricht nicht die Tatsache, dass wir über Orthorexie schon wie über eine eigene
Krankheit sprechen dafür, dass es ein eigenständiges Krankheitsbild ist?
A: Da hast du natürlich Recht, so wie wir jetzt gerade auch reden, benutze ich den Begriff
Orthorexie eigentlich auch schon im Krankheitssinne. Die Frage ist halt: Was ist denn
eigentlich Krankheit? Was bedeutet überhaupt Krankheit? Also für mich, als
Psychotherapeutin ist Krankheit, wenn ich sehe, dass jemand in seiner Lebensfreude, in
seinen Beziehungen oder in seinem Arbeitsverhalten so gravierend beschränkt ist, sich
selbst schädigt und nicht mehr am normalen Leben mehr teilnehmen kann, keine
Beziehungen haben kann, nicht arbeiten kann oder nicht zufrieden sein kann , also keine
Möglichkeit besteht glücklich zu sein. Und dann sage ich als Psychotherapeutin, dass es
so gravierend ist, dass wir eine Therapie machen müssen. Das kann natürlich bei der
Orthorexie so sein. Mir ist geht es mehr darum, dass ich es nicht für sinnvoll halte, all
diese Störungen noch weiter aufzuschlüsseln, wenn ich eben bei einer Orthorexie das gut
unter einer Phobie, Zwangsstörung oder auch Persönlichkeitsstörung verschlüsseln kann.
9. Hatten Sie bisher schon einmal Patienten, die Symptome einer Orthorexie aufgewiesen
haben?
A: Ich hatte bisher zwei Patientinnen, bei denen ich denken würde, da passt der Begriff
Orthorexie schon. Wo ich jetzt, weder wissenschaftlich noch fachlich gesprochen sagen
würde, dass Orthorexie ein passender Begriff war, um zu sagen, dass da jemand die
Tendenz hat sehr betont gesund zu essen und auch Ängste in Richtung Gesundheit
entwickelt hat. Die eine von den beiden hatte ganz klare Zwangssymptome, weshalb eine
eigene Diagnose der Orthorexie nicht notwendig gewesen wäre, da es eigentlich unter
diesen Zwangssymptomen abhandelbar war. Bei der anderen lag eine ganz klare
Angststörung vor und die Symptome der Orthorexie lagen auch bei Ihr nicht im
Vordergrund. Somit habe ich aus meiner Erfahrung noch nie jemanden erlebt, bei dem
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ich sagen würde, dass die Orthorexie so klar und isoliert im Vordergrund stand ohne die
Verbindung zu einer anderen Störung, unter der ich das verschlüsseln kann, sodass es für
mich notwendig gewesen wäre eine eigene diagnostische Kategorie für die Orthorexie zu
haben. Bisher war es daher nie so, dass ich den Eindruck hatte, dass Orthorexie jetzt die
eigentliche Diagnose ist um die es hier geht und die die Hauptsymptomatik charakterisiert
hat.
Interview mit PD Dr. med. Karsten Wolf, Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapie vom 22.02.2016
1. Sollte Orthorexia nervosa als ein eigenständiges Krankheitsbild anerkannt und in den
Krankheitsregister aufgenommen werden?
A: Nein, sollte es nicht. Es handelt sich nicht um ein eigenständiges Krankheitsbild.
2. Was spricht Ihrer Meinung nach denn konkret dagegen, dass Orthorexie als ein
eigenständiges Krankheitsbild anerkannt wird?
A: Nach unserem jetzigen Verständnis von Erkrankung in der Psychiatrie und von dem,
wie wir Erkrankung klassifizieren, wir haben ja das DSM-5, das amerikanische neue
Klassifikationssystem und die ICD-11, das neue der Weltgesundheitsorganisation, ist
Erkrankung ein psychisches Symptom, unter dem der Mensch selber oder andere in
erheblichen Ausmaße leiden. So ist jemand, der zum Beispiel ein Eigenbrötler ist, im
Wald lebt, einer ganz skurrilen Religion nachgeht und nur spezielle Pflanzen isst, zwar
auffällig aber er stört niemanden, keiner leidet darunter und ihm selbst geht es gut damit,
so ist er aus psychiatrischer Sicht nicht krank, obwohl er in unseren Augen krank wirkt.
Im Falle der Orthorexie könnte man jetzt sagen, dass die betroffene Person schon unter
ihrem Verhalten leidet und auch andere von diesem ,,Gesundheitswahn“ genervt sind,
jedoch darf laut dem neuen Klassifikationsmodel nur das als Krankheitsentität definiert
werden, für das es hinreichende biologische Begründungen gibt. Und das ist bei der
Orthorexie nicht der Fall. Bei dem System, das wir bisher hatten, war es so, dass wir
einfach ein Symptom genommen haben und gesagt haben ,,ok die Symptome insgesamt
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kommen häufig vor und wir können das als eine Erkrankung klassifizieren und die Person
leidet auch unter diesen Symptomen, somit handelt es sich um eine Krankheit“. Doch so
macht man es nicht mehr, da man zu einem System kommen möchte, bei dem man klar
sagen kann, dass wir genug wissenschaftliche und empirische Beweise dafür haben, dass
es sich hier um eine Krankheitsentität handelt. Somit um eine Erkrankung, die genauso
biologisch begründet ist wie sie tatsächlich ist, wie bei einem Bein das gebrochen ist. Und
bei der Orthorexie ist es ja so, dass es keinerlei empirische Hinweise darauf gibt, dass es
sich um eine eigene Krankheitsentität handelt. Es mündet in dieses orthorektische
Verhalten, hinter dem ein Symptom steckt, entweder Zwang, Sucht oder Angst. Aber
hinter diesen Symptomen, so ein bisschen wie bei Fieber, kann alles Mögliche stecken.
Bei Orthorexie haben wir ein Symptom Cluster von, Angst Zwang und Sucht,
irgendetwas dazwischen könnte es sein, einer dieser Symptome spielt eine Rolle, mit der
dementsprechende Verhaltensausprägung. Was es jedoch genau ist, ist völlig unklar. Es
kann sowohl einen Suchtaspekt haben, es kann eine Zwangserkrankung sein oder auch
eine Schizophrenie kann dahinter stecken. Das eine Schizophrenie hinter diesen
orthorextischen Symptomen liegt, haben wir hier auch schon öfter gesehen, also das vor
allem bei jungen Leuten der Zwang zunächst mal die Schizophrenie unterdrückt. Somit
kann hinter diesem orthorekischen Symptom alles Mögliche stecken, aber eben nicht als
eigene Erkrankung sondern nur als ein Symptom Bereich. Das was es am
wahrscheinlichsten ist und was wir am häufigsten sehen, das bei solchen Fällen der
Orthorexie der Zwangsaspekt besonders stark vorhanden ist.
3. Sind Sie der Meinung, dass vor allem dadurch, dass unsere Gesellschaft momentan so
sehr darauf fixiert ist sich möglichst gesund zu ernähren und gesunde Ernährungsweisen
wie der Veganismus auch in den Medien so sehr gepriesen werden, das Thema Orthorexie
immer aktueller wird?
A: Genau, die Menschen die zu Zwangssymptomen neigen, nutzen dieses kulturelle
Phänomen, um ihren Zwang in diesem Bereich auszuleben und zu begründen. Die
Ausprägung eines Grundzwangssymptoms ist immer kultur- und zeitabhängig. Wenn
man beispielsweise den klassischen Fall der Hysterie nimmt, nämlich im ersten Weltkrieg
hatten wir das Kriegszittern. Damals haben die Soldaten alle auf unerklärliche Weise
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angefangen zu zittern und hörten gar nicht mehr auf. Jedoch hat man diesen Fall der
Hysterie danach nie wieder gesehen. Beim Zwang ist das auch so, jede Zeit und Kultur
bringt aus dem Zwang heraus unterschiedliche Symptome, je nachdem was die Kultur
gerade bietet. Momentan hat man eben das mit der gesunden Ernährung.
4. Der Aspekt, dass Menschen mit orthorektischen Symptomen tatsächlich eine Angst vor
Lebensmitteln entwickeln, die aus ihrem Auge ,,schlecht“ sind und dabei vollkommen
den Bezug zur Realität verlieren, nämlich dass der menschliche Körper durchaus in der
Lage ist Schadstoffe abzubauen und auch zu vertragen, müsste doch eigentlich darauf
hinweisen, dass dahinter wirklich ein krankhafter Gedanke steckt. Oder denken sie, dass
hinter dieser enormen Angst vor ungesunden Lebensmitteln nicht allein die Orthorexie
steckt, sondern das diese ausschließlich mit anderen Störungen zusammen hängt?
A: Doch, die Symptome können oft auf Grundlage der dem entsprechenden
Persönlichkeit auftreten. Dieser Aspekt wäre ein hysterischer Aspekt, da würde die
Hysterie hineinspielen nämlich dass man Dinge dramatisiert und überbewertet. Da spielt
dann aber die Grundpersönlichkeit eine Rolle, wenn jemand diese Grundpersönlichkeit
der Hysterie hat, die es in dieser Ausprägung sowieso nur gibt, wenn wir Wohlstand
haben. In der Nachkriegszeit beispielsweise gab es keine Menschen, die hysterisch waren,
wie sollte es auch, da ging es ums Überleben. Wenn jemand also in einer Zeit, in der
Wohlstand herrscht, diese Grundpersönlichkeit der Hysterie hat, prägt sich diese
Persönlichkeit aus, aber das wäre im Falle der Orthorexie solange er selber oder andere
nicht im besonderen Ausmaße leiden, eine Persönlichkeitsvariante aber noch keine
Erkrankung.
5. Also hängen solche vermeintlichen Krankheiten mit Stand der Gesellschaft zusammen.
Aufgrund der Tatsache, dass wir in einer solchen Überflussgesellschaft leben entwickeln
sich auch immer neue Essmoden und somit würden sie sagen, dass es sich bei der
Orthorexie eher um eine Modeerkrankung als um eine tatsächliche Erkrankung handelt?
A: Genau, aber eher um eine Modeerscheinung, wodurch unsere Gesellschaft in dem
jetzigen wohlsituiertem Zustand, genügend Zeit besitzt ihre Neurosen auszuleben, neue
Neurosen aufblühen zu lassen und sich eine bestimmte Persönlichkeitsausprägung
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ausleben kann. Wenn die Gesellschaft jetzt zu Grunde gehen würde, wir alle in Armut
leben würden und Europa im Krieg versinken würde, gäbe es diese orthorektischen
Symptome nicht mehr, dann wäre das alles vorbei.
6. Sind die Symptome der Orthorexie denn eher einer Zwangsstörung oder einer
Essstörung zuordnen?
A: Orthorexie ist ein Endsymptom wie Fieber. Beim Fieber gucke ich auch genau, was
dahinter steckt. Der eine hat einen Virusinfekt, der andere einen bakteriellen Infekt, hinter
dem Fieber kann alles Mögliche stecken es geht dann darum zu sehen, was genau denn
dahinter steckt und was sonst noch an Symptomen vorhanden ist. Und so ist das bei der
Orthorexie ja auch. Wenn ein junger Mensch mit einer Orthorexie zu uns kommt, muss
ich erstmal seine Persönlichkeit klären. Wenn ich dann durch Testen bemerke, dass der
Mensch eine ausgeprägte hysterische Persönlichkeit hat, ist es wahrscheinlich, dass diese
hysterische Persönlichkeit zu dem jetzigen Zeitpunkt in seiner Umwelt das besonders
herausfordert und orthorektische Symptome entstehen. Es kann aber auch sein, dass ich
feststelle, dass es eher in Richtung Zwang geht, also das sich die Person nicht hysterisch
sondern besonders zwanghaft zeigt. Oftmals hat die Person von Natur aus einen Zwang
oder hat ihn im Jugendalter entwickelt, dann versuche ich herauszufinden, ob diesem
Zwang eher eine Tendenz zur Zwangspersönlichkeit bzw. Zwangsstörung oder zur
Schizophrenie zu Grunde liegt. Somit gucke ich wie beim Fieber, was an fassbaren
Erkrankungen, die man biologisch definieren kann, hinter dem Symptom stecken.
7. Hatten Sie bisher schon einmal Patienten, die Symptome einer Orthorexie aufgewiesen
haben?
A: Ja, hatten wir.
8. Und inwiefern haben sich diese Symptome geäußert?
A: Wie eben schon beschrieben, haben sich die Symptome immer als Folge von einer
anderen Erkrankung geäußert. Letztes Jahr hatte ich einen Fall, wo dieses Verhalten sehr
ausgeprägt war und ich auch erst an eine Zwangserkrankung dachte, da das ganze
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Verhalten sehr penibel und zwanghaft war. Bei genauerem explorieren waren auch noch
einige andere Zwänge, die schon in Richtung Waschzwang gingen, da die Angst vor
Bakterien auch eine Rolle spielte. Letztendlich hat sich dann aber rausgestellt, dass es
sich um eine Schizophrenie handelte. Auf unserer Verhaltenstherapie Station hatten wir
mehrere Fälle, bei denen tatsächlich eine reine Zwangsstörung der Grund für die
orthorektischen Symptome war. Wir hatten aber auch eine Patientin, die eigentlich eine
Depression hatte, wo aber diese starke hysterische Persönlichkeitsstörung, die Sie hatte
zu dem Symptom der Orthorexie geführt hat.
9. Gab es bei Ihnen auch schon mal einen Fall, bei dem die orthorektischen Symptome in
Verbindung mit einer Essstörung standen?
A: Hatten wir hier bisher nicht, aber das gibt es mit Sicherheit. Denn bei einer Anorexie
oder Bulimie spielt der Zwangsaspekt auch eine große Rolle. Zwar sagt man bei der
Anorexie, dass es eine Magersucht ist also mit einem Suchtaspekt, rein biologisch
gesehen jedoch geht man davon aus, dass der Zwangsaspekt eine größere Rolle spielt und
man es somit eigentlich ,,Magerzwang“ nennen müsste.
24
Literaturverzeichnis
Bücher:
[1] American Psychiatric Association: Diagnostisches und Statistisches Manual
Psychischer Störungen - DSM-5 : Deutsche Ausgabe (HOGREFE) 1.12. 2014
[2] Bratman, Steven: ,,Health food junkies” Overcoming the obession with healthful
eating. New York: (Broadway Books.) 2000
[3] Klotter Christoph, Depa Julia, Humme Svenja: Gesund, gesünder, Orthorexia nervosa;
Modekrankheit oder Störungsbild? Eine wissenschaftliche Diskussion, Wiesbaden
(Springer Fachmedien) 2015
[4] WHO - World Health Organization WHO Press Mr Ian Coltart: Internationale
Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10 Kapitel V (F) - Klinisch-diagnostische
Leitlinien (Hogrefe) – 21.09.2015 , F42.-, F50.-
Zeitschriftenbeiträge:
[5] M.Peters: Handout zum Power Point Vortrag-DSM IV, Moderatorentagung 02/2009
[6] Blech, Jörg: Wahnsinn wird normal, SPIEGEL, Nr.4 (21.01.2013)
Wissenschaftliche Abschlussarbeiten:
[7]Barthels,Friederike:
Orthorektisches
Ernährungsverhalten
Psychologische
Untersuchungen zu einem neuen Störungsbild, Düsseldorf, Mai 2014
Internet:
[8]http://www.stern.de/gesundheit/ernaehrung/erkrankungen/diagnose-orthorexie-die-
ernaehrungsfanatiker-3092022.html , zugegriffen am 19.02.2016
[9]http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/orthorexie-wenn-gesunde-ernaehrungzum-zwang-wird-a-986974.html , zugegriffen am 22.02.2016
[10]http://www.swr.de/swr2/wissen/orthorexie-krankhaft-gesund-essen//id=661224/did=11889328/nid=661224/1yetljs/index.html , zugegriffen am 26..02.2016
25
[11]http://www.spektrum.de/lexikon/ernaehrung/medien-undernaehrungsverhalten/5683 , zugegriffen am 02.03.2016
Interviews:
[12] Dr. Beate Schumacher: Kann gesunde Ernährung eine Krankheit sein? Aktuelle
Medizin, Interview mit Friederike Barthels, 2013
[13] Persönliches Interview mit der Diplom Psychologin Ruth Schreiber vom 16.02.2016
(siehe Anhang)
[14] Persönliches Interview mit PD Dr. med. Karsten Wolf, Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapie vom 22.02.2016 (siehe Anhang)
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Erklärung zur Selbstständigkeit der Arbeit
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe
verfasst und keine anderen als die im Literaturverzeichnis angegebenen Hilfsmittel
verwendet habe. Bei einer Gruppenarbeit sind die Teilbereiche der Arbeit den
Gruppenmitgliedern eindeutig zugeordnet. Alle genutzten Internetquellen wurden
kenntlich gemacht.
Ort und Datum
Unterschrift
27
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