Lothar TSCHAPKA Jacques Offenbachs Oper Les Contes d’Hoffmann Copyright 2012 by Mag. Lothar Tschapka Corvinusgasse 3/1 A 1230 Vienna (Wien) AUSTRIA (Österreich) +43 699 11516910 tschapka { a t ] tele2. at Les Contes d’Hoffmann – ein Sonderfall des Opernrepertoires Jacques Offenbachs Les Contes d’Hoffmann, uraufgeführt 1881 an der Pariser Opéra Comique, kommt im Repertoire der heute gespielten Opernwerke aus drei Gründen eine Sonderstellung zu. Zum Ersten gibt es von keinem anderen Werk der internationalen Spielpläne eine derart verwirrende Fülle an verschiedenen Fassungen, Einrichtungen und Bearbeitungen, die parallel an Theatern erlebt werden können. Die Gründe hiefür sind bekannt: Als Jacques Offenbach am 5. Oktober 1880 verstarb, waren die Proben für die Uraufführung eben erst angelaufen, eine Endfassung des Werks lag noch nicht vor. Vorangegangen war ein jahrelanges Tauziehen zwischen Offenbach und verschiedenen Theatern um die Gestalt seiner Oper. Hatte Offenbach den Hoffmann zunächst als Opéra comique, dann als durchkomponierte Opéra lyrique in fünf Akten (jedoch ohne Ballett!) mit einem Bariton in der Hauptrolle konzipiert, so machten Theaterpleiten die Übersiedlung des Uraufführungsprojekts an die Opéra Comique notwendig. Deren Direktor Carvalho knüpfte einschneidende Änderungsbedingungen an die Übernahme des Werks, unter anderem die Transposition der Titelpartie, außerdem mussten gemäß der Pariser Theaterkonvention für eine Aufführung an der Comique gesprochene Dialoge anstelle der Rezitative verwendet werden. Bei Offenbachs Tod lagen lediglich der mehr oder weniger vollendete Klavierauszug der ersten vier Akte sowie Skizzen zum fünften Akt von der Hand des Komponisten vor. Um die Uraufführung zu ermöglichen, wurde der Komponist Ernest Guiraud, der bereits mit einer Rezitativfassung von Bizets Carmen als Bearbeiter hervorgetreten war, mit der Fertigstellung der Partitur beauftragt. Rollenumbesetzungen sowie weitere kurzfristige Eingriffe Carvalhos hatten zur Folge, dass das Werk bereits bei seiner Uraufführung am 10. Februar 1881 in einer gegenüber Offenbachs Konzeption stark veränderten und gekürzten Version erklang. Diese Änderungen wurden in den folgenden Druckfassungen nur teilweise revidiert und Offenbachs autographe Skizzen zudem verstreut, so dass Les Contes d’Hoffmann für die nächsten knapp hundert Jahre weltweit nur in apokrypher Gestalt rezipiert wurde: Guiraud hatte für die Publikation eine durchkomponierte Fassung erstellt, die die Grundlage der allermeisten Produktionen bildete. Bald setzten jedoch weitere Bearbeitungsbestrebungen ein. So wurde für Aufführungen in Monte Carlo im Jahr 1904 ein Sextett mit Chor sowie in Berlin 1905 die auf einem Motiv aus Offenbachs Operette Le Voyage dans la Lune beruhende sogenannte Spiegelarie nachkomponiert, Zufügungen, die auch in die gedruckten Ausgaben übernommen wurden und noch heute an manchen Bühnen zu hören sind. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu Bemühungen um die Rekonstruktion einer originaleren Werkgestalt. Unter Verwendung des der Oper zugrundeliegenden Theaterstücks legte Walter Felsenstein 1958 in Ost-Berlin eine Version vor, in der Guirauds Rezitative völlig gestrichen und durch Dialoge 2 ersetzt sind. In offensichtlicher Unkenntnis der autographen Quellen strichen Felsenstein und sein musikalischer Mitarbeiter Voigtmann jedoch auch jede Menge originaler Offenbach-Musik, so dass sich ihre Version heute als Torso von lediglich historischem Interesse präsentiert. Erst mit der Auffindung von 1250 originalen Manuskriptseiten durch Antonio de Almeida im Jahr 1970 war der Weg für quellenkritische Neuausgaben bereitet: die Fassung von Fritz Oeser aus dem Jahr 1977 stellte die „Gesamtarchitekur“ des Werks - unter anderem die korrekte Reihenfolge der Akte, die Rolle der Muse und die Apotheose im Schlussbild - wieder her. Die Auffindung weiterer Quellen, unter anderem des originalen Finales zum Giulietta-Akt, machte die Oeser-Fassung jedoch bald obsolet und führte schließlich zur Version von Kaye und Keck, die sämtliche vorhandenen autographen Quellen berücksichtigt und zudem die Guiraud-Rezitative zur Disposition stellt. Damit liegt den Theatern nun alles vor, was Offenbach an Musik zum Hoffmann hinterlassen hat; wegen der zahlreichen Kombinationsmöglichkeiten teilweise parallel vorhandener Musiknummern ergibt sich für die Produktionsteams erst recht die Qual der Wahl. In der Praxis ist heute auf den Bühnen teilweise ein wildes Gemisch aus Guiraud, Oeser und Kaye-Keck, sogar mit unsystematischen Wechseln zwischen Dialog- und Rezitativfassung, zu erleben. Vielerorts möchte man auch auf die apokryphe, aber durch die Aufführungsgeschichte etablierte Spiegelarie nicht verzichten. Noch stärker als früher gilt also: Soviele Produktionen des Hoffmann, soviele Fassungen! Eine allgemein gültige Werkgestalt ist damit in weitere Ferne gerückt denn je; die Quellenfunde haben vielmehr klargemacht, dass es nicht geben kann, was es nie gegeben hat: eine von Offenbach vollendete Fassung des Stücks! Der zweite Grund, der Les Contes d’Hoffmann zu einem Sonderfall des Repertoires macht, ist die „Doppelgesichtigkeit“ ihres Komponisten: als Jugendlicher von Deutschland nach Paris gekommen, wurde Offenbach zum Starkomponisten der französischen Operette und verhalf sich und dem Genre zu Weltruhm. Seinen Versuchen, im „ernsten“ musiktheatralischen Fach zu reüssieren, wie der Oper Die Rheinnixen oder der Bühnenmusik zu Sardous La Haine, blieb größerer Erfolg verwehrt. Auch die von Jean-Christophe Keck betreuten kritischen Ausgaben dieser Stücke seit der Jahrtausendwende führten lediglich zu Aufführungen in Städten wie Ljubljana, St. Pölten oder Montpellier, kaum aber in den großen Musikzentren der Welt! Erst mit Les Contes d’Hoffmann, dem Projekt seiner letzten Lebensjahre, konnte Offenbach – freilich posthumen – Erfolg im „ernsten“ Fach und einen fixen Platz in den Opernspielplänen erringen. Trotz einzelner Opéra-bouffe-Anklänge wie dem Gästemenuett oder dem Couplet des Frantz hebt sich die Tonsprache des Werks deutlich von jener der Operetten ab. In die Musikgeschichte ist Offenbach jedenfalls doppelt eingegangen: als Operettenkomponist - und als Schöpfer der Contes d’Hoffmann. Von den bekannten Komponisten des 19. Jahrhunderts erwiesen sich vielleicht Rossini und Donizetti als ähnlich vielseitig wie Offenbach. Im 20. Jahrhundert erreichten noch Schostakowitsch und – auf andere Art – Leonard Bernstein 3 eine vergleichbare Spannbreite. Im Abstand der Musiksprache von Offenbachs Operetten zu der seines Hoffmann ist sicherlich schon jene Dichotomie der Genres erkennbar, die im 20. Jahrhundert zur Aufspaltung der Musik in die sogenannten U- und E-Bereiche führen sollte. Die dritte Besonderheit der Contes d’Hoffmann besteht darin, dass sie die Literatur-, Musiker- und Künstleroper par excellence sind; kein anderes Werk des aktuellen Musikthaterrepertoires weist eine solche Dichte an Verweisen auf Kunst, Künstler, Dichtung und Fiktion, Musik und Gesang und damit einen so stark autoreferentiellen Charakter auf. Gewiss thematisieren auch Stücke wie Palestrina, Ariadne auf Naxos, die Meistersinger, Cardillac (auch dies nach einem Stoffe Hoffmanns!) oder die verschiedenen Vertonungen des Orpheus-Mythos die Rolle von Kunst und Künstlern, des Singens und der Musik oder stellen Fragen des künstlerischen Schöpfungsprozesses oder künstlerischer Schaffenskrisen ins Zentrum. Bedingt durch die Mehrfachbegabung des historischen E.T.A. Hoffmann als Dichter, Musiker und Zeichner sowie die zentrale Rolle, die Fragen von Kunst und Künstlertum in seinem Œuvre, besonders in den der Oper zugrundeliegenden Erzählungen, spielen, treten diese Themen in den Contes jedoch in besonders hoher Intensität und wechselseitiger Interdependenz auf. Gerade die Wiederherstellung der Rahmen- und Musenhandlung ab den 1970er Jahren hat klargemacht, was aus früheren Versionen in diesem Ausmaß nicht ablesbar war: dass die Berufung zur Kunst und die Bestimmung zum Schreiben zentrales Thema und übergeordnetes „Programm“ der Contes d’Hoffmann sind und die Funktion der drei Mittelakte für das Werkganze erst aus diesem Kontext heraus verstehbar wird. Dies gibt Anlass, nach Libretto und literarischen Quellen von Les Contes d’Hoffmann zu fragen. Libretto und literarische Quellen der Contes d’Hoffmann E.T.A. Hoffmanns Werke waren in Frankreich ab den 1820er Jahren in Übersetzungen verbreitet und übten starken Einfluss auf die französische Phantastik bis hin zum Symbolismus aus. Das französische Autorenduo Jules Barbier und Michel Carré – Verfasser der Libretti unter anderem für Gounods Faust und Roméo et Juliette – gestaltete 1851 aus mehreren Erzählungen des deutschen Dichters ein Sprechstück mit dem Titel Les Contes d’Hoffmann. Dieses dürfte Offenbach gesehen haben, jedenfalls begann 1873, nachdem 1867 der Komponist Hector Salomon ein Contes-Libretto von Barbier und Carré verworfen hatte und 1870 das ebenfalls auf E.T.A. Hoffmann fußende Ballett Coppélia von Delibes erschienen war, Offenbach die Zusammenarbeit mit Jules Barbier (Carré war bereits verstorben) als Librettisten einer Opernfassung der Contes d’Hoffmann. 4 Wie bereits das Sprechstück gliedert sich auch die Oper Les Contes d’Hoffmann in fünf Akte, wobei die beiden äußeren eine Rahmenhandlung bilden, in der der Dichter E.T.A. Hoffmann als Hauptfigur und Erzähler dreier Geschichten – diese bilden die drei Mittelakte – eingeführt wird. Anders als in den literarischen Originalen tritt der Dichter auch in den drei Erzählungen als Protagonist auf. Die Rahmenhandlung ist großteils eine Schöpfung Barbiers und Carrés und nimmt nur eher losen Bezug auf hoffmannsche Vorlagen: sie verarbeitet Motive aus den Erzählungen Don Juan, Klein Zaches, genannt Zinnober sowie – im lautmalerischen „Krick-krack“-Refrain des Klein-Zack-Liedes – Nussknacker und Mäusekönig. Als dramaturgische Klammer zwischen Rahmenhandlung und Mittelakten schufen die Autoren eine Reihe von Figuren, die sich neben Hoffmann in wandelnder Gestalt ebenfalls durch das gesamte Stück ziehen; es sind dies die (in keinem der Ursprungstexte vorkommende) Muse Hoffmanns, die bereits im 1. Akt die Züge von dessen (bei Hoffmann ebenfalls nicht belegtem) Begleiter Nicklausse annimmt, weiters die Figur der vier Bösewichter, die der vier Diener und – nicht zuletzt – die der vier Frauen, der Geliebten Hoffmanns. Nach dem Willen der Autoren sollten diese Rollen auch durchgehend mit denselben Sängerinnen und Sängern besetzt sein. Im ersten Akt (oder Prolog) treten nach wenigen Eröffnungstakten – Offenbach war kein Freund langer Ouvertüren – in Lutters Weinkeller in Berlin die Geister des Alkohols auf, gefolgt von der Muse, die ankündigt, was im Folgenden passieren wird: Im nebenliegenden Opernhaus gastiert die gefeierte Sängerin Stella in Mozarts Don Giovanni und wird versuchen, ihre frühere Liebesverbindung mit Hoffmann zu erneuern. Sie, die Muse, müsse dies zugunsten Hoffmanns verhindern. Zu diesem Zweck nimmt sie die Gestalt des Nicklausse an, in dieser wird sie ihn durch alle Akte begleiten. Als nächste Figur tritt Conseiller Lindorf auf: er ist Hoffmanns Gegenspieler in der Liebe und trachtet diesen in der Gunst Stellas auszustechen. Aus diesem Grund fängt er einen Liebesbrief Stellas an den Dichter ab, der eine Einladung zum Stelldichein samt Schlüssel zu ihrem Zimmer enthält. Im Übrigen baut Lindorf darauf, dass Hoffmann sich durch Alkoholgenuss selbst außer Gefecht setzen werde, und bleibt, um das Weitere zu beobachten: In der Theaterpause stürmen Studenten, Freunde Hoffmanns, den Keller, später kommt auch ein übel gelaunter Hoffmann hinzu, in dem die Nähe Stellas den Schmerz der seinerzeitigen Trennung wachruft. Er singt für die Freunde das Lied von KleinZack, und unter Alkoholeinfluss beschließt man, statt zur Opernaufführung zurückzukehren, Hoffmann die Geschichten seiner drei großen Lieben erzählen zu lassen. Natürlich handelt es sich bei den drei Episoden nur um Versinnbildlichungen seiner Liebe zu Stella; wie real oder fiktiv die Erzählungen innerhalb der Stückwirklichkeit sein sollen, bleibt jedoch unbenannt. Der zweite Akt (oder Olympia-Akt) schildert die Liebe Hoffmanns zur Puppe Olympia und ist weitgehend getreu an Teile der Erzählung Der Sandmann aus den Nachtstücken angelehnt: Der Physiker Spalanzani hat sein Meisterstück 5 vollbracht und die lebensechte Puppe Olympia gebaut. Durch ihre Vorführung erhofft er sich Einnahmen, die den Verlust seines Vermögens beim Bankrott seines Bankiers wettmachen sollen. Lediglich für die Konstruktion von Olympias Augen musste sich Spalanzani an den diabolischen, rätselhaften Brillenhändler Coppélius (eine der Personifikationen des Lindorf aus dem Prolog) wenden. Dieser Coppélius drängt Hoffmann eine Zauberbrille auf, durch die ihm Olympia lebendig erscheint und ihn in heftiger Liebe entbrennen lässt: als sie vor versammelter Gesellschaft singt, bemerkt er nicht den mechanischen Charakter ihres Vortrags und ihrer Bewegungen. Coppélius, dem Spalanzani Olympias Augen mit einem ungedeckten Wechsel abgelöst hat, zerstört aus Rache vor Spalanzanis Gästen die Puppe. Hoffmanns Zauberbrille ist ebenfalls zerbrochen, und unter heftigem Spott der Anwesenden muss er erkennen, dass er eine Automate geliebt hat. Der dritte Akt (oder Antonia-Akt) ist mit gewissen Modifikationen der Erzählung Rat Crespel aus dem ersten Band der Serapionsbrüder nachgebildet. Das Motiv des Arztes, der seine Patienten zu Tode bringt, wurde vermutlich Hoffmanns Novelle Signor Formica entnommen. Das Mädchen Antonia hat von ihrer Mutter, einer gefeierten Sängerin, Stimme und Begabung geerbt, jedoch auch eine körperliche Anlage, die das Singen zur Lebensbedrohung macht. Die Mutter ist dieser heimtückischen Krankheit wie auch der Behandlung durch den diabolischen Docteur Miracle – wieder Lindorf in disguise! – zum Opfer gefallen. Antonias Vater Crespel ist mit dem Mädchen nach München geflohen, um sie von ihrem Geliebten Hoffmann fernzuhalten, der in Unkenntnis ihrer Krankheit mit ihr zu singen pflegte. Hoffmann und Nicklausse haben Antonias Aufenthalt herausgefunden und verschaffen sich heimlich Zutritt zum Haus. Hoffmann erfährt zufällig von Antonias gefährlicher Anlage und nötigt ihr das Versprechen ab, nie mehr zu singen. Miracle stachelt jedoch ihren Ehrgeiz an, und gemeinsam mit der Stimme der verstorbenen Mutter bringt er Antonia zum Singen; sterbend bricht sie zusammen. Der vierte Akt (auch Giulietta- oder Venedig-Akt) lehnt sich an Motive aus Hoffmanns Geschichte vom verlorenen Spiegelbild aus den Abenteuern der Sylversternacht an; als weitere Quelle kommt noch die kurze Erzählung Die Gesellschaft im Keller in Frage. Giuliettas Diener Pitichinaccio ist nach einer Figur aus Signor Formica geformt. Da dieser Akt bei der Uraufführung ganz gestrichen und anschließend nur in der starken Bearbeitung und Kürzung Guirauds, später mit den erwähnten apokryphen Hinzufügungen, verfügbar war, weicht hier die Rekonstruktion von Kaye und Keck besonders stark von allen vorherigen Fassungen ab: Bei einem Venedig-Aufenthalt verliebt sich Hoffmann in die Kurtisane Giulietta und tötet sogar ihren Liebhaber, den schattenlosen Schlemihl (eine Übernahme aus Chamissos Erzählung; in der hoffmannschen Vorlage wird Schlemihl lediglich kurz und ironisch erwähnt). Für ihre Liebe verlangt Giulietta auf Geheiß des dämonischen Dapertutto, einer weiteren Personifikation Lindorfs, von Hoffmann sein Spiegelbild. Als dieser sich hintergangen sieht, tötet er in einem hochdramatischen (erst 1993 wiederaufgefundenen) Finale Giulietta und Pitichinaccio. 6 Im fünften Akt (oder Epilog) kommt es ebenfalls zu starken Abweichungen der rekonstruierten Fassungen von der früheren Aufführungspraxis: Die drei Liebesabenteuer sind erzählt, Hoffmann ist stark betrunken. Inzwischen ist nebenan die Giovanni-Aufführung mit triumphalem Erfolg der Stella zu Ende gegangen. Sie kommt in Lutters Keller, auf der Suche nach Hoffmann. Dieser entsagt jedoch der Liebe zu ihr, wird in seinem Schmerz von der Muse getröstet und, sozusagen im Sinne freudscher Triebsublimierung, seiner eigentlichen Bestimmung, der Kunst, zugeführt: ”Des cendres de ton cœur réchauffe ton génie... On est grand par l'amour et plus grand par les pleurs…” Wie der Großteil der Rahmenhandlung hat auch dieses Finale keine direkte Entsprechung in den literarischen Vorlagen; das Motiv der Apotheose könnte dem Schluss von Hoffmanns Novelle Der goldne Topf entlehnt sein, in dem der Student Anselmus seiner Alltagssorgen enthoben und in ein sagenhaftes Atlantis entrückt wird. Michail Bulgakow gab seinem – durch Hoffmann beeinflussten – Roman Мастер и Маргарита (Der Meister und Margarita, 192840) ein ähnliches Ende. Wie bereits erwähnt, erhält die Gesamthandlung der Contes d’Hoffmann erst durch das Apotheose-Finale rückwirkend ihren eigentlichen Sinn. Dieses war fester Bestandteil von Offenbachs Konzeption und erklang bereits bei einer internen Aufführung einiger Nummern aus dem Hoffmann in Offenbachs Wohnung am 18. Mai 1879; nach dessen Tod und kurz vor der Uraufführung wurde es jedoch aus dem Stück gestrichen und erst knapp hundert Jahre später durch Fritz Oeser wiedereingeführt. Phantastik und Wahnsinn in Les Contes d’Hoffmann Die phantastischen und dämonischen Elemente in den Contes d’Hoffmann sind in hohem Maße bereits durch die literarischen Vorlagen E.T.A. Hoffmanns vorgegeben; Barbier und Carré haben lediglich das heterogene Material dramaturgisch vereinheitlicht – unter anderem durch die Schaffung „durchgehender“ Figuren – und im Übrigen mit einem durchaus hoffmannesken Pandämonium skurriler Charaktere, wie der vier Diener, angereichert. E.T.A. Hoffmann war seinerseits von Schauerromantik und englischer Gothic Novel stark beeinflusst, etwa stellt sein Roman Die Elixiere des Teufels eigentlich eine Bearbeitung des Monk von Matthew Gregory Lewis dar. In der Phantastik vieler Werke Hoffmanns (wie auch der unzähliger Volksmärchen, Mythen usw.) muss zwischen „Kräften des Guten“ wie dem Nussknacker aus Nussknacker und Mäusekönig und bösen, teuflischen Elementen wie dem Mäusekönig oder eben Coppola-Coppelius und Dapertutto unterschieden werden. Analog finden sich auch in der Oper Les Contes d’Hoffmann Repräsentanten beider Prinzipien: für das „übersinnliche Gute“, den Protagonisten Schützende steht die Muse, vergleichbar mit der guten Fee im 7 Klein Zaches; das Teuflische ist durch Hoffmanns Antagonisten LindorfCoppélius-Miracle-Dapertutto verkörpert. Diesem hat Offenbach ein eigenes Auftrittsmotiv zugedacht, ein „barock gestelzte[s] Baßmotiv“ (OESER 1977) mit einem charakteristischen Triller: Oeser hat darauf hingewiesen, dass (fast) „[i]mmer wenn Lindorf und seine Zerrbilder auftreten, [...] das Wörtchen ‚diable’ [fällt]“ (OESER 1977). Es entspricht auch durchaus der hoffmannschen Gedankenwelt, dass Figuren aus einer realen, „bürgerlichen“ Sphäre wie etwa Archivarius Lindhorst aus dem Goldnen Topf (im Guten) oder Coppola aus dem Sandmann (im Bösen) eine zweite, wunderbare Existenz in einer phantastischen Parallelwelt führen und zwischen beiden Seinsformen changieren können. Der Kontrast zwischen (spieß-)bürgerlicher Rolle im Hier und wunderbarem Sein im Dort verstärkt dabei oft die karikierende Zeichnung der ersteren. Insofern ist auch der ältliche, lebensgierige Conseiller Lindorf mit seinen alter egos als Brillenhändler und Augensammler, teuflischer Arzt und Sammler von Spiegelbildern nicht eine reine Erfindung Barbiers und Carrés, sondern der Gedankenwelt E.T.A. Hoffmanns durchaus gut nachempfunden. Zwei Szenen der Oper, in denen das Unheimliche und Wahnhafte eine besondere Rolle spielen, seien zuletzt noch genauer betrachtet: zum einen die Arie der toten, rein automatischen Puppe Olympia, die Hoffmann lebendig erscheint, und zum anderen das Terzett, in dem Antonia von Miracle und der Stimme der Mutter in den Tod getrieben wird. 8 Spalanzani hat Olympia so kunstvoll konstruiert, dass sie vor den Gästen eine Arie zum Besten geben kann; bereits deren dümmlicher Text deutet allerdings auf Olympias Automatenhaftigkeit hin. Um das Mechanische ihres Vortrags auch musikalisch zu charakterisieren, trennt Offenbach die Textwörter der Arie durch Achtelpausen voneinander, ein Effekt, der schon unmittelbar vor Olympias Arie im Stottern von Spalanzanis Diener Cochenille anklingt. Olympias Koloraturen weisen ebenfalls in die Richtung einer unbeseelten, rein „puppenhaften“ Kunst. Gleichzeitig liefert Offenbach (wie auch schon Hoffmann in der literarischen Vorlage) hier eine bissige Satire auf äußerliches, lediglich auf Zurschaustellung technischer Virtuosität abzielendes Primadonnentum. In der Puppe Olympia soll die kalte und oberflächliche Seite von Stellas Charakter versinnbildlicht sein. In den folgenden Akten stehen dann Antonia für das Künstlertum, aber auch den Ehrgeiz, und Giulietta für die Falschheit und Treulosigkeit, die Hoffmann in Stella sieht. Leider besteht hier nicht der Raum, um auf die Frage einer möglichen misogynen Grundtendenz der Contes d’Hoffmann näher einzugehen; es sei lediglich angemerkt, dass in der Oper die Figuren von Nathanaels Verlobter Clara und Spikhers deutscher Ehefrau wegfallen, die in den Original-Erzählungen als charakterstarke Antagonistinnen zu Olimpia und Giulietta auftreten. Mannigfach sind die Deutungen, die die Figur der Olympia im Lauf der Zeit erfahren hat. Sigmund Freud meinte, unter Bezugnahme auf die hoffmannsche Novelle, die belebte Puppe sei eigentlich die Erfüllung eines Kinderwunsches und daher nicht unheimlich, das Unheimliche der Handlung gehe vielmehr vom „Augensammler“ Coppola-Coppelius aus, die von ihm ausgelöste Angst vor dem Verlust der Augen stehe für männliche Kastrationsangst (FREUD 1919). Heutigen Inszenierungen bietet die Olympia-Figur einen breiten Spielraum, etwa wurde sie in einer Wiener Produktion im Sommer 2012 von der Darstellerin Marlis Petersen als Persiflage auf das deutsche Model Heidi Klum gestaltet. Das Terzett zwischen Antonia, Miracle und der Stimme der Mutter stellt eine der musikalisch dichtesten, wenn nicht die dichteste Nummer des Stücks dar und wurde bereits bei der Uraufführung begeistert akklamiert. Es zerfällt in einen langsamen und einen schnellen Teil. Im langsamen ruft die Stimme der verstorbenen Mutter nach Antonia und fordert sie auf, ihr Erbe als gefeierte Sängerin anzutreten: 9 Die punktierten Viertel im - normalerweise selten anzutreffenden - 12/8-Takt wirken dabei extrem langgezogen, in Verbindung mit der Melodieführung vorwiegend in Primen entsteht der Eindruck des Rufens aus weiter Ferne. Typologisch reiht sich dieser Teil in die lange Tradition der sogenannten Ombra- und Orakel-Szenen, wie wir sie etwa aus Glucks Alceste kennen. Ein Beispiel aus einer französischen Oper in größerer zeitlicher Nähe zu Les Contes d’Hoffmann sind die Auftritte des Geists in Ambroise Thomas’ Hamlet (1868), zu dem ebenfalls Barbier und Carré das Libretto geliefert haben. Im schnellen Teil des Terzetts steigert sich Antonia, immer wieder angefeuert von Miracle, in ein ekstatisches, wahnhaftes Singen. Um das unnatürliche, schnappende Luftholen der Kranken, zu Tode Gehetzten musikalisch auszudrücken, setzt Offenbach Achtelpausen mitten in ihre Textwörter bzw. mots phonétiques. Besonders gut erkennbar ist dies im Vergleich zur rhythmischen Führung der Stimmen Miracles und der Mutter, die hier übrigens stets auf einem Ton, dem e, verweilt: 10 Am Ende der Szene bricht Antonia sterbend zusammen. Der österreichische Psychiater Erwin Ringel ließ 1985 in seinem vielbeachteten Vortrag an der Universität Wien zum Thema Der Arzt in der Oper dieses Terzett live vorführen und nannte Miracle als opernhaftes Beispiel für Mediziner, die in vollkommener Inversion ihres Berufs Patienten töten, statt sie zu heilen. Wer damals meinte, dass so etwas nicht mehr vorkomme, wurde durch die wenige Jahre später publik gewordene Geschichte des englischen Arztes Dr. Shipman eines besseren belehrt. Tatsächlich wirkt das Motiv des mörderischen Arztes, verbunden mit Miracles Fähigkeit, die Stimme der verstorbenen Mutter heraufzubeschwören, besonders erschreckend. Gleichzeitig bedeutet es natürlich auch ein gerüttelt Maß an romantischer Ironie, wenn ausgerechnet in einer Oper Musik und Singen als todbringend gezeigt werden. Doch sind es gerade diese – durch die zugrundeliegenden chefs-d’œuvre E.T.A. Hoffmanns vorgezeichneten – ironischen Brechungen und Ambivalenzen, die den besonderen inhaltlichliterarischen Reichtum der Contes d’Hoffmann ausmachen! 11 LITERATUR BRANDSTETTER, Gabriele (Hg.) (1988): Jacques Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen": Konzeption, Rezeption, Dokumentation. Laaber: Laaber. (Thurnauer Schriften zum Musiktheater, 9.) DIDION, Robert (1991): Les Contes d’Hoffmann. In: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hg. Carl Dahlhaus et al., 4. München, Zürich: Piper. 571-81. FREUD, Sigmund (1919): Das Unheimliche. In: Imago 5, 297-324. HEINZELMANN, Heinz (2003): Jacques Offenbach: „Hoffmanns Erzählungen“. Entstehungsgeschichte und derzeitige Quellenlage. In: ÖMZ 58 (7), 15-31. KAYE, Michael / KECK, Jean-Christophe (2009): Vorwort. In: OFFENBACH, Jacques: Les Contes d’Hoffmann (Hoffmanns Erzählungen). Fantastische Oper in fünf Akten. Kritische Ausgabe von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck. Klavierauszug mit Gesang (französisch/deutsch). Berlin: Boosey & Hawkes, Bote & Bock. V-XV. LAMB, Andrew (1992): Les Contes d’Hoffmann. In: The New Grove Dictionary of Opera, hg. Stanley Sadie, 1. London: Macmillan. 923-25. OESER, Fritz (1977): Vorwort. In: OFFENBACH, Jacques: Hoffmanns Erzählungen (Les Contes d'Hoffmann). Quellenkritische Neuausgabe von Fritz Oeser. Klavierauszug. Kassel: Alkor-Edition (AE 333). XI-XXIII. PESCHEL, Enid Rhodes / PESCHEL, Richard E. (1985): Medicine, Music, and Literature. The Figure of Dr. Miracle in Offenbach’s Les contes d’Hoffmann. In: Opera Quarterly 3 (2), 59-71. Copyright 2012 by Mag. Lothar Tschapka Corvinusgasse 3/1 A 1230 Vienna (Wien) AUSTRIA (Österreich) +43 699 11516910 tschapka { a t ] tele2. at 12