Junge Ärzte 18 der niedergelassene arzt 5/2011 Empirische Medizinethik Konzepte, Methoden und Ergebnisse Die Medizinethik als interdisziplinäres Arbeitsgebiet setzt sich mit ethischen Fragestellungen in der medizinischen Praxis, Forschung und Ausbildung ­beziehungsweise Weiterbildung auseinander. ine kompetente ethische Beurteilung komplexer Sachverhalte und neuer Entwicklungen in der Medizin erfordert neben Methoden der philosophischen Analyse ­eine valide empirische Datengrundlage. Denn ohne das notwendige empirische Fachwissen kann keine ethische Beurteilung des untersuchten Teilbereichs der Medizin erfolgen. Dabei geht es nicht um die Ersetzung der normativen Ebene durch eine deskriptive („naturalistischer“ oder Sein-Sollen-Fehlschluss). Empirie kann Normativität nicht ersetzen, aber normatives Argumentieren ist in vielen Problemfeldern der Medizinethik auf detaillierte und methodisch hochwertige empirische Daten angewiesen. Moralisch ­relevante Fakten Aufgabe der empirischen Medizinethik ist die Erforschung der jeweils moralisch relevanten Fakten. Die insbesondere von Vertretern der Sozialwissenschaften ­erhobenen Daten zur Handlungspraxis in der Medizin reichen für die Bearbeitung medizinethischer Fragestellung häufig ­ nicht aus. Dies liegt zum einen daran, dass ­ethische Fragestellungen meist nicht im Fokus des Forschungsinteresses der empirisch forschenden Fachdisziplinen stehen. Zum anderen findet die für die Konzeption und Durchführung empirischer Forschung zu medizinethischen Fragestellungen notwendige gleichberechtigte, inter­ disziplinäre Kooperation zwischen Vertretern aus normativen und empirischen Disziplinen nur selten statt. Der Band „Empirische Medizinethik. Konzepte, Methoden und Ergebnisse“ © tom / Fotolia E (Hrsg. Jochen Vollmann, Jan Schildmann) versammelt nun erstmals im deutschen Sprachraum konzeptionelle und methodische Überlegungen zur Verbindung philosophisch-ethischer und empirischer Methoden in der Medizinethik mit Forschungsergebnissen empirischer Untersuchungen. Konzepte und Methoden In den vergangen Jahren hat der Anteil der empirischen Studien in medizinethischen Zeitschriften international zugenommen. Diese Entwicklung hat verschiedene Gründe: 1. Empirische Studien behandeln überwiegend ethisch relevante Fragestellungen, die für Patienten, Angehörige und die ­Gesundheitsberufe von hoher praktischer Relevanz sind. Sie folgen damit einem professionellen wie auch gesamtgesellschaftlichen Wissensbedarf. 2. Es liegt zu zahlreichen medizin­ ethischen Themen, wie zum Beispiel Arzt-Patient-Beziehung, Aufklärung und Einwilligung, Fortpflanzungsmedizin, Pati- entenverfügungen und Sterbehilfe zwar ein breites ethisch-theoretisches Schriftgut vor. Wir wissen aber bei diesen praxisrelevanten Themen wenig über die Werthaltungen und die Handlungspraxis von Ärzten, Patienten und anderen Betroffenen. 3. Wichtige ethische Argumentationsstrategien, wie zum Beispiel das Argument der schiefen Ebene („slippery-slope“) beruhen auf deskriptiven Annahmen, die häufig empirisch nicht belegt sind. 4. Neue Instrumente der Klinischen Ethik, wie zum Beispiel klinische Ethik­ beratung, müssen in ihrer Wirksamkeit in der Praxis geprüft und evaluiert w ­ erden. Hierzu liegen bisher nur wenige Forschungsergebnisse vor. 5. Die Etablierung des neuen Faches ­Medizinethik, die interdisziplinäre Besetzung der Institute zum Beispiel mit Ärzten, Philosophen, Psychologen und Sozialwissenschaftlern sowie die wissenschaftliche Doppelqualifikation vieler Medizinethiker ermöglichen nunmehr die Durchführung von empirischer Forschung innerhalb der Medizinethik. Die einleitenden Grundlagenkapitel des Sammelbandes geben einen Junge Ärzte der niedergelassene arzt 5/2011 Überblick über Begriffe und Konzepte der empirischen Medizinethik und führen in empirische Forschungsmethoden ein. Ein Werkstattbericht informiert praxisnah über die Methode der systematischen Literaturrecherche in internationalen Fachdatenbanken. Schließlich wird am klinischen Beispiel der Handlungspraxis am Lebensende die „Mixedmethod-Forschungsmethode“ vorgestellt und kritisch reflektiert. In den folgenden Kapiteln wird über Ergebnisse von empirischen Studien zu den Themenfeldern Patientenselbstbestimmung, Fortpflanzungsmedizin, Patientenverfügungen und klinische Ethikberatung berichtet. Diese empirischen Forschungsergebnisse wurden mehrheitlich bereits als Originalarbeit in verschiedenen, zum Teil englischsprachigen Fachzeitschriften der Medizinethik, Medizinischen Psychologie, Psychiatrie, Neurologie, Fortpflanzungsmedizin und Palliativmedizin publiziert. Mit dem nun veröffentlichten Sammelband werden die verstreut veröffentlichten Artikel dem Leser gesammelt und deutschsprachig zur Verfügung gestellt. Beispiel: Fortpflanzungsmedizin Die Fortpflanzungsmedizin ist nicht z­ uletzt im Kontext der aktuellen Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik (PID) Gegenstand kontroverser wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskussionen. Empirische Untersuchungen zu ethisch relevanten Fragestellungen im Kontext der modernen Fortpflanzungsmedizin und insbesondere der Anwendung der In-vitroFertilisation (IVF) bilden einen Schwerpunkt des Sammelbandes. Die Unter­suchungen belegen, dass die befürchteten negativen Auswirkungen auf die durch künstliche Befruchtung ­gezeugten Kinder empirisch nicht bestätigt werden können. Vielmehr zeigte unsere weltweit erste ­medizinethische Befragung von jungen E ­ rwachsenen, die durch IVF gezeugt wurden, dass sie die künstliche Befruchtung nicht nur unproblematisch in ihr Leben und ihr Selbstbild integrierten, sondern diese als Zeichen des starken und liebevollen Kinderwunsches ihrer Eltern positiv interpretierten. Eine weitere Untersuchung zum Themengebiet der IVF untersuchte erstmals aus der Perspektive von betroffenen Paaren, Experten und der Allgemeinbevölkerung die Frage, wer für die Kosten der Fortpflanzungsmedizin aufkommen soll. Beispiel: Patientenverfügung Ethische und medizinische Aspekte der Entscheidungsfindung am Lebens­ende und insbesondere der Stellenwert von Patienten­ verfügungen stehen nicht zuletzt vor dem Hintergrund der gesetzlichen Ä ­ nderungen im Betreuungsrecht im Mittel­punkt des aktuellen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Interesses. Wichtige Erkenntnisse erbrachte hier die Befragung von Patienten, die an einer Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) litten. Im Gegensatz zur medizin­ ethischen Konzeption von gemeinsamer Behandlungsplanung zwischen Arzt und Patient sowie von Patientenverfügungen gaben die befragten Patienten an, dass sie ihren ­behandelnden Neurologen gerade nicht für den geeigneten Gesprächspartner für diese Fragen hielten. Aus der Sicht der Patienten seien die Ärzte durch den Hippokratischen Eid zur Lebenserhaltung verpflichtet und dürften daher keine lebensverlängernden Maßnahmen unterlassen. Dieses ist s­ owohl ethisch wie rechtlich eine Fehleinschätzung, wie in Deutschland das sogenannte Patientenverfügungsgesetz und die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes verdeutlichen. Weiterhin berichten die an ALS erkrankten Patienten, wie sie mit ihren Ärzten die Unterlassung lebensverlängernder medizinischer Maßnahmen in konkreten Situationen regelrecht aushandeln und dabei Kompromisse entgegen ihrer eigenen Wertvorstellungen eingehen müssten. Diese empirischen Forschungs­ ergebnisse sind für die erfolgreiche Umsetzung von neuen rechtlichen Regelungen, hier am Beispiel von Patientenverfügungen, von entscheidender Bedeutung. Klinische Ethikberatung Klinische Ethikberatung und klinische Ethikkomitees als medizinethische Interventionen in der klinischen Praxis wurden in den letzten Jahren in vielen Krankenhäusern und anderen Einrichtungen des ­Gesundheitswesens implementiert. Die in dem Sammelband abgedruckte repräsentative Befragung von Ärztlichen Direktoren und Pflegedirektoren aller Titelaufnahme Jochen Vollmann, Jan Schildmann (Hrsg.): Empirische Medizinethik. Konzepte, ­Methoden und Ergebnisse. ­(Ethik in der Praxis-Studien, Band 34), LIT Verlag, ISBN 978-3-643-10763-3, 29,90 Euro. deutschen Universitätskliniken belegt relevante unterschiedliche Werthaltungen zu Klinischen Ethikkomitees und klinischer Ethikberatung zwischen den beiden Berufs­gruppen. Die Untersuchung informiert weiterhin über fehlende Fachkenntnisse, Missverständnisse und inhaltliche Widersprüche, die die zeitlich verzögerte Implementierung von Ethik­ beratungsstrukturen in deutschen Universitätskliniken erklären können. Zielgruppe Der Sammelband umfasst, wie vorstehend skizziert, ein breites Spektrum an konzeptionellen, methodischen und auch klinischethischen Fragestellungen. Das Buch richtet sich somit zum einen an Wissenschafter unterschiedlicher Disziplinen, die in der Medizinethik arbeiten und normative und empirische Methoden verbinden. Zum anderen bieten insbesondere die empirischen Forschungsergebnisse aus verschiedenen medizinischen Fachrichtungen Anstöße für die klinisch-ethische Reflexion von Ärztinnen und Ärzten, klinischen Psychologinnen und Psychologen, Pflegenden sowie weiteren Gesundheitsprofessionen, die täglich mit moralischen Herausforderungen im Arbeitskontext konfrontiert werden. Über die Herausgeber Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann ist Leiter des Instituts für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum. Dr. med. Jan Schildmann, M.A., ist ­wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum und leitet dort die NRW-Nachwuchsforschergruppe „Medizinethik am Lebensende: Norm und Empirie“. 21