Das Innenleben der Musik - Szondi

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Das Innenleben der Musik
von
Mathes Seidl
©Mathes Seidl 2011
Inhalt
Vorwort
3
Im musikalischen Raum
5
- Ursprüngliche Lebendigkeit, Urmenschliches, letzte Tiefen
des Lebendigen: Georg Groddeck, Wilhelm Reich
- Energetik: Ernst Kurth
- Exkurs: Focusing - Vom Körpergefühl zur Bedeutung
- Hören, In-Resonanz-Sein
- Musikwerdung als personaler Prozess
- Persönliche Musik
Leopold Szondis Schicksalsanalyse
29
- Die acht elementaren Kräfte der Schicksalspsychologie
von Leopold Szondi
- Anthropologische Faktoren, Lebenswelt und Musik
o Geborgenheit
o Veränderung
o Liebe
o Tod
o Ethos
o Moral
o Geist
o Materie
Wo sind wir wenn wir in der Musik sind?
112
Heilsame Wirkungen
114
Literaturverzeichnis
118
Dank/Biographische Notiz
119
Vorwort
Dieses Buch stellt den Versuch dar, das Musikalische nicht,
wie meistens der Fall, von den objektiven Strukturen ausgehend, sondern vom persönlich-individuellen Erleben beziehungsweise der subjektiven Wirklichkeit herkommend zu bestimmen.
An den Anfang stelle ich die Frage, wo wir in der Welt sind,
wenn wir in der Musik sind. Um darauf zu antworten, ziehe
ich Konzepte heran, die einerseits meiner persönlichen
inneren Erfahrung entsprechen, die andrerseits aber auch
allgemein-verbindlichere Zusammenhänge von leiblicher
Resonanzfähigkeit des Menschen auf die ihn umgebende Welt
und musikalischen Strukturen aufzeigen. Auf diese Weise
erscheint Musik schliesslich als Erweiterung des Menschlichen.
Energetik ist das zentrale und verbindende Stichwort für das
vorliegende Buch: Der Musiktheoretiker Ernst Kurth hat in
den dreissiger Jahren eine musikalische Energetik entwickelt,
die auf der menschlichen Fähigkeit zu leiblich- resonanzhaftem Hören und Erleben beruht. In dieser Fähigkeit sah Kurth
die Grundlage der Musik. Die musikalischen Strukturen sind
der Niederschlag der Wirksamkeit psychischer Funktionen,
die aufgrund leiblicher Resonanz ins Spiel kommen.
Mit einem hochgradig differenzierten anthropologisch-energetischen System hat der ungarisch-schweizerische Psychologe
Leopold Szondi versucht, diejenigen elementaren psychischen
Funktionen zu benennen, die in unserem Erleben den
Zusammenhang von Mensch und Welt stiften. Die Zusammenschau musikalischer Strukturen mit den anthropologischen
Strukturen Szondis ermöglicht schliesslich sowohl eine
©Mathes Seidl 2011
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vorwiegend individuelle als auch allgemeinere Verbindung
von Mensch und Musik.
So wird sichtbar, welche unterschiedlichen Welterfahrungen
für uns durch Musik (Musizieren und Hören), möglich werden.
Ja, es lassen sich sogar Überlegungen anstellen, welche
bestimmte Musik auf unsere individuelle Befindlichkeit
heilsamen Einfluss ausüben kann.
Mathes Seidl, Zürich, August 2011
©Mathes Seidl 2011
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Im musikalischen Raum
„Clara Haskil hatte Mühe sich zu erheben. Wie mit letzter Kraft
hielt sie sich am Rand des Flügels fest, senkte leicht den Kopf,
lächelte. Sie schien von weither zu kommen, aus einer anderen
Welt. In dieser musste sie sich erst wieder zurechtfinden. Wie wir
auch.“1
Schon immer haben Musik und vor allem musizierende Menschen eine Wirkung auf mich ausgeübt, die über die äussere
Abfolge der erklingenden und wieder verklingenden Töne wie
auch die sonstigen greifbaren Dingen der Musik weit hinausgeht; vielmehr erscheinen die materiellen Vorgänge von dieser
Wirkung überstrahlt, durchstrahlt, umhüllt und in einen sphärischen Raum getaucht, aus dem die musikalischen Dinge erst
hervortreten.
Deutlichere Konturen erhält dieser Eindruck, wenn ich an
meinen Vater zurückdenke: Er war Geiger von Beruf und
wenn er übte, war es mir, als ginge es ihm um diesen merkwürdigen Raum, um einen persönlichen Eintritt oder wenigstens Zugang. In diesem Raum schien er sich irgendwie verströmen und auflösen, ja verwandeln zu können. Er schien
dann ganz bei sich, weit weg von meiner Welt und doch in
einem viel grösseren Sinn gegenwärtig. Sein Geigenspiel
schien aus einer Sehnsucht nach diesem inneren Ort zu
kommen, und die Bewegungen des Geigenspiels schienen mit
der Erfüllung dieser Sehnsucht zu tun zu haben.
Als ich dann selber zum Musiker wurde, ging es mir ähnlich.
Auch ich erlebte und erlebe musizierend einen Innenraum, in
1
Rakusa, Ilma: Mehr Meer. Erinnerungspassagen. Graz-Wien 2009, S. 181
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5
den ich mich einlassen kann und aus dem ich gleichzeitig
musizierend-gestaltend heraustreten kann. Und zwar als ein
Anderer, Verwandelter. (Das gilt allerdings nur für den Fall,
dass mir das Öffnen des Raums gelingt. Gelingt es nicht,
verzweifle ich meistens - und zwar nicht an der Musik oder an
meinem Instrument, sondern an mir selbst. Offenbar geht es
bei dem Verschwinden und persönlichen Auftauchen um einen
sehr persönlichen Prozess.)
Diese geschilderten Eindrücke und Erfahrungen beschäftigen
beide Seiten von mir, nämlich den bratschespielenden Musiker
und Musikwissenschaftler als auch den Psychologen und
Psychotherapeuten, nachhaltig wie kaum etwas anderes in
meinem Leben.
Worum geht es hier? Wonach kann ich überhaupt fragen, um
diesen Beobachtungen auf die Spur zu kommen?
Ich versuche einen Anfang zu machen mit folgender Frage angelehnt an den Philosophen Peter Sloterdijk2: „In welcher
Welt oder welchen Welten bin ich oder bewege ich mich,
wenn ich in der Musik bin, wenn ich Musik mache oder Musik
höre?“
In dem vorliegenden Buch will ich versuchen, dieser Frage
mit den Mitteln der Psychologie nachzugehen. Ich habe vor,
die erwähnten Erfahrungen vor Augen, nach Theorien,
Konzepten, Modellen Ausschau zu halten, die mit diesen
Erfahrungen zu tun haben.
2
„Wo sind wir, wenn wir Musik hören?“ in: Sloterdijk, Peter: Weltfremdheit. Frankfurt/M.
1993, S. 301 ff.
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Der springende Punkt in allem ist das Erleben eines inneren
musikalischen Raumes, in den ich eintauche und aus dem ich
gleichzeitig verändert wieder auftauche.
Was verändert sich? Was ist da, was vorher nicht da war? Ich
sage es vorläufig so: Was sich verändert, ist das Wie meines
Musizierens. Aus einem Irgendwie-Tun ist ein musikalisches
Tun geworden. Was heisst das?
Mit dem Eintreten in jenen inneren Raum verlieren alle technischen Spiel-Bewegungen ihren äusseren mechanischen Charakter. Sie verwandeln sich in musikalische, „musikalisierte“
lebendige Bewegungen, die mit mir selbst zu tun haben.
Darüberhinaus sind es Bewegungen, die sich in ihrem
Ereignen erschöpfen und weder eine Funktion noch eine über
ihr eigenes Bewegtsein hinausgehende Bedeutung haben.
Diesen inneren Raum, der sich natürlicherweise im musikalischen Ausdruckswillen manifestiert, nenne ich den musikalischen Raum.
Wie erlebe ich mich selbst in diesem Raum?
In ihm fühle ich mich einerseits nicht ganz oder noch nicht
ganz in der alltäglichen Welt, aber auch nicht irgendwo ausserhalb; vielmehr bin ich mittendrin - ja ganz besonders
mittendrin...
Vieles aus der alltäglich-greifbaren Welt ist da: Ich kann
hören, mich spüren, auf Eindrücke reagieren und Resonanzen
empfinden, mich von ihnen bewegen lassen und weitere
erzeugen... - aber das alles ist in eine Art aufgelösten, fast
taumelnden Zustand gehoben, den ich am ehesten beim
Aufwachen erlebe, wenn ich „in die Welt hineinfliesse“.
©Mathes Seidl 2011
7
Dieser persönliche Eindruck passt übrigens gut zu jener
Gefühlslage, die Romain Rolland in einem Brief an Freud3
beschreibt, und die von Freud anschliessend als „ozeanisches
Gefühl“4 bezeichnet wird. Freuds Auffassung, dass es sich
dabei um ein Gefühl für die „Zusammengehörigkeit mit dem
Ganzen“ handelt, ist für mich stimmig - allerdings im
positiven und nicht im kritischen Sinn Freuds, der diese Art
Zusammengehörigkeitsgefühl als unreif und „infantil“ ansah.
Unter dem Eindruck dieser ozeanischen Qualität hatte ich
zunächst daran gedacht, die musikalische Welt metaphysisch
zu bestimmen: In meiner persönlichen Theorie, die stark
beeinflusst war von den Visionen der Hildegard von Bingen
und den Spekulationen um die morphogenetischen Felder von
Rupert Sheldrake5, fällt den Engeln, nachdem sie den
göttlichen Urgrund geschaut und den göttlichen Herzensimpuls in sich aufgenommen haben, die Aufgabe zu, die
aufgenommene energetische Substanz auf die Menschen zu
übertragen, um sich in den Akten musikalischer Ausübung und
den Formen sinnlicher Gestaltungen zu konkretisieren. Aber
mit fortschreitender Ausarbeitung und Umsetzung der
„englischen Grundlegung“ verlor ich mich immer mehr im
Dickicht herangezogener Angeologien - und da ich mich nicht
zu sehr auf Spekulationen ausserhalb einer am Erleben
orientierten Psychologie einlassen wollte, gab ich diesen
Versuch zuguterletzt auf.
(Übrigens bildet diese vom metaphysischen Ursprung zur
konkreten Praxis verlaufende Prozessfigur den Angelpunkt
einer bedeutsamen mittelalterlichen Theorie, die eine Dreigliedrigkeit der Musik in Form von musica mundana
(kosmische Musik) - musica humana (Musik im Menschen) 3
Brief vom 5. Dezember 1927
Freud, Sigmund (1930): Das Unbehagen in der Kultur. (Einleitung). Frankfurt/M. 2001
5
Fox, Matthew/Sheldrake, Rupert: Engel-Die kosmische Intelligenz. München 1998
4
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8
musica instrumentalis (manifeste Musik beziehungsweise
Praxis) entwirft.6
Nach diesem Ausflug versuchte ich mich anders zu orientieren, und begann, mich auf psychologische Äusserungen,
Konzepte und Theorien zu besinnen, in denen nach meinem
Gefühl etwas von dem erfahrenen musikalischen Raum
enthalten sein könnte.
- Ursprüngliche Lebendigkeit, Urmenschliches, letzte Tiefen des Lebendigen: Georg Groddeck, Wilhelm Reich
Kann man sich heute vorstellen, dass ein Begriff, der für die
doch sehr ernsthafte Psychoanalyse so zentral werden sollte
wie der Begriff vom „Es“, auf einen viel belächelten Aussenseiter zurückgeht? Und noch dazu auf einen, der von vielen als
„Wilder“ und „Spinner“ bezeichnet wurde: Nämlich auf den
Arzt und frühen Analytiker Georg Groddeck (1866-1934).7
Was hätte es, male ich mir aus, für eine Musikpsychologie
bedeuten können, wenn sie sich von diesem „wilden Wissenschafter“hätte inspirieren lassen. Über Musik sagt Groddeck
folgendes:
„Alle Musik quillt aus dem Urmenschlichen; wenn es anders
wäre, liesse sich ihre Wirkung auf Säuglinge und ihre
Ausübung durch Idioten schwer erklären“.8
6
Vgl. z.B. Hugo v. St. Viktor (1097-1141)
Das „Es“ bildet in Freuds Strukturmodell vom Seelischen (1923) den Unterbau: „Es-IchÜberich“. Siehe dazu Groddeck, G.: Das Buch vom Es. Psychoanalytische Schriften an eine
Freundin. Frankfurt/M. 2004
8
Groddeck, Georg: Psychoanalytische Schriften zur Literatur und Kunst. Frankfurt/M. 1978,
S. 247
7
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9
Groddeck spricht im Zusammenhang mit Musik nicht von
Trieben, Archetypen9 oder anderen Konstrukten und „Zusätzlichkeiten“; vielmehr beschwört er eine Sphäre des
„Urmenschlichen“ und eine unmittelbare Wirkung auf den
Menschen.
Einen ähnlich lebendigen und unmittelbaren Ausspruch zur
Musik gibt es vom Wiener Psychiater und energetisch
denkenden Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897-1957):
„Der musikalische Ausdruck hängt mit letzten Tiefen des
Lebendigen zusammen“... wobei dieses Lebendige „lange
funktioniert, ehe es eine Sprache und Wortbildung gibt.“10
Auch hier spricht also jemand in einem Atemzug vom
Urgrund der Musik und des Menschlichen.
Im Laufe meines Musikwissenschaftsstudiums an der
Hamburger Universität, begann ich mich für die Aspekte der
Systematischen Musikwissenschaft zu interessieren: Vor allem
für Musikphilosophie, und - psychologie. Nur in Hamburg gab
es seinerzeit einen Lehrstuhl für dieses Stiefkind der ansonsten
vorwiegend historisch ausgerichteten Musikwissenschaft. Den
Lehrstuhl hatte der tschechische Musikwissenschaftler und
Strukturalist Vladimir Karbusicky (1925-2002) inne, ein
Schüler des Prager Strukturalisten Jan Mukarovsky
(1891-1975). Ich erinnere mich: Wenn in einem der philosophischen
Haupt-Seminare
die
„Was-ist-Musik-Frage“
auftauchte, pflegte Karbusicky zu sagen: „Irgendetwas
Energetisches“. Nun war in der Art und Weise wie er das
sagte, sofort das grosse persönliche Anliegen Karbusickys
herauszuspüren, das ihn mit dem noch so ungenügend
erforschten Gebiet einer musikalischen Energetik verband.
9
C. G. Jung meinte in der Musik das Kreisen der Archetypen zu vernehmen.
Reich, Wilhelm (1933): Charakteranalyse. Köln 1989, S. 474
10
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10
Dem entsprach auch Karbusickys Versuch, uns Studenten so
nachhaltig wie - fast immer - vergeblich für den mit der
musikalischen Energetik identifizierten Musikwissenschaftler
Ernst Kurth (1886-1946)11 zu interessieren. Auch ich nahm die
Anregung nicht an, - ich brachte seinerzeit die intellektuelle
Anstrengung und Ausdauer nicht auf, um mich mit Kurth
ernsthaft zu befassen. Heute ist Kurth unter den Musikwissenschaftern leider weitgehend aus der Mode gekommen.
Mein persönliches Interesse an Kurth entzündete sich erst
einige Zeit nach meinem Musikwissenschaftstudium, nämlich
im Zusammenhang mit meiner psychologisch-psychotherapeutischen Ausbildung. Nach anfänglicher analytischer Ausrichtung - ich hatte mich nach einem akademischen
Psychologiestudium an der Universität Zürich am dortigen
Szondi-Institut, einem Institut für Allgemeine Tiefenpsychologie (Freudsche, Jungsche Richtung und die schicksalsanalytische nach Leopold Szondi) zum Psychotherapeuten
ausbilden lassen - begann ich mich für die Humanistische
Psychologie zu interessieren und hier vor allem für die
therapeutischen und erkenntnistheoretischen Möglichkeiten,
die von der Auffassung des menschlichen Körpers als einem
lebendig-organismischen und resonanzfähigen Körper
ausgehen.12
Im Gegensatz zur analytisch- therapeutischen Arbeitsweise,
bei der der Analytiker das fehlende Wissen (die Löcher im
Bewussten) durch seine kompetenten Deutungen ersetzt, ist
die Erfahrung möglich, aus eigenen Kräften zu persönlichem
Wissen um sich selbst zu gelangen.
11
Ernst Kurth hat seine wissenschaftliche und praktische Ausbildung als Dirigent bei Guido
Adler beziehungsweise Gustav Mahler absolviert und später an der Universität in Bern gelebt
und gewirkt.
12
Ich beziehe mich hier auf die Psychologie des Focusing, die vom Philosophen und
Psychotherapeuten Eugene T. Gendlin, dem Nachfolger von Carl Rogers, formuliert wurde.
Näheres siehe S. 15.
©Mathes Seidl 2011
11
Über diesen Umweg nun kam ich auf Ernst Kurth zurück.
Dieser hat seinerseits auf die Resonanzwirkung und Spürbarkeit der musikalischen Energetik hingewiesen und damit wie später Sergiu Celibidache - das musikalische Erleben zum
grundlegenden Erkenntnisvorgang gemacht.
- Energetik: Ernst Kurth
Ernst Kurth (1886-1946)
Ernst Kurth war einer der prominentesten Musikwissenschaftler seiner Zeit - ihm verdanken wir eine konsequente
energetische Grundlegung des Musikalischen.
Kurth sah Musik als Resultat seelischer Verarbeitung
beziehungsweise energetischer innerer und nach aussen
drängender Bewegungen, die auf der Fähigkeit des Menschen
zu hörendem, resonanzhaftem Erleben beruhen.
Die energetische Auffassung, die besagt, dass alles Lebendige
von subtilen Bewegungen durchdrungen ist, zeigt einen Weg
auf, Musik in einen inneren Zusammenhang mit der
lebendigen Welt zu stellen. Es geht dabei - andersherum
©Mathes Seidl 2011
12
ausgedrückt - um die Befreiung von der Auffassung, Musik sei
eine vom gesamten Lebendigen isolierte oder abzusondernde
Kunsterscheinung.13
Der entscheidende Gedanke Kurths beruht, wie angedeutet,
auf der Annahme einer universellen, selbstverständlich auch
den Menschen einschliessenden „Bewegungsenergie“, deren
Formen er „lebendige Kräfte“, „Urkräfte“, „Urvorgänge“,
„Grundregungen“ und „schöpferische Kräfte“ genannt hat.14
Dieser einheitliche Bewegungsstrom „Bewegungsenergie“
manifestiert sich bei Kurth zunächst in primären Erscheinungsformen wie Linien, Wellen, Strömungen, Stauungen,
Hauptströmungen, Nebenströmungen. Aus diesen primären
Formen gehen sekundär weitere Bewegungen hervor: Eine
Melodie ist beispielsweise durchzogen von einem Kraftstrom,
aus dem sich die Töne der Melodie sekundär herauslösen.
Musik in diesem Sinn ist - wie nebenbei das Ozeanische - ein
einziger Bewegungsstrom, in dem viele Unterströmungen das
Ganze organisch durchströmen.
Auf der Basis dieses Kräftespiels formuliert Kurth eine
seinerzeit aufsehenerregende energetisch-psychologische
Musiktheorie, die in dem zentralem Motto: „Musik ist
Ausbruch aus dem Inneren“15 gipfelt.
Mit diesem „Inneren“ meint Kurth die spürbare „innere“
Dynamik seelischer Bewegungen, die Resultat von Erlebens-
13
In der Musikgeschichte spielt die Idee von der absoluten Musik, die das Ideal einer Musik
hochhält, die absolut frei ist von nicht-musikalischen Einflüssen und Vorgaben - frei auch von
solchen der Natur und des Menschen - eine nachhaltige Rolle. In ihrem Namen wurden zum
Beispiel musik-anthropologische Fragestellung innerhalb der Musikwissenschaft lange Zeiten
ausgeklammert.
14
Kurth, Ernst: Bruckner Bd 1. Berlin 1925, S. 1
15
Kurth, Ernst: Musikpsychologie. Berlin 1931, S. 3. Leider ist das Werk weitgehend in
Vergessenheit geraten.
©Mathes Seidl 2011
13
vorgängen (Resonanzen) sind16. Diese Resonanzen werden
ihrerseits ausgelöst durch die Interaktion des Menschen mit
der ihn umgebenden Welt. Alle musikalischen Erscheinungen
sind nichts anderes als „Abkömmlinge“ beziehungsweise
„Ausbruchsbewegungen“ - inneren Erlebens. Zum Ausbruch
kommen die Bewegungen, weil sich die inneren Kräfte aus
gewaltiger Aufstauung und Anspannung explosionsartig befreien und sich in Form von klingenden Tönen entladen.
In der nicht immer leicht verständlichen Ausdrucksweise
Kurths liest sich der entsprechende Gedanke so:
„Der künstlerische Schaffensvorgang, dessen Vollkraft nur
zersprengt in die Ausdrucksform hineinklingt, ist darum stets
auch nur aus einem Zurückfühlen ins Unbewusste zu erfassen,
aus einer Resonanzfähigkeit für die lebendigen Kräfte, die sich
ans Licht des Kunstwerks verloren haben.“17 Und: „Alles
Erklingende an der Musik ist nur emporgeschleuderte
Ausstrahlung weitaus mächtigerer Urvorgänge im Unbewussten “18
Abgesehen von der Postulierung derartiger, durch Erleben
zustande gekommener psychischer Kräfte macht Kurth eine
brisante Entdeckung, nämlich, dass wir mit den „unbewussten“ Kräfte durch Zurückspüren in Kontakt kommen können.
Inwiefern ist dieser Hinweis brisant?
Offensichtlich gibt es Dinge, die wir (noch) nicht wissen, aber
doch spüren. Auf diese Weise differenziert Kurth die
16
Übrigens entstehen diese Gedanken in Anlehnung an den Schweizer Philosophen Paul
Häberlin (1878-1960).
17
Kurth, Ernst: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“. Bern 1920; 3.
Aufl., Berlin 1922, S. 9
18
ebda S. 1
©Mathes Seidl 2011
14
Bedeutung des „Unbewussten“: Das Unbewusste mag erkenntnismässig „unbewusst“ sein, - es kann aber körperlich
spürbar und damit erlebensfähig sein.
Exkurs: Focusing - Vom Körpergefühl zur Bedeutung
Die Psychologie - speziell die vom Philosophen und Psychotherapeuten Eugene T. Gendlin19 (*1926) begründete FocusingPsychologie - hat im Zurückspüren bzw. Fokussieren auf ein
spezifisches Körpergefühl eine wichtige, zu umfassenden Bedeutungen führende, Erkenntnisquelle entdeckt: Gendlin hat erforscht ,
dass körperlich-leibliches Erleben nicht irgendetwas Chaotisches,
Diffuses und Unverbindliches ist, sondern etwas Umfassendes, das
über die logischen Formen des Gewussten und Gesagten hinaus geht.
Der lebendige, erlebensfähige, organismische Körper kann bei
entsprechender spürend-gerichteter Aufmerksamkeit (Zurückspüren)
auf den von innen gefühlten Köper eine spezifische Art von
Befindlichkeit ausbilden, eine Art Resonanzfeld, das mehr Wissen
„enthält“ als das schon Bekannte einer bestimmten Situation. In der
Focusing-Psychologie wird das beschriebene situative Resonanzfeld
„Felt sense“ (= gespürte Bedeutung, gefühlter Sinn) genannt. Der
Körper ist „situational“, d. h. er „hat die Situation“ heisst es im
Focusing. Die in ihm eingefaltete, noch nicht gewusste Vielheit der
Situation kann sich durch eine bestimmte Art des Fokussierens
entfalten.
Ob Ernst Kurths Zurückspüren zu den lebendigen Kräften identisch ist
mit dem Erspüren des Felt sense im Sinne Gendlins ist kritisch zu
überlegen. Während bei Gendlin der Felt sense eine Art diffuser
sechster Sinn darstellt, fokussiert Kurth mehr auf die kraftvollen
Entladungsbewegungen, die im manifesten Ton aufgefangen werden.
Gendlin würde die schöpferischen Urbewegungen wegen ihrer
bestimmten Bahnung und ihrem Ziel, der erklingende Ton, vielleicht
schon für eine Symbolisierung eines noch ursprünglicheren
19
Gendlin, Eugene T. : Focusing. Reinbek 1998
©Mathes Seidl 2011
15
resonanzhaften In-der-Welt-Seins halten. Andrerseits ist die
Vorstellung vom Ton als einem Symbol nicht plausibel, da ein Ton auf
nichts Bedeutsames verweist. Ich vermute folgendes: Grundlage der
Kurthschen Energetik sind jene inneren, noch nicht erklingenden
Tonbahnungen, mit denen wir durch hörendes Zurückspüren in
Kontakt kommen. Wir werden dabei „ganz Ohr“ und kommen
gleichzeitig unmittelbar mit den sich in/mit uns organisierenden und
sich von selbst fortsetzenden Ton-Bewegungen in Kontakt. Die
Unmittelbarkeit bedeutet, dass es sich nicht um Symbolisierungen
handelt sondern um Einschwingen in die sich bewegend-selbstgestaltende Welt: „Musik meint nichts. Aufgrund ihrer Intentionslosigkeit eröffnen ihre Töne betont eine Welt als Welt.“ So sagt es der
Wiener Philosoph Günther Pöltner.20 Beim Zurückspüren Gendlins
eröffnen wir ein Beziehungsfeld zwischen dem vagen,
undifferenzierten primär-anwesenden Körper, der eine Situation
verkörpert (eine Situation hat), und der Entfaltung dieser
Befindlichkeit in Form einer zu Bedeutungen führenden Erfassung
durch ein Hinspüren, bei dem unser Ich schon ein bisschen „von
nebenan“ zuschaut .
Kurths „Zurückfühlen ins Unbewusste“, „Urvorgänge im
Unbewussten“, die Unterscheidung von äusseren Formen und
inneren Wirk-Kräften - das sind in meinen Augen Elemente
einer Tiefenpsychologie der Musik, deren Tiefe nicht durch
„seelische Tiefe“ sondern durch körperliche Erspürbarkeit und
eine Resonanzfähigkeit für subtile „lebendige Kräfte“
bestimmt wird.
Wenn Wilhelm Reich von lebendigen Kräften als „wortlose
Ausdrucksbewegungen aus der Tiefe der Lebensfunktion“
spricht, sagt er nichts anderes als Ernst Kurth.21 Auch im
20
Pöltner, Günther: Sprache der Musik. In: ders. (Hg.): Phänomenologie der Kunst,
Frankfurt/M. 2000, S. 153-169
21
Reich, W.: a.a.O., S. 475
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16
Reichschen Sinn lässt sich Tiefe nur verstehen als „Körpertiefe“.
Die lebendigen Kräfte lösen sich unmittelbar aus dem noch
undifferenzierten und sich prozesshaft differenzierenden
körperlichen Leben beziehungsweise Erleben, das seine
Lebendigkeit gar nicht anders als in noch nicht bedeutungshaltigen Bewegungen ausdrücken kann.
Was die Spekulationen über das Symbolische und vor allem über die
Sprachähnlichkeit der Musik anbelangt, lässt sich also sagen, dass
Musik als Ausdruck unmittelbaren leiblichen Bezugs zur Welt
bedeutungsfrei ist, und nicht symbolisch verstanden werden kann den symbolisch verweisenden Ausdruck stiften erst die Wörter. Musik
ist unmittelbarer Ausdruck des Lebens selbst.
*
Ich möchte an dieser Stelle kurz innehalten und auf meine
Ausgangsfrage nach dem musikalischen Innenraum zurückkommen.
In der Zusammenschau von Groddeck, Reich und Kurth lässt
sich der musikalische Erlebensraum darstellen als eine dynamische Situation, in die der Mensch eingebunden ist: Ich
umreisse die Situation in Form von vier Aspekten
1. Der Mensch erscheint in der musikalischen Situation als
lebendiger und erlebender Organismus.
2. Er befindet sich in unmittelbarem Austausch beziehungsweise in einer spannungsvollen Resonanzbeziehung mit der
Umwelt.
©Mathes Seidl 2011
17
3. Aus dieser Resonanzbeziehung resultieren Kräfte, die zur
Entladung drängen.
4. Die sich entladenden Kräfte manifestieren sich explosionsartig in Form von klanglich bewegtem Ausdruck
(„Ausbruch“).
Dieser Vorgang entspricht der Entfaltung des musikalischen
Prozesses, dessen Pole sind: resonanzhaftes Erleben (im
aktiven Sinn) und den sich daraus entwickelnden manifest
erklingenden Tönen.
Ich führe einige Zitate und Beispiele aus der Praxis an, die
meines Erachtens für eine solche energetische Auffassungen
sprechen:
Der zeitgenössische italienische Komponist Claudio
Ambrosini äussert im Jahr 1985: „Ich höre Musik als Energie.
Komponieren heisst, (...) Energie zu erzeugen, zu lenken, zu
erhalten, Energie, die zu Beginn des Werks in Bewegung
gerät, bis hin zur Vollendung der Form“.
Beim eigenen Musizieren (Bratschespielen) erlebe ich
das ähnlich: Bevor der erste musikalische Ton meinen Körper
und mein Instrument verlässt, nehme ich in meinem
Körperinneren subtil-anregende Bewegungen wahr, die mich
von innen her ergreifen, meinen Körper in Bewegungen
versetzen und ihn dynamisieren. Diese inneren Bewegungen
bereiten den Ton vor, laufen auf ihn zu und entladen (Kurth:
„fangen“) sich in ihm. Ausgelöst werden sie durch Erspüren
und Innewerden meiner gegenwärtigen leiblichen Resonanz.
Leibliche Resonanz fühlt sich an wie ein tonlos-fluidales InBewegung-Kommen des menschlichen Körpers. Irgendwie
steckt in diesem Resonanzgefühl sowohl ein geniesserisches
©Mathes Seidl 2011
18
Bleibenwollen und Sich-Einwiegen in die gegenwärtige
Situation als auch ein Sich-Verändern-Wollen, in dem ja in
letzter Konsequenz die Vergänglichkeits- oder Verflüchtigungstendenz wirkt: Bleibenwollen wie Vergehenwollen
führen zu der Spannung, die sich im musikalischen Ausdruck
entlädt.
Bei den meisten Interpreten erscheinen die energetischen
Bewegungen auch in der Mimik; und zwar nicht im Sinne
eines Abbilds einer inneren musikalischen Bedeutungsdynamik, sondern als unmittelbares Ergriffensein. Es wäre
nicht richtig zu sagen, der Pianist zeigt in seinem Gesicht die
Traurigkeit des Stückes - nein, er zeigt die Dynamik der
musikalischen Urbewegungen: Die Mimik gehört im
Kurthschen Sinn zu den Spuren der inneren Kräfte, die sich an
die manifesten Erscheinungen der Musik „verlieren“. (Ich
habe hier beispielsweise den Pianisten Alfred Brendel vor
Augen.)
Am deutlichsten können wir bei Dirigenten beobachten,
was musikalische Energetik ist. Die Bewegungen der Dirigenten sind erlebte Bewegungen: Sie sind nicht Abbildung
einer objektiv-werkhaften musikalischen Energetik, sondern
Resultat der Resonanz des hörend-leiblichen In-der-Welt-Seins
(das identisch mit In-der-Musik-Sein) des erlebenden
Dirigenten. Deshalb sagt Ernst Kurth, wie später auch der
Dirigent Sergiu Celibidache: „Die Struktur der Musik ist die
Struktur ihres Erlebens“. (Auf die Spitze getrieben heisst der
Satz: Nicht-erlebte Musik ist keine Musik.) Allerdings gibt es
Dirigenten, die einem intellektuellen - energetisch armseligem
- Transparenzkult huldigen, indem sie sich fast ausschliesslich
auf die rationalen und messbaren Elemente der Musik
verlassen und das Metronom für den Herzschlag des
Komponisten halten. (Ich selbst habe unter einem Dirigenten
©Mathes Seidl 2011
19
gespielt, dessen musikalische Anleitung sich in dem Satz: „just
in time“ erschöpfte. Natürlich erschöpfte sich auch seine
Zeichengebung in einem unerschütterlichen Taktschlagen.)
- Hören, In-Resonanz-Sein
Wie kommt es zu einer solchen Resonanzbeziehung zwischen
Welt und Mensch, die offenbar Ursache des musikalischen
Ausbruchs- beziehungsweise Ausdrucksgeschehens ist?
Grundlage für ein derartiges resonanzhaftes, interaktives Inder-Welt-Sein ist die Fähigkeit zu Hören. Im Gegensatz zu
einer allgemein verbreiteten Ansicht ist Hören kein einseitiger
passiver Aufnahmeakt, sondern ein aktiver Vorgang, bei dem
Ausseneindrücke in körperliches Erleben, sprich Resonanzen,
umgewandelt werden. Es geht um Innewerden im Sinn von
verstandesfreiem Mitschwingen, denn musikalisches Hören
hat nichts zu tun mit der Bildung eines Tongedächtnisses oder
einer Art innerer Speicherung von Tonfolgen. Hören in dem
aktiven gestaltenden Sinn heisst, die Resonanz der Klänge als
Bewegtheit wahrzunehmen, sie zu erleben und auf diese Weise
zu lebendiger, er-lebter Musik werden zu lassen. Deshalb sagt
Ernst Kurth: „nicht erlebte Musik ist keine Musik.“
Wie aber wird durch hörende Wahrnehmung Musik?
Für Ernst Kurth ist der musikalische (vorsprachliche,
vorinformative) Hörvorgang ein Verarbeitungsprozess:
Zunächst werden wir durch das Im-Ohr-Sein empfänglich für
die rätselhaften dunklen „Urerlebnisse“, die den primären
Weltbezug stiften. Innerhalb des spezifischen musikalischen
©Mathes Seidl 2011
20
Hörraums, der zu einer Art vorbewusster, anfänglicher,
traumartiger und vorsprachlicher Schicht unseres Daseins
gehört, kommt es nun zu einer sekundären Verarbeitung: das
resonanzhafte Erleben, das wir konkret als inneres In-Bewegung-Kommen und Mitschwingen spüren können, ist identisch
mit der „ahnungsvollen“, subtil-innerkörperlichen Anbahnung
des werdenden musikalischen Ausdrucks. Das heisst, die
umfassende individuelle Schwingungsstruktur (organismische
Struktur) des wahrnehmenden Subjekts wird in die werdende
musikalische Ausdrucks-Gestalt aufgenommen und zum
lebendigen Ton „verarbeitet“. Ich denke mir, dass Reich und
Groddeck mit „Tiefe des Lebendigen“ und „Urmenschliches“,
aus denen die Musik „quillt“ eben jene Vorgänge meinen, die
Kurth mit dem erlebten Ton verbindet.
Dieser Vorgang lässt sich modellartig darstellen:
(0) Gegenwärtigkeit = allgemeiner Spannungszustand,
potentielle Bewegungsenergie
:
(I) Hören als sinnliche Interaktion mit der Welt
= bewegende, anregende und gestaltende
Verarbeitung im Inneren, Freiwerden innerer Urkräfte
:
(II) Entladung von Ausdrucks-, Ausbruchkräften
= Manifestation von Musik
- Modell des musikalischen Prozesses
nach Ernst Kurth -
©Mathes Seidl 2011
21
Ich werde dieses Modell mit den wahrnehmungstheoretischen
Erkenntnissen des vor dem 2. Weltkrieg in Hamburg
forschenden Entwicklungspsychologen Heinz Werner22 in
Beziehung setzen, die in einem inneren Zusammenhang mit
dem Kurthschen Ansatz steht.
Werner postuliert aufgrund seiner Forschungen „Schichten
beim Kulturmenschen, die genetisch vor (kursiv Seidl) den
Wahrnehmungen stehen, und die als ursprüngliche Erlebnisweisen beim sachlichen Menschentyp teilweise verschüttet
sind. In dieser Schicht kommen die Reize der Umwelt nicht
als sachliche Wahrnehmungen, sondern als ausdrucksmässige
Empfindungen, welche das ganze Ich erfüllen, zum
Bewusstsein.“
Werner formuliert im Anschluss an seine Ergebnisse zwei
Prinzipien:
„(1) ein genetisches Prinzip das besagt, dass der Organismus
sich aus einem einheitlichen, psychophysischen Grunde zu
immer schärfer differenzierten, hierarchisch geordneten Funktionen und Phänomenen strukturiert oder unter gegebenen
Umständen sich umkehrt, von der erreichten Differenzierungshöhe, der undifferenzierten Einheitsschicht wiederum nähert.
(2) ein organismisches Prinzip, das besagt, dass alle
psychischen Erscheinungen, sosehr sie auch anscheinend ein
statisches Endprodukt darstellen, bedingt sind durch die
stetige Aktivität des Organismus und damit im total organismischen Geschehen tief verwurzelt sind.“
Und er kommt zu einer typologischen Unterscheidung von
22
Werner, Heinz: „Intermodale Qualitäten (Synästhesien)“, 9. Kap., in: Handbuch der
Psychologie, I. Bd., I. Halbband. Göttingen 1966 und ders.: Einführung in die
Entwicklungspsychologie. München 1959 (Erstausgabe 1926?)
©Mathes Seidl 2011
22
Typus a) dessen Erlebnisweise ursprünglich und ganzheitlich organisiert ist und
Typus b) dessen Wahrnehmungsweise sachlich organisiert
ist, und bei dem die ursprünglichen, genetisch früheren
Schichten des Typus a), verschüttet sind.
Die Ähnlichkeit dieser Positionen mit denjenigen von Ernst
Kurth ist eklatant: Was bei Ernst Kurth „ursprüngliche
spannungsvolle Gegenwärtigkeit“ heisst, ist bei Werner „einheitlicher psychophysischer Grund“. Und die sich aus der ursprünglichen Einheit differenzierenden „Kraftregungen“
Kurths sind bei Werner die „immer schärfer differenzierten...Funktionen und Phänomene“, die er offensichtlich als
Folge „der stetigen Aktivität des Organismus“ sieht. Werner
vermutet, dass diesen Aktivitäten „Tonusvorgänge des
Körpers“ zugrunde liegen.23
In diesen Zusammenhang gehört die Leibphilosophie des
Kieler Philosophen Hermann Schmitz24. Schmitz spricht
ebenfalls von einer primären Erfahrungsqualität, der er den
innerhalb seiner Leibphilosophie zentralen Erfahrungsbereich
des „Atmosphärischen“25 zuordnet. Grundlage des atmosphärischen Erlebens bilden bei Schmitz Vorgänge, die er
„eigenleibliches Spüren“ nennt. (Dass hier irgendwie ebenfalls
Tonusvorgänge im Spiel sind, liegt auf der Hand. Allerdings
scheint etwas dazu zu kommen, das konkrete körperliche
Empfindungen übersteigt. Siehe dazu oben die Ausführungen
zur Focusing-Psychologie, die sich hier andeutet.) In der
Qualität des Atmosphärischen erscheint uns die Welt als vages
23
Werner, Heinz: Intermodale Qualitäten... S. 298
Siehe beispielsweise: Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der
Philosophie. Bonn 1990
25
Siehe dazu auch: Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt/M.
1995
24
©Mathes Seidl 2011
23
Ganzes, Diffuses, noch nicht Differenziertes, eher Traumhaftes, aus der sich die Phänomene erst prozesshaft
herauslösen. Die Beschreibung dieser Erlebenssphäre deckt
sich exakt mit meinen Eindrücken des inneren musikalischen
Raums, „aus dem alles herauskommt“.
Die Aspekte des musikalischen Raumes werden mittlerweile
durch folgende Bezeichnungen bestimmt:
Ursprüngliche Lebendigkeit, Urmenschliches, letzte Tiefen des
Lebendigen, Psychophysischer Grund, Atmosphäre, Eigenleibliches Spüren.
- Musikwerdung als personaler Prozess
In meinem Buch Fluidum Musik26 habe ich meinen inneren
Hörprozess beziehungsweise die Hervorbringung des Tons als
subjektiven Erfahrungsprozess dargestellt und auf einen Punkt
in dessen Verlauf hingewiesen, bei dem der Prozess in seiner
Ganzheit als Bild (Verlaufsbild) erscheint:
„Dasjenige, das sich als Ganzes des Prozesses herausgebildet hat
fühlt sich an wie die Hervorbringungsarbeit des Ton...sein Weg in
die Umwelt... Es gibt im Prozessverlauf einen Moment, in dem ich
irgendwie selbst hineingezogen werde: ich werde in die Tonwerdung
mit hineingezogen...ich bin es nun selbst, der mit (dem Ton) in die
Welt kommt...es geht auch um mich...“
Auf dieser Erfahrung beruht der Eindruck, dass die Verarbeitung der Welteindrücke zum Ton nicht ein apersonaler
oder transpersonaler Prozess ist, sondern ein persönlicher
26
Seidl, Mathes: Fluidum Musik. Die körperliche Wirklichkeit der Töne. Neuried b/München
2005, S. 49
©Mathes Seidl 2011
24
Prozess, dessen tiefer Sinn mit dem Auftauchen des
persönlichen Tons (oder der Person im Ton) zu tun hat.
Zunächst: Wenn es bei Kurth heisst, die Struktur der Musik sei
die Struktur ihres Erlebens, so versteht es sich von selbst, dass
diese Struktur weit über das Physiologische hinausreicht - es
ist vom lebendigen Menschen im Sinn eines lebendigen
(erlebenden) Organismus die Rede.
Bei der gegenwärtigen pädagogischen Vernarrtheit in das
Physiologische und Medizinische ist dieser Punkt besonders relevant:
Da an den Konservatorien und Hochschulen immer mehr Mediziner
eingestellt werden, wird die Wahrnehmung der physiologischen
Vorgänge schleichend zur Hauptsache, während die Dimension des
Erlebens in den Hintergrund tritt.
Erleben beziehungsweise lebendige Verarbeitung des musikalischen Tons ist nur durch umfassendes persönliches Erleben
beziehungsweise durch zurückspürende Aufmerksamkeit für
die körperlichen Resonanzen zu erreichen. Der Ton als
Struktur des Erlebens kann deshalb nur persönliche Struktur
sein und erlebte Musik kann nur persönlich erlebte, subjektiv
erfasste Musik sein. Kurths Satz müsste also vollständig
heissen: Die Struktur der Musik ist die Struktur seines
persönlichen, individuellen Erlebens. Insofern ist der erste
erklingende Ton das Geburtszeichen der Person, die mit dem
werdenden Ton etwa sagt, „ich komme in die Welt, wenn auch
flüchtig, ich verklinge, ich werde wieder neu“. Das Wesen der
Musik liegt in der Ton-werdung; das Verklingen des Tons ist
Voraussetzung für ein neues Erklingen beziehungsweise
erneutes Werden.
In der inneren Erfahrung bin ich selbst mit dem Prozess der
Tonwerdung aufs Innigste verknüpft. Der primäre innere
musikalische Raum ist ein anfänglicher, persönlicher mit
einem vagen Ich-bin-Gefühl. Er beginnt in einem Zustand
©Mathes Seidl 2011
25
undifferenzierter auditiver persönlicher und von Welt umhüllter Gegenwärtigkeit, die durch einen gewissen spannungsvollen „Bewegungszusammenhang“ gekennzeichnet ist. Aus
der elementaren und primären „Bewegungsenergie“ lösen und
differenzieren sich in der Folge bewegende, anregende und
gestaltende Kräfte. Diese ausgelösten Kräfte ergreifen die den
inneren Prozess nach aussen fortsetzenden (entladenden)
Organe, - sie gehen über ins Physiologische - woraus eine
„Erformung“ oder Manifestation des Musikalischen resultiert:
In dem Raum einer inneren Vorformung stösst die Energie an
die inneren Ränder des Körpers - beim Singen ist es der innere
Raum der Mundhöhle, bei den Instrumenten sind es die
körperlichen Kontaktstellen der Instrumente, welche die
Grenzen bilden jenseits derer sich die potentielle Energie in
klingenden Tönen konkretisiert.
Die Musikinstrumente haben nicht nur die Funktion von
werkzeughaften Energieauffang-, und Umsetzungsgeräte,
sondern auch von Körperorganen im Sinne organischer
Erweiterungen des Körpers.27 In dieser Hinsicht sind die
Instrumente vielleicht körpernahe „Wörter“, oder eine Art
„Übergangsobjekte“ auf dem Weg zu den Wörtern und der
Wortsprache.
In Kurths energetischem Modell gibt es zwischen der
allgemeinen Spannung des potentiellen Ur-Zustand (0) und
der Entladungs- beziehungsweise Manifestationsphase erklingender Musik (II) eine vermittelnde Schicht (I), in der sich
die aus der ursprünglich allgemeinen Spannung lösenden und
sich dabei differenzierenden subtilen Urkräfte28 zu greifbareren - immer mehr „lebendige Welt“ integrierende allgemeinen Kräften mutieren. Von diesen Kräften können wir
27
So lässt sich E.T.A. Hoffmanns Bezeichnung der Musikinstrumente als „lebendig-tote
Dinger“ verstehen.
28
Für diese subtilen Kräfte hat der Philosoph Hermann Schmitz den Begriff „Bewegungssuggestion“ gefunden. (s. dazu Der unerschöpfliche Gegenstand...z. Bsp. S. 140-142)
©Mathes Seidl 2011
26
annehmen, dass sie schliesslich auf der Bühne des Menschlichen als psychische Funktionen erscheinen.
- Persönliche Musik
Eine bedeutsame Schwäche des Kurthschen Ansatzes liegt
meines Erachtens darin, dass Kurth diese sich in der
Mittelschicht gestaltenden Kräfte (I), nicht in ihrer psychischen Funktionalität deutlich macht; vielmehr leitet er sie
ab von ihrem zukünftigen Schicksal innerhalb der manifesten
Schicht des Musikalischen. Daher erscheinen die anregenden
und gestaltenden Kräfte, die von innen nach aussen drängen,
wie nach innen gespiegelte musikalische Kräfte: Wenn Kurth
beispielsweise von einer „kinetischen Energie“ spricht, die
sich vor allem in der Melodiebildung erschöpft, ist diese
Energieform lediglich mit dem musikalischen Kontext
verknüpft, in dem sie erscheint aber nicht mit einer allgemeineren psychischen Funktion.
Das ist allerdings verständlich: Schon Wilhelm Reich hat auf
die Schwierigkeit hingewiesen, das „Lebendige“ funktionell
streng zu definieren.29
Es müsste also versucht werden, die energetischen Bewegungen im Innern der Musik mit allgemeinen psychischen
Funktionen zu verknüpfen, die über den spezifischen musikalischen Kontext hinausweisen und Zusammenhänge mit
allgemeinen Lebensbereichen ergeben.
Ich kenne ein tiefenpsychologisch-energetisches Modell, das
diese Funktion exakt erfüllen kann: Es handelt sich um das
Triebsystem der Schicksalsanalyse des ungarischen Arztes,
29
Reich, W.: a.a.O., S. 473
©Mathes Seidl 2011
27
Humangenetikers und Tiefenpsychologen Leopold Szondi
(1893-1986).30 Szondis System postuliert acht elementare
Kräfte in der „Tiefe der menschlichen Seele“, welche die
gesamte menschliche Welt durchziehen und strukturieren somit auch das Musikalische. Diese kategorialen Kräfte
ermöglichen eine Einteilung der Welt in acht elementare
Lebensbereiche.31
Zwei Aspekte sind es, die ich für eine Weiterführung der
Kurthschen energetischen Auffassung als besonders wichtig
erachte:
Die elementaren Kräfte Szondis sind Energieträger, deren
Ladung und Binnendynamik durch jeweils zwei antagonistische Bewegungsenergien am Leben gehalten wird.
Ausserdem sind sie differenzierte Kräfte, die, wie bei
Kurth einerseits aus einem einheitlichen Grund stammen, der
bei Szondi „Urpartizipation“ heisst, und die sich andrerseits in
konkreten Handlungen innerhalb der Welt manifestieren.
30
Die Schicksalsanalyse nach Leopold Szondi ergründet das familiäre Unbewusste; sie sieht
sich als Mittelstück zwischen der auf das persönliche Unbewusste ausgerichteten Psychoanalyse nach Sigmund Freud und der auf das kollektive Unbewusste ausgerichteten nach C.G.
Jung.
31
Szondi, Leopold: Schicksalsanalyse. Wahl in Liebe, Freundschaft, Beruf, Krankheit und
Tod. (Basel 1944); Basel 1978
©Mathes Seidl 2011
28
Leopold Szondis Schicksalsanalyse
Leopold Szondi (1893 - 1986)
Leopold Szondi wurde 1893 im österreichisch-ungarischen Nitra (heute
Slowakei) geboren. Er entstammt einer jüdischen Familie. Nach dem
Studium der Medizin und Psychiatrie in Budapest beschäftigte er sich vor
allem mit der Vererbung von Geisteskrankheiten. In der Auseinandersetzung mit psychiatrischer Genetik und Psychoanalyse entwickelte er ein
System von 8 biologischen Radikalen oder Triebfaktoren, welche auch
dem Szondi-Test zu Grunde liegen, sowie die Theorie des familiären
Unbewussten. 1944 emigrierte er mit seiner Familie in die Schweiz. Hier
begründete er die neben der Freudschen Psychoanalyse und der
Analytischen Psychologie C. G. Jungs, dritte tiefenpsychologische Schule:
die der Schicksalsanalyse. Leopold Szondi starb 1986 in Zürich.
©Mathes Seidl 2011
29
Ähnlich Sigmund Freud, der die Funktionsweise des normalen
Seelenlebens von den pathologischen Formen abgeleitet hatte,
erkannte Szondi in den zeitlos und ubiquitär auftretenden
psychiatrischen Erbkrankheiten anthropologische Konstanten:
Die Konstanz ihres Auftretens galt ihm als Beweis, dass es
sich bei den kranken Formen um im Kern elementare
Organisatoren des Lebendigen handelt; krankhaft treten sie
nur in Erscheinung wegen ihrer - auf dem Weg der
Vererbung32 zustande gekommenen - individuellen Überdosis
an anthropologischem Potential. So ist zum Beispiel die
psychiatrische Krankheit Katatonie Folge einer übermässigen
Geladenheit und Anstauung jener Kräfte, die normalerweise
zu „Materialisierung“ beziehungsweise „Einengung“ führen.
Und diejenigen Kräfte, die im allgemeinen Leben die
Verhaltenselemente „Zeigen-Verbergen“ hervorrufen, führen
in übersteigerter Variante zur Hysterie und den für sie
charakteristischen anfallartigen Entladungen wie Ohnmachtsanfälle oder hysterische Ausbrüche. Es ist offenkundig, dass
eine solche Betrachtungsweise weniger auf statische Phänomene, Lebensinhalte oder Formen aus ist, als vielmehr auf
die sich in den Phänomenen manifestierende Energetik.33
Die im Lebendigen selbst enthaltenen - deshalb unbewussten und dessen Vielfalt organisierenden energetischen Faktoren
nennt Szondi verschiedentlich „Wurzelfaktoren“, „Radikale“,
„Bedürfnisfaktoren“ oder auch „Triebfaktoren“. Ich ziehe den
letzten Ausdruck vor; das Bild des Treibenden entspricht m. E.
dem energetischen Charakter der Triebpotentiale am besten:
32
Vererbung spielt bei Szondi eine wesentliche Rolle (s. 1944, neu: 1978; 1960, neu: 1972).
Die Individualität eines Menschen beruht auf der individuellen „Ausmischung“ der genisch
verankerten „Triebstruktur“. Deshalb nennt er diese Schicht das familiäre Unbewusste. In den
Kräften, welche die unbewusste persönliche Energetik bestimmen, sieht er das Walten von
Ahnenansprüchen, die sich auf diese Weise im Leben bemerkbar machen, um sich erneut zu
manifestieren. Diesen Gedanken findet man im soziobiologischen Denken wieder („Das
egoistische Gen“).
33
In meinen Augen ist der energetische Aspekt in der Diskussion der Szondischen
Psychologie viel zu wenig bedacht worden.
©Mathes Seidl 2011
30
Das Lebendige wird aus sich selbst heraus organisiert und anoder vorangetrieben - das Leben ist ein Prozess.
Hier wird die innere Verbindung zu Kurths Energetik deutlich:
Mit den „elementaren Wurzeln des Lebendigen“ meint Szondi
offensichtlich dasselbe wie Kurth mit den „Urkräften“ des
Lebendigen. Beide scheinen sich darüber hinaus einig zu sein,
dass es sich bei diesen Kräften um Differenzierungen eines
ursprünglich einheitlichen Zustands handelt: Während er bei
Szondi „Urpartizipation“ heisst, bezeichnet ihn Kurth als
„allgemeiner Spannungszustand“. Und beide sehen in ihnen
Organisatoren unseres Lebens. Das ist auch bei Kurth so,
selbst wenn er sich so gut wie ausschliesslich auf den Kontext
des Musikalischen bezieht. Aber als „psychische Funktionen“
und „Urkräfte“ können diese Kräfte selbstverständlich nicht
nur auf einen spezifischen Bereich wie den des Musikalischen
beschränkt bleiben.
Da Szondis Triebsystem in alle Lebensbereiche übersetzbar
ist, kann es nicht nur eine Bestimmung der Kurthschen
Urkräfte im Sinne psychischer Funktionen leisten, sondern
auch eine Verbindung Kurths musikalischer Energetik mit den
menschlichen Lebenswelten herstellen.
Das ist entscheidend für meine Ausgangsfrage „In welcher
Welt sind wir, wenn wir in der Musik sind?“
©Mathes Seidl 2011
31
- Die acht elementaren Kräfte der Schicksalspsychologie
von Leopold Szondi
In diesem Kapitel werde ich das Triebsystem der Schicksalsanalyse vorstellen. Szondis spezifische Bezeichnungen der
elementaren Lebenskräfte werde ich beibehalten. Dabei
kommt es mir nicht so sehr auf die biologische Fundierung der
einzelnen Triebfaktoren an, als vielmehr auf deren Funktion
als energetische Kräfte.
Das Szondische Triebsystem - theoretisch ein sich ins
Unendliche auskreisender und ausdifferenzierender Katalog ist ein System von allgemeinen anthropologischen Kräften.
Ich lese das System als ein grosses dynamisches Feld mit
entsprechenden Unter- und Unterunterfeldern.
Aus der
ursprünglichen Einheit (0)
differenzieren sich
4 Kraftfelder („Triebe“) der Lebensbereiche
C
=
S
=
P
=
Sch =
Kontaktleben
Sexualleben
Affektleben
menschliches ICH
©Mathes Seidl 2011
32
Diese Kraftfelder werden bewirkt durch
8 Faktorenbereiche („Triebfaktoren“, „Wurzeln“)
deren Dynamik unterhalten wird von jeweils zwei gegenläufigen, also insgesamt
16 Tendenzen
1. Faktor = m34 (abgeleitet von manischen Zuständen35);
Tendenzen:
m+ (Tendenz zum Anklammern)
m- (Tendenz zum Ablösen)
2. Faktor = d (abgeleitet von depressiven Zuständen)
Tendenzen:
d+ (Tendenz zur Veränderung)
d- (Tendenz zur Beharrung)
3. Faktor = h (abgeleitet von Hermaphroditismus und
Homosexualität)
Tendenzen:
h+ (Tendenz zur sinnl. Personen-Liebe)
h- (Tendenz zur idealistisch-kollekt. Liebe)
4. Faktor = s (abgeleitet von Sadismus)
Tendenzen:
s+ (Tendenz zum Aggressivsein)
s- (Tendenz zum Hingegebensein)
34
Ich folge nicht streng der Ordnung Szondis und sondern beginne mit dem Bereich der
Oralität, um das System entwicklungspsychologisch schlüssig aufzubauen.
35
In den manischen Zuständen zeigt sich die extreme Ladung von Ablöseenergie.
©Mathes Seidl 2011
33
5. Faktor = e (abgeleitet von Epilepsie)
Tendenzen:
e+ (Tendenz zum Gutsein)
e- (Tendenz zum Bösesein)
6. Faktor = hy (abgeleitet von Hysterie)
Tendenzen:
hy+ (Tendenz zum Sich-Zeigen)
hy- (Tendenz zum Sich-Verbergen)
7. Faktor = p (abgeleitet von paranoide Schizophrenie)
Tendenzen:
p+ (Tendenz zur Ich-Idealisierung)
p- (Tendenz zur Ich-Entleerung)
8. Faktor = k (abgeleitet von katatone Schizophrenie)
Tendenzen:
k+ (Tendenz zur Objekt-Bejahung)
k- (Tendenz zum Objekt-Verzicht)
Das Zentrum des dynamischen Feldes wird von 8 anthropologischen Faktoren gebildet, die ich als Organisatoren oder
Gestalter des persönlichen Lebens auffasse. Von diesen
ausgehend lassen sich die allgemeinen anthropologischen
Lebenswelten als auch deren individuelle Ausstattungen am
besten studieren.
©Mathes Seidl 2011
34
Ausschlaggebend für die Szondischen Wirkkräfte und deren
Energetik ist, wie gesagt, eine „Binnendynamik“, die durch
zwei gegenläufige Tendenzen (Bewegungs- oder Kraftströme) bewirkt wird. Szondi spricht vom „Dualismus der
Gegensatzpaare, von Strebungen, beziehungsweise Bedürfnissen.“ Das Seelenleben ist demzufolge kein konstantes
Sogegebenes, das nur durch einzelne Formen bestimmt wäre,
„sondern ein immerfort fliessendes, in Gegensatzkämpfen
Dynamisches, Werdendes Vergehendes.“36
Die von Szondi postulierten Kräfte können wie Urworte
verstanden werden, die sich in gegensätzlichen Bedeutungen
differenzieren: Die Wirkkraft m (Triebfaktor m, von Manie
abgeleitet) bezeichnet beispielsweise diejenige einheitliche
Kraft, welche die Lebendigkeit der Oralität (Welt der Mundzone) ausmacht. Deren Binnendynamik wird unterhalten von
den gegenläufigen Tendenzen „Anklammern - Loslassen“.
Das folgende Schema ist völlig wertfrei zu lesen. Es handelt
sich um Energieformen, die an und für sich wertneutral sind
aber potenziell in sehr viel verschiedene Richtungen wirken
können. Der elektrische Strom macht einmal Licht, das anderes mal verpasst er einen Stromstoss. Jedem der energetischen
Faktoren entspricht ein lebendiges und individuell nutzbringendes Potential. Wie schon gesagt, bezeichnen die
pathologischen Extremformen gestaute energetische Ladungen, die ihre ursprüngliche Beweglichkeit und Dynamik
suchen.
36
Szondi, Leopold (1960): Lehrbuch der Experimentellen Triebdiagnostik (Bd I). Bern 1972,
S. 209
©Mathes Seidl 2011
35
Stellen Sie sich die folgenden Szondischen Kategorien beziehungsweise die spezifischen energetischen Grundvorgänge
wie ein dynamisches Feld vor, in dem alle Kraftströmungen
miteinander interagieren, in Formen drängen und diese wieder
auflösen - entsprechend der Wandelbarkeit alles Lebendigen.
- Anthropologische Faktoren, Lebenswelt und Musik
Ich stelle nun die allgemeinen elementaren Bereiche menschlichen Lebens vor, die sich auf die Energetik der elementaren
Szondischen Faktoren beziehen lassen.
Systeme treffen das Leben nur, indem sie Schwerpunkte
bilden. Das ist auch in diesem Fall so. Die Wirklichkeit
beziehungsweise das Lebendige selbst lässt sich entweder in
seiner unendlichen Vielfalt erleben oder theoretisch modellhaft und abstrakt darstellen.
Den Anschluss des musikalischen Lebens an die energetischen
Kräfte ist noch einmal „unmöglicher“, da es sich im Falle des
Musikalischen nicht um eindeutig fassbare Formen und
Strukturen handelt, sondern um vorobjektale subtile und
flüchtige Bewegungen des Lebens selbst.
Anders ist es, wenn wir bestimmte musikalische Stile hervorheben. Diese bilden bereits fassbarere Schwerpunkte innerhalb
einer unendlich sich wandelnden Vielfalt. An diesen einzelnen
prägnanten und unterscheidbaren Inseln im Meer der
Strukturen lassen sich am besten die Auswirkungen der
inneren Energetik darstellen.
©Mathes Seidl 2011
36
Und nicht nur das, an ihnen können wir überhaupt nur
festmachen, ob die Anwendung eines theoretischen Systems,
wie dasjenige Szondis, nützlich und sinnvoll ist im Hinblick
auf die Ordnung einer einheitlichen Welt. So ist auch die
folgende Darstellung als Skizze zu lesen und als Versuch, die
musikalischen Phänomene an eine allgemeine Energetik des
Lebendigen anzuschliessen. Dass die eher grossflächig- typologische Darstellungsweise bisweilen auf Kosten der
historischen Differenziertheit verfährt, liegt in der Natur der
Sache.
©Mathes Seidl 2011
37
Geborgenheit
m: Anklammern
-
Loslassen
So versprecht ihr euch Ewigkeit fast
von der Umarmung
(R.M.Rilke)
...endlich allein!
Das erste beziehungsweise lebensgeschichtlich früheste der
acht elementaren lebensgestaltenden Kräftefelder bezieht seine
Dynamik und Lebendigkeit von den gegenläufigen Tendenzen
Anklammern und Loslassen. Szondi kennzeichnet dieses energetische Wirkungsfeld mit dem Faktor m, den er von Manie
ableitet; die positive Tendenz m+ steht für Anklammern und
die negative m- für Loslassen. Allgemein psychologisch
figuriert dieser Bereich als Oralität.
Oralität bezeichnet die Psychologie der Mundzone.
Manie kommt ursprünglich aus dem Griechischen und
bedeutet «ausser sich sein», Wahnsinn, Raserei, Sucht.
In der Manie sieht Szondi diejenige Krankheitsform, in der die
Energie des Loslassens sich in zum Höchstmass gesteigerter
Ladung und ausgeprägtester Form manifestiert. Das ist aber
nur die eine Seite. Die entsprechende und ergänzende Tendenz
zur Lösungsbewegung (m-) besteht im Anklammerungsbedürfnis (m+), ohne das es zu keinem dynamischen
Verhältnis kommen kann.
©Mathes Seidl 2011
38
Lebensgeschichtlich manifestiert sich diese Dynamik in der
Phase der Mutter-Kind-Beziehung, solange der Säugling an
der Mutterbrust anklammert. Die Anklammerbewegung ist
nicht zu denken ohne die im Hintergrund bereits lauernde
Erfahrung des Losgelassenwerdens beziehungsweise Loslassenmüssens. Der Handgreifreflex, der sich bei manchen Neugeborenen wie der Griff der linken Hand um einen Geigenhals
zeigt, demonstriert die innere Dynamik, die nach „Sicherung
für sich selbst allein und für die Ewigkeit“ strebt, nach
„Verewigung der Schossgeborgenheit“, „Drang von der Mutter
bedingungslos im Urvertrauen so angenommen zu werden,
wie man eben ist,“ „ineinander aufzugehen, weil man darunter
das reine Dauern verspürt.“37 Die Lebens-Themen
Urvertrauen, Geborgenheit, Einheitlichkeit, Ganzsein,
Ineinander-aufgehen, Verschmolzensein, das reine Dauern
haben hier ihren Ursprung.
Andrerseits wird Verlorensein, Verlassenheit, Abgetrenntsein vor allem im Übergang zur Ablösung und Entborgenheit - zur
bedrohlichen und angstvollen Lebenserfahrung. Aber auch das
übergreifende Lebensgefühl der Gelassenheit gehört zu dieser
inneren Dynamik, die innerhalb der psychoanalytischen
Psychologie im Konzept der oralen Phase aufgeht.
Die polare Urerfahrung von All-Eins-Sein versus Allein-Sein,
scheint durch alle Formen hindurch.
Der symbolische körperliche Ort dieser Erfahrung ist die
Mundhöhle. Sie vermittelt einerseits das Erleben des
köstlichen Einsseins: Zunächst dasjenige mit der stillenden
Mutter und später die Verschmelzung im Kuss. Andrerseits
bewirkt sie aber auch die elementare Erfahrung des Alleinseins bei der Lautäusserung: Aus der totalen Geborgenheit des
Leibes-Innern trennen sich die Laute ab und etablieren die
37
Szondi, L.: Lehrbuch... 1972, S. 182
©Mathes Seidl 2011
39
Trennung von aussen und innen. Mit dem ersten Wort beginnt
der Mensch einsam aber auch einzigartig zu werden. Mit dem
Verschweigen können wir umgekehrt wieder versinken in der
Dunkelheit der Mundhöhle oder dem Leib der Mütter.
Die symbolische Urbewegung, in welcher sich die genannten
lebendigen Erfahrungen vereinigen, ist eine herauslösende
Geste: Herauslösung aus der ursprünglichen Verschmelzung,
oder - gestaltpsychologisch ausgedrückt - das Heraustreten
einer Figur aus dem Hintergrund. Noch prägnanter stellt sich
die Urbewegung als Wechsel von der Einheit (all-ein) zur
Einsamkeit (allein) und von der Null-Dimension zur
Punkthaftigkeit dar.
Der energetische Bereich der Oralität (m) ist selbstverständlich auch am Ursprung der Musik beteiligt. Die ersten
einstimmig und unbegleitet gesungenen Töne dringen aus dem
inneren Klangraum nach aussen in die klanglose Einsamkeit
der noch unentdeckten Welt. Wenn das noch im Innern der
Mundhöhle versunkene Summen nicht mehr genügt, öffnet
sich der Mund, damit die Energie der Töne sich entladen, sich
in der Umwelt klingend realisieren - und später von den
Anderen gehört werden kann. Dank der Interaktion mit der
Umwelt kann der Ton überhaupt losgelassen werden, um
zaghaft (prozesshaft) ein spürbar werdendes Resonanzverhältnis von innen und aussen zu etablieren.
Angebahnt wird die Bewegung durch den Atem: In der
polaren Atembewegung ist die lebendige Erfahrung von
Einheit und Einsamkeit schon enthalten. Der gesungene Ton
ist fortgeschrittene Symbolisierung der Energie des Loslassens
(m-). Deshalb kann sie als therapeutisches Mittel zur
Bewältigung des real drohenden Abgrundes dienen (z. Bsp.
beim Singen im Wald).
©Mathes Seidl 2011
40
Puccini nutzt in der Oper „Madame Butterfly“ die Energetik
des Summens zur Symbolisierung der vorehelichen Einsamkeit
und Verschlossenheit. In der Nacht vor der Hochzeit summt
der Chor zum Zeichen der Noch-Verschlossenheit. Erst die
Heirat bedeutet die Öffnung zur Welt.
Da der erste Schrei des Kindes sich nicht an ein Objekt
wendet, - er ist expressiv („ich bin da“) und dient der
Energieabfuhr (Loslassen) - lässt sich meines Erachtens
folgern, dass musikalische Äusserung ursprünglich expressiv
und nicht appellativ-objektbezogen ist. Vielleicht ist das
eigene Ohr eine Art Objektvorbild und der Schrei ein erster
Akt der Selbstwahrnehmung. In ästhetischer Hinsicht würde
das bedeuten, dass Musik ursprünglich nicht Kommunikationsform ist.38
Im aushauchenden Verklingen der historisch frühen
einstimmigen gregorianischen Gesänge kommen wir hörend
mit der Energetik des Loslassens in Resonanz. Das weckt
andere Eindrücke als das Ende oder der Schluss eines
Musikstückes - denn im Loslassen sind wir einen
entscheidenden Moment lang völlig verloren, da das
kommende Neue noch nicht mit Erfahrung gefüllt ist. Die
fundamentale Ambivalenz des Schwellenmoments wird
erfahrbar: Einerseits verlockt das regressive Zurückmünden in
die Geborgenheit des Innenraums, andrerseits kommen wir in
dieser Erfahrung mit einem ins Unendliche ziehenden
Freiheitsdrang in Berührung, der in uns den Einsiedler und die
Sehnsucht nach Nicht-Sein weckt: „Am Fenster des Jenseits
an den Grenzen des Daseins sehnsüchtig allein zu stehen“
heisst es bei Szondi.39
38
Allerdings ist nicht jeder Schmerzens- oder Freudenschrei musikalisch; Musik beginnt erst
dann, wenn der Freudens- oder Schmerzensschrei der Menschenstimme in wirklichen Gesang
übergeht... (Ernst Kurth)
39
Szondi, L.: Lehrbuch... 1972, S. 182
©Mathes Seidl 2011
41
Zum Bereich des Musikalischen gehören die Musikinstrumente. Sie sind psychosomatische Geräte par excellence:
Indem wir streichen, blasen, schlagen, zupfen, tasten, werden
unsere leib-körperlichen Möglichkeiten erweitert und zwar
sowohl im somatischen Sinn von Ein- und Ausgreifens in die
Umwelt als auch im psychologischen Sinn als Weitung des
Ausdrucksradius.
Im Rahmen einer vom Menschen abstrahierenden Musikauffassung sind die Musikinstrumente technische Umwandlungsgeräte, welche potenzielle Klangenergie in real
erklingende Musik überführen. (Deshalb nennt E.T.A
Hoffmann die Instrumente „lebendig-tote Dinger“.)
Zu den oralen, m-betonten Musiker-Berufen rechnet Szondi
pauschal die Bläser. Ausschlaggebend dafür ist der Umstand,
dass die Instrumente in den Mund genommen werden. Für
eine genauere energetische Analyse müssen wir jedoch weitere
Aspekte wie Spielweise, beziehungsweise die Art der
Tonerzeugung, die Klangeigenschaft sowie die musikalische
Symbolik berücksichtigen.40
Bei den Blasinstrumenten zeigen sich im Bereich der
Mundzone sehr verschiedene Verhältnisse.
- In die Mundhöhle genommen werden - wie Brustwarze
und Lutschdaumen - die Klarinetteninstrumente (inklusive
Saxophon), die zur Tonerzeugung ein einfaches Rohrblatt
benutzen. Bei manchen Musikern hinterlässt der Biss der
Oberzähne in den „Schnabel“ des Mundstücks seine
deutlichen Spuren, sodass hier eine oralsadistische
Vermischung von gesteigert-aggressiver Mundenergie mit
40
Das heisst keineswegs, dass die Aspekte sich additionsmässig aufreihen lassen. Vielmehr
sind es Aspekte, die sich gegenseitig durchdringen und uns in einem Gesamteindruck
ansprechen. Jedes Instrument hat sein „Gesicht“.
©Mathes Seidl 2011
42
oraler Lust zustande kommt. Der Luftstrom fliesst idealerweise frei strömend und wird durch das schwingende Blatt
in der Regel weder gehemmt noch unterbrochen. Ein starkes
Blatt kann allerdings Widerstand erzeugen, sodass leicht
eine Stauung eintritt beziehungsweise ein gewisses Pressen
des Luftstroms erforderlich ist. An diesem Beispiel lässt sich
gut die Energetik des Faktors m studieren: Das Ausblasen
des Tones (ausatmen) entspricht der Tendenz m- (loslassen),
da der Luftstrom aus dem Innenkörper in die Aussenwelt
entlassen wird. Der Widerstand, den Blatt und Mundstück
dem freifliessenden Luftstrom bieten wirkt im Sinne der
entgegengesetzten Tendenz m+: diese wirkt in Bezug auf die
Lösungsbewegung hemmend und stauend, da sie die
Zurückhaltung der Energie im Innenkörper (anklammern)
zum Ziel hat. So nebensächlich diese Unterschiede auch
erscheinen mögen, beruhen auf ihnen jedoch individuelle
Vorlieben bishin zu verschiedenen Interpretationsstilen:
Starke Blätter werden eher von „deutschen“ Spielern
bevorzugt, die dem Ideal eines schweren, vibratoarmen Tons
huldigen (Klangwelt der Oper „Freischütz“), während die
dünneren Blätter mit ihrem leichten, vibratoreichen Ton eher
im französischen Musikraum verwendet werden.
- Bei den Oboeninstrumenten (Englischhorn, Fagott usw.),
deren Mundstück aus einem doppelten Rohrblatt besteht es ähnelt einem zusammengepressten Strohhalm -, werden
wie beim Auf-die-Lippen-Beissen beide Lippen über die
Zähne gezogen, um einen Affekt zu unterdrücken. Die Luft
wird in der Mundhöhle, das heisst in Brust- und
Kopfbereich, extrem gestaut und durch einen schmalen Spalt
gepresst. Die beiden Blätter schlagen gegeneinander und
unterbrechen auf diese Weise den Luftstrom. Dieser intensiven Beeinflussung beziehungsweise Kontrolle des Luftstroms entspricht die Modifizierbarkeit des Klanges, der
©Mathes Seidl 2011
43
zwischen Gequältsein und Inbrunst viele Ausdrucksnuancen
hat.
- Bei der Querflöte wird der Mund zu einem Pustemund
geformt „Heile, heile Segen...“ singt die Mutter und bepustet
zärtlich und kühlend die verbrannte Haut. Der Luftstrom
beziehungsweise der Flötenton bekommt tatsächlich eine
völlig aggressionsfreie zärtlich-hauchige Note.
- Die Blockflöte hat, obwohl sie zur Flötenfamilie gehört
aufgrund ihres Mundstückes ganz besondere Verhältnisse.
Es wird, ähnlich wie der Schnabel der Klarinette, ganz in
den Mund genommen, wird aber mehr „genuckelt“ - die
oftmals enorme Speichelentwicklung hat etwas Lustvolles
(das Wasser läuft im Mund zusammen). Allerdings wird die
Blockflöte im Gegensatz zu den Klarinetten nicht mit im
Brustbereich gestauter Luft geblasen. Vielmehr muss die
Luftführung im Bereich des Mundes ausbalanciert werden,
da sich bei zuviel Druck der Ton leicht überschlägt
(„schnappt über“), bei laschem Druck kommt kein stabiler
Ton zustande, was oft den Eindruck haltlosen Geflötes
erweckt. (Ich halte es übrigens für problematisch, Kinder,
bei denen die ausdrucksgeladene Brustenergie zur
Manifestation drängt, zu lange bei der Blockflöte zu halten.
Wenn diese Energie nicht durch ein robusteres Instrument
kanalisiert werden kann, bekommt das „harmlose“
Blockflötenspiel oft eine affektierte Note, die die in der
Brust gestauten Affekte mehr tarnt als umsetzt und
verwandelt.)
- Bei den Blechblasinstrumenten (Horn, Trompete, Posaune, Tuba) wird der Mund fast geschlossen - ähnlich
kontrolliert wie der anale Schliessmuskel, sodass,
vergleichbar mit der Oboe, ein Luftstau entsteht, der durch
©Mathes Seidl 2011
44
die eine schmale Lippenspalte in das kesselförmige
Mundstück entladen wird. Während die Oboe mit dem
Mundstück (Doppelrohrblatt) vollständig in den Mund
genommen wird, ist bei den Blechbläsern der Kontakt mit
dem Instrument äusserlicher: Der Widerstand, den diese
Instrumente im Hinblick auf den freien Fluss des
„Austönens“ bieten, erfordert nicht sosehr die Intensität des
Brustraums sondern die kraftvolle Durchsetzungs- oder
Entschlossenheits-Energie, die sich im Nacken bildet.
Die energetischen Wurzeln menschlichen Lebens wirken sich
nicht nur innerhalb der musikalischen Struktur aus (synchron)
sondern auch als Phasen beziehungsweise Stilepochen im
historischen Längsschnitt. Diejenige Stilepoche, die dem
Oralitätsfaktor-Faktor m entspricht, ist die Gregorianik.
Der Gregorianische Choral bildet Beginn und Fundament der
abendländischen Musikentwicklung. Er ist rein gesanglich
und einstimmig. Die prototypische melodische Gestalt ist die
romanische Bogenform. Das zentrale melodische Intervall ist
die Prim, die keine Tonhöhenveränderung sondern eine
Tonwiederholung ist.
Was spricht für die Zuordnung der Gregorianik als Stilepoche
zur seelisch-energetischen Schicht des oralen Faktors m?
- Innerhalb unserer Kultur ist die Gregorianik eine frühe
Erscheinungsform; sie steht gleichsam als Neugeborenes am
Anfang der abendländischen Musikgeschichte.
- Sie ist rein gesanglich und einstimmig, kennt noch keine
zweite Stimme und kein begleitendes Instrument, also kein
Zweites: Sie ist objektlos.
©Mathes Seidl 2011
45
- Der romanische Bogen als prototypische Verlaufs-Gestalt
entspricht der Wölbung der Mundhöhle, in der der austönendströmende Atembogen sich umschlägt und nach aussen
gelenkt wird; umgekehrt wird der einströmende Atem in die
Urgeborgenheit der Körperhöhle zurückgeführt.
- Das wichtigste Intervall ist die Prim, die eine Tonwiederholung darstellt und einstimmende, bisweilen einlullende Funktion hat. Die Prim als melodisches Intervall symbolisiert wiederum den ersten Faktor des Seelenlebens: sie ist
lediglich losgelassener Ton, herausgelöst aus dem Ursprungston. Musikalisch wie psychologisch handelt es sich um das
nochmalige Hervorbringen desselben Tons aus der ursprünglichen Verschmolzenheit. Hier ist weder ein Schritt noch ein
Sprung wie bei den späteren Intervallen im Spiel.
Dieser energetische Grundvorgang zeigt sich beispielsweise in
der Dualunion beziehungsweise deren Auflösung. Mutter und
Kind verhalten sich zueinander wie die zwei Töne der Prim sie sind beide gleich und doch unterscheidbar.
Selbstständigkeit (Autonomie) vollzieht sich musikalisch erst
im Sekundschritt. Musikalisch-energetisch formuliert: Der
Sprung in die Sekund bringt eine Befreiung aus der
blockierten Energie des Dilemmas (m+/- = anklammern/lösen)
mit sich.41
- Die Funktion des Gregorianischen Chorals besteht im
Einstimmen auf die Welt; es geht nicht um musikalische
Mitteilung und deren Rezeption sondern um die transzendente
Situation von der Unendlichkeit des Inneren einerseits und der
Unendlichkeit des einsam machenden Äusseren.
41
Szondi spricht bei der Gleichzeitigkeit zweier Tendenzen von einem Dilemma (griech.,
eigentlich „Doppelgriff“) und meint allgemein die schwierige Wahl zwischen zwei gleichwertigen Übeln.) Energetisch ist das leicht nachzufühlen: Anklammern und ablösen
gleichzeitig führt zum ungemütlichen Stillstand.
©Mathes Seidl 2011
46
Dies widerspiegelt auch sein Raum: In der Frühzeit sind es die
Katakomben, welche die Dunkelheit der noch geschlossenen
Mundhöhle symbolisieren, später die Höhlenform der Kirchen
und Kuppeln, deren Fensterlosigkeit sich in den magischen
Räumen der Opern- und Konzerthäuser wie der Theater
fortsetzt.
Zur oralen Struktur gehören wesentlich die Genres
- Vokalmusik; sowie die
- Unterhaltungsmusik, die die regressive Verschmelzung
zum Ziel hat (der Unterhalt als Sicherungsprinzip).
Musikbeispiel: Gregorianischer Choral
Notenbeispiel und Strukturform42:
42
Aus Preussner, Eberhard: Musikgeschichte des Abendlandes. Wien 1958, S. 20
©Mathes Seidl 2011
47
Veränderung
d: Auf-Suche-Gehen
-
Kleben
Dem Bereich der Oralität folgt jener der Analität. In Szondis
Energetik steht für diesen der Faktor d (abgeleitet von Depression). Kennzeichnend für ihn sind die beiden antagonistischen
Bewegungskräfte Auf-Suche-Gehen (d+) und Kleben (d-).
Analität bezeichnet die Psychologie des Rektal- und
Enddarmbereichsbereichs.
Für die Depression ist die Suchbewegung zentral. Nach
psychoanalytischer Auffassung sucht der depressive Mensch
das verlorene Objekt im eigenen Inneren. Diese Suche ist
aussichtslos im wirklichen Sinn des Wortes. Sie führt zu einem
Verlust von Lebendigkeit mit Perspektive und Anregung und
damit zu einem Verlust von Hoffnung.
Während die Tendenz d+ alles bewirkt, was mit Veränderung
zu tun hat, ruft ihr Gegenstück die Tendenz d- Beharrlichkeit
bis zum Klebenbleiben hervor. Das gleichzeitige Vorherrschen
beider Tendenzen führt zu dem höchst unangenehmen Dilemma von gespanntem und aufgeladenem Hin- und Hergerissenseins am Ort, im Gegensatz zum befriedigenden
rhythmischen Wechsel von Erfüllung des einen Bedürfnis und
Erfüllung des anderen.
Auf den ersten Blick scheint dieses Gegensatzpaar den oralen
Tendenzen von Anklammern und Loslassen sehr ähnlich. Die
biologischen Grundlagen machen den Unterschied jedoch
sofort deutlich:
©Mathes Seidl 2011
48
Während die Dynamik des oralen Faktors m sich im Austausch
von Innenwelt und Aussenwelt, vermittelt durch die
Mundhöhle (Atem, Nahrung), abspielt, baut der Analitätsfaktor d auf der peristaltischen Energetik des Darms und
dessen Fortsetzung in der Motorik auf: Das dynamische
Prinzip der Analität lautet: organischer Wechsel von
Progression und Retention. Ist dieser Bewegungsrhythmus
gestört, kann es im Extremfall zu einer einseitigen Blockierung, Fixierung beziehungsweise Stauung der Energie in
einem der Pole d- (beharren) beziehungsweise d+ (fortbewegen) kommen.
Wesentliche Aspekte der d- Energetik sind „der Drang, sich
jeder Veränderung einer Lage zu widersetzen; der Drang, in
seinem eigenen Kot und Urin zu liegen, in die Hose zu
machen, zum Bettnässen, mit den Exkrementen zu spielen, sie
am eigenen Körper, am Boden und an der Wand zu
verschmieren; der spätere Drang anstelle dieser Urtendenz der
Analität, sich mit Spielen im Sand, mit Plastilinarbeiten und
Malen zu begnügen; die noch spätere Tendenz, alles zu
sammeln, geizig zurückzuhalten, die Retention von allem, was
vermeintlich oder real Wert hat, die Lust zu sparen und alles
aufzugeben, Habgier und Geiz, Entsagungsfreude und
Festhalten an allem, was alt ist, was einmal war, das Verharren
in einem ziellosen Konservativismus; aber auch die sozialpositive Tendenz der Treue zur Familie, Rasse, Klasse, Nation
und Religion, kurz: die Beharrungstendenz auf allen Gebieten
des Daseins ist der ‚negative’ Pol des Faktors d.
Hingegen stellen der Drang nach Veränderung, das Auf-dieSuche-Gehen nach neuen Objekten, die Tendenz der
Neuerung, der Sinn für die Erwerbung neuer Wertobjekte,
Neugierde, Eroberung neuer Welten, Freigebigkeit, Ver-
©Mathes Seidl 2011
49
schwendung aller Werte, Untreue die positive Strebung d+ des
Faktors dar.“43
In der Psychoanalyse steht Analität beziehungsweise die anale
Phase für die Zeit der ersten Produktivität und Kreativität eine Zeit, die ganz im Zeichen der Materialität steht. Das erste
selbst Gemachte ist ein machtvoller Akt produktiver Selbststiftung, bei dem der Mensch ein Stück von sich selbst
abtrennt und sich selbstgeformt zur Welt bringt. Mit diesem
Stück von sich selbst wird er gleichzeitig zum Objekt seiner
selbst. Von da an kann er sich auf die Suche nach neu-eigenen
Objekten machen, mit denen er in eine Resonanzbeziehung
gerät, da sie ja ursprünglich von ihm selbst stammen. Mit
diesem Akt organischer „Umweltbesetzung“ stiftet er in
seinem Bewusstsein die Kategorie Umwelt; sie kann er
neugierig (d+) entdecken, erforschen und über sie als
machendes Wesen verfügen - und dabei seine Selbstverfügbarkeit inszenieren.
Auch im Musikalischen bewirkt die Energetik des Faktors d
die Machbarkeit. Das betrifft in erster Linie die Herstellung
der Instrumente, den härtesten Dingen in der wesentlich
fluidalen Klangwelt. (Ist es nicht erstaunlich, wie fest und
materiell die knöchernen, hölzernen, metallischen Instrumentendinger sind und wie flüchtig ihr klingendes Produkt ist?
Treten nicht auch hier die Spannungsverhältnisse von klebender Beharrlichkeit d- und suchend-flüchtiger Beweglichkeit d
+ zutage? Die Symbolik von lebendigem, flüssigen, weichem
Kern im Innersten der harten Materie treffen wir auch im
Motiv vom Lied oder einer Stimme im Innern des Baums oder
Steins an. Für Depression steht häufig das Bild vom
43
Szondi, L.: Lehrbuch...1972, S. 178
©Mathes Seidl 2011
50
erfrorenen oder versteinerten Herz, in dessen Innern sich das
Leben verbirgt, beschworen44.
Nicht nur das erste Gemachte des Menschen fällt zu Boden:
Auch die Musikinstrumente sind „gemachte“ Objekte: sie
heissen lat. organi (= Körperteile). In Raphaels Darstellung
der Heiligen Cäcilia (1514), der Schutzheiligen der Musik,
liegen sie deshalb am Boden - der Heiligen zu Füssen.
Fuss heisst nach den Gebrüder Grimm ursprünglich „das zu
Boden gefallene Glied“; die Analität ist auch die Welt des
Fusses, des Gehens, Schreitens, Laufens; hier kommt der
Mensch in Kontakt mit der Erde. Die generelle Zugehörigkeit
der Musikinstrumente zum analen Lebensbereich beziehungsweise dem der Depression - im Sinn der Problematik um das
verlorene Objekt - erscheint mehr als plausibel.
Die Gesamtheit der von den Instrumentenbauern hergestellten
Musikinstrumente korrespondiert mit der Gesamtheit der
menschlichen physiologischen Gegebenheiten, während die
verschiedenen Instrumententypen mit ihren unterschiedlichen
Spieltechniken den differenzierten individuellen Verhältnissen
entsprechen.
44
Es liegt nahe, an Novalis zu erinneren: „Krankheit ist ein musikalisches Problem“.
©Mathes Seidl 2011
51
Dies alles gilt für die musica instrumentalis, die, mittelalterlicher Anschauung gemäss, der unteren Welt der Materie
beziehungsweise dem menschlichen Unterleib entspricht - also
dem Ort, der das erste Produkt im Sinne der prima materia45
birgt oder freigibt.
Schoss, Kniee, Beine und Füsse sind die wichtigsten Unterleibsorgane und spielen in der musikalischen Praxis eine
bedeutende Rolle:
- Die Knie-Geigen beziehungsweise die Gambeninstrumente
(ital.: gamba: Bein), und vor allem das Cello, werden in dieser
Region gehalten (besessen); nicht von ungefähr wird Don
Quixote der Ritter von der traurigen Gestalt von Richard
Strauss durch den fest in seinem Sattel sitzenden und reitenden
Cellisten symbolisiert.
Don Quixote op. 35; Sinfonische Dichtung von Richard
Strauss. Strauss nutzt beim Cello die anale Qualität (sitzen,
besitzen, besessen sein) der Spielhaltung. Innerhalb der
musikalischen Symbolik und Semantik sind die psychologischen Bedeutungen der Spielbewegungen meistens
vernachlässigt. So wird auch der Charakter von Don Quixotes
Kompagnon Sancho Pansa trefflich durch die Bratsche
symbolisch gefestigt, die durch ihren verglichen mit der Geige
übergrossen Korpus beim Spielen den Eindruck von Schwerfälligkeit, Behäbigkeit und Bequemlichkeit - bis hin zum
Tölpischen46 - induziert; Qualitäten, die der Figur des Sancho
Pansa entsprechen.
45
Das ist ein Begriff aus der Jungschen Psychologie, der sich auf die Alchemie bezieht: Im
alchemistischen Prozess wird Kot als prima materia in Gold umgewandelt.
46
Diese Züge kommen in vielen Bratschenwitzen zum Tragen: z. Bsp.: "So jung und schon
Bratscher."
©Mathes Seidl 2011
52
- Nicht nur der Kontrabass mit seiner Funktion als Fundament
und "Fuss" des Orchesters sondern alle Instrumente mit
Bassfunktion gehören dem Wirkungsbereich des Faktors d an:
Die tiefen Instrumente wie Fagott, das bezeichnender Weise
"Furzrohr" genannt wird, sowie Kontrafagott, Bassklarinette,
Tuba etc. Die tiefe Stimmlage entspricht dem tiefsten
Resonanzraum in der Analzone des Beckens, dessen Dynamik
beim Singen gut gespürt werden kann. Auch die Tonbildung
beim Fagott energetisiert den analen Resonanzraum und hier
insbesondere die Dynamik des Schliessmuskels, der die
Schlüsselstelle für die Entscheidung von Retention (Behalten)
und Progression (Geben) darstellt.
Für die anale Qualität des Fagotts gibt es ein anschauliches
Beispiel: In dem Oratorium "Die Schöpfung" von Joseph
Haydn wird die Erschaffung der Kriechtiere durch ein Kontrafagott versinnlicht. Es spielt in diesem Moment auf den
analen Aspekt der Schöpfung an, der mit Kreativität, machen,
aber auch geistloser, niederer Kreatur (der Kriech-tiere)
zusammenhängt. Auch kriechen gehört übrigens zum Formenkreis der Analität, worauf das sprachliche Bild vom Arschkriecher hinweist.
Zur Bass-Funktion gehört der basso continuo, der ununterbrochen fortlaufende Bass. In ihm manifestiert sich eindeutig
die Suchbewegung, zu der auch der ganze Bereich der
Motorik gehört.
basso continuo; Der Generalbass oder Basso continuo bildet
das harmonische Gerüst in der Barockmusik. Wegen der
großen Bedeutung des Generalbasses in dieser Zeit wird diese
Epoche auch Generalbasszeitalter genannt.
©Mathes Seidl 2011
53
Der Generalbass besteht aus der tiefsten Instrumentalstimme
(Basslinie) in Verbindung mit zur Melodie und zum musikalischen Ablauf passenden Akkorden.
Indem der Mensch mit seinem ersten Stuhl ein Objekt gestiftet
hat, energetisiert sich in ihm Bewegungslust, die die Aufhebung der räumlichen Distanz zwischen ihm und dem Objekt
bewerkstelligt und die Suche nach dem Objekt hervorruft. Er
ist nun nicht mehr abhängig sondern beweglich, autonom, und
seine Erfahrung, etwas machen zu können, lassen ihn nach
jenen Objekten suchen, die seinen Bedürfnissen und
spezifischen Fähigkeiten entsprechen.
Mit den Instrumenten hat der Mensch Musik objektiviert; er
erlebt sie nicht mehr wie im oralen m-Zustand als ein
leibliches Hingegebensein an Musik, sondern als machbar und
objektiv.
Auch die musikalische Struktur bleibt nicht objektlos einstimmig sondern findet ihr Objekt in der zweiten Stimme,
(Zweistimmigkeit), wie es beim Kontrapunkt, der selbstständigen zweiten Stimme und schliesslich der Fugentechnik
stilbildend der Fall ist.
Kontrapunkt und Fuge sind ein Spiel zweier gegenläufiger
Stimmen.
Zweistimmigkeit ist aber mehr als die Ablösung der
Einstimmigkeit. Sie bedeutet einen Qualitätssprung zur
Mehrstimmigkeit, wodurch die Perspektive der Vielfältigkeit
eröffnet wird.
©Mathes Seidl 2011
54
In der Musik wird von Intonation gesprochen. In der
ursprünglichen Bedeutung heisst "intonieren" die Töne
hervorbringen. Hier zeigt sich der unmittelbare Zusammenhang mit dem analen Produkt. Der Ton als verfügbares,
machbares Objekt entspricht dem anal gestifteten Objekt. So
ist es nur konsequent, wenn im Zusammenhang mit dem
produzierten Ton von "sauber" intoniert und "unsauber"
gesprochen wird. Das legt nahe dass der unsauber intonierte
Ton mit dem Verschmieren von Kot bei der Ausscheidung zu
tun hat und entsprechend der sauber und rein intonierte mit
dem reinlichen Ausscheidungsvorgang.
Die ausserordentliche Bedeutung, die die Intonation bei
professionellen Musikern hat, lässt sich meines Erachtens nur
verstehen, wenn wir sie ins Verhältnis zur Ich-Bildung setzen.
Das anal gestiftete Objekt erscheint als entscheidendes
Phänomen im Moment von Autonomiegewinnung, Selbstständigwerdung, Selbstverfügbarkeit, Selbstbehauptung und
Durch-setzungs-vermögen - der anale Aspekt ist hier
besonders deutlich. Das ist eine wichtige Station der IchBildung. Ich vermute, dass die affektive negative Reaktion auf
einen unsauber gespielten Tones eine tiefsitzende Reaktion auf
die gehemmte anale Energetik beim Musizieren ist: Wenn die
spezifisch analen Energien nicht organisch zum Fliessen
kommen, rührt das an die psychologisch wichtige Etablierung
der Ich-Position.
Das energetische Feld der Analität ist gekennzeichnet durch
die antagonistischen Bewegungsformen "Auf-die-SucheGehen" und "Kleben" sowie von der durch diese Bewegungen
definierte Beziehung zum Objekt.
Musik ist Zeitkunst, sie läuft mit der Zeit und ist die Kunst des
Auf-die-Suche-Gehens par excellence. Wo hat sie ihr Objekt?
©Mathes Seidl 2011
55
Aufschluss darüber gibt das Phänomen Rhythmus. Rhythmus
ist zeitliche Gliederung, also Veränderung, was darauf
hinweist, dass das Andere mitspielt. Das Wort Rhythmus
bedeutet einerseits halten, Halt geben aber auch strömen,
fliessen, womit sich die Zugehörigkeit von Rhythmus als
musikalisches Phänomen zum Faktor d im Sinne der zwei
polaren Bewegungstendenzen erweist. Halt geben bedeutet
Objektivierung des ansonsten Strömenden: im Rhythmischen
deutet sich klingend immer wieder ein Anhalten und
Unterbrechen des kontinuierlichen Zeitstromes an, was einen
Anflug von Objektivem erweckt. Dieser Eindruck wird jedoch
vom Strömenden des Rhythmus sofort wieder aufgelöst. So
erweist sich im Hören jedes musikalische Objekt als Illusion
oder: jedes Objekt verliert sich bereits im Entstehen. Insofern
ist Musik ewig findend und ewig suchend zugleich - ihre
zutiefst melancholisch machende Nachricht lautet: nie
wieder!47
Unter den Intervallen ist die Sekund dasjenige, welches das
Wesen des Faktors d manifestiert. Alle anderen Intervalle sind
Sprünge. Wie der erste Schritt, mit dem wir uns auf den Weg
machen, der wichtigste ist, ist es die Sekund für diejenige
Musik, die das motorische Bewegungselement betont: Mit der
Sekund kommt die Musik ins Laufen und bekommt ihre
Läufe, Skalen und Fugen.
Der von mir mehrfach erwähnte Musikwissenschaftler Ernst
Kurth spricht im Rahmen seiner Musikpsychologie von einer
Gravitation zur Tiefe. Ihr sei zuzuschreiben, dass wir Akkorde
von ihrem Schwerpunkt, beziehungsweise Grundton her
„aufbauen“. Diese Gravitation zur Tiefe ist in meinen Augen
eine Auswirkung des analen Faktors d: Die von diesem Faktor
47
Dieser Zusammenhang von halten (objektivieren) und weiterströmen (Auflösung des
Objektiven) in Einem mögen den Philosophen Hermann Schmitz bewogen haben, in Musik
ein "Halbding" zu sehen.
©Mathes Seidl 2011
56
bewirkte Körperenergetik setzt sich in den menschlichen
Schöpfungen organisch fort48: Phänomene können nicht anders
als in ursprünglicher körperlicher Zugehörigkeit und deren
Erweiterung wahrgenommen werden. Während Kurth von
„Umformung“ (der objektiven Phänomene) spricht - , ziehe
ich vor, von Resonanzwirkung zu sprechen. Resonanz besagt,
dass unser Körpergefühl die ursprünglichen, körperlichen
Herkunftsorte - im Fall der Gravitation der untere Bereich von
Becken, Beinen, Füssen (Fundamentalbereich) und dessen
Zugehörigkeit zum Bereich des Fundamentalen - mitschwingend wiedererkennt.
Alle Aspekte, die ich zur Erfassung der spezifischen Qualität
des Wirkfeldes des Faktors d beziehungsweise der spezifischen Energetik der beiden Objektbewegungen kleben/Auf-Suche-Gehen zusammengetragen habe, finden in geradezu
idealer Gestalt ihre Vereinheitlichung im Stil der Barockmusik: Die Freude an der Machbarkeit, an der Bewegung als
Motorik und an der Mehrstimmigkeit als ein Sich-Finden und
Sich-Verlieren an die andere(n) Stimme(n).
Als Beispiel empfehle ich die Brandenburgischen Konzerte
von J. S. Bach (1685-1750).
Die Brandenburgischen Konzerte sind eine Gruppe von sechs
Konzerten (BWV 1046-1051), In denen Bach die verschiedensten zu seiner Zeit gängigen Instrumente mit solistischen
Aufgaben bedenkt.
In der Partitur des 6. Brandenburgischen Konzertes für 2 Violen, Cello, Gambe und Cembalo lassen sich alle angeführten
Aspekte entdecken: Dunkle (schwere) Instrumente beherrschen die Szene; zwischen den zwei Solobratschen findet eine
48
Für den Focusing-Philosoph und -Psychologen Eugene T. Gendlin ist Kultur generell
„Erweiterung des Körpers“.
©Mathes Seidl 2011
57
Treibjagd statt, bei der die eine der anderen als seinem Objekt
dicht auf den Fersen ist (und bei der die Qualität der
Suchbewegung fast ad absurdum geführt ist); und in
aufdringlichster Weise produziert sich der ewig fortlaufende
Bass ("basso continuo"), der in analer Reaktionsbildung auf
die haltlosen Bratschen das tut, was die Musiker in ihrem
Jargon als "schrubben" bezeichnen. Übrigens stellt sich hier
ein Effekt ein, der mit der Zeit die ursprüngliche innere
Einheit der gegenläufigen Bewegungen von Auf-die-SucheGehen und Kleben auf den Plan ruft: Die ewig fortlaufenden
(d+)Bässe tun "ewig das Gleiche" und ziehen dabei
gleichzeitig in ihren Gegenpol auf sich - sie treten auf der
Stelle.
©Mathes Seidl 2011
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Musikbeispiel: 6. Brandenburger Konzert
©Mathes Seidl 2011
59
Liebe
h: Persönliche Liebe
-
Ideelle Liebe
Dein ist mein ganzes Herz!
Diesen Kuss der ganzen Welt!
Faktor h - abgeleitet von Hermaphroditismus - bezeichnet das
Kraft- beziehungsweise Energiefeld Eros.
Hermaphroditismus (Zwittertum) bezeichnet das geschlechtliche Zwittertum: Ein Mensch, der nicht eindeutig männlich
oder weiblich ist, sondern Geschlechtsorgane und/oder sekundäre Geschlechtsmerkmale oder Anteile von beiden Geschlechtern hat, ist ein Zwitter oder Hermaphrodit. Dass
Szondi für den h Faktors das Bild des Hermaphroditen setzt,
hat folgenden Grund: Die noch nicht in weiblich/männlich
differenzierte hermaphroditische Geschlechtlichkeit steht für
die allumfassende Liebe (Alliebe).
Eros ist der griechische Gott der Liebe, einer der ältesten
Götter, der zugleich mit Erde (Gaia), Finsternis (Erebos) und
Nacht (Nyx) aus dem Chaos geboren wurde. Nach anderen
Quellen gilt Eros als Sohn des Kriegsgottes Ares und der
Aphrodite und als einer der schönsten Götter. Als Sinnbild der
Freundschaft und Liebe zwischen Jünglingen und Männern
wurde er zusammen mit Anteros (dem Gott der Gegenliebe
und Rächer verschmähter Liebe) verehrt. In hellenistischer
Zeit erscheint er als Knabe, der mit seinen Pfeilschüssen die
Liebe erweckt. Im römischen Mythos entspricht ihm der Gott
Amor; Eros ist auch das der geschlechtlichen Liebe inne©Mathes Seidl 2011
60
wohnende Prinzip, die sinnliche Anziehung.
Die unterschiedlichen Phänomene des Eros-Kreises beruhen
auf den polaren Tendenzen zu persönlicher Liebe (h+) einerseits und überpersönlicher, ideeller Liebe (h-) andrerseits.
In beiden Fällen geht es um das Prinzip Bindung: "Eros ist die
Triebkraft, welche alles Lebende zueinanderzieht und zusammenhält. Nichts gibt es in der lebendigen Welt an Bindung
ohne ihn. Er ist die Wurzel der Liebe, der Zärtlichkeit und der
Grund der Anziehung. Er ist sowohl der Erzeuger der individuellen Personenliebe als auch der kollektiven Menschenliebe. Eros ist der Faktor jeglicher Bindung von Mensch zu
Mensch in Sexus und Liebe, im Körper und im Geist".49
Nachdem es bei der oralen (m) und analen (d) Dynamik um
die subjektive Gestaltung der Beziehung zum äusseren Objekt
ging (vom Verlassen der Höhle des Eigenen zur Suche des
Anderen in der Umwelt), handelt es sich bei der Eros-Energie
um die Gestaltung der inneren Bindung von Mensch zu
Mensch. Die Qualität der Innerlichkeit, deren zentrales Organ
das Herz ist, kommt ins Spiel. Deshalb spricht Szondi im
Zusammenhang mit der Eros-Kraft auch von "Herzwesen"50.
Herzlichkeit, Innerlichkeit, auch eine gewisse Sentimentalität
kennzeichnen auch die musikalische Welt, die aus der verborgenen Quelle der Erosenergie hervorgeht. Ihre musikgeschichtliche Zeit hat sie während der Blüte der Empfindsamkeit.
Empfindsamkeit wird eine in erster Linie literarische Strömung innerhalb einer Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts genannt. Kennzeichnend für sie ist die Hinwendung zu einer
49
50
Szondi, L.: Lehrbuch...1972, S. 66
ebda: S. 40 (Tabelle 2a)
©Mathes Seidl 2011
61
„sentimentalen“, antirationalistischen Weltsicht. In der Empfindsamkeit herrscht die Qualität des Feinen und Zarten.
Die ästhetische Idee des empfindsamen Stils geht auf in dem
Motto nur Ausdruck, keine Form - alles ist auf Rührung
angelegt. Es geht nicht um die körperliche Einholung oder gar
Eroberung des äusseren Objekts sondern um innere Anrührung, die sich allenfalls im Herzklopfen des empfindsam
berührten Objekts auswirkt. Die oftmals harmlos daherkommende Gefühlsseligkeit ist wohl Ursache dafür, dass sich ein
Prototyp der Empfindsamkeit, das zu seinen Zeiten beliebte
Singspiel, nicht auf den Theaterbühnen halten konnte.
Psychologisch ist das plausibel. Eros ist dialektisch gebunden
an den „ergänzenden Widersacher“ Thanatos. Dessen Energie
- bei Szondi geht sie auf im Thanatosfaktor s - bewirkt
Tatkraft und sexuelle Aktivität. Fehlt diese Dynamik im
Leben, bleibt das dramatische Geschehen nicht nur auf der
Bühne langweilig - auch der sexuelle Akt erschöpft sich nicht
im anrührenden Vorspiel. So wie die verspielte Zärtlichkeit der
Tiere abgelöst wird von der sexuell-betonten Beisslust, hat die
Oper dem Singspiel gegenüber eben jenen dramatischen Biss,
der die Zuschauer "packt" und nicht nur anrührt.
©Mathes Seidl 2011
62
Karl Ditters von Dittersdorf (1739-1799) österreichischer
Komponist, *Wien 2.11. 1739, Schloss Rothlhotta (bei Neuhof,
heute Nové Dvory, Mittelböhmisches Gebiet) 24.10. 1799; gehört mit seinen etwa 40 Opern und Singspielen (»Doktor und
Apotheker«, 1786) zu den Begründern der deutschen komischen Oper. Er ist ebenso wie der Bachsohn Carl Philipp
Emanuel Bach ein typischer Vertreter des empfindsamen
Stils.51
Charakteristisch für die Qualität der Innerlichkeit ist die einseitige Betonung der Eros-Qualität, sprich: Verbindlichkeit.
Diese kippt jedoch vielfach um in Unverbindlichkeit und
Harmlosigkeit.
Zum absoluten Ideal erhoben und gar noch im Verbund mit der
alles überhöhenden Erlösungs-Idee, mündet der reine Eros in
Richard Wagners Idee und kompositorischer Ausführung der
unendlichen Melodie (unendlicher Eros).
Mit dem Ausdruck Unendliche Melodie rechtfertigte Richard
Wagner die Melodik in seinen Musikdramen, die sich einer
periodischen Gliederung widersetzt (also einerseits nicht deutlich gegliedert ist und andererseits nicht enden will). Über
Wagner hinaus ist der Begriff zum Symbol für eine Auflösung
der musikalischen Formen seit dem Ende des 19.
Jahrhunderts geworden, oftmals mit schwärmerisch-esoterischem Beigeschmack.
Wagner gebrauchte die Bezeichnung erstmals 1860 in seiner
Schrift „Zukunftsmusik“, um sein eigenes Kompositionsverfahren zu definieren. Zunächst behauptet er dort, „dass die
einzige Form der Musik die Melodie ist.“ Wenn ein Musiker
das Unaussprechliche sage, sei „die untrügliche Form seines
51
Wer die Möglichkeit hat, eine der 12 Symphonien oder Streichquartette zu hören oder selbst
zu spielen, wird berührt sein von der Authentizität der zu Herzen gehenden Einfachheit und
Schlichtheit dieser Musik. Hier herrscht Eros im Sinne reiner Verbindlichkeit ohne
Beimischung von schärfendem Willen und entsprechender Dramatik.
©Mathes Seidl 2011
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laut erklingenden Schweigens […] die unendliche Melodie.“
Damit machte er sie also zu einer Art innerem Monolog oder
Bewusstseinsstrom.
Wagner stellte die unendliche Melodie als historisch notwendige Befreiung von den Tanzformen der italienischen Oper
dar. Wohl aufgrund zahlreicher Diffamierungen in der Folgezeit („unendliche Melodielosigkeit“) verwendete er den Begriff später nur noch selten.
Der Musikwissenschafter Ernst Kurth sieht im Melodiösen im
Sinne der unendlichen Melodie das eigentliche Prinzip der
Musik: Im Melodiösen offenbart die Musik den ihr innewohnenden elementaren einheitlichen Bewegungszug, die
„klingende Bewegungsenergie“, „kinetische Energie“, die in
den Aspekten Rhythmus und Harmonie ihre sekundären
Gehilfen hat: Rhythmus ist für ihn ein sekundäres Phänomen,
das durch die Projektion kinetischer Energie auf die Motorik
zustande kommt. Rhythmische Unterbrechung des melodiösen
Stromes wirkt als Pulsierung und lebendige Fortsetzung. Man
könnte bei Kurth von der Geburt der Musik aus der - nicht
motorisch aufzufassenden - unendlichen Bewegung sprechen.
Richard Wagner spricht im Rahmen seiner Musikanthropologie der Melodie das primäre Prinzip der Weiblichkeit zu, während das männliche Prinzip sekundär von aussen dazukommt,
wie es der männlich-eindringlichen Sexualität entspricht.
Auch in der Psychologie Szondis ist die Eros-Energie weiblicher Natur, während die der „Erosenergie“ entgegenwirkende
„Thanatos-Energie“ (s), diejenige Kraft ist, die entbindet, und
männlich ist (dazu an entsprechender Stelle mehr).
Nach Szondi bewirkt Eros zwei Bindungsformen: Einmal die
horizontal verlaufende persönlich-erotische Herz-zu-HerzBindung, die sich im zeitlich-strömenden Ablauf der Melodie
©Mathes Seidl 2011
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manifestiert. Die apersonal-ideelle Eros-Form lässt sich gut
verbinden mit den Gesetzen der musikalischen Harmoniebildung und des daraus resultierenden vielstimmigen Zusammenklangs. Ernst Kurth betrachtet harmonikale Strukturen als
Träger potenzieller Energie. Im Gegensatz zur strömendmelodiösen personalen Energie - diese Form ist für Kurth die
ursprüngliche - bleibt die Energie in den Harmonien gestaut
und zusammengeballt, man kann im Sinn der unendlichen
Melodie Wagners durchaus von „unerlöst“ sprechen. Ursprünglich bedeutet Harmonie „zusammenfügen“, „Gelenk“.
Im Bereich der Harmonik wirkt Eros als Wirkkraft innerer
Zusammen-Fügung und innerlicher Verbindung - auch in
dieser Funktion kommt das eher Gestaute zum Ausdruck während sie im Bereich der Melodik die nacheinander
strömend auftauchenden Töne als Glieder in Bewegung
verbindet.
Übersetzt in das Szondische Denken würde also persönliche
Liebe durch einen Energiefluss zustande kommen während
sich der ideelle beziehungsweise harmonikale Eros eher
aufgrund einer Stauung der Energie im Sinne potentieller,
nicht aufgelöster Energie manifestiert. Das heisst natürlich
nicht, dass gestaute Formen gegenüber fliessenden defiziente
Formen sind. Im energetischen Sinn sind sie gleichberechtigt.
Problematisch wird es nur in dem Falle, wenn es zu keiner
lebendigen Rhythmisierung von Spannung und Entspannung
kommt.
In vielfacher Hinsicht gibt es einen Zusammenhang von ErosEnergie und Streichinstrumente. Der ursprüngliche Sitz des
Mutterinstrumentes der Geigenfamilie, der Viola - die anderen
Streichinstrumente sind Ableitungen von ihr - war die Herzgegend. Die Viola wurde an die linke Brust gehalten, erst
später rutschte der Sitz in Kopfnähe zu Schulter, Schlüsselbein
und Hals.
©Mathes Seidl 2011
65
Zwischen Musikinstrumenten und Organen besteht ein tiefer
Zusammenhang: Organum bedeutet Instrument, Werkzeug und
Teil des Körpers, wie ich schon im Zusammenhang mit der
Analität erläutert habe. Die Körperstellen, an die wir die
Instrumente halten, sind energetische Entladungsorte und
psychosomatischer Ursprungsorte. Bei den Streichinstrumenten ist es das Herz.
Die Vierteilung der Streichinstrumente in Geige, Bratsche,
Cello und Bass entspricht einer archetypischen Gliederung:
Die Aufteilung einer Ganzheit in ihre vier Aspekte, wird in der
Jungschen Psychologie als Quaternitäts-Prinzip bezeichnet.
Dieses anthropologische Grundmuster - am allgemeinsten
konkretisiert in der Einteilung der Welt in vier Himmelsrichtungen wie der Jahreszeiten in Frühling, Sommer, Herbst
und Winter - erlaubt es, in der Musik die Aufteilung der
Stimmlagen in Sopran, Alt, Tenor und Bass, die Viersätzigkeit
in der Klassik52, die Viersaitigkeit der Streichinstrumente. Für
C.G. Jung ist die Vierordnung Ausdruck der Wirklichkeit des
Menschlichen.
Welcher Wirklichkeit entsprechen die Streichinstrumente? Die
prototypische Form der Geigenfamilie ist das weibliche
Körperschema. Dadurch gehört die Geigenfamilie zum
Formenkreis der Anima. Die unbewusste Gleichung heisst
Geige=Weib. Hier will ich nur andeuten: Die Geigenfamilie
entspricht den vier Aspekten des Weiblichen beziehungsweise
den vier Arten, in denen der Mensch das Weibliche erlebt: der
Mann erlebt es als sein gegengeschlechtliches Prinzip, aber
auch seines eigenen Unbewussten (Anima), die Frau erlebt es
als Figuration ihrer eigenen Identität.
In der Geige manifestiert sich die persönlichste Form des
Weiblichen: in der Haltung nahe beim Kopf drückt sich die
52
Siehe dazu: Karbusicky, Vladimir: Empirische Musiksoziologie. Wiesbaden 1975
©Mathes Seidl 2011
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Bewusstseinsnähe aus. Die Bratsche verkörpert den mütterlichen Aspekt des Weiblichen. Dafür sprechen Stimmlage
(Alt), Haltung (die leichte Abhängigkeit im Brustraum) und
die musikalische Symbolik. Das Cello entspricht der sitzenden, besitzenden weiblichen Gestalt, deren wie beim Reiten
gespreizte Beine nicht nur anale sondern auch phallische
Qualität anklingen lassen. Der Kontrabass schliesslich repräsentiert jene Urmutter, die Szondi53 als unbewusstes Urbild für
den Erosfaktor h setzt, das hermaphroditische Urweib, die
bärtige Urfrau der Mythologie. Der Kontrabass steht für die
weibliche Urgestalt mit der tiefen unmenschlichen Stimme,
deren Klang sich dem bedrohlichen Geräusch nähert. Deshalb
verschwindet der Kontrabass aus der Partitur in dem Moment,
wenn in Wagners Walküre Brünnhilde angesichts der persönlichen Liebe zweier Menschen entgöttlicht und vermenschlicht
wird: an seine Stelle tritt das Streichquartett als Symbol der
Menschenwelt.
Die Musikinstrumente entsprechen selbstverständlich mehreren Energiequellen: Bei den oben besprochenen handelt es
sich um dominante Formaspekte. Die Geige hat trotz ihrer
Erosbetonung auch phallische Qualitäten, wenn wir beispielsweise an den Aspekt der Virtuosität denken. Meine objektiv
vorgehende und skizzierende energetische Strukturanalyse
kann nur die allgemeinsten Merkmale hervorheben. Die
strukturelle Wirklichkeit hängt wesentlich von den individuellen und auch historischen Vorlieben ab. In den bekannten
Musizier-Kreisen von Freunden alter Musik beispielsweise
wird der phallisch-virtuose Aspekt der Geige kaum dominierend sein.
53
Szondi, L.: Lehrbuch...1972, S. 67
©Mathes Seidl 2011
67
Virtuosität ist ein Begriff für musikalisch-artistische Fähigkeit
beziehungsweise „Tüchtigkeit“ (lat. virtus), in dem das lateinische vir für Mann, Männlichkeit aufscheint. Geigerische
Virtuosität ist meistens gekennzeichnet durch spektakuläre
Manöver mit dem phallischen, säbelartigen Bogen, der das
akustische Spiel mit dem Bild vom degen- und säbelrasselnden Manne überhöht. Weibliche Virtuosität wird häufig
in die Nähe der Lächerlichkeit gerückt. Virtuosität spielte vor
allem in der Zeit der konzertanten Helden-Romantik ihre
Rolle, die sich dann im Zeitalter der Vermarktung der Solisten
zur mythischen Heldenverehrung hochstilisierte.
Es sind bei der Geige noch weitere Komponenten im Spiel, die
auf phallische Energiequellen hinweisen. Die Geige ist das
attraktivste Solo- und Führungsinstrument des Orchesters: ein
Geigensolo ist in der Regel hervortretend, vor allem in den
hohen Lagen der E-Saite - die E-Saite ist denn auch besonders
glanzvoll-durchdringend. Diese Attribute lassen den GeigerSolist als Helden und „wahren Mann“ erscheinen.
Zum Formenkreis der Eros-Energie, deren Wesen Bindung ist,
gehören aber nicht nur die Streichinstrumente sondern generell
die Saiteninstrumente.
Saite geht auf die indogermanische Sprachwurzel saisi=binden zurück. Das erste und einfachste Saiteninstrument
war der Musikbogen, der aus einem Holzspan bestand, dessen
beide Enden mit einer Saite verbunden wurden.
Hier erscheint die Eros- beziehungsweise Bindungsenergie
geradezu prinzipiell konkretisiert. Der (noch) fehlende Bogen
verweist auf die Einseitigkeit der Erosenergie, der der Gegenspieler
Bogen als Manifestation der Thanatosenergie fehlt.
©Mathes Seidl 2011
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Im Zuge einer vielfältigen Differenzierung entstanden
zunächst die Zupfinstrumente. Da bei ihnen die Möglichkeit
besteht, durch Zupfen mehrere Saiten gleichzeitig zum
Klingen zu bringen zählen sie zu den Harmonieinstrumenten.
Wegen ihrer Harmoniefunktion gehören sie also nicht zum
Formenkreis der persönlichen Eros-Energie, die eine lineare
Verbindung mit einem entgegengesetzten Pol sucht sondern zu
jenem der kollektiv- oder ideell erotischen, die umkreisend
spiralförmig ist. Sie sind insofern rein Eros-betont als ihnen
die aggressive Energiekomponente abgeht, die sich bei den
Bogeninstrumenten mit dem ausgreifenden Spielarm manifestiert. Die Instrumente werden in Körpernähe gehalten und
feinmotorisch bespielt - eine gewisse aggressive Komponente
besteht beim Zupfen in dem Sadismus der Fingerkuppe, der
aber erst bei den aggressiveren Zupftechniken wie beim sog.
Bartok-pizzicato voll zutage tritt.
Bartok-pizzicato nennt man die Zupftechnik, bei der die Saite
nicht nur angerissen sondern maximal über dem Griffbrett
hochgezogen wird, wodurch sie beim Loslassen auf das Griffbrett knallt und den speziellen aggressiven Klang(Knall)effekt
erzeugt.
Die sekundäre Entstehung des Streichbogens aus dem Musikbogen entspricht einem allgemeinen sexualpsychologischen
Entwicklungsprozess. Der ursprüngliche Musikbogen war ein
Saiteninstrument, dessen Ton nicht durch ein anderes zusätzliches instrumentales Werkzeug erzeugt wurde. Es wurde von
Hand gezupft. Die kulturelle Erweiterung der Hand beziehungsweise ihre Instrumentalisierung kam mit der Verdoppelung des Musikbogens zustande, indem der dieser in einen
aktiv-tonerzeugenden Musikbogen umfunktioniert wurde. Das
entspricht exakt der Entwicklung der männlichen Genitalität
aus der ursprünglich-weiblichen. Erst im Laufe seiner
©Mathes Seidl 2011
69
Entwicklung nahm er Pfeilgestalt an und offenbarte seine bis
dahin latente Thanatosgestalt: Er wurde zum virtuosen
Streichbogen, mit dem sich sich auch aggressiv-sadistische
Spieltechniken wie staccato oder battuto entwickelten.
Beim Staccato wird der Bogen nicht kontinuierlich gestrichen
wie beim Legato (=Gebunden) sondern gestossen. Dieser
Effekt wird erreicht, indem der Strich abrupt gestoppt (unterbrochen, getrennt) und wieder losgelassen wird.
Battuto ist eine Spielanweisung, bei der der Bogen aus der
Luft auf die Saite geschlagen wird. Eine Variante dieser
Technik ist das Peitschen mit dem Bogen.
Aus all dem ergibt sich, dass sich im Streichbogen eine ambivalente Mischung aus Eros und Thanatosenergie manifestiert.
Im Wort streichen zeigt sich diese Zweideutigkeit: es steht
einerseits für die Eros-betonte Zärtlichkeitsgeste andrerseits
für die Ausführung des Thanatos-betonten Schwertstreiches.
Der in der Einleitung bereits erwähnte Georg Groddeck weist
darauf hin, dass griech. Toxon Bogen und Pfeil heisst, beziehungsweise weiblicher Schoss und vergiftender Pfeil (Phallus)
in einem.
„Dass mit dem Bogen unter Vermittlung des Bogenspannens
die Erektion gemeint ist, während Schuss und Gift auf den
Geschlechtsverkehr und den Samenerguss zurückgeht, ist
klar.“54
Hier eröffnet sich ein Zugang zur Psychosomatik des
verkrampften Geigenarms, bei dem der rechte Bogen-Arm
blockiert ist.
54
Groddeck, Georg (1933): Der Mensch als Symbol. München 1976, S. 79
©Mathes Seidl 2011
70
Aus energetischer Sicht kommt diese Blockierung durch einen
ungelösten Konflikt aus im Zusammenspiel von Eros- und
Thanatosenergie zustande: der Arm kann sich nicht frei
bewegen, da seine Bewegungs-Energie fixiert ist an bestimmte
Bedeutungen, die dem Leben ferngehalten werden müssen.
In diesem Sinn äussert sich auch Groddeck:
„Für das Unbewusste ist die Geige Symbol des Weiblichen,
der Bogen Symbol des Männlichen, daher kommt es, dass bei
innern ungelösten erotischen Konflikten der Geigenkrampf
auftritt. Dasselbe gilt vom Klavierspielen und vor allem vom
Singen; es ist nicht gut, dass die Gesanglehrer so wenig von
diesen Dingen wissen.“ 55
Zusammenfassend lässt sich folgendes über Eros-Energie und
Musikinstrumente sagen: Zu ihrem Bereich gehören generell
die Saiteninstrumente. In erster Linie die Zupfinstrumente und
von diesen unter den modernen Instrumenten die Harfe.
Wegen der Streichbewegung gehören die Streichinstrumente
zu den wichtigsten Vertretern der Eros-Energie. Aber auch bei
den Blasinstrumenten gibt es Eros-betonte Spieltechniken wie
zum Beispiel die pustend-zärtliche Atemführung bei den Querflöten. Hier kommt noch die Armut an Obertönen hinzu, die
dem Klang den immateriellen, vokalen, apollinisch-reinen
Klangcharakter gibt - alles Hinweise auf die Dominanz der
Eros-Energie. Das Konsonantische der Instrumenten mit
Blattmundstück entspricht dagegen dem Dionysischen,
Trennenden, Störenden der Thanatos-Energie, um die es im
folgenden Kapitel geht.
55
Groddeck, G.: Psychoanalytische Schriften zur Literatur und Kunst. Frankfurt/M. 1978,
S. 250 (Fischer Taschenbuch)
©Mathes Seidl 2011
71
Tod
s: Aktivität - Passivität
Der Faktor s, den Szondi von Sadismus ableitet, steht für
Thanatos. Er ist der Gegenspieler von Eros.
Sadismus (nach dem französischen Schriftsteller Donatien
A.F. Marquis de Sade), ist eine Sammelbezeichnung für
sexuelle Orientierungen, bei denen Lust durch das Verfügen
über einen sich hingebenden Sexualpartner und dessen Reaktionen hervorgerufen wird. Sadistische Machtausübung kann
sich z.B. in Befehlen, Schlägen, Fesselungen oder im
Hervorrufen unangenehmer Gefühle und Sinneswahrnehmungen äußern. Während s+ für Sadismus steht ist s- die
Bezeichnung für den polaren
Masochismus Unter Masochismus versteht man die Tatsache,
dass ein Mensch (sexuelle) Lust oder Befriedigung dadurch
erlebt, dass er Schmerzen zugefügt bekommt oder gedemütigt
wird. Der Begriff Masochismus wurde im Jahr 1886 erstmalig
von dem deutschen Psychiater und Gerichtsmediziner Dr.
Richard von Krafft-Ebing wissenschaftlich verwendet. Er
bezieht sich auf den Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch
(1836-1895), der in mehreren Werken Schmerz- und
Unterwerfungsverhalten in Beziehungen zu Frauen schildert
(z.B. „Venus im Pelz“, 1870).
Thanatos ist eine Gestalt aus der griechischen Mythologie:
Verkörperung des Todes, Sohn der Nyx, Bruder des Hypnos.
Nachdem Sisyphos Thanatos in seine Gewalt gebracht hatte,
konnte niemand mehr sterben, bis Ares ihn befreite.
©Mathes Seidl 2011
72
Das griechische Wort Thanatos bedeutet den natürlichen Tod;
gewaltsames Totschlagen, Mord; Todesstrafe, Hinrichtung;
der Leichnam selbst.
Die Thanatos-Energie belegt Szondi in Anlehnung an den
Wiener Psychoanalytiker Paul Federn (1871-1950) mit dem
Begriff Mortitudo: Federn hatte den Begriff als Ausdruck für
die spezifische Energie des Todestriebes gewählt und damit
der Libido als der spezifischen Energie des Eros die
entsprechende Antwort gegeben. Die Pole des energetischen
Feldes der Mortitudo heissen Aktivität - Passivität, Zerstörung
- Selbstzerstörung. Während das Prinzip des Eros Bindung
lautet, ist dasjenige der Mortitudo Entbindung, Destruktion.
Die spezifische Thanatos-Energie bewirkt überall auf der Welt
Zerstörung und Zerstückelung der Ganzheit: „Unter allen
auflösenden und abbauenden Elementen ist er (Thanatos,
Faktor s) das mächtigste.“56
Das archetypische Bild beziehungsweise Prinzip der ThanatosEnergie stellt die phallische Männlichkeit dar, personifiziert
im Urvater und Hordenvater (Freud), dem Patriarchen, der mit
Brutalität die Söhne vertreibt, aber bis zur Selbstaufopferung das erfüllt den Aspekt der Autoaggression bezeihungsweise
Masochismus - bereit ist, die Familie kämpfend zu verteidigen.
Im musikalischen Kontext verwirklicht sich ist diese Energie
in allen Strukturen, die der Bindekraft entgegenstreben: Am
deutlichsten im kurzen, gestossenen Staccato-Ton aber auch
im gezupften Ton: Zupfen ist etymologisch verwandt mit Zopf
und bedeutet ursprünglich das Ausreissen von Haarbüscheln.
Wenn wir berücksichtigen, dass Zopf auch Zipfel bedeutet,
kommen wir rasch zum Schluss, dass es sich hier um das
Thema der Kastration handelt.
56
Szondi, L.: Lehrbuch...1972, S. 73
©Mathes Seidl 2011
73
Musikalisch konstruktiv wirkt sich die Thanatos-Energie vor
allem in seiner Gegensatzspannung zur Eros-Energie aus.
Legato und staccato sind zwei elementare Spielanweisungen,
die sich zueinander verhalten wie Linie und Punkt, aber auch
wie Melos und Rhythmus (mythologische gegensätzliche
Figuren sind der lichtvolle Apollo und der rauschhafte wilde
Dionysos).
Apollo griechisch Apollon, lateinisch Apollo, einer der
griechischen Hauptgötter. Apoll ist kleinasiatischen Ursprungs und vereinigte viele, zum Teil vorgriechische Kulte in
sich (über 200 Kultnamen: so war er als Phoibos Gott des
Lichtes, als Musagetes der Gott der Künste und »Führer der
Musen«). Auch die Römer verehrten ihn seit dem 4. Jahrhundert v.Chr. Augustus erhob ihn zu seinem Schutzgott. Nach
dem Mythos war Apoll der Sohn des Zeus und der Leto, wurde
mit seiner Zwillingsschwester Artemis auf der Insel Delos
geboren, tötete den Drachen Python und übernahm das
Orakel in Delphi, seinem Hauptkultort, wo ihm zu Ehren die
Pythischen Spiele gefeiert wurden. Attribute Apolls sind
Bogen, Leier, Lorbeer. Die griechische Kunst verkörperte
Apoll meist als nackten Jüngling, am hoheitsvollsten im
Westgiebel des Zeustempels von Olympia (460 v.Chr
Dionysos, Bakchos, lateinisch Bacchus, griechischer Gott
der Vegetation, des Weins und der Ekstase, vermutlich ein
Bauerngott thrakischer Herkunft, gehörte ursprünglich nicht
zu den olympischen Göttern; nach den Mythen Sohn des Zeus
und der Semele, mit Ariadne verbunden. Sein Gefolge waren
Mänaden und Satyrn; sein Kennzeichen und das der Mänaden
war der Thyrsos, ein Stab mit einem Pinienzapfen. Weinstock
und Efeu waren ihm heilig. Dionysos wurde in orgiastischen
Kulten gefeiert. Seine Hauptfeste waren u.a. die Anthesterien
(im Frühjahr) und die Dionysien (mit Theateraufführungen)
©Mathes Seidl 2011
74
sowie alle zwei Jahre die Wiedergeburt des Dionysoskindes.
Dargestellt wurde Dionysos bis Ende des 5.Jahrhunderts
v.Chr. als bärtiger Mann mit Binde oder Efeukranz um das
Haupt, einem Trinkgefäß in der Hand, später als Jüngling, mit
Reh- oder Pantherfell bekleidet.
Die phallische Form vieler Blasinstrumente, wie die nach
vorne gestreckten Trompeten, Klarinetten, Oboen bis hin zum
Fagott gehören dazu, weist sie als Manifestationen der sEnergie aus.
Die beiden Tendenzen s+ (aktiv, hart) beziehungsweise s(passiv, weich) bestimmen das Tongeschlecht, welches durch
die Terz determiniert ist. Für die Musikpsychologie bedeutet
der Terzschritt die Öffnung des Innenraums: Die grosse Terz
mit dem ihrem nach oben strebenden und nach aussen
gewandten aktiven Charakter (s+) bestimmt die Dur-Tonart.
Die kleine Terz mit dem abwärtsstrebenden, nach innen
gerichteten und passiven Charakter das Moll- Geschlecht.
Ernst Kurth sieht die entsprechende Energetik („energetischer
Dualismus“) auch bei den Vorzeichen realisiert: während für
das Kreuzvorzeichen (♯) eine steigende Spannungstendenz Kurth: „die dem Lebendigen innewohnende Aufwärtsstrebung“ - charakteristisch ist, gilt für das b-Vorzeichen das
Gegenteil, der Charakter des Spannungsabfalls - „die
Abwärtsstrebung“. (Diese subtilen empfindungsmässigen
Unterschiede sind in der Temperierten Stimmung natürlich
aufgehoben.)
©Mathes Seidl 2011
75
Temperierte Stimmung Nach 1700 haben sich die
temperierten Stimmungen durchgesetzt, bei der die Oktave in
exakt 12 gleich große Halbtonschritte aufgeteilt wird. In
dieser gleichschwebenden Stimmung ist kein Intervall außer
der Oktave wirklich rein, doch die Differenzen sind so gering,
daß man die Abweichung nicht wahrnimmt.
Die Entwicklung der diatonischen Tonleiter bis zum Terzschritt lässt sich als Analogie einer entwicklungspsychologischen Entwicklung anschauen:
Das einheitliche „Intervall“ Prim entspricht der oralen
Dynamik (Faktor m), die das Höhlenhaft, noch ganz und gar
Innerliche, Perspektivlose bewirkt.
− Der Sekundschritt entspricht der analen Dynamik, die auf
Veränderlichkeit, Beweglichkeit und Rhythmus in Bezug auf
das Objekt aus ist. Hier zeigt sich das Zweite (Perspektive).
− Die Terz entspricht der endgültigen Öffnung nach Aussen im
Sinne einer zunächst zärtlichen und dann aggressiven InBesitznahme des äusseren Objekts, wie sie im menschlichen
Leben durch die sexuelle Energie bewirkt wird.
−
Das Zusammenspiel von Eros (h) und Thanatos (s), weiblichmännlich und die aus diesem energetischen Spiel hervorgehenden Formen der Sexualität, eröffnet dem Menschen nicht
nur den Zugang zum Anderen sondern auch zur Umwelt; dadurch gewinnt er Perspektive und Zukunft. In der musikalischen Klassik nimmt diese Dynamik auch klingende Form
an: In der Sonatensatzform, in der sich die Klassik am
deutlichsten ausspricht, wird die Gegensätzlichkeit zum
Programm.
©Mathes Seidl 2011
76
Sonatensatzform ist Bezeichnung für das Formmodell v.a. des
ersten Satzes von Sonaten, Sinfonien und Kammermusikwerken seit der 2.Hälfte des 18.Jahrhunderts. In der Regel
gliedert sich der Sonatensatz in Exposition, Durchführung und
Reprise, der sich eine Koda anschließen kann. Am Beginn
kann eine langsame Einleitung stehen. Die Exposition ist in
Hauptsatz mit dem 1.Thema in der Grundtonart, Überleitung
und Seitensatz mit dem 2.Thema in einer anderen Tonart
unterteilt und wird oft durch einen Epilog abgeschlossen. Die
Durchführung bringt eine Verarbeitung des thematischen
Materials der Exposition mit Modulationen in entferntere
Tonarten. Ihr folgt die Reprise mit der Wiederaufnahme der
Elemente der Exposition.
Im Zentrum ihrer Dynamik stehen die Exposition und
Durcharbeitung zweier gegensätzlicher Themen (männlichweiblich) sowie eine grundsätzliche „Gegensatzfreude“ sei es
in Form von Dur-moll, hell-dunkel, laut-leise.
Formal begegnen wir wiederum der Vierteiligkeit57 (Quaternität) als Ausdruck humaner Wirklichkeit: Exposition, Durcharbeitung, Reprise, Coda heissen die konstituierenden vier
Formteile.
Zwei musikalische Beispiele für die h- beziehungsweise sEnergie erwähne ich zum Schluss.
Für die Erosenergie empfehle ich, das Vorspiel zu Richard
Wagners Oper Tristan und Isolde anzuhören. Hier vernehmen
Sie einen sich ins Unendliche ziehenden Melodiebogen.
Unendliche Melodie, unendlicher Eros, der sich der Erlösung
im Unendlichen entgegenspannt.
57
Siehe Kapitel h, S. 60
©Mathes Seidl 2011
77
Für die Erfahrung der Thanatos-Energie schlage ich vor:
Gustav Holst: Die Planeten. 1. Satz: Mars (the bringer of
war).
©Mathes Seidl 2011
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Ethos
e: Gut
-
Böse
Im Szondischen Denken beruhen die menschlichen Qualitäten
gut und böse auf einer zeitlosen energetischen Dynamik, der
Szondi den Faktor e, von Epilepsie abgeleitet, zuordnet. Wie
hängt die Krankheit Epilepsie, die durch eine extreme
Ausprägung der e-Energetik gekennzeichnet ist, mit den
beiden ethischen Richtungen beziehungsweise den beiden
Tendenzen e+ (Gutsein) und e- (Bösesein) zusammen?
Epilepsie [griechisch »Anfall«], Fallsucht, anfallartig auftretende Funktionsstörungen des Gehirns, meist mit Bewusstseinsstörungen verbunden und von abnormen Bewegungsabläufen begleitet. Die epileptischen Anfälle entstehen durch
die synchrone Entladung von Nervenzellen.
Die spezifische Dynamik dieses Energiefeldes geht zurück auf
den von Szondi formulierten Paroxysmal- oder Überraschungstrieb.
Der Überraschungstrieb (Paroxysmaltrieb58) dient ursprün lich der Unschädlichmachung des Feindes. „Das Lebewesen
übt Handlungen, ja sogar eine ganze Kette von Bewegungen
aus, um durch Überraschung den Feind unschädlich zu
machen, ihn zu lähmen und sich auf diese Weise aus einer
äusseren Gefahr zu retten.“59
58
59
Paroxysmus = anfallsartige Steigerung.
Szondi, L.: Lehrbuch...1972, S. 102
©Mathes Seidl 2011
79
Paroxysmal bedeutet anfallsartige Steigerung bis zur grössten
Höhe. Das Ziel des Paroxysmaltriebes, zu dem auch der im
System anschliessende hysteriforme Verbergens- beziehungsweise Zeigedrang gehört, besteht in der Unschädlichmachung
des Feindes durch eine überraschende Handlung: Während es
beim Tier ausschliesslich um den äusseren Feind geht, dreht es
sich beim Menschen auch um den als Stressor erlebten
inneren Feind. Die Spannungs-Pole e+ bzw. e- vertreten das
Gute und das Böse: Im Falle des Böseseins werden die grobaffektiven Kräfte in Szene gesetzt, die die Taten des Bösen
bewirken. Aus Wut und Hass, Zorn, Rache, Neid und
Eifersucht wird der Mensch potentiell zum Totschläger:
Zunächst staut er seine Gemütsbewegungen bis zum Bersten
auf, um sie dann explosionsartig und überraschend auf die
Mitmenschen zu entladen. Diese Grunddynamik finden wir als
Extremform im epileptischen Anfall als auch in den milderen
Formen bei einem cholerischen Anfall oder Zornesausbruches
vor.
Andrerseits werden von der epileptiformen Energetik auch
jene Bewegungen gespeist, die wiedergutmachen will, die das
Gewissen wachruft, Verbote und Gebote für das ethische
Verhalten bringt. Dieser dynamische Aspekt weckt Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Wohlfahrt. Als symbolische Figuren,
die die beiden Pole des e-Faktors vertreten, figurieren bei
Szondi Kain und Abel. Die Figur Moses steht für die
Integration der beiden Gestalten - Szondi spricht deshalb von
Moses als „Antwort auf Kain“60; Moses, der einen Menschen
getötet hat, stiftet im Sinn der aus dem Gewissen hervorgehenden Wiedergutmachung das Gesetz „Du sollst nicht
töten“. Das ist mehr als die abelitische Gutmachung, die
triebgebunden ist.
60
Szondi, Leopold: Moses Anwort auf Kain. Bern 1973
©Mathes Seidl 2011
80
Der Ablauf der paroxysmalen Energetik lässt sich in folgenden
Phasen darstellen:
- Phase 1: Aufstauen der groben Affekte (Paroxysmale
Phase).
- Phase 2: Explosive Entladung in Form eines Anfalls
(epileptiform).
- Phase 3: Wiedergutmachung.
Der epileptoide Charakter - Charakter bedeutet im energetischen Sinn, dass die spezifische seelisch-körperliche Beweglichkeit relativ starr ist (musterhaft, strukturgebunden) - ist
gekennzeichnet einerseits durch einen Explosionsdrang, der
die Phänomene Wut, Rachsucht, Neid, Mitleidlosigkeit
bewirkt, andrerseits durch einen ethischen Drang, der Qualitäten wie Güte, Milde, Mitleid hervorbringt.
Im beruflichen Kontext bewirkt die e-Energetik den Um- gang
mit starker Dynamik (Flugzeug, Lastwagen, Omnibus), den
Umgang mit den Elementen; der e-Typus neigt zu heiligen
Berufen (Epilepsie bedeutet auch morbus sacer) und Berufen,
bei denen Gerechtigkeit eine Rolle spielt. Die sublimierten
Berufsfelder sind Ethik und Religion.
Wie manifestiert sich die e-Energie im Bereich des
Musikalischen?
Das Bedürfnis nach schlagartiger Entladung des groben Affekts ist bei den Schlaginstrumenten natürlich besonders
dominierend; aber auch Taktschlagen gehört zu den musikalischen Phänomenen der e-Energetik. Der erste Dirigent der
Musikgeschichte, Jean Baptiste Lully, schlug und stampfte
©Mathes Seidl 2011
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noch mit einem grossen Taktstock in den Boden: Bekanntlich
traf er sich dabei in den Fuss und starb an den Folgen.
Sogar im Wort Schlager, der einschlägt wie ein Blitz, lebt die
gestaltende Kraft der e-Energie.
Zu den Quellen des Musikalischen gehört das Bedürfnis nach
übersteigerter Affektäusserung: ursprünglich in Form von
Füssestampfen, In-die-Hände-Schlagen und dem Schlagen auf
die Schenkel. Beim Schuhplatteln ist das noch lebendig.
Schuhplatteln beziehungsweise der Schuhplattler ist ein in
Oberbayern und Tirol verbreiteter Paarwerbetanz, bei dem
die tanzenden Männer zur Musik eines Ländlers mit den
Händen auf Oberschenkel und Schuhsohlen schlagen
(»platteln«), während sich die Frauen um die eigene Achse
drehen.
Das wichtigste Schlaginstrument ist die Pauke. Die
etymologische Verwandtschaft mit Fauchen und Bauch zeigt
sowohl den Zusammenhang mit dem anfallartigen Fauchen,
das mit aufbauschen (hier äussert sich die Neigung zur
Steigerung) verwandt und Index für den gestauten groben
Affekt ist. Dass die Wut im Bauch sitzt, ist bekannt.
Die Pauke ist ein Gefäss, auf das geschlagen wird, wie es uns
auf Gefässe und Magen schlägt. Und nichts symbolisiert das
bedrohliche Näherkommen (Heranrollen) der Gefahr effektvoller als ein Paukenwirbel.
In seinem Buch Kain. Gestalten des Bösen zitiert Szondi61
Quellen, wonach Jubal, Kain-Nachfahre in der siebenten
Generation, der Erfinder von Harfe und Flöte sei, sein Bruder
Thubal-Kain der Erfinder der Schmiedekunst. Von
61
Szondi, L: Kain. Gestalten des Bösen. Bern 1969, S. 43
©Mathes Seidl 2011
82
musikwissenschaftlicher Seite62 (Vogel 1973, 412) wird
betont, Thubal-Kain sei der Erfinder von Zimbeln und
Trommeln. Die apollinischen Instrumente Flöte und Harfe
werden also Jubal zu geschrieben, die dionysischen ThubalKain. Das könnte in meinen Augen Resultat einer Projektion
des Paares Abel und Kain auf die beiden Nachfahren Kains
sein, bei der die abelitischen, apollinischen Instrumente dem
gutmütigen Abel, die dionysischen Schlaginstrumente Kain
zugeschrieben werden?
Zur Urszene der Schmiede gehören das Schlagen des Amboss,
das Beschlagen der Huftiere und das Ins-Feuer-Blasen mittels
eines Blasrohrs. Sie bilden gemeinsam die Wurzel der Schlagund Blasinstrumente. Das lateinische Wort flare heisst blasen,
wehen, ertönen, schmelzen, prägen. Wir können also davon
ausgehen, dass Blas- und Schlaginstrumente kainitischen
Ursprungs sind. Auch die griechischen Daktylen, die als
Erfinder der Musik (des Rhythmus) gelten, waren im übrigen
Schmiede. Ich halte fest: Zur Ursprungsituation der Musik
gehören Schmiede, das Schlagen, der Amboss, Eisen,
Huftiere, Blasen, Feuer - die Szenerie des Kainitischen.63
Ludwig van Beethoven, ein typischer Vertreter dieser explosiven Dynamik, liefert im Gewittersatz seiner 6. Sinfonie
(Pastorale) ihren musikalischen Prototyp. Er selbst hält
ausdrücklich fest, dass es sich dabei um ein inneres
Geschehen, - vermutlich sein eigenes - handelt. In seinem
Skizzenheft der Jahre 1808/1809 schreibt er: „Pastoral
Sinfonie Worin keine Malerej sondern die Empfindungen
ausgedrückt sind, welche der Genuss des Landes im
Menschen hervorbringt.“
62
Vogel, Martin: Onos lyras. Der Esel mit der Leier. Düsseldorf 1973
Michels-Gebler, Ruth: Schmied und Musik. Über die traditionelle Verknüpfung von
Schmiedehandwerk und Musik in Afrika, Asien und Europa. Bonn 1984
63
©Mathes Seidl 2011
83
Die musikalischen Mittel der paroxysmalen Dynamik der
Phase 1 (Stauen und Steigern) sind:
- das Tremolieren der tiefen Streicher als Ausdrucksmitttel tiefer Unruhe und Bedrohung von innen (hier
erscheint das bekannte „Grummeln“ im Magen).
- die breiten dagegen wirkenden Bläserakkorde als
Zeichen der Stauung.
©Mathes Seidl 2011
84
- die impulshaft durchbrechenden Affektanteile: das
Blitzen der Geigen mit dem überraschend wirkenden
sforzato.
- Gewaltsame Klangballungen, abgelöst von plötzlichen
Piano-Einschüben und den darauf folgenden sforzatoEinbrüchen.
- Breite Crescendi als Zeichen einer generellen Steigerung. Die
Phase 2 (Entladung)
- tritt ein mit dem Einsatz der Posaune als Symbol aussermenschlicher Gewalt beziehungsweise göttlicher Macht.
Die Entladung des Bösen ist gleichzeitig der Einbruch der
höheren Macht (eigentlich müsste es genau heissen: im
Entladen der gestauten Energie - sie ist Form des Bösen verwandelt sich die Energie zu einer „abelitischen“.
©Mathes Seidl 2011
85
Nun folgt der Übergang zur
Phase 3 (Wiedergutmachung)
- die langsam aufsteigende Flöte führt zur Klärung. Die
Flöte als h-Instrument vermittelt die apollinische Reinheit
des Herzens, die himmlischen Regionen als Zeichen der
©Mathes Seidl 2011
86
Befreiung von den bedrohlichen dunklen Kräften des
Inneren und den Überstieg zur e+-Phase.
„Frohe, dankbare Gefühle nach dem Sturm“ - mit diesen
Worten überschreibt Beethoven den Satz der Sinfonie, der
psychologisch der Wiedergutmachungsphase entspricht.
Zuerst breitet sich der Klang der Klarinetten aus - von jeher
sind Klarinetten Symbole der Hirtenmusik, des Pastoralen.
Abgelöst werden sie vom Horn, das ich als Organ der
projektiven, indirekten Seinsenergie bezeichne: Der nach
hinten gebogene Schalltrichter bewirkt den indirekten und
geheimnisvollen Klang des Horns: Der Klang kommt aus
der Ichferne und transpersonalen Sphäre des Hintergrunds
(zu diesem Phänomen mehr im Zusammenhang mit der
Energetik des ICHS).
©Mathes Seidl 2011
87
Nach den Klarinetten, den naturhaften Instrumenten, ertönt
das Horn als Ausdrucksorgan der Beseelung. In der Musik
breitet sich eine für die Wiedergutmachungstendenz (e+)
charakteristische Strömung von Naturfrömmigkeit und
Seelenfrieden aus.
©Mathes Seidl 2011
88
Moral
hy: Zeigen
- Verbergen
Den Faktor hy, der den energetischen Bereich von Zeigen (hy
+) - Verbergen (hy-) bezeichnet, hat Szondi von Hysterie
abgeleitet.
Hysterie ist ein in Psychotherapie und Psychiatrie kaum noch
gebräuchlicher Sammelbegriff für Zustandsbilder mit meist
körperlich anmutenden Symptomen, die jedoch durch eine
psychische Ursache bedingt sind. Schon in der Antike wurde
ein Krankheitsbild bei Frauen beschrieben, bei dem
Symptome wie Lähmungen, Schmerzen, Blindheit oder Taubheit auftraten, die aber anders als das bei solchen schweren
Leiden normalerweise möglich ist manchmal auch wieder
verschwanden oder von einer anderen Symptomatik verdrängt
wurden. Diese Krankheit erklärte man sich damals damit,
dass sich bei kinderlosen, unbefriedigten Frauen die
Gebärmutter aus ihrer Verankerung im Körper löst und, im
Körper herumwandernd, Schaden anrichtet. Erst im 19. Jahrhundert wurde allgemein anerkannt, dass die Störung
psychische Ursachen hat. Die »Studien über Hysterie«, die
Freud 1895 zusammen mit dem Internisten Josef Breuer
verfasste, gelten heute als Geburtsstunde der Psychoanalyse.
Der Begriff Hysterie ist heute in den Klassifikationssystemen
durch den Begriff der histrionischen Persönlichkeit ersetzt.
Die hysterische Persönlichkeit ist dagegen in der Psychoanalyse eine auch heute noch gebrauchte Charakterisierung
für Menschen, die durch ein gesteigertes Geltungs- und
Anerkennungsbedürfnis, durch einen ausgeprägten Egozent©Mathes Seidl 2011
89
rismus und oft auch ein theatralisches Verhalten auffallen.
Sich zur Schau stellen beziehungsweise sich verbergen sind
die polaren Merkmale dieses energetischen Bereiches.
Während die Tendenz hy- Sich-Verstecken oder SichVerbergen bei äusserer und innerer Gefahr bedeutet schamhaft verborgen wird vor allem der Eros-Drang - bedeutet
die Tendenz hy+ Geltungsdrang, Exhibitionismus sowie den
Wegfall einer moralischen Scham- und Ekelschranke.
Phylogenetisch hat der hy-Faktor seinen Ursprung im
Bewegungssturm (Flucht nach vorne), Farbwechsel, Mimikry
(Schutzfärbung) - insgesamt Mittel, sich hinter der
demonstrierten Schutzhülle zu verbergen - ontogenetisch in
den Formen von Zeige- beziehungsweise Schaulust.
Zusammen mit der Dynamik des e-Faktors bildet er den
Überraschungstrieb64.
Die Funktionsweise dieses Triebes ist prozesshaft und
vollzieht sich in zwei Phasen:
- Phase 1: Stauen der erotischen „feinen“ Affekte - im
Gegensatz zu den groben epileptiformen Affekten nennt
Szondi sie feine;
- Phase 2: Entladen durch Zurschaustellen (hy+) oder
Verbergen (hy-).
Seine Domäne ist die Schauspielkunst und das Auge ist das
entsprechende Sinnesorgan.
Färbung, Farblichkeit, Verfärbung, sind die wesentlichen Elemente der hy-Dynamik - Farbe zeigt und verdeckt gleich64
S. Kapitel e, S. 79
©Mathes Seidl 2011
90
zeitig! Auch innerhalb der Musik gewinnt die Farblichkeit
Bedeutung als historisch spät auftauchender Parameter Klangfarbe. Die Musik hört auf reine Ohrenkunst zu sein. Indem sie
der Sinnlichkeit des Auges unterstellt wird, ist sie ihres
ursprünglichen Wesens entfremdet.
Das musikalische Denken in Klangfarben hat nach Ernst
Kurth65 eine energetische Wurzel: Die Farbeffekte sind
sinnliche Reflexe gesteigerter Bewegungsenergie und deren
Dynamik.
Je mehr Energien sich in den Klängen stauen, desto stärker
treiben sie auch deren sinnliche Eindruckskomponenten
hervor. Sie sind die innere Lebenserregung, die dem Klangorganismus seine Fülle und Saftigkeit verleiht.
Schon die intensive begriffliche Analogie mit Lichtwirkungen,
welche die Farbeindrücke durchziehen, bestätigt für Kurth die
Wechselwirkung von Energie und Klang: Aufhellung,
Verdunkelung der Harmonik und ähnliches sind sehr
gebräuchliche Begriffe.
Kurth spricht von einer „Durchlichtung von innen auf, die in
solch eigentümlicher Weise das klangliche Element und die
Töne herausdringen lässt. Die ‚Lichtquelle’ ist eine Erregung
in uns, eine Intensitätsquelle...“ Aus dieser Quelle schwingen
laut Kurth gesteigerte energetische Erlebnisse in jene Empfindungen hinein, die uns auch in der Aussenwelt als
Lichtwirkungen als die intensivsten erscheinen. So sind die
Farbeffekte sinnliche Reflexe gesteigerter Bewegungsenergie
und deren Dynamik, was bedeutet, dass auch in
impressionistischer Harmonik Bewegungsenergie wirksam
sein muss, deren Präsenz im Erleben von der Farbigkeit
verdeckt wird.
Je mehr Energien sich in den Klängen stauen, desto stärker
treiben sie auch deren sinnliche Eindruckskomponenten
65
Siehe Kurth, Ernst: Musikpsychologie. Berlin 1931, S. 247
©Mathes Seidl 2011
91
hervor. Sie sind die innere Lebenserregung, die dem Klangorganismus seine Fülle und Saftigkeit verleiht.
Der Klang bildet die äusserste Schicht des Tones, der durch
die Farbe (bzw. die Lichtwirkung) erst zum Phänomen,
Erscheinenden, Dargestellten wird. Die Musikwissenschaft
spricht von Klang auch im Sinn von Tonhülle. Klang verhüllt
und verschleiert die eigentliche Tonsubstanz, die durch Höhe,
Dauer, Stärke determiniert ist. Die farbliche Qualität eines
Tones ist entsprechend nicht messbar und auch nicht exakt
beschreibbar sondern nur durch mehr oder weniger
poesievolle Bilder einzufangen.
Wie das Hysterische wesentlich das Uneigentliche ist, wird bei
der Art von Musik, bei der die Klanglichkeit dominiert die
Musik zu einem intermediären Phänomen: vom Sein des
Tones zum klingenden Erscheinen und Werden der Töne.
Die Klanglichkeit der Musik spielte vor allem in der
französischen Ästhetik eine zentrale und stilprägende Rolle.
Aus der französischen Malerei ist bezeichnenderweise die
Bezeichnung musikalischer Impressionismus entlehnt. Die in
der Malerei zentrale Schicht der Oberfläche66 steht in
absolutem Gegensatz zur deutschen ästhetischen Kategorie
Tiefe.
Die geschichtliche Entwicklung der Klangfarbenästhetik führt
konsequent zu Arnold Schönbergs Klangfarbenmelodie, die
ich deshalb zum Formenkreis des hy-Faktors beziehungsweise
der unbewussten Energetik von zeigen/verbergen rechne.
66
Zur Veranschaulichung dieser Ausführungen empfehle ich Musik von Claude Debussy, etwa
Les nuages oder Les vagues, anzuhören.
©Mathes Seidl 2011
92
Klangfarbenmelodie: Man stelle sich eine einfache Melodie
vor wie etwa „Hänschen klein“, beispielsweise von einer
Klarinette gespielt. Nun stelle man sich vor, dass Hänschen
klein von drei verschiedenen, sich ablösenden Instrumenten etwa Posaune, Geige und Oboe -, gespielt wird: Die Posaune
spielt „Hänschen klein“ - nun fährt die Geige weiter: „ging
allein“ - und nun die Oboe: „in die weite Welt hinein“. Das
führt zu einer Irritation unserer Wahrnehmung: Die Melodie
verliert ihren einheitlichen Gestaltcharakter. Dieser Vorgang
entspricht exakt dem Wesen des Hysterischen: Auflösung der
Identität durch wechselnde Färbungen. Musikalisch wirkt die
Färbungstechnik als Schrittmacher der Transzendierung der
tonalen Identität, zunächst zur freien Tonalität und schliesslich zur Auflösung der tonalen Ordnung zugunsten einer
neuen Ordnung von zwölf gleichberechtigten Tönen.
An diesem Vorgang können wir die subtile Energetik des hyFaktors studieren. Was bewirkt die Färbung in der Musik nun
nicht einfach nur im akustischen Sinne sondern im
energetischen?
Bleiben wir bei dem Beispiel Hänschen klein. Der Farbwechsel kommt durch den Wechsel von Posaune zu Geige zustande.
Wenn wir der im Tonzug der Posaune verlaufende Bewegungsqualität nachspüren, können wir wahrnehmen, dass sie
viel weicher, in sich ruhender, quellender verläuft als der
Tonzug der Geige mit seiner aufreizenden aufspitzenden
intentionalen Qualität während die Oboe mit ihrem gepressten
und gestaut-spitzigen und nervenden Ton wiederum ganz
andere engschnürige Bewegungsabläufe hervorruft.
Der hysteriforme Effekt beruht nun nicht auf der besonnenen
Wahl der spezifischen Farbqualitäten mit ihren unterschiedlichen spezifischen energetischen Anreizen sondern auf der
Fähigkeit zum Wechselspiel des Farbenreichtums, der sich in
der Entladung einer gestauten erotischen-aggressiven Ladung
©Mathes Seidl 2011
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einstellt (wir sehen beim spannungsentladenden Niesen bunte
Lichter vor den Augen). So liegt der Klangfarbenmusik ein
energetisch erregt-intensiver, schillernder, verschleiernder und
flüchtiger Vorgang zugrunde, der gleichsam über die
Oberfläche gleitet und die Vielfalt der Klang-(Licht-)
brechungen in unsere Wahrnehmung projiziert, um diese in
ihrer Färbung vorzuzeigen.
In der Instrumentationslehre, welche die zentrale Theorie des
Einflusses des hy-Faktors im Kontext der Musik bedeutet,
geht es vor allem darum, die Wandlungsformen der
Klanglichkeit (Farblichkeit) der verschiedenen Instrumente zu
untersuchen, um sie einer musikalischen Darstellungskunst
verfügbar zu machen.
Instrumentation (auch Instrumentierung) bezeichnet die
Verteilung der Stimmen einer musikalischen Komposition auf
die einzelnen Instrumente. Bei einem Orchesterwerk kann man
auch von Orchestration oder Orchestrierung sprechen. Die
Theorie der Instrumentation wird Instrumentationslehre
genannt.
Bei der Sichtbarmachung von Musik durch Färbung geht es
meines Erachtens um eine präverbale Sprachlichkeit der
Musik: Durch die Nutzung des Klangs im Sinne einer
Individualisierung durch klangfarbliches Erscheinen, übersteigt sie die ohrenmässige Flüchtigkeit und gewinnt
Oberfläche, Augenblickliches, augenmässige Fasslichkeit,
Merkbares und Bleibendes - mittels der Farbe wird Musik
objektiviert.
Und verborgen: Zum hysteriformen Leben gehört die
Maskierung: Sich zu zeigen und sich gleichzeitig hinter der
Maske zu verbergen ist ein Grundzug des Instrumentalspiels
©Mathes Seidl 2011
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überhaupt. Das gezeigte Instrument wird zum Stellvertreter
des Ich und zu einem persönlichkeitsbildenden Hilfsmittel:
Person geht zurück auf personare=hindurchtönen (durch die
schützende Maske). Beim Dirigent ist das Zeigen des
Instruments sogar zur totalen Verkörperung gesteigert: Der
Dirigent instrumentalisiert seinen ganzen Körper und zeigt
sich in verkörperter Rolle/Instrument beziehungsweise vollkommen maskierter Person.
Die Rohrblattinstrumente erfüllen dieses energetische
Bedürfnis klanglich am idealsten: Wie kein anderes Instrument
maskieren sie die menschliche Stimme.67
Sehen wir diese Instrumente genauer an:
- Es gibt solche mit einfachem Rohrblatt wie Klarinette
und Saxophon und
- solche mit doppeltem Rohrblatt wie Oboe und Fagott.
Das Mundstück der Rohrblattinstrumente wird fest zwischen
die Lippen gepresst. Durch den Atem des Spielers gerät das
Blatt in Schwingungen. Bei der Klarinette schwingt es
meistens völlig frei, nur in den Tiefen Lagen schlägt es gegen
das feste Mundstück - daher der reine pastorale Wohlklang,
dem energetisch die wiedergut- und heilsame strömende
Atem-Qualität (e+) des guten Hirten entspricht.
Bei den Doppelrohrblättern wird der Atem hingegen gestaut
und durch die schmale Öffnung der Blätter gepresst (ähnlich
wie bei einem Strohhalm), bis die zwei Blätter gegeneinanderschlagen. So entsteht ein vibrierender, hochgradig erregter,
schnarrender Ton. Denn der Luftstrom, der bei der Flöte gar
nicht, bei der Klarinette sehr wenig gestört wird - es bildet
sich wenig Widerstand im Vergleich zur idealen gesanglichen
Strömung -, wird bei den Oboen unterbrochen, verfremdet,
67
Dass die menschliche Stimme in allen musikalischen Ausübungen elementare Bewegungsgrundlage ist und durch die Instrumente maskiert wird, belegen beispielsweise Anweisungen
Richard Wagners und Chopins, beim Dirigieren bzw. Klavierspielen stumm mitzusingen.
©Mathes Seidl 2011
95
maskiert und dient der Möglichkeit des klanglichen
Verstellens, Verzerrens und Nachahmens, wie wir es von
kreischenden, krächzenden, jaulenden Kehlkopf und
Stimmbändern kennen.
Die energetisch-hysteriforme Wurzel der Rohrblattinstrumente
tritt am deutlichsten bei Einweihungsriten primitiver Völker,
bei denen junge Männer auf Grashalmen blasen, um die
Frauen vor ihrer bedrohlichen Sexualität zu warnen, zutage:
Schutz vor Sexualität und gleichzeitig anfallartige
(paroxysmale) Entladung der sexuellen Energie. Eine Spur
dieser Dynamik können wir beim Blasen auf dem Kamm
erleben.
Die Oboeninstrumente, deren Vorbild der dionysische Aulos
ist, rechne ich zu den grössten Stimm-Maskierern und -Ver
stellern unter den Instrumenten: Ihr organisches Vorbild ist der
Kehlkopf, der Maskierer der natürlichen Stimme. Bei den
Doppelrohrblatt-Instrumenten kommt hinzu, dass die Luft in
Kopf und Brust gestaut und meistens etwas knallartig, d. h.
überraschend entladen wird.
©Mathes Seidl 2011
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An diesem Beispiel wird erneut die Dynamik der Strukturen
deutlich: Die Blasinstrumente sind in erster Linie oral
definiert. Aber innerhalb des dominanten Oralen spielen
etliche andere Faktoren mit, deren Dominanz oder Latenz von
den wechselnden Kontexten abhängt. Das Lebendige bringt
zwar strukturelle Schwerpunkte im Sinne von Typen oder
Stilarten hervor, die aber gerade im Musikalischen ständiger
Verflüssigung und Verflüchtigung unterliegen.
©Mathes Seidl 2011
97
Bei dem musikalischen Beispiel, das ich für die energetische
hy-Qualität anführe, beziehe ich mich vor allem auf den
Aspekt der Klanglichkeit bzw. Färbung:
Der Impressionist Claude Debussy nutzt die Klangfarben, um
ein bestimmtes Bild klanglich aufscheinen zu lassen:
In dem „Nuages“ betitelten 1. Satz der Nocturnes für
Grosses Orchester (komponiert 1897-1899) vertont Debussy
den „Anblick des unbeweglichen Himmels, über den langsam
und melancholisch die Wolken ziehen und in einem Grau
ersterben, in das sich zarte weisse Töne mischen.“
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Geist
p: Allmächtigsein
-
Ohnmächtigsein
Der Energiefaktor p - Szondi leitet ihn ab von Partizipation steht für jenen Erlebensraum, in dem sich die polare Dynamik
von Allmacht beziehungsweise Ohnmacht abspielt, identifiziert Szondi mit dem
Partizipation heisst bei Szondi die Urform beziehungsweise
die Urstrebung des Ichs, die durch die Fähigkeit zu Transzendenz und Integration gekennzeichnet ist. Transzendenz
bezeichnet jene energetische Bewegung, die die Verbindung
des Subjekts zur Energie des Objekts herstellt, während Integration diese erreichte Verbindung umfasst.68
Die diesem Faktor innewohnende Kraft nennt Szondi
„potestas“ - das ist jene Existenzkraft, die als Seinsmacht die
Erweiterung des Daseinsraums (Existenz- und Horizonterweiterung) bewirkt. Sie erscheint in zwei unterschiedlichen
Formen: Einmal wird die Kraft zum Sein im eigenen Ich
angesammelt, wodurch dieses sich aufbläht und allmächtig
und überwertig wird69 - dem entspricht die Tendenz p+:
Gleichzeitig wird der Umwelt Energie entzogen und sie wird
zu einem Echo des Selbst. Gegensätze werden im Ich
vereinigt: Der Mensch erlebt sich beispielsweise als Mann
und Frau.
Im umgekehrten Fall wird die Seinskraft auf die Umwelt
übertragen, woraus eine Reduktion des selbstbewussten Ichs
resultiert und das Gefühl, ohnmächtig und minderwertig zu
68
69
Nach Szondi, L.: Ich-Analyse. Bern und Stuttgart 1956, S. 33
Szondi, L.: Lehrbuch...1972, S. 138 f
©Mathes Seidl 2011
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sein - bis hin zu dem Gefühl, von einem allmächtigen Anderen
verfolgt und überwältigt zu werden. Das Bild vom Kind im
Wald, das diesen mit eigenen Gedanken, Phantasien ausstattet,
mit den eigenen Seinskräften beseelt und sich deshalb
ohnmächtig darin verliert, drängt sich auf.
Die elementare, in zwei polare Richtungen verlaufende
Partizipations- oder Erweiterungsenergetik - Szondi nennt sie
die „diastolische“ Bewegung des Ich - sorgt für die
Ausstattung unserer Innenwelt: Die Inhalte der Seele,
grossartige, erhebende sowie kleinmachende Phantasien,
Wünsche, Begeisterung und Bewunderung, die Idealisierungen, die von unserem Ich ausgehen, unser Selbstbewusstsein,
die Welt der Ideale, des Geistes und der Kunst - sie alle sind
Manifestationen der elementaren geistigen, diastolichen
Erweiterungsbewegung.
Dieses Grundbedürfnis des Ich erfüllt sich im musikalischen
Kontext am idealsten in der Romantik. (Ernst Kurth zitiert in
diesem Zusammenhang übrigens Jean Paul, für den das
eigentlich Romantische „das wogende Ansummen einer Saite
oder Glocke“ ist.70 Hier ist die diastolische Bewegung zu
erkennen, die uns einmal selbst in Mitschwingung und
Resonanz versetzt oder uns entleert und die Umwelt als
projizierten seelischen Resonanzraum erscheinen lässt.)
Die frühe Romantik, für die prototypisch Carl Maria von
Weber mit der Oper „Der Freischütz“ steht, symbolisiert die
Ichverfassung des partizipativen Menschen. Dieser verlegt
seine eigene Seinsmacht nach aussen in die Natur, um in ihr
partizipativ aufzugehen. Das Instrument, das diese Aufgabe
der Hinausbewegung und -strahlung der Seinsmacht am besten
zur Wirkung bringt ist das Horn: Sein Klang erfüllt die
Umwelt mit seelenvollen Klängen und verschafft der Natur
70
Kurth, Ernst: Musikpsychologie. Berlin 1931, S. 18
©Mathes Seidl 2011
100
einen unendlich weiten Innenraum. Das liegt an seinem
verdeckten und nach rückwärts gewendeten Klang: Der Ton
verstrahlt nicht selbstbewusst, ichhaft phallisch und unmittelbar wie ein Strahl vom Kopf aus - so wie es bei den
Blechinstrumenten Trompete und Posaune der Fall ist vielmehr wird das Horn vom Spieler rückwärts abgewendet
und in die ichferne Welt projiziert. In der Beschallung - und
das heisst Beseelung - des unsichtbaren Hintergrunds erscheint
der wesentliche Zug der Partizipation: Ich selbst bin nichts;
aber ich tauche in den ursprünglichen Hintergrund ein und
kann dann überall sein.
Zu den Instrumenten, welche aus der icherweiternden (egodiastolischen) Energie hervorgehen zähle ich die Gruppe der
Blechblasinstrumente als Ganzes: Obwohl sie phallische Form
und Charakter (vor allem die Trompeten) haben, sind sie nur
als Einzelne zu- und eindringlich - als Ensemble verkörpern
sie Macht, da sie die Seinsmacht des menschlichen Ich am
weitesten hinaustragen. Ihr Körperbereich ist weniger die
Mundzone (Oralität) als der ichhafte Kopf und die Energie, die
beim Blasen freigesetzt wird (lat. flare=blasen, aufblähen >s.
Inflation<), kommt aus dem Nacken, dem Sitz des sich
behauptenden Ich. Die Symbolik der Blechblasinstrumente ist
eng mit Macht verknüpft: Blechbläser begleiten die Herrscher
und verkünden deren Macht, wobei die Trompete mehr die
hart-aggressive Qualität der Thanatos-Energie (s) beziehungsweise die weltliche Ichmacht manifestiert, während die
Posaune als das Instrument der richterlichen Allmacht - und
damit weist sie einen ethischen Aspekt (e-Energie) auf Gestaltung des allmächtigen Ich ist (p+).
Richard Strauss lässt in Also sprach Zarathustra (nach
Friedrich Nietzsche) gleich zu Beginn die Allmachtansprüche
des übermächtigen-aufgeblasenen, inflativen Ich erklingen:
©Mathes Seidl 2011
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Die gewaltigen, sich nach einem grossen crescendo
entladenden Energien der Blechbläser sorgen für diesen sich
ins Masslose steigernden Eindruck. Das musikalische
Programm beginnt mit einem Sonnenaufgang bezie- hungsweise der häufig genutzten symbolischen aufsteigenden Geste
durch Nacht zum Licht.
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Die Vereinigung der Gegensätze im allmächtigen Ich wird
musikalisch wirksam auch in dem Phänomen der Enharmonischen Verwechslung.
Enharmonische Verwechslung nennt man das bloße schreibtechnische Auswechseln von ♯ und ♭; enharmonische Umdeutung findet statt, wenn die andere Schreibweise des
gleichen Tons eine Modulation in eine andere Tonart anzeigt
(z. B. fis in D-Dur wird zu ges in Des-Dur).
Ein Paradebeispiel für diesen Vorgang stellt der berühmte
Tristan-Akkord im Vorspiel zur Oper Tristan und Isolde dar: In
seinem Klang scheint die tonale Identität aufgelöst, - alles
bleibt in der Schwebe oder Gleichzeitigkeit, im Sowohl-alsauch, wie es der inflativen Vereinigung der Gegensätze im
eigenen Ich entspricht.
Die Aufblähung bewirkt im dialektischen Sinn allerdings
Vereinfachung: Während innerhalb des tonalen Systems fis
und ges zwei verschiedenen Tonarten angehören, wird durch
die inflative enharmonische Verwechslung - zwei sind per
Gleichschaltung eins - ein neues System geschaffen. In
historischer Nähe zu Freuds Traumdeutung schafft sich die
Musik ein Tonsystem von 12 gleichberechtigten und voneinander unabhängigen Tönen - die 12-Tonordnung oder kurz
die Zwölftonmusik. Es scheint als müsse die auf- und
abgehobene Romantik mithilfe „formaler Konstruktivität“ (Hans Eisler) wieder Boden unter die Füsse kriegen.
Zwölftonmusik wird eine Musik genannt, die auf Grundlage
der Zwölftontechnik bzw. einer Zwölftonreihe komponiert
wurde. In diesem System werden die zwölf Töne der chromatischen Skala des gleichstufig temperierten Tonsystems vollkommen gleichberechtigt (das heißt: ohne die Prominenz
eines "Grundtones") behandelt. Die Grundlagen der Zwölfton©Mathes Seidl 2011
103
musik wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt.
Zwölftonmusik ist weder mit chromatischer Musik (bei der
zwar auch alle zwölf Töne auf engem Raum vorkommen
können, aber immer noch ein tonaler Bezug bestehen bleibt)
noch mit Atonalität zu verwechseln. Die Zwölftontechnik
übernimmt die Rolle des musikalischen Ordnungsprinzips, die
zuvor die Funktions-Harmonik in der Tonalität innehatte. Da
die Anwendung der Zwölftontechnik ebenso wie das
Hörerlebnis sehr verschieden sein kann, ist Zwölftonmusik
kein Musikstil (wie z.B. der Impressionismus) oder eine
Musikrichtung, sondern bezeichnet die dem Musikstück
zugrunde liegende Kompositionsmethode.
Diese Kompositionstechnik ist vor allem mit dem Namen
Arnold Schönberg verbunden.
Arnold Schönberg (1874-1951) war ein österreichischer
Komponist, Musiktheoretiker, Lehrer, Maler, Dichter und
Erfinder.
Damit Sie einen lebendigen Eindruck vom Übergang der
hochromantischen Überladenheit beziehungsweise dem Erleben im energetischen Raum eines aufgeblasenen, inflativen
Ich zur notwendigen Ernüchterung und realistischen Einschränkung durch die Zwölftonordnung machen können,
empfehle ich Ihnen zwei Werke von
Arnold Schönberg: einerseits das Streichsextett Verklärte
Nacht und andrerseits das 2. Streichquartett.
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Materie
k: Bejahen
- Verneinen
Bejahung beziehungsweise Verneinung sind für Szondi die
zentralen Positionen der Realitätswahrnehmung. Sie bilden
den Bereich des stellungnehmenden Ich. Diejenige Energie,
welche die Stellungnahme bewirkt, wohnt dem Faktor k inne,
den Szondi von Katatonie ableitet. In der Krankheit Katatonie,
die zu den Schizophrenien gehört, kommt eine übermässige
Geladenheit dieser Energie zum Ausdruck.
Katatonie, von griechisch katátonos »abwärts gespannt«.
psychisches Krankheitsbild mit ausgeprägter Störung der
willkürlichen Bewegung.
In der Gegenüberstellung zur Ich-Erweiterung (p) nennt
Szondi diesen Energieträger beziehungsweise dessen Funktion
Egosystole, Ich-Einengung: Die energetische Bewegung
beziehungsweise psychische Funktion p verursacht eine Einengung des Ichs und die entsprechende Einengung, Spannung
und Verkrampfung des gesamten Körpers.
Es erscheint plausibel, dass mit dieser Einschränkungsbewegung die urteilende Stellungnahme einhergeht: Stellungnahme zu den überbordenden Erweiterungsstrebungen des
Wunschbewusstseins, wobei die beiden Möglichkeiten
Bejahung oder Verneinung die Annahme der Wünsche beziehungsweise deren Verwerfung bedeuten. Während das auf
Ausdehnung bedachte Wunschbedürfnis p eine geistige
Bestrebung darstellt, geht es bei der realistätsnahen Stellungsnahme (Realisierbarkeit) der egosystolischen Energie k um
©Mathes Seidl 2011
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Konkretisierung und Materialisierung; Es geht um die
konstruktive Wahrnehmung der Welt.
Die Stellungnahme äussert sich einerseits in der sinnlich
bejahenden Wahrnehmung und andrerseits in der körperlichen
zur Handlung führenden Bejahung. Ihr Gegenpol ist die
Ablehnung und Verneinung der Wunschwelt (geistigen Welt),
bis hin zur ernüchternden Einschränkung und Bürokratisierung, die als das pure Gegenteil der Inspiration
erscheint bis hin zur Destruktion und Selbstdestruktion.
Verneinung kann sich aber auch äussern als Verzicht und
Entsagung, als das Nichtseinwollen und damit den Überstieg
zur jenseitigen Welt - im Sinne des Philosophen Emmanuel
Lévinas - dem Sein „jenseits des Seins“.
In der Musik kommen die gegensätzlichen der Energieformen
k und p beispielsweise in der ästhetischen Dialektik von Form
und Inhalt zum Zug. Die egosystolisch-einschränkende
Energie k bringt die objektiv-messbaren Aspekte der Musik
hervor wie Takteinteilung, Tonhöhe, Dauer, Stärke. Dagegen
entsprechen der p-Energie die energetisch Qualitäten des
musikalischen Materials, das sich der Objektivierung entzieht
und die geistige Innenseite der Materie ins Spiel bringt.
Zu den Musikinstrumenten: Bei keinem anderen Instrument
tritt der Aspekt des Stofflichen, des Materiellen so sehr in
Erscheinung wie beim Klavier, dessen Stofflichkeit sich sogar
in seiner Existenzform als Einrichtungsgegenstand manifestiert.
Die Funktionsweise der Tasteninstrumente beruht auf einem
praktischen (!) Eingriff in die natürliche (diastolische) Tonwelt: Zwei ähnliche aber nicht identische Töne werden
gleichgeschaltet, damit sie mit einer einzigen Taste produziert
©Mathes Seidl 2011
106
werden können. Durch die Ferstlegung zweier nuanciert
verschiedener Töne zu einem, eine Entscheidung des RealIchs zur Goldenen Mitte, wurde die bereits erwähnte Möglichkeit71 der temperierten Stimmungen geschaffen, das mit den
zehn menschlichen Fingern bewältigt werden kann: die
Temperierung beziehungsweise die temperierte Stimmung
(temperiert=gemässigt, richtig gemischt):
Temperierte Stimmung. Nach 1700 hat sich die temperierte
Stimmung durchgesetzt, bei der die Oktave in exakt 12 gleich
große Halbtonschritte aufgeteilt wird. In dieser gleichschwebenden Stimmung ist kein Intervall außer der Oktave wirklich
rein, doch die Differenzen sind so gering, daß man die
Abweichung nicht wahrnimmt. J. S. Bach nutzte die Vorteile
dieser neuen Stimmung in "Das Wohltemperiertes Klavier",
eine Sammlung von Präludien und Fugen in allen Dur- und
Molltonarten.
Die systolische Energie des Klaviers stellt sich der diastolisch
wuchernden Natur entgegen, indem sie Einheitlichkeit in der
Vielheit und Einfachheit der Spielbarkeit bewirkt, - das
bedeutet Vermenschlichung und Kultivierung. (Eine Vorstellung von diesem Prozess können wir uns machen, wenn
wir beispielsweise die 5. Sinfonie von Ludwig van Beethven
im Original hören und dann in der Bearbeitung von Franz
Liszt für Klavier. Während im Original sich die Energie sich
im Reichtum der Stimmenvielfalt und dem Farbenreichtum
des klassischen Sinfonieorchesters entfaltet, erschein
„dieselbe“ Musik in der Klavierfassung reduziert - aber nicht
„ärmer“ sondern energetisch „ausgehaltener“ und weniger
entladungsfreudig.
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Es gab im übrigen um 1600 ein Musikinstrument, das die
inflative (diastolische) Strebung im Tonreich ad absurdum
führte: das sogenannte Universalclavicymbel mit 77 Tasten.
Das ist etwa so, als wollte man dem Menschen 1200 Finger an
die Hand geben, damit er alle seine Wünsche auf einmal
realisieren könnte. Erst der Verzicht auf die gigantische und
unbewegliche Vielheit brachte die substantielle Fülle der
Klavierliteratur.
Es gibt einen verwandten Vorgang in der Musikgeschichte:
Die Beschränkung und Einschränkung der tonalen Grundstruktur auf zwölf gleichberechtigte Töne der Zwölftonmusik
lässt sich als Antwort auf die kaum noch zu bändigende
Ausuferungstendenz der Spätromantik verstehen. Es handelt
sich um einen psychologisch notwendigen Schritt vom
unbeschränkten Wunschdenken zur realitätsbezogenen und
praxisbezogenen Stellungnahme.
An diesem Beispiel wird deutlich, dass das Szondische Modell
ein organismisches Prozessmodell ist. Jede Energiequelle ist
integraler Bestandteil des Systems als Organismus. Die
realitätsbezogene Ich-Einengung hat ihren Sinn in der
Funktion innerhalb des Gesamtorganismus, der psychische
Lebendigkeit heisst.
Nach Ansicht der Schicksalspsychologie sollten alle Energiequellen in die Gesamtdynamik integriert sein, damit sich ihre
Energetik entfalten kann. Erscheint nicht auch aus dieser Sicht
der Vorwurf an die Zwölftonmusik, entartete Kunst zu sein, als
absurd? Energetisch ist sie organische Antwort auf die masslos
gewordene Tendenz der ins „Allmächtige“ strebenden ichentgrenzenden Potestas-Energie.
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Zum Schluss möchte ich noch einen ganz anderen Blick auf
die Verneinungstendenz (k-) der egosystolischen Energie k
werfen: Zur Verneinung gehören auch Verzicht, Entsagung
und schliesslich Versagung. Das sind wesentliche Aspekte der
Musik, die nicht nur vorsprachlich sondern auch „nachsprachlich“ ist. Begonnen habe ich das energetischpsychologische System mit dem Gregorianischen Choral, der
im Zeichen des Lebensbeginnens steht. Der Kreis schliesst
sich in der Weltentsagung als Übergang in die Lebenssphäre
jenseits der Ontologie.
Musik ist sowohl Struktur als auch Offenbarung: Musik
kommt aus dem menschlichen Sein, das sie aber auch
übersteigt, wenn Musik Offenbarung, höher als alle Weisheit
und Philosophie ist (Beethoven).
Als musikalisches Beispiel weise ich Sie auf die Nummern 1-3
aus den Orchesterstücken von Anton Webern hin: Hier ist allen
räumlich-zeitlichen Elementen der Musik entsagt. Der
diesseitige Klang erscheint nur mehr als Vorwand für die
Unendlichkeit, die durch diese Musik hindurchklingt und
vernehmbar wird. Hinter den Tönen herrscht unendliche Stille,
die die Fülle des ganz Anderen offenbart.
Webern, Anton Friedrich Wilhelm, österreichischer Komponist (1883-1945), war Schüler von G. Adler und A. Schönberg,
mit diesem und A. Berg lebenslang eng befreundet. Wie bei
Schönberg entwickelte sich sein Kompositionsstil nach
spätromantischen Anfängen (Opus1 und Opus2) konsequent
zur freien Atonalität (George-Lieder Opus3 und Opus4), seit
den Streichquartettsätzen Opus5 gepaart mit einer extremen
Kürze und motivischen Verdichtung des Satzes, der »einen
Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges
Ausatmen« ausdrückt (Schönberg). Die folgende Schaffens©Mathes Seidl 2011
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phase (Opus 12 bis Opus 19), die Weberns Weg von der freien
zur reihengebundenen Atonalität (Zwölftontechnik) dokumentiert, enthält nur Vokalwerke, bei denen der Text eine
wichtige strukturbildende Rolle übernimmt. Die Kompositionen von Opus 20 bis Opus 31 bedienen sich
ausschließlich der Reihentechnik. Während bei Schönberg und
Berg eine Reihe die Basis zur Themen- und Motivtechnik
darstellt, führt Webern Thema und Reihe zusammen. Die
Reihe spiegelt zugleich die Idee der Komposition, indem sie in
sich bereits (durch Symmetrien, Motiv- und Intervallanalogien) konstruktiv gegliedert ist. So ist z.B. die
spiegelförmige Anlage der Sinfonie Opus 21 in einer
spiegelförmigen (krebsgleichen) Reihe potenziell vorgegeben.
In einigen Werken (z.B. im Konzert Opus 24) bindet Webern
rhythmische, dynamische und klangliche Elemente (v.a. durch
eine spezifische, quasi punktuelle Instrumentation) eng an die
Reihenstruktur, wodurch er durch einen Akt radikaler
Weiterführung und Umdeutung nach 1950 zum Vorbild und
Anreger serieller Komponisten (K.Stockhausen, P.Boulez,
L.Nono) werden konnte.
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Notenbeispiel:
Anton Webern: Sechs Stücke für Orchester Nr III
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Wo sind wir, wenn wir in der Musik sind?
So lautete meine Eingangsfrage. Aufgrund der wichtigsten Erkenntnisse bei meiner Grundlegung des Prozesses musikalischen Erlebens kann ich nun folgende Antworten geben.
1. Wir sind in einem spezifisch musikalischen Erlebens-Raum.
Dieser kommt zustande durch resonanzhaftes Hören, bei dem
es nicht um bestimmte bedeutungsvolle Informationen und
Inhalte geht, sondern um körperlich spürbare Resonanzen, bei
denen ich mich als Mitseiender erlebe: Kennzeichnend für
diesen Raum ist eine Art halbaufgelöster Zustand, in dem
keine scharfen Grenzen zwischen mir und der Objektwelt
bestehen.
2. In diesem musikalischen Raum bin ich in einem strömenden
Fluidum des Werdens. In meinem Erleben zeichnet sich die
Hervorbringung des manifesten Tones, der manifesten Töne
als subtiler Ausdehnungs- Wachstums- oder Erweiterungsprozess ab, der die Ursprungsbewegungen im Innern, die Ränder
des äusseren Körpers bzw. die Ränder der äusseren
Instrumente umfasst und diese in die umgebende Welt
fortsetzt.
3. Dieses Erleben ist nicht apersonal sondern individuell: Das
Tonerlebnis ist identisch mit der körperlichen Verarbeitung des
Tones. Da die individuelle Struktur dem Körper eingeschrieben ist, ist das Tonerleben individuell. Jeder hervorgebrachte
Ton ist ein individueller Ton.
(Das heisst nicht, dass diese personale energetische Schicht
nicht transzendiert werden könnte zu einem apersonalen
Erleben.)
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4. In-der-Musik-Sein eröffnet dem Menschen bedeutsame
Perspektiven. Wir können einerseits mit den subtilsten
anfänglichen, flüssigen, prämateriellen Bewegungen der allgemeinen werdenden Welt in Berührung kommen, andrerseits
können wir im Prozess der Verfestigung der Strukturen
aufmerksam werden auf jene persönlichen Resonanzen, die
unsere differenziert-individuelle Erlebensstruktur besonders
stark ansprechen.
Da Musik sich ins Unendliche ausschwingt, alle objektiven
Strukturen der Welt unterläuft oder durchschwingt können wir
durch Musik mit der ganzen Welt in eine persönliche
Beziehung kommen. Wir können mit Musik wieder „neu
anfangen“ (Sloterdijk).
5. Durch die praktische Interaktion zwischen Musik und
Mensch beim resonanzhaften Hören werden die verfestigten
oft auch verkörperten (somatisierten) Erlebensstrukturen in
den ursprünglich flüssigen Aggregatszustand alles Lebendigen
aufgelöst, in ihren statu nascendi versetzt und in den
ursprünglichen Lebensstrom zurückgeführt.
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Heilsame Wirkungen
Die systematische energetische Erschliessung des Musikalischen erlaubt einen theoretischen Zusammenschluss musikalischer Strukturen mit spezifischen menschlichen Befindlichkeiten (Erlebenstrukturen), bis hin zu pathologischen
Zuständen.
Auf diese Weise lässt sich eine energetisch begründete
„Pharmakologie“ der Musik entwerfen.
Aufgrund des Zusammenhangs von persönlicher und
musikalischer Energetik, wie sie das Szondische energetische
System anbietet, werde ich versuchen, einigen allgemeineren
Befindlichkeiten, Stimmungsmustern und pathologischen
Zuständen das entsprechende „homöopathische“ musikalische
Energetikum gegenüberstellen - ganz im Sinne von Novalis:
„Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem, die Heilung
eine musikalische Auflösung“.
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Musik des Faktors m
Chorwerke, Gregorianik, meditative Vokal-Musik
Einsamkeitsgefühle, -ängste, Abschied, Trennung, Trauer,
Heimweh
Musik des Faktors d
Barockmusik, virtuose Instrumentalmusik,
Brandenburgische Konzerte
Fixiertheit, Blockaden, Hemmung, Beharrung, zwanghaftes
Nicht-von-der-Stelle-Kommen, Bewegungsunruhe,
Ungeduld, Flüchtigkeit, Nervosität
Musik des Faktors h
Gesang (Lied), Streicher-, Flöten-, Harfenmusik, Lyrische
Opern, Singspiel, Oratorien
Bei Zärtlichkeits- und erotischen Bedürfnissen, idealistischer
Bindungsbedürfnisse, Schwärmerei, Hautprobleme
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Musik des Faktors s
Marschmusik, dramatisch-kraftvolle Klänge, Trompeten
konzerte
Bei Antriebsschwäche, depressiven Zuständen, sexuellen
Problemen
Musik des Faktors e
Musik, bei der Stauung und Entladung von groben
Affekten spielt. Vor allem Musik von L. v. Beethoven,
R. Wagner
Bei Migräne, Kopfschmerzen, Ausschlägen
Musik des Faktors hy
Musik mit Klangmalerei, Impressionistische Musik
(französische Musik)
Bei unterdrückten erotischen Spannungen
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Musik des Faktors p
Naturhaft-romantische Musik C.M.v. Weber (Freischütz),
Grossartige Klangballungen: R. Strauss Sinfonische
Dichtungen, F. Liszt
Bei Problemen des Selbstbewusstseins, Selbstwertgefühls
Musik des Faktors k
Rational betonte Musik, J.S. Bach, A. Schönberg
Bei Problemen mit der Realität, Fanatismus, Idolisierung
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Literaturverzeichnis
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Psychologie, I. Bd., I. Halbband. Göttingen 1966
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Dank:
Dem Szondi-Institut, insbesondere Herrn Alois Altenweger sowie Herrn Daniel
Zimmermann danke ich für die Unterstützung bei der Publizierung des Buches;
Herrn Benjamin Sourlier gilt mein Dank für die grosse Hilfe bei der
Fertigstellung desselben.
Herrn Prof. Anton Haefeli, Basel, danke ich für die eingehende kritische Lektüre
des Manuskriptes - trotz und gerade wegen seiner völlig unterschiedlichen
wissenschaftlichen Auffassung. M.S.
Über den Autor:
Mathes Seidl, geboren 1944 in Rostock. Ausbildung zum Bratschisten in
München, Mitglied verschiedener Orchester und Kammermusikformationen.
Studium der Musikwissenschaft an den Universitäten Hamburg und Zürich.
Promotion. Studium der Psychologie und Ausbildung zum Psychotherapeuten
in Zürich. In eigener Praxis tätig. Spezialisiert auf die Arbeit mit Musikern, vor
allem die Anwendung der auf Selbstwahrnehmung beruhenden FocusingMethode auf das Musizieren. Weiterhin als Musiker tätig in den Bereichen
Kammermusik und Freie Improvisation.
Weitere Publikationen: „Die Streichinstrumente als Symbole“ (Hamburg 1998),
eine anthropologisch-psychologische Untersuchung zu den Streichinstrumenten
Geige, Bratsche, Cello, Kontrabass; „Fluidum Musik - die körperliche Wirklichkeit der Töne“. Mit Essays zu einer Erlebnis- und Focusing-orientierten Praxis,
(Neuried-München 2005).
©Mathes Seidl 2011
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