08.10.2012 PSYCHOLOGISCHE GRUNDLAGEN ZUM BEREICH KINDER UND JUGENDLICHE MIT VERHALTENSAUFFÄLLIGKEITEN MAG.A PETRA SANSONE BEGRIFFSBESTIMMUNGEN PSYCHOLOG/INN/EN 1 08.10.2012 KLINISCHE/R PSYCHOLOGE/IN • Die Klinische Psychologie ist ein Teilgebiet der Psychologie. Sie umfasst die Untersuchung, Beratung und Behandlung von einzelnen Menschen, Paaren, Familien und Gruppen in Hinblick auf psychische aber auch soziale und körperliche Beeinträchtigungen und Störungen. Insbesondere beschäftigt sie sich mit: • psychischen Störungen • körperlichen Störungen, bei denen psychische Einflüsse ein Rolle spielen • psychischen Extremsituationen • psychischen Folgen akuter Belastungen • Entwicklungskrisen und psychischen Krisen GESUNDHEITSPSYCHOLOGE/IN • Durchführung geeigneter Maßnahmen für die Förderung und Erhaltung der Gesundheit • Bestimmung von Risikoverhaltensweisen • Mitwirkung bei der Vorbeugung von Krankheit • Mitarbeit bei der Verbesserung des gesundheitlichen Versorgungssystems PÄDAGOGISCHE PSYCHOLOGIE • Beschreibung und Erklärung der psychologischen Komponenten von Erziehungs-, Unterrichts- und Sozialisationsprozessen, einschließlich ihrer Formen und Situationen • Intelligenz, Begabung, Hochbegabung • Leistungsangst • Motivation, extrinsisch vs. intrinsisch Lernmotivation, Leistungsmotivation • Interpersonale Wahrnehmung, • Aspekte des Schulunterrichts, Unterrichtsqualität, Leistungsbeurteilung in der Schule • Familie, Migrantenkinder, Behinderte, soziale Benachteiligung 2 08.10.2012 • • • • • • EntwicklungspsychologIn KinderpsychologIn NotfallpsychologIn GerontopsychologIn SportpsychologIn … • Keine geschützten Berufsbezeichungen! Auf Qualifikation achten! VERHALTEN VERHALTEN (STRASSER, 2005) • Gesamtheit aller beobachtbaren und feststellbaren Aktivitäten des lebendigen Organismus • Reaktion auf bestimmte Reize oder Reizkonstellation • Angeboren oder erworben (resp. Gelernt) • Enstehung: bio – psycho – sozialer Prozess 3 08.10.2012 EINFLUSSGRÖßEN AUF DAS ENTSTEHEN VON VERHALTEN (STRASSER, 2005) • Wahrnehmung der Innen- und Außenwelt • Assoziation, der Beurteilung, der Planung von Zielen, von Absichten und von Aktivitäten • Gefühlsmäßige Verbindung mit Interesse, Freude oder auch mit Abwehr und Zorn • Kreislauf, Atmung, Stoffwechsel und Verdauung. SINNVOLLES VERHALTEN • Einleuchtende Vermutungen und Erklärungen über: • • • • Ursachen Motive, Absichten und Konsequenzen Wirkung und Erfolg. • Wer bestimmt, welches Verhalten sinnvoll ist? UNERWÜNSCHTES VERHALTEN • Verstoß • Gegen Erwartungen • Gegen Normen und Regeln des Umfelds (individuell, sozial, rechtlich, institutionell, kulturell) • Selbst- und Fremdverletzendes Verhalten 4 08.10.2012 VERHALTENSAUFFÄLLIGKEITEN WAS SIND VERHALTENSAUFFÄLLIGKEITEN? • Blick Psychologie vs. Blick Medizin • Klinische Diagnose vs. Subjektive Einschätzung SAMMLUNG • Welche Formen der Verhaltensauffälligkeit kenne ich? 5 08.10.2012 ERSCHEINUNGSFORMEN NACH AUßEN BZW GEGEN ANDERE GERICHTETE VERHALTENSAUFFÄLLIGKEITEN • z.B. aggressives und unsoziales Verhalten, Delinquenz, Bullying, motorische Unruhe, mangelnde Fähigkeit, aufkommende Impulse zu kontrollieren (z.B. Wutausbrüche), Fordern von Aufmerksamkeit • diese meist aktiv störenden SchülerInnen bereiten im Unterricht nicht selten je nach Zusammensetzung der Klasse und Klassenführung mehr oder weniger große Probleme NACH INNEN BZW GEGEN SICH SELBST GERICHTETE VERHALTENSAUFFÄLLIGKEITEN • z.B. psychosomatische Beschwerden, Ängste, Depressivität, sozialer Rückzug, Vereinsamung, mangelndes Selbstwertgefühl, SVV, u.a. • diese SchülerInnen stören meist nicht aktiv den Unterricht 6 08.10.2012 • Jedes Verhalten macht für das betreffende Kind Sinn • Sinn: • Regulation • Ausdruck • Begleiterscheinung ENTWICKLUNGSGESCHICHTLICHE GRUNDLAGEN PSYCHODYNAMISCHES MODELL (RUDOLF, 2000) DAS ERSTE VIERTELJAHR: AUFBAU DES KOMMUNIKATIONSSYSTEMS • Körperlich • Körperlich-vitale Abhängigkeit (Nahrung, Wärme, Hautpflege, Reizzufuhr, Reizschutz) • Angeborene motorische Schemata • Propriozeptive Wahrnehmung, Tiefensensibilität • „visuelle Blase“ • Intrapsychisch • • • • Körperliche Bedürfnisse, köpernahe Affekte Selbst und Objekt noch wenig differenziert (mediales Erleben) Entfaltung emotionaler Aufmerksamkeit; Intentionalität Aufbau basaler Zuversicht (in der Möglichkeit der Kommmunikation) 7 08.10.2012 DAS ERSTE VIERTELJAHR: AUFBAU DES KOMMUNIKATIONSSYSTEMS • Sozial • Asymmetrische Beziehung (dyadisch, symbiotisch, primäre Liebe) • Primäre Gerichtetheit des Kindes auf Menschen • Primäre Gerichtetheit der Mutter auf das Kind • Sich einschwingen, Synchronisieren des Kontakts (attunement) • Verwendung angeborener Kommunikationsschemata SAMMLUNG • Wie könnte sich ein Kind mit Defiziten in dieser Entwicklungsphase verhalten? DAS ERSTE VIERTELJAHR: AUFBAU DES KOMMUNIKATIONSSYSTEMS • Störung • Ursache: fehlende Passung (bezüglich Versorgung und Einschwingen) • Folge: Kommunikationsabriss, Affektstürme, Außer-sich-Geraten (Selbstverlust, Weltuntergang) • Bewältigung durch spezifische Abwehr 8 08.10.2012 DAS ERSTE LEBENSJAHR: AUFBAU DES BINDUNGSSYSTEMS • Körperlich • Fokussieren der optischen und akustischen Aufmerksamkeit • Motorische Entfaltung (Saugen, Greifen, Krabbeln, Aufrichten, Stehen, Laufen) • Zunehmend aktive Oralität • Sensomotorische Koordination DAS ERSTE LEBENSJAHR: AUFBAU DES BINDUNGSSYSTEMS • Psychisch • Anfänge des körperlichen Ich (Mund, Hand, Auge) • Differenzierung von Ich und Nicht-ich (Selbst und Objekt) • Positive Affekte (Sicherheit, Geborgenheit, körperliches Wohlbehagen, Kompetenz, Funktionslust) • Negative Affekte (Erregung, Verzweiflung, Schmerz, Trauer, Wut) • Bedeutung der Mundwelt (orale Befriedigung, orale Exploration) • Intrapsychische Repräsentanz der wichtigen Objekte; Objektkonstanz • Intentionale Ausrichtung DAS ERSTE LEBENSJAHR: AUFBAU DES BINDUNGSSYSTEMS • Sozial • Von Anfang an objektsuchend, sozial aktiv • Einübung der Kommunikation und menschlichen Bezogenheit • Interaktion initiierend und steuernd (Entscheidung über Zuwendung oder Abwendung) • Auf- und Ausbau des Bindungssystems • Passung mit verfügbarem Objekt („good enough“) • Negative Affekte gemeinsam „verdauen“ 9 08.10.2012 SAMMLUNG • Wie könnte sich ein Kind mit Defiziten in dieser Entwicklungsphase verhalten? DAS ERSTE LEBENSJAHR: AUFBAU DES BINDUNGSSYSTEMS • Störung • Ursache fehlende Passung • Folge • Defizit an oraler Versorgung und Erfahrung der verlässlichen Nähe • Unlustspannungen und Erregungen bleiben unverdaut • Unfähigkeit, sich selber mit Hilfe eines anderen steuern zu können • Unfähigkeit, sich im eigenen Körper wohlzufühlen • Fehlendes Vertrauen in eigene soziale Kompetenz und Liebenswertheit • Zweifel an Verlässlichkeit und Verfügbarkeit des anderen • Ängstliche Erwartung von Verlust und Enttäuschung 2./3.LEBENSJAHR AUFBAU DES AUTONOMIESYSTEMS • Körperlich • Differenzierung der Bewegungs,- Handlungs,-Sprach,-Sphinktermotorik • Intrapsychisch • • • • • • • • • • • Erleben von Ich im Handeln und Sprechen Selbst-Objekt-Differenzierung abgeschlossen Selbststeuerung von Handeln, Denken, Affekten Frühes Selbstbild, kindliches Größenselbst Sprachlich-logische Ordnung der Welt Elemente magischen Denkens Freude am Fremden, Explorationationslust (ad-gredi) Freude an der Eroberung und Inbesitznahme der Objektwelt Freude am Behaltenwollen des Eigenen (anal-retentiv) Internalisierung des Normensystems Ambivalenzen (festhalten – loslassen, lieben – hassen, Erregung – Sicherheit) 10 08.10.2012 2./3.LEBENSJAHR AUFBAU DES AUTONOMIESYSTEMS • Sozial Sprachliche Kommunikation Annäherung an und Distanzierung von der Objektwelt Affektintensive Auseinandersetzung mit der Objektwelt Konfrontation mit Normen und Regeln der sozialen Welt (beginnende Über-Ich-Entwicklung) • Identifizierung mit sozialen Rollen, spielerische Umgang mit Geschlechterindentität • Selbständigkeitsforderungen und Wiederannäherungswünsche • • • • SAMMLUNG • Wie könnte sich ein Kind mit Defiziten in dieser Entwicklungsphase verhalten? 2./3.LEBENSJAHR AUFBAU DES AUTONOMIESYSTEMS • Störung • Ursachen • • • • ängstliche Fürsorge rigide Normen aggressive Unterdrückung oder Mangel an sozialer Verbundenheit und Steuerung • Folgen • • • • • Ängstliche Abhängigkeit Selbstwertzweifel Gestaute Aggressionen (Selbsthass) Fehlende Erfahrung mit dem eigenen Selbst oder Fehlende Erfahrung sozialer Verbindlichkeit • Kombination mit frühen Störungen 11 08.10.2012 3.-6.LEBENSJAHR PSYCHOSEXUELLE UND SOZIALE IDENTITÄT • Körperlich • Sensomotorische Koordination, Steuuerung und Kontrolle verfeinert • Anklänge von Erotisierung des Körpers • Intrapsychisch • Bewusstheit des Selbst • Realitätsprüfung: Erfahrung von Zeit und Begrenztheit, Vorstellung von Sein und Nicht-Sein, Tod und Leben • Eindeutigkeit der Dinge und sprachlichen Begriffe; Gültigkeit der Logik • Die großen Themen: Liebe, Sexualität, Geburt, Tod • Eindeutige psychosexuelle Identität • Angst vor antizipierbaren Gefahren, zB Verlust der körperlichen Integrität („Kastrationsangst“) 3.-6.LEBENSJAHR PSYCHOSEXUELLE UND SOZIALE IDENTITÄT • Sozial • • • • • • Ödipale Triangulierung Gleichgeschlechtliche Beziehung Gegengeschelchtliche Beziehung Ausgeschlossener Dritter bei Beziehung der anderen Eindeutige Position im sozialen Netz Ausbau von sozialen Rücksichten und Loyalitäten • Störung • Ursachen • Ablehnung der Geschlechtsrolle des Kindes oder • Verführerisches Angebot als Ersatzpartner • Erotisierung der Eltern-Kind-Beziehung SAMMLUNG • Wie könnte sich ein Kind mit Defiziten in dieser Entwicklungsphase verhalten? 12 08.10.2012 3.-6.LEBENSJAHR PSYCHOSEXUELLE UND SOZIALE IDENTITÄT • Störung • Folgen • Persistierende Elternbindung in gleichgeschlechtlicher Identifizierung oder gegengeschlechtlicher Bindung an ein Elternteil • Aufbau eines falschen Selbst (narzisstischer Anspruch, phallische Rivalität bei gleichzeitig starkem Selbstzweifel) • Doppelte Buchführung, Nicht-genau-wissen-Dürfen PSYCHOSOZIALE BELASTUNGEN, DIE ZU FEHLENTWICKLUNGEN FÜHREN KÖNNEN PSYCHODYNAMISCHE SICHT (RUDOLF, 2000) SAMMLUNG • Welche psychosozialen Belastungen haben Einfluss auf das Verhalten des Kindes? 13 08.10.2012 ACHSE V • Abnorme intrafamiliäre Beziehungen • Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung • Disharmonie in der Familie zwischen Erwachsenen • Feindliche Ablehnung oder Sündenbockzuweisung gegenüber dem Kind • Körperliche Kindesmisshandlung • Sexueller Missbrauch (innerhalb der Familie) ACHSE V • Psychische Störung, Abweichendes Verhalten oder Behinderung in der Familie • Psychische Störung /abweichendes Verhalten eines Elternteils • Behinderung eines Elternteils • Behinderung der Geschwister • Inadäquate oder verzerrte intrafamiliäre Kommunikation ACHSE V • Abnorme Erziehungsbedingungen • • • • Elterliche Überfürsorge Unzureichende elterliche Aufsicht und Steuerung Erziehung, die eine unzureichende Erfahrung vermittelt Unangemessene Forderungen und Nötigungen durch die Eltern • Abnorme unmittelbare Umgebung • • • • Erziehung in einer Institution Abweichende Elternsituation Isolierte Familien Lebensbedingungen mit möglicher psychosozialer Gefährdung 14 08.10.2012 ACHSE V • Akute belastende Lebensereignisse • Verlust einer liebevollen Beziehung • Bedrohliche Umstände infolge von Fremdunterbringung • Negativ veränderte familiäre Beziehung durch neue Familienmitglieder • Ereignisse, die zur Herabsetzung der Selbstachtung führen • Sexueller Missbrauch (außerhalb der Familie) • Unmittelbar beängstigende Erlebnisse • Gesellschaftliche Belastungsfaktoren • Verfolgung oder Diskrimierung • Migration oder soziale Verpflanzung ACHSE V • Chronische zwischenmenschliche Belastungen im Zusammenhang mit Schule oder Arbeit • Abnorme Streitbeziehungen mit Schülern/Mitarbeitern • Sündenbockzuweisung durch Lehrer/Ausbilder • Allgemeine Unruhe in der Schule/Arbeitssituation • Belastende Lebensereignisse oder Situationen infolge von Verhaltensstörungen oder • • • • Behinderung des Kindes Institutionelle Erziehung Bedrohliche Umstände infolge von Fremdunterbringung Abhängige Ereignisse, die zur Herabsetzung der Selbstachtung führen SINN DES VERHALTENS 15 08.10.2012 • Jedes Verhalten macht für das betreffende Kind Sinn • Sinn: • Regulation • Ausdruck • „Begleiterscheinung“ VERHALTEN ALS VERSUCH DER REGULATION HANDLUNG(SDRUCK) wahrnehmen interpretieren fühlen Handlung 48 16 08.10.2012 HILFLOSIGKEIT wahrnehmen interpretieren fühlen Handlung 49 STEUERNDE ICH-LEISTUNGEN • Impulsteuerung • Durchbruch vs Übersteuerung • Affektsteuerung • Affekttoleranz • Regressionssteuerung • Regression im Dienste des Ich VERHALTEN ALS FORM DES AUSDRUCKS 17 08.10.2012 • Handlungsrepertoire auf unterschiedlichen Ebenen? • Sprachlicher Ausdruck • Konfliktregulierung • Abwehrfunktion EMOTION - WUT • Emotionale Deutung Die Situation ist so, dass ich mich ärgere über etwas / jemanden • Objektbezogene Handlungsabsicht Ich leite einen Angriff gegen einen bösen Anderen ein. • Objektbezogener Apell Du Objekt verschwinde, sonst greife ich dich an und beschädige dich. VERHALTEN ALS „BEGLEITERSCHEINUNG“ 18 08.10.2012 AUSWIRKUNG VON LEISTUNGSPROBLEMEN • Zusätzliche Verhaltensproblematik aufgrund von Leistungsproblemen (z.B. Konzentration, Ausdauer, Motivation, Selbstregulation) VERHALTEN UNTER STRESS FIGHT OR FLIGHT • Siehe Aggression 19 08.10.2012 LITERATURANGABEN • Gerd Rudolf Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik“ Thieme, 2000 S. 36 – 67 • U.Strasser Warum machst du das? Sinn und Legitimation von unerwünschtem Verhalten INSOS-Tagung, 2005 • Folien 16-18 von Dr.Hans Henzinger • Bei Fragen: [email protected] 20