Die Gegenwart Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12

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Die Gegenwart Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.07.2005, Nr. 159,
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Das deutsche Problem
Von Professor Dr. Manfred Kittel
Das Schicksal der deutschsprachigen Minderheiten in Ostmitteleuropa und in Westeuropa
konnte nach 1945 unterschiedlicher nicht sein. Im sowjetisch dominierten Teil Europas
wurden die Deutschen vertrieben. In Belgien und in Dänemark hingegen konnten sie in ihrer
Heimat bleiben, nach Südtirol sogar zurückkehren.
Kollektive Vertreibungen deutscher Volksgruppen aus ihrer angestammten Heimat fanden am
Ende des Zweiten Weltkrieges nur im östlichen, nun sowjetrussisch dominierten Teil Europas
statt. Aus den 1945 von Polen und der Sowjetunion annektierten Ostgebieten des Deutschen
Reiches, aus dem Territorium Vorkriegspolens, aus der Tschechoslowakei, Ungarn,
Jugoslawien und der Sowjetunion wurden annähernd 15 Millionen Menschen fast geschlossen
zwangsausgesiedelt, soweit sie nicht bereits vor der Roten Armee geflohen oder
umgekommen waren. Ganz anders sah die Lage im Westen Europas aus. Hier konnte die
deutschsprachige Bevölkerung im (wieder) belgisch gewordenen Gebiet von EupenMalmedy, im dänischen Nordschleswig, im italienischen Südtirol, in dem von Frankreich
beanspruchten Saarland und auch in dem ohnehin ganz besonderen Fall von Elsaß-Lothringen
in ihrer Heimat bleiben - von wenigen Ausnahmen meist hauptschuldiger NS-Kollaborateure
abgesehen. Der Befund ist eindeutig: politische Säuberung im Westen, ethnische Säuberung
im Osten. Doch wie ist dieser Gegensatz zu erklären?
Es reicht nicht aus, nur auf den Systemunterschied zwischen freiem Westen und
kommunistischem Totalitarismus zu verweisen. Die unmittelbare Nachkriegszeit stand in den
Ländern Ostmitteleuropas zunächst noch im Zeichen antifaschistisch- (volks)demokratischer
Zusammenarbeit zwischen kommunistischen und bürgerlichen Kräften. Deren prinzipieller
Zustimmung hat die Politik der Vertreibung mithin bedurft. Zudem ist zu beachten, daß
zumindest der deutschen Volksgruppe in Rumänien das Schicksal der Zwangsaussiedlung
erspart blieb, wenngleich Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben durch Verschleppung
nach Sibirien, Enteignung und Entrechtung ebenfalls drangsaliert wurden.
Zu den Erklärungsfaktoren älteren Ursprungs, älter, als der Zweite Weltkrieg allein sie liefert,
zählt die unterschiedliche Entwicklung des Nationalitätenkonflikts zwischen den Deutschen
und ihren Nachbarn im Osten und Westen. Im Osten waren die Deutschen bis zum Ende des
Ersten Weltkriegs in einer relativ starken, teils sogar offensiven Position, im Westen dagegen
agierten sie lange eher aus der Defensive. Die alemannischen Elsässer im deutschfranzösischen Grenzraum etwa waren vor 1871 aufgrund der machtpolitischen Verhältnisse
und der Attraktivität westlicher Zivilisation in die französische Staatsnation hineingewachsen.
Im deutsch-polnischen Grenzbereich dagegen orientierten sich die slawisch-protestantischen
Masuren an Preußen.
Die Deutschsprachigen im belgischen Eupen-Malmedy, im dänischen Nordschleswig, im
italienischen Südtirol und in Elsaß-Lothringen, die infolge der Pariser Vorortverträge 1919
abermals oder erstmals zu einem Minderheitenschicksal verurteilt wurden, sahen sich in ihren
kulturellen Rechten zwar beschnitten. Doch ihre Empfindungen waren nicht zu vergleichen
mit den Verwerfungen, die mit der neuen Grenzziehung für die deutschen Minderheiten in
Ostmitteleuropa, im polnisch gewordenen "Korridor", im Memelgebiet oder im Sudetenland
einhergingen. Diese wurden gleichsam über Nacht in neue Staaten mit mehrheitlich meist
slawischen Staatsvölkern gezwängt - jungen Nationen, denen in langen Jahren preußischer,
österreichischer oder auch russischer und osmanischer Vorherrschaft manche Wunden
zugefügt worden waren. Sie hatten spät einen Nationalstaat gebildet und trieben nun ihrerseits
in einem nachholenden nationalistischen Akt eine mehr oder weniger repressive Politik gegen
die deutschen Minderheiten.
West - und Ostpolitik
der Nationalsozialisten
Unter diesen Umständen verschärfte sich der Nationalitätenkonflikt nach 1918 noch einmal
erheblich - und zwar vor allem im Osten, wo der prozentuale Anteil der deutschen, aber auch
anderer Minderheiten sehr viel höher war als in den westlichen Ländern. Einige Millionen
Sudetendeutsche und Ungarn waren in der - noch dazu künstlichen - tschechoslowakischen
Staatsnation ein ganz anderer Machtfaktor als die wenigen Hunderttausend Südtiroler im
großen Italien oder die 60 000 Deutsch-Eupener im Königreich Belgien. Zudem handelte es
sich bei den östlichen Staaten, von Rumänien abgesehen, sämtlich um Neu- oder
Wiedergründungen, also um ungefestigte, oft labile Demokratien. Minderheitenprobleme
waren für sie auch insofern schon existentieller. In den etablierten westlichen Staaten dagegen
ging von den kleinen bis winzigen Minoritäten nicht einmal potentiell eine Gefahr für die
Existenz des Staatswesens selbst aus.
Die Lage der deutschen Volksgruppen im Osten und Westen war also lange vor dem Zweiten
Weltkrieg denkbar unterschiedlich. Und schon vor der Machtübernahme der
Nationalsozialisten war die Situation an den Ostgrenzen des Deutschen Reiches ungleich
angespannter als im Westen. Hitler mußte den Sprengstoff nicht erst herbeischaffen, er mußte
ihn nur noch zünden. Die staatliche Neuordnung des europäischen Kontinents, die Hitler seit
1938/39 mit Gewalt erzwang, enthüllte vor allen Augen, wie unterschiedlich West- und
Ostpolitik der Nationalsozialisten waren. Nicht um "Lebensraum" im Westen ging es Hitler
vordringlich, sondern um "Lebensraum" im Osten - auf Kosten der vermeintlichen
"slawischen Untermenschen". Entsprechend verschieden waren die politischen Strategien
Berlins gegenüber den deutschen Sprachminderheiten in West und Ost.
Im Westen wurde 1940 einstweilen nur Eupen-Malmedy annektiert und "heim ins Reich"
geholt. Dagegen verzichtete Hitler aus Rücksicht auf Vichy-Frankreich beziehungsweise
Mussolini im Falle Elsaß-Lothringens 1940 und Südtirols 1943 auf eine förmliche Annexion.
Statt dessen kam es zu einer faktischen Angliederung der Gebiete an die jeweils benachbarten
nationalsozialistischen Gaue. In Nordschleswig kam es nicht einmal dazu, weil Hitler daran
dachte, den Dänen in einem großgermanischen Reich der Zukunft eine Rolle als Juniorpartner
zuzuweisen.
Im Osten hingegen dominierte rassistische Politik. Heinrich Himmlers "Generalplan Ost" sah
vor, daß Millionen Menschen in Ostpolen, im Baltikum, in Weißruthenien und der Ukraine
"verschrottet" oder zumindest "rassisch ausgelaugt" und durch "arische" Siedler ersetzt
würden. Ähnliches drohte dem tschechischen Volk im "Protektorat Böhmen und Mähren".
Nicht alle Pläne mußte die nationalsozialistische Führung bis zu der Zeit nach dem "Endsieg"
zurückstellen. So wurden etwa aus jenen Gebieten Westpolens, deren Annexion Hitler noch
im Herbst 1939 anordnete, im Zuge einer mörderischen Besatzungspolitik mehr als 900 000
Polen vertrieben und in das unter Militärverwaltung stehende Generalgouvernement
abgeschoben.
Für die Deutschen in Rumänien und Ungarn wurde der Zweite Weltkrieg ebenfalls zu einer
Zäsur. Die in sogenannter "Achsenpartnerschaft" mit dem Dritten Reich verbundenen
Regierungen in Budapest und Bukarest mußten sich verpflichten, die Nationalitätenrechte der
deutschen Minderheiten anzuerkennen. Der Preis, den die Deutschen in Ungarn und
Rumänien für ihre rechtliche Aufwertung zahlten, war hoch. Sie wurden fortan im Sinn des
Nationalsozialismus gleichgeschaltet und - gleichsam als "fünfte Kolonne" - durch das Dritte
Reich ferngesteuert.
Für die größte Opfergruppe, die stets "reichsdeutschen" Schlesier, Pommern, Ostpreußen und
Ostbrandenburger, konnte der Vorwurf der Illoyalität gegenüber dem eigenen Staat als
Argument für die Vertreibung von vornherein nicht greifen. Und für die deutsche
Volksgruppe in Altpolen waren Parteienzersplitterung und Heterogenität derart
charakteristisch gewesen, daß sie als "fünfte Kolonne" ohnehin kaum in Frage kam. Wenn
zudem gesagt wird, der Sudetenführer Konrad Henlein sei 1938 zum Verräter am
tschechoslowakischen Staat geworden, was waren dann - nach denselben Kriterien - Masaryk
und Benes 1918 im Verhältnis zur Habsburgermonarchie gewesen? Gewiß, Henlein erzwang
den Anschluß an eine Diktatur, Masaryk gründete eine Demokratie. Aber wäre nicht auch
eine intakte Habsburgermonarchie 1918/19 demokratisiert worden?
Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wuchs bei den Politikern der osteuropäischen
Exilregierungen wie bei den Westmächten die Überzeugung, eine stabile Nachkriegsordnung
in Ostmitteleuropa verlange die Zwangsaussiedlung der Deutschen. Die Politik der
"nationalen Entflechtung" fand vor allem Eingang in Artikel XIII des Potsdamer Protokolls
vom August 1945, wo Briten und Amerikaner ihre prinzipielle Zustimmung zur
Zwangsumsiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn
erteilten - allerdings nicht in diesem Umfang, nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in jener
inhumanen Form, in der die Vertreibung nur zu oft ablief.
Die politische Verantwortung für die Vertreibung lag in erster Linie bei Stalin und - in
unterschiedlichem Maß - bei den führenden Exil- und Nachkriegspolitikern Polens, der
Tschechoslowakei, Ungarns und nicht zuletzt Jugoslawiens, das im Potsdamer Beschluß
überhaupt nicht erwähnt worden war. Zumindest weite Teile Niederschlesiens, die Heimat
von fast drei Millionen Menschen, wurden allein deshalb zum Vertreibungsgebiet, weil Stalin
mit List und Tücke und gegen den ausdrücklichen Widerstand der Londoner Exilpolen an
Ostpolen, seiner Beute aus dem Teufelspakt mit Hitler vom August 1939, festhielt. Der
tschechoslowakische Präsident Benes dagegen hat seinen Anteil an der Politik der
Vertreibung selbst stark herausgestrichen und betont, daß er das Ziel einer radikalen
Reduzierung der Minderheiten schon seit 1938, also vor Hitlers Krieg, zunächst vorsichtig,
"mit der Entwicklung des Krieges dann entschlossener und grundsätzlicher" verfolgt habe.
Auch wenn das hochansteckende Virus, Vertreibung als Kernstück zukunftsweisender
ethnischer Entflechtung zu sehen, die angelsächsischen Siegermächte mit befiel - politisch
verwirklicht wurde die Ideologie der Vertreibung in Westeuropa nirgends. Hatte dies damit zu
tun, daß der rassenideologische Vernichtungskrieg im Osten noch um ein Vielfaches brutaler
war als der nationalsozialistische Besatzungsterror im Westen? Man zögert, diese Frage
pauschal zu bejahen. Denn zwei der Vertreiberstaaten, Ungarn und die Tschechoslowakei,
hatten unter der Herrschaft des Dritten Reiches kaum stärker gelitten als die meisten
westlichen Länder. So mußte Frankreich mit seinen Hunderttausenden Toten im Zweiten
Weltkrieg nicht weniger erdulden als Ungarn, das noch bis in das Jahr 1944 hinein an der
Seite Hitler-Deutschlands kämpfte. Und dennoch schritt die ungarische Regierung zur
Vertreibung von etwa der Hälfte der deutschen Bevölkerung, während Frankreich nichts
dergleichen unternahm.
Die französische Exil- beziehungsweise Nachkriegsregierung hat die Vertreibung der
Deutschen aus dem Saarland weder ernsthaft geplant noch gar realisiert. Dabei hätte sich in
diesem Fall durchaus ein kollektiver Schuldvorwurf konstruieren lassen. Schließlich hatten
sich die Saarländer beim Plebiszit 1935 schwersten Täuschungen über die wahre Natur des
Nationalsozialismus hingegeben - ähnlich wie die Sudetendeutschen 1938. Nur 8,8 Prozent
hatten für die Beibehaltung des demokratischen Status quo unter der Verwaltung des
Völkerbundes votiert, 90 Prozent für die "Heimkehr" in das Deutsche Reich. De Gaulle
betrachtete vom Frühjahr 1945 an die Annexion des Saarlandes als beste Lösung, allerdings
sollte dies in mehreren Etappen vonstatten gehen. Bevölkerungstransfers sollten zwar auch
erfolgen, aber vor allem mittels wirtschaftlicher Anreize zur Auswanderung von Saarländern
nach Frankreich. Lediglich deutschnationale Aktivisten an der Saar verwies Paris im Zuge
einer politischen Säuberung des Landes.
Im Elsaß wurden 1945 nicht einmal die deutschgesinnten Sympathisanten der
Autonomiebewegung der Zwischenkriegszeit kollektiv vertrieben, obwohl diese
Autonomisten nach 1940 teilweise mit dem Dritten Reich zusammengearbeitet hatten.
Verwundern konnte dieses Vorgehen kaum. In Frankreich definiert sich die Nation nicht über
das Volk, sondern über den Staat. Elsässer, Ostlothringer und unter Umständen auch die
Saarländer waren demnach selbstverständlich "citoyens français"; Bürger, die bei Verstoß
gegen die geheiligten Prinzipien der "république une et indivisible" allenfalls nach Maßgabe
ihres Vergehens individuell bestraft, nicht aber kollektiv vertrieben werden konnten, auch
wenn jakobinische Scharfmacher während der Großen Revolution weiland solche
Forderungen erhoben hatten.
Eine "ethnische Säuberung" von den Deutschen gab es am Ende des Zweiten Weltkrieges
nicht einmal in Belgien, obwohl die Regierung mit dem Ausbürgerungsgesetz vom Juni 1945
hart gegen "führende Funktionäre" und "aktive Propagandisten" des Dritten Reiches in
Eupen-Malmedy vorging. Doch nur 1300 Personen - mit Familienangehörigen siebeneinhalb
Prozent der deutschen Volksgruppe - wurde die belgische Staatsbürgerschaft aberkannt. Noch
dazu wußten die Westalliierten die Verwirklichung dieser Maßnahme zu verhindern.
Aus Dänemark ist kein einziger Angehöriger der deutschen Volksgruppe vertrieben worden obwohl etliche Nordschleswiger schon vor 1939 irredentistisch gesinnt waren und nach 1940
dann als Frontfreiwillige oder in den Wachkorps der Besatzungsmacht den sogenannten
"Dienst am deutschen Volk" leisteten. Gegen ein Viertel der männlichen deutschen
Bevölkerung Nordschleswigs verhängten dänische Richter 1945 Haftstrafen. Sie waren
jedoch von relativ kurzer Dauer. Aus der dänischen Widerstandsbewegung war zwar der
Vorschlag gekommen, die deutsch Gesinnten als Antwort auf das Verhalten der Volksgruppe
vollständig auszuweisen. Die Idee konnte sich aber politisch nicht durchsetzen. In
Kopenhagen herrschte die Rechtsauffassung vor, dänische Staatsbürger könne man nicht des
Landes verweisen. Man ging also auch hier vom Prinzip der Staatsnation aus, nicht von der
Kulturnation.
In denkbar größtem Gegensatz zur Praxis der Vertreibung in Ostmitteleuropa steht schließlich
der Fall Südtirol. 1945 fand hier nicht nur keine Zwangsaussiedlung statt, vielmehr kam es
sogar zur freiwilligen Rücksiedlung Zehntausender Deutscher, die nach 1939 infolge des
Paktes zwischen Hitler und Mussolini faktisch schon aus ihrer Heimat vertrieben worden
waren. Ausgenommen davon waren per Dekret vom Februar 1948 nur einige tausend
Südtiroler, die als Hauptschuldige der Kollaboration mit dem Dritten Reich galten.
Völlig anders als im Westen stellte sich im Jahr 1945 die Lage für die deutschen
Volksgruppen in Ostmitteleuropa dar. Hier beruhte die Vertreibung im Kern nicht auf
politischen, sondern auf ethnischen Voraussetzungen. Die individuelle strafrechtliche
Verfolgung hatte nur eine untergeordnete, teilweise instrumentell wirkende Funktion im
größeren Prozeß der ethnischen Säuberung. Der Einfachheit halber ging man von einer
kollektiven Schuld der Angehörigen der deutschen Volksgruppen am "Hitler-Faschismus"
und dessen Verbrechen aus, nahm also auch Kinder (ein Drittel der Vertreibungsopfer waren
jünger als 14 Jahre) in Sippenhaft.
Das Lubliner Komitee erließ im August 1944 ein Dekret zur "Bestrafung der faschistischhitleristischen Verbrecher . . . sowie der Verräter des polnischen Volkes". In diesem Dekret
war zwar über die Volkszugehörigkeit der Täter nichts ausgesagt. Überwiegend diente es aber
als Instrument zur kollektiven Bestrafung der Deutschen. Dagegen durften in den von Polen
annektierten deutschen Ostgebieten, vor allem in Oberschlesien und Masuren, mehr als eine
Million sogenannter Autochthoner verbleiben, auch wenn sie Mitglied der NSDAP gewesen
waren, weil Warschau sie als ethnisch polnisch reklamierte.
In der Tschechoslowakei verband sich die Bestrafung von "Nazi-Kriegsverbrechern" ebenfalls
aufs engste mit einer Politik der ethnischen Säuberung. Aufgrund des "Großen
Retributionsdekretes" (Benes-Dekret Nr. 16) wurden zwar auch Todesurteile gegen
Tschechen gefällt; aber in den 38 000 verhandelten Fällen wurde 15 000 mal von der
Verfolgung abgesehen, um die Abschiebung der Betroffenen nach Deutschland nicht zu
verzögern. Der "Odsun" war dem Ziel einer individuellen Bestrafung offensichtlich
vorgeordnet.
Das Ende der
Germanisierung
Die Benes-Dekrete entsprachen einer 1945 nicht nur in Prag, sondern in ganz Ostmitteleuropa
verbreiteten Auffassung, "das deutsche Problem . . . definitiv liquidieren (zu) müssen". Benes
selbst ließ erkennen, daß seiner Politik nicht die Erfahrungen mit dem Dritten Reich zugrunde
lagen, sondern historisch tiefer liegende Motive wirksam waren: "Erinnert euch dessen, was
uns durch die Germanisierung über diese ganzen Jahrhunderte seit der Hussitenzeit geschehen
ist." Ähnlich äußerten sich 1945 auch jugoslawische, polnische oder ungarische Politiker.
Erinnert sei nur daran, daß Polen während der Potsdamer Konferenz zur Begründung seiner
Territorialansprüche die historisch unhaltbare These vertrat, bis zur Oder und Neiße habe
schon der mittelalterliche polnische Staat gereicht, "die Wiege der polnischen Nation". Einen
ähnlichen Hintergrund hatte die Äußerung des ungarischen Ministers für Wiederaufbau: "Aus
nationalpolitischer Sicht", so meinte er, liege es im Interesse Ungarns, "wenn möglichst viele
Deutsche das Land verlassen". Es werde "nie wieder eine solche Gelegenheit geben, die
Deutschen loszuwerden".
Gegenüber diesen älteren, in Nationalitätenkonflikten von langer Dauer wurzelnden
Vertreibungsmotiven scheinen Unterschiede im Verhältnis von deutscher Volksgruppe und
"Gaststaat" zwischen 1918/19 und 1938/39, aber auch Abweichungen im Charakter der
nationalsozialistischen Besatzungspolitik von 1939 bis 1945 einen untergeordneten
Stellenwert einzunehmen. Im Vergleich zu den nationalen Minderheiten in umliegenden
Ländern war etwa die Lage der Sudetendeutschen vor 1938 die relativ beste gewesen; und die
folgende nationalsozialistische Besatzung Böhmens und Mährens, so schrecklich sie war, gilt
insgesamt als weitaus weniger gewalttätig als die Polens oder auch Jugoslawiens.
In der Vertreibungspraxis 1945/46 aber waren tschechische Politiker, wie der amerikanische
Historiker Norman M. Naimark festgestellt hat, "überraschenderweise um keinen Deut
weniger brutal". Auch in den besetzten westlichen Staaten hatte das Dritte Reich teilweise
Verbrechen verübt, die denen im "Protektorat", etwa in Lidice, ähnelten - man denke nur an
Oradour-sur-Glane in Frankreich. Dennoch sind nach 1945 Angehörige deutscher
Sprachminderheiten im Westen nicht kollektiv zwangsausgesiedelt worden.
Ältere nationalistische Motivschichten, so läßt sich zusammenfassen, haben bei den für die
Vertreibung verantwortlichen Politikern in Ostmitteleuropa - neben dem aktuellen Bedürfnis
nach Vergeltung für die nationalsozialistischen Verbrechen - eine zentrale Rolle gespielt.
Nationalistische Thesen, wonach die Vertreibung "ausschließlich Wirkung, nicht Ursache"
gewesen sei (so der tschechische Staatspräsident Václav Klaus), zeigen dagegen vor allem,
wie groß der Bedarf an historischer Aufklärung auch heute noch ist.
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Der Verfasser lehrt Neuere Geschichte an der Universität Regensburg.
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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