Kein Kabelsalat im Gehirn

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Die Sehrinde des Gehirns nutzt keine zufälligen Netzwerke | Max-Planck-Gesellschaft
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Komplexe Systeme . Neurobiologie
Kein Kabelsalat im Gehirn
Das Gehirn nutzt keine zufälligen, sondern vermutlich
selbstorganisierte Netzwerke zur visuellen
Informationsverarbeitung
23. November 2015
Unser Gehirn ist eine rätselhafte Rechenmaschine. Milliarden von Nervenzellen sind
darin so verschaltet, dass sie Information vergleichbar effizient ablegen, wie Bücher in
einer gut sortierten Bibliothek geordnet werden. Doch bislang sind viele Details unklar,
beispielsweise nach welchen Regeln die Nervenzellen des Gehirns miteinander
verknüpft werden und wie die Informationen darin organisiert sind. Ein internationales
Team um Forscher des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation in
Göttingen hat nun herausgefunden, dass es sich dabei nicht um zufällige
Verschaltungen handelt. Diese Möglichkeit hatten Wissenschaftler in den vergangenen
Jahren in Erwägung gezogen, weil rein zufällig verschaltete Netzwerke in Computern
gut funktionieren. Um die Hypothese zu überprüfen, hat das Team um die Max-PlanckForscher untersucht, ob das Gehirn zufällige neuronale Verbindungen für die
Verarbeitung visueller Reize nutzt. Dazu berechneten sie Vorhersagen, die auf der
Hypothese zufälliger Verschaltungen beruhen. Die Ergebnisse verglichen sie dann mit
Präzisionsmessungen der Gehirnarchitektur verschiedener Säugetiere. Das Ergebnis:
zufällige Verschaltungen reichen nicht aus, um Netzwerke des Gehirns zu erklären. Die
Forscher gehen davon aus, dass sich anfänglich zufällige Verbindungen in der Sehrinde
durch selbstorganisierte Lernprozesse zu einem wohlgeordneten Netzwerk umformen.
Dem Zufall bleibt dabei letztlich wenig überlassen.
Zufällig geknüpft? Im Fluoreszenzmikroskop
wird das weitgehend zufällige Netzwerk
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23.11.2015
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sichtbar, das Nervenzellen in einer
Zellkultur bilden. Ob die Nervenzellen im
Gehirn zufällig verschaltet werden, hat ein
internationales Team um Forscher des MaxPlanck-Instituts für Dynamik und
Selbstorganisation untersucht.
© Manuel Schottdorf, MPI für Dynamik und
Selbstorganisation
Die Nervenzellen im menschlichen Gehirn sind miteinander verschaltet und bilden einen scheinbar
undurchschaubaren Kabelsalat. Allein in einem nur einen Kubikmillimeter großen Würfel
menschlichen Hirngewebes sind mehrere Kilometer Nervenkabel verlegt. Ein Teil dieser
Verbindungen könnte vom Zufall bestimmt sein, denn Zufallsnetzwerke können zumindest
theoretisch sehr effizient Information verarbeiten. Nehmen wir das visuelle System: In der
Netzhaut befinden sich eine Millionen Nervenzellen, die visuelle Information für die mehr als 100
Millionen Zellen in der Sehrinde bereitstellen. Die Sehrinde ist der Teil des Gehirns, in den
Nervenreize von der Netzhaut zuerst gelangen.
In der Sehrinde werden verschiedene Aspekte wie etwa die räumliche Orientierung, Farbe und
Größe von Objekten aus der visuellen Welt getrennt voneinander verarbeitet. Das ist vergleichbar
damit, dass sich Bücher in einer Bibliothek leichter finden lassen, wenn sie nicht nur nach der
alphabetischen Reihenfolge ihrer Titel, sondern gleichzeitig nach Genre und der alphabetischen
Ordnung ihrer Autoren sortiert werden. Diese verschiedenen Kriterien für die Sortierung von
Büchern werden in der Bibliothek an unterschiedlichen Orten berücksichtigt, wenn sie auch kaum
zufällig verteilt sein dürften,.
Ganz ähnlich können auch die verschiedenen Facetten unserer visuellen Wahrnehmung in der
Sehrinde an verschiedenen Orten abgelegt werden. Und diese Orte könnten zufällig verteilt sein.
Mathematische Beweise haben gezeigt, dass eine zufällige Verteilung der Information über
unterschiedliche Eigenschaften eines Gegenstandes in Computern besonders gut geeignet ist, um
die Eigenschaften deutlich voneinander zu trennen, und zwar umso mehr, je mehr Eigenschaften
berücksichtigt werden.
Benachbarte Zellen reagieren auf ähnlich orientierte Kanten
„Dass zufällige Verschaltungen in Nervensystemen tatsächlich existieren, haben Neurobiologen
vor zwei Jahren im Geruchssystem der Fruchtfliege experimentell gezeigt“ erklärt Manuel
Schottdorf, Forscher am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. Ob aber das
Gehirn von Säugetieren die möglichen Vorteile zufälliger Verschaltungen tatsächlich ausnutzt,
oder ob es eher auf selbstorganisierte Nervennetze setzt, war bislang unklar. Das Durcheinander
aller neuronalen Verbindungen im Gehirn zu entwirren, ist bisher unmöglich. Daher bediente sich
das Team, dem neben den Max-Planck-Wissenschaftlern um Fred Wolf auch Kollegen der
Rockefeller University in New York und der Duke University in North Carolina angehörten, einer
alternativen Methode: Die Forscher analysierten die Funktionsweise der Schaltkreise in der
Sehrinde und zogen daraus Rückschlüsse über deren Aufbau.
Wie Neurobiologen bereits seit längerem wissen, helfen uns Nervenzellen in diesem Teil des
Gehirns unter anderem, die Kanten von Objekten zu erkennen. Jede Nervenzelle bevorzugt dabei
eine Orientierung von Kanten, auf die sie besonders stark reagiert, beispielsweise senkrechte,
waagrechte, oder schräge. Benachbarte Zellen favorisieren meistens ähnliche
Kantenorientierungen. Eine Ausnahme bilden einzelne Punkte, sogenannte Orientierungszentren,
in denen die bevorzugten Orientierungen der umgebenden Zellen wie die Flügel eines
Windrädchens zusammentreffen.
Zufallsverschaltungen exakt berechnet
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Wie viele dieser Zentren existieren und wie sie im Gewebe verteilt sein müssten, wenn die Idee
der Zufallsverschaltungen gilt, haben die Göttinger Wissenschaftler exakt berechnet. Diese
Vorhersagen unterschieden sich jedoch von der tatsächlichen Verteilung der
Orientierungszentren, die Präzisionsmessung offenbarten. Die Messungen nahmen die MaxPlanck-Forscher in Zusammenarbeit mit Experimentatoren der Duke University vor. Unter
anderem beobachteten die Forscher dabei in einem bestimmten Volumen von Nervenzellen
weniger Orientierungszentren, als die Berechnungen für zufällige Verknüpfungen ergaben.
Zufällige Verschaltungen können die tatsächliche Anordnung der Orientierungszentren im Gehirn
also nicht erklären. Modelle, in denen sich die Netzwerke selbstorganisiert formen, können
dagegen nicht nur die Anzahl sondern auch die sehr komplexe räumliche Anordnung der Zentren
präzise nachbilden.
Die Forscher schließen nicht aus, dass anfangs zufällige Verbindungen vorhanden sein können,
wenn sich das Gehirn entwickelt. Durch visuelle Erfahrung und die dynamische Umbildung von
Nervenverbindungen reorganisiert sich das Gehirn jedoch so weitgehend, dass von den
anfänglichen Verbindungen wohl kaum etwas übrig ist. „Die Selbstorganisation der Schaltkreise
im Gehirn ist nach unserer Studie die plausibelste Theorie für die Feinstruktur der Schaltkreise
des visuellen Systems.“, erklärt Wolfgang Keil, der am Max-Planck-Institut für Dynamik und
Selbstorganisation promovierte und gegenwärtig an der Rockefeller University forscht. Zu dieser
Erkenntnis passt, dass Säugetiere, also auch wir Menschen, erst nach der Geburt sehen lernen.
Für den vollen Durchblick reichen zufällige Netzwerke, wie sie anfangs möglicherweise vorhanden
sind, offenbar nicht aus.
CHL/MS/PH
Adresse: http://www.mpg.de
© 2003-2015, Max-Planck-Gesellschaft, München
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