22 WISSENSCHAFT & WETTER Donnerstag, 3. September 2009 Warum eine Hirnhälfte zur anderen passt Nervenzellenverbindungen beeinflussen Entwicklung zwischen Gehirnarealen Die grobe Architektur des Gehirns sei im wesentlichen bei der Geburt festgelegt, glaubten Wissenschaftler. Forscher aus Göttingen und Jena entdeckten anderes: Weitreichende Verbindungen zwischen den Nervenzellen tragen erst nach dem Beginn des Sehens dazu bei, unterschiedliche Bereiche des Gehirns abzustimmen. ie Aktivität von NervenD zellen trägt zur Strukturbildung des Gehirns bei, so dass die Informationsverarbeitung letztlich auch durch Übung gelernt wird. Lange Zeit sind Wissenschaftler davon ausgegangen, dass eine solche aktivitätsabhängige Strukturbildung nur lokal wirkt, während die grobe Architektur des Gehirns zum Zeitpunkt der Geburt bereits angelegt ist. Wissenschaftler aus Göttingen und Jena zeigen jetzt, dass weit reichende Verbindungen zwischen Nervenzellen dazu beitragen, die Entwicklung unterschiedlicher Bereiche des Gehirns und sogar der beiden Gehirnhälften aufeinander abzustimmen und dies über Wochen nach dem Beginn des Sehens. Die Wissenschaftler Prof. Fred Wolf vom Max-PlanckInstitut für Dynamik und Selbstorganisation und Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience Göttingen und Prof. Siegrid Löwel von der Universität Fred Wolf Jena haben für ihre Untersuchung Bereiche der Hirnrinde untersucht, die Informationen aus den Augen verarbeiten: die primäre Sehrinde (V1), die auf die Ermittlung von Konturen spezialisiert ist, und die sekundäre Sehrinde (V2), die eher auf größere und auch schneller bewegte Reize reagiert. In jedes dieser Gebiete werden Informationen aus der Netzhaut Nervenzellen in der Sehrinde reagieren bevorzugt auf Kantenverläufe in einer bestimmten Richtung. Zellen, die auf die gleiche Richtung reagieren, sind in hier jeweils mit einer Farbe eingefärbt. Löwel der Augen so auf die Sehrinde übertragen, dass benachbarte Orte auf der Netzhaut auch benachbarte Bereiche der Sehrinde aktivieren. In der Sehrinde bilden sich im Laufe des Sehenlernens so genannte Kolumnen, Gruppen benachbarter Nervenzellen, die gemeinsam einen Teilaspekt der Sehleistung erbringen. Primäre und sekundäre Sehrinde sind zwar auf unterschiedliche Aspekte der Bildverarbeitung spezialisiert, sie arbeiten jedoch eng zusammen und sind über weiter reichende Nervenverbindungen miteinander verbunden: Regionen von V1 und V2, die den gleichen Bereich des Gesichtsfeldes analysieren, sind besonders stark miteinander verknüpft. Wolf und seine Kollegen haben nun mit Hilfe komplexer Bildanalyseverfahren entdeckt, dass diese weit reichenden Verknüpfungen die Größe der Kolumnen und damit Struktur der Gehirngebiete selbst beeinflusst. „Die Größe der Kolumnen variiert stark - sowohl innerhalb der Sehrinde als auch von Individuum zu Individuum“, erklärt die Jenaer Professorin Löwel, die die Experimente durchgeführt hat. Dennoch ließen sich Regeln erkennen: Weisen in einem Tier zum Beispiel bestimmte Bereiche von V1 besonders große Kolumnen auf, so zeigen die entsprechenden Bereiche in V2, die den gleichen Bildbereich verarbeiten, auch große Kolumnen. Entsprechend verschalten Es sind also die Bereiche in der Größe ähnlich, zwischen denen auch lang reichende neuronale Verknüpfungen bestehen. Diese Korrelationen bestehen nicht von Geburt an, sondern entstehen erst in den Wochen nach der Öffnung der Augen. Nach der Geburt kann der Mensch noch nicht perfekt sehen. Diese Sinneswahrnehmung muss erst gelernt werden, indem sich das Gehirn entsprechend verschaltet. „Die erste Phase des Sehenlernens dauert bei uns Menschen sechs Monate und bei Katzen etwa 18 Wochen. Es war lange Zeit nicht klar, warum diese Entwicklungsprozesse so lange dauern“, sagt Wolf. Offenbar wird in dieser Lernphase die Architektur unterschiedlicher Hirnbereiche aufeinander abgestimmt, damit am Ende die linke Hirnhälfte zur rechten passt. „Wie in einer globalisierten Welt, in der es lokale und weitreichende Kontakte gibt und beide gleich wichtig sind, basiert auch der Informationsaustausch während der Hirnentwicklung auf einem Zusammenspiel von kurzen und weitreichenden neuronalen Verbindungen“, so Wolf. Auf diese Forschungen baut ein neuer Verbund im Rahmen der Förderinitiative „Bernstein Fokus: Neuronale Grundlagen des Lernens“, der von Löwel koordiniert wird. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bewilligte für dieses Projekt mehr als 3 Mio Euro von denen über 500 000 Euro auf das von Wolf geleitete Teilprojekt am MaxPlanck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen entfallen. mps/chb So erreichen Sie uns: Magazin jes el pek chb 0551 Angela Brünjes (Ltg.) 901-752 Michael Schäfer 901-736 Peter Krüger-Lenz 901-735 Christiane Böhm 901-753 Fax 901-750 Mail [email protected] [email protected]