Wenn Chöre auf KomponistInnen zugehen und sich Werke schreiben lassen, kann das mühsam werden, aber auch beflügeln. Meist lassen solche Kooperationen alle Beteiligten wachsen D er Psalm «Singet dem Herrn ein neues Lied» mag alt sein. Ein alter Hut ist er für KomponistInnen noch längst nicht. Im Gegenteil: Er macht kreativ und reizt, Grenzen des vokalen Ausdrucks zu erkunden, Extreme auszuloten. Komponist Michael Ostrzyga lässt Text in Schnipseln rezitieren, mit Phonemen malen, lässt leise und langsam Chor-Akkorde mit Obertönen verschmelzen und Gläser klingen. Seine Motette liefert einen Impuls vom Rand des Reper­toires her und ist auf konkrete Anfrage eines Ensembles hin entstanden. «Canticum Novum (… ab extremis terrae)» für siebenstimmigen Chor und Solo-Obertongesang komponierte der Kölner für den norddeutschen Kammerchor I Vocalisti und dessen Dirigenten Hans-Joachim Lustig. Für Chorleiter Lustig gehört es zum Selbstverständnis, neue Musik zu ordern, wenn ihn eine Inspiration dazu drängt – in diesem Fall die Begegnung mit der Obertonsängerin Anna-Maria Hefele (mehr darüber im Interview ab Seite 14). Vokalensembles und KomponistInnen stehen vielerorts im lebhaften Austausch. Der Bayerische Landesjugendchor hatte bei Wolfram Buchenberg Musik für Harfe, Bassklarinette und Chor bestellt und diese «Trois Chansons» im November uraufgeführt. Im Oktober feierte der Junge Chor Aachen seinen 50 . Geburtstag – der Flame 11 Chor zei t~ D E Z 2016 Neuland betreten Titel Von Karsten Blüthgen C h or ze i t~ D E Z 2016 10 Titel und seinen Klang informieren», rät Wolfram Buchenberg, der sich «ein sinnvolles Komponieren in diesem Bereich anders gar nicht vorstellen» kann. Während des Schreibens schottet er sich lieber ab. Umso wichtiger ist ihm der Austausch beim Einstudieren. «Diese Rückmeldung ist mir wichtig für das weitere Komponieren. Und mein Probenbesuch ist gleichzeitig eine Art Solidaritätsbekundung für die Chöre: Was ich euch eingebrockt habe, löffle ich jetzt auch mit euch aus!» Wenn es eine auf ein Ensemble zugeschnittene Komposition sein soll, dann sollten KomponistInnen Stärken und Schwächen im künstlerischen Profil umso besser kennen. Wie ist der absolute Umfang einzelner SängerInnen beziehungsweise der einzelnen Stimmgruppen? Welche Regionen klingen besonders kraftvoll? Welche Funktion soll das neu zu schreibende Werk einnehmen? Solche Aspekte betreffenden Fragen stellt sich Oliver Gies – sie sind durchaus verallgemeinerbar. Dennoch kommt es vor, dass «nachgebessert» werden muss. «Diese Erfahrung macht man vermutlich immer, wenn man sich auf neue Musik einlässt», so Kerstin Behnke, die als Verantwortliche für den Konzerterfolg auch pragmatisch sein muss, wie sie sagt. Christfried Brödel kennt Komponisten, «die sich – mit wunderbarem Erfolg – bemüht haben, ihr Stück ohne musikalischen Substanzverlust so zu schreiben, dass auch wirkliche Laien die Schwierigkeiten bewältigen können». Er nennt als Beispiel den Stuttgarter Michael Flade. Von ihm ist im September in Leipzig eine Kantate uraufgeführt wurden. Ein Laienchor, geleitet von Grit Stief und teilweise ohne Notenkenntnisse, habe die Aufgabe «hervorragend bewältigt», so Brödel. «Am Anfang muss kein besonders begabtes Ensemble stehen, wohl aber Lust und Wille zu disziplinierter Arbeit.» BEI AUFTRAGSWERKEN IST JEDER TEIL VON ETWAS BESONDEREM Bei Auftragswerken kommen sich die Beteiligten besonders nahe. Sie motivierten zu persönlichem Einsatz, zur Identifikation, sagt Kerstin Behnke. «Eine Komposition aus der Taufe zu heben und im Kontakt mit der Komponistin oder dem Komponisten zu stehen, ist faszinierend und jeder fühlt sich als Teil von etwas Besonderem. Im besten Falle denken Chormitglieder über die angesprochenen Themen nach. Wir haben im Zuge der Proben zur muslimischen Kantate viel Kontakt zu muslimischen Gemeinden bekommen und vieles über den Islam gelernt.» Ein Wachsen des Chores hängt freilich vom konkreten Werk ab. Wolfram Buchenberg bringt es wohl auf den Punkt, wenn er sagt, wachsen könne ein Chor an Stücken, «die ihn leicht überfordern – sofern er die Herausforderung annimmt und sich vehement in die Arbeit stürzt. Ist die Überforderung jedoch zu groß, schlägt sie in Frustration um. Es kommt auf die richtige Dosierung an.» MIT JEDER ERARBEITUNG NEUER MUSIK WÄCHST AUCH DAS NIVEAU Ein Zusammenhang zwischen künstlerischem Niveau von Chören und deren Hunger auf neue Musik mag schwer zu ermitteln sein. «Am Anfang muss kein besonders begabtes Ensemble stehen», sagt Klaus-Martin Bresgott, «wohl aber Lust und Wille zu disziplinierter Arbeit – und mit jeder neuen Musik, mit deren Durchdringung und konsequenter Erarbeitung, wächst das künstlerische Niveau.» Ähnlich sieht es Wolfram Buchenberg. Allerdings hält er – abseits der auf hohem Niveau spezialisierten Ensembles etwa für Alte Musik – einen derartigen Zusammenhang in der Tat für wahrscheinlich: «Denn Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik setzt Neugierde und Offenheit voraus sowie die Bereitschaft, sich voller Begeisterung – und keine Mühe scheuend! – auf ein Musikstück zu werfen, von dem man anfangs bestenfalls ahnen kann, dass es die Mühe wert ist.» Kerstin Behnke traut diese Qualitäten Chören generell zu: «Es gibt sehr stark traditionell orientierte ebenso wie sehr experimentell mutige Ensembles aller Leistungsstufen», beobachtet die Chorleiterin und differenziert das zeitgenössische Angebot kritisch: «Neue Musik ist anstrengend, wenn sie wirklich neu und ungewöhnlich ist, sowohl für den Chor als auch für die musikalische Leitung. Anders ist das bei dem weit verbreiteten und sehr gefälligen Kompositionsstil vieler neu komponierter Werke, die sehr wenig Mut brauchen und die Ausführenden nicht vor besondere Herausforderungen stellen.» Vielmehr sei es das Selbstverständnis eines Ensembles und seiner Leitung, das den Hunger auf neue Musik erzeuge. Reiko Füting, der Jörg Herchets Komponistenklasse besucht hat, spürte diesen Hunger in Begegnungen, die vom RIAS Kammerchor bis zu Laienchören wie Florilegium aus New York und dem Artikuss Workshopchor aus Wenkheim reichen. «Alle diese Chöre sind sehr offen gegenüber neuen Werken, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, sich nicht nur traditioneller Literatur zu widmen, sondern auch neue Stücke aus der Taufe zu heben.» Der Autor ist Musikwissenschaftler und Akustiker, schreibt für verschiedene Tageszeitungen und Fachzeitschriften und lebt in der Lausitz. 13 Chor zei t~ D EZ 2016 Raymond Schroyens hat dem «Jubel-Chor» eine Ver- dabei immer das Gefühl behalten, von dieser Aufgabe tonung von Hermann Hesses «Stufen» gewidmet. Seit zwar gefordert, ihr aber gewachsen zu sein.» Aufträge Jahrzehnten arbeiten Fritz ter Wey und sein ambitio­ wie «Begegnung der Propheten» ermöglichten darüniertes Laienensemble aus Aachen mit zeitgenössiber hinaus, «gesellschaftspolitische Zeichen zu setschen Komponisten und können eine Reihe zen». Behnkes Kollege Klaus-Martin Bresgott von Ur- und Erstaufführungen vorweisen. sieht im Beauftragen von Kompositionen Musik unserer Zeit hat Tradition auch die Chance, «eigene Wege zu beschreiten beim Laienchor Berliner Cappella. Dessen und aus der Tradition heraus anhand eigens Leiterin Kerstin Behnke hat sogar einen für das Ensemble geschriebener Werke eine Kompositionspreis ausgelobt, der in unreeigene Farbe entwickeln und präsentieren gelmäßigen Abständen zu können». Eine zweiverliehen wird. Im dite Intention beschreibt rekten Auftrag entstand er so: «Ich suche eine die muslimische Kantate Musik zu einem Text, «Begegnung der Prophezu dem ich bisher noch ten» des türkischstämminichts Adäquates gefungen Komponisten Erhan den habe oder für den Sanri – ein Novum in der ich nach einer zweiten Musikgeschichte. Ebenmusikalischen Antwort falls in Berlin gründete unserer Zeit suche.» Als Klaus-Martin Bresgott, Chordirigent Klaus-Martin Bresgott Beispiel nennt Bresgott vor gut 2 0 Jahren das Heinrich Schütz’ «Herr, auf dich traue ich». Er professionelle Athesinus Consort Berlin, um zunächst Alte Musik zu singen, bat den Berliner Komponisten Frank Schwemmer, später aber in der Gegenwart anzukommen und regel- diesen Psalm 31 für die gleiche Besetzung neu zu mäßig Aufträge zu vergeben. Die Meißner Kantorei vertonen. 1961 und weitere Chöre werden am 18 . Dezember in MUSIK LEBENDIG HALTEN UND Dresden Jörg Herchets dreiteiliges «WeihnachtsoratoSICH DEM EXPERIMENT ÖFFNEN rium» erstmals als Zyklus singen und darin die dritte Kantate uraufführen. In den 1970 er-Jahren sang der Das Bestreben, Musik lebendig zu halten, indem man Dresdner Komponist Herchet selbst in der Meißner sich Neuem und dem Experiment nicht verschließt, Kantorei und wurde von den Chorklängen inspiriert, teilen wohl viele. Nicht zwingend suchen sie sich daerinnert sich Chorleiter Christfried Brödel. für noch fremde künstlerische PartnerInnen. Christfried Brödel strebt für seine Meißner Kantorei 1961 EINE AUFGABE, DIE DEN CHOR FORAuftragswerke an, wenn ein bestimmter Anlass oder DERT UND DER ER GEWACHSEN IST ein bestimmtes Thema vorgegeben sind – und es andeWeitere Beispiele ließen sich anführen. Ist es aber ein rerseits «einen Komponisten gibt, dessen Arbeitsweiüber verschiedene Stil- und Leistungsbereiche hinweg se man kennt und von dessen künstlerischer Qualität verbreitetes Phänomen, dass sich Chöre Stücke schrei- man überzeugt ist». Wohlbekannt in der Vocal Jazzben lassen? Kaum. Viele Chöre suchen Abwechslung, und Popszene ist Oliver Gies aus Hannover – als Sänger wollen frischen Wind hereinlassen, haben aber letzt- und Songschreiber bei Maybebop sowie als Arrangeur. lich doch Hemmungen, Neuland zu betreten, landen Chöre fragen ihn mitunter «nach aufwendigen Brawieder bei Repertoiresätzen und laufen dabei Gefahr, vourstücken, um womöglich bei einem Wettbewerb Eindruck zu machen». So entstand beispielsweise seiauf der Stelle zu treten. «Ich möchte Kompositionen anregen», sagt Kerstin ne Version des Broadway-Songs und Jazzstandards «If Behnke, «die die Vielfalt der stimmlichen Ausdrucks- I Were A Bell» für den Bremer Jazzchor Just Friends. Der Austausch zwischen Chor, ChorleiterIn und mittel eines Laienchores nutzen und bei denen zudem der Aufführungserfolg in einem angemessen Verhält- KomponistIn vor oder während der Entstehung eines nis zum Probenaufwand steht. Die Chorsängerinnen Auftragswerks ist sehr verschieden. «Wenn man den und -sänger sollten idealerweise ihr stimmliches Poten- Chor nicht kennt, sollte man sich auf jeden Fall per zial erweitern, neue und ungewohnte Wege gehen und Audio- oder Videoaufnahme über seine Fähigkeiten Titel Foto: Andreas Schoelzel C h or ze i t~ D E Z 2016 12 Titel