Diplomarbeit Igor Strawinsky und die Ballets Russes Die russische Erneuerung des Balletts in Paris Verfasst von: Stefanie Lenzenweger Universität für Musik und darstellende Kunst Graz Institut 5 - Musikpädagogik Eingereicht bei: Ao. Univ. Prof. Mag.phil. Dr.phil. Ernst Hötzl Graz, Juni 2016 Stefanie Lenzenweger 0710630 Erklärung Hiermit bestätige ich, dass mir der Leitfaden für schriftliche Arbeiten an der KUG bekannt ist und ich diese Richtlinien eingehalten habe. Graz, den . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........................................ Unterschrift der Verfasserin / des Verfassers Leitfaden für schriftliche Arbeiten an der KUG (laut Beschluss des Senats vom 14. Oktober 2008) ii Kurzfassung Die vorliegende Arbeit behandelt die Entwicklung des Balletts von seiner traditionellen Funktion als Tanzeinlage einer Oper bis zu seiner modernen Form als eigenständige Bühnenaufführung. Dabei liegt der Fokus auf den Veränderungen durch Igor Strawinsky und den Ballets Russes unter der Leitung von Serge Diaghilew. Da die Reformierung des Balletts in dieser Arbeit im Hinblick auf das Wirken von russischen Künstlern beschrieben wird, findet sich in dieser Diplomarbeit ein kurzer historischer Überblick über die Musik in Russland und über die Entstehung des Balletts im Allgemeinen. Außerdem wird der künstlerische Austausch zwischen Russland und Frankreich behandelt. Das Ziel dieser Diplomarbeit ist es, die Bedeutung der künstlerischen Zusammenarbeit von Igor Strawinsky und Serge Diaghilew in Frankreich in Bezug auf die Entwicklung des Balletts darzulegen. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Ballett Le Sacre du Printemps. Die Uraufführung in Paris löste nicht nur einen Skandal aus, sondern veränderte auch maßgeblich die Ballettmusik. iii Abstract This final thesis deals with the development of the ballet from its traditional function as dance performance in an opera, up to its modern form as an independent performance. The focus is set on the changes by Igor Strawinsky and the Ballets Russes with the management of Serge Diaghilew. As this document describes the reformation of the ballet with regard to the work of Russian artists, a short overview of the music in Russia and of the general origin of the ballet was also included. In addition, the exchange of artistic ideas between Russia and France is discussed. The main objective of this final thesis is to elaborate the importance of Strawinsky in cooperation with Diaghilew in France, regarding the development of the ballet. The ballet Le Sacre du Printemps plays an important part in this development, as the debut performance not only triggered a scandal, but also considerably influenced ballet music. iv Vorwort Während meines Auslandsemesters in Frankreich kam mir die Idee zur dieser Diplomarbeit. Ich besuchte dort in Nantes eine Konzertveranstaltung mit dem Titel La Folle Journée, welche in jenem Jahr 2012 Musik von russischen Komponisten als Schwerpunkt im Programm hatte. Bei dieser Veranstaltung werden nicht nur unterschiedliche Konzertaufführungen mit einer Maximaldauer von einer Stunde sozusagen fließbandartig abgehalten, sondern auch wissenschaftliche Vorträge zu den Musikwerken angeboten. Da ich schon seit meiner Kindheit eine Vorliebe für die Ballettmusik von Tschaikowsky und besonders für sein Werk Der Nussknacker hatte, besuchte ich einen Vortrag über diesen Komponisten. Darin hörte ich vom intensiven kulturellen Austausch zwischen Frankreich und Russland. Einige vermögende Damen förderten in Frankreich und besonders in Paris die Verbreitung von russischen Musikwerken. Mithilfe von organisierten Musikabenden und Reisen nach Russland pflegten sie den Kontakt zu russischen Komponisten, welche sie auch finanziell unterstützten. Diese künstlerischen Verbindungen zwischen Frankreich und Russland wollte ich näher untersuchen, da es mich besonders interessierte, welche Rolle die Frauen in Bezug auf die Förderung von Komponisten spielten. Ich hatte außerdem die Absicht genauer nachzuforschen, wie das russische Ballett und die russischen Komponisten in Frankreich bekannt wurden, da es ja auch das französische Ballett gab und welches eigentlich eine Konkurrenz darstellte. Um das Thema etwas einzugrenzen, vereinbarte ich mit meinem Betreuer Prof. Hötzl, einen Schwerpunkt auf den Skandal der Uraufführung von Le Sacre du Printemps in Paris zu setzen. Im Zuge meiner Recherchen für die Diplomarbeit bin ich dann auf die vielen revolutionären Auswirkungen der erfolgreichen Ballets Russes von Serge Diaghilew gestoßen. Deshalb entschied ich mich, die Erneuerung des Balletts genauer in meiner Diplomarbeit zu untersuchen und dabei besonders das Wirken von Diaghilew und Strawinsky hervorzuheben. Einen riesigen Dank richte ich zu allererst an meinen Betreuer Prof. Hötzl für seine flexible Betreuung und die wissenschaftliche Unterstützung bei diesem spannenden Diplomarbeitsthema! Ein großes Dankeschön ergeht an meine Eltern, die mir durch ihre vielseitige Unterstützung ermöglicht haben, mich intensiv und länger mit meinem Studium v und der Diplomarbeit zu befassen! Ein herzlicher Dank gilt auch meinem Bruder Christoph, der mir bei vielen Höhen und Tiefen des Studentenlebens und während des Verfassens der Diplomarbeit ein seelischer Beistand war. Ein ganz besonderer Dank richtet sich an Valentin und Michael, die mich bei vielen formalen Angelegenheiten und dem Korrekturlesen meiner Diplomarbeit unterstützt haben. All meinen Freundinnen und Freunden, die mir bis zu meinem Studienende treu zur Seite standen, möchte ich ebenfalls von Herzen danken. vi Inhaltsverzeichnis Formblatt über die Einhaltung der Richtlinien für schriftliche Arbeiten ii Kurzfassung iii Abstract iv Vorwort v Inhaltsverzeichnis vii Abbildungsverzeichnis viii 1 Einleitung 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa 2.1 Die Ausgangssituation der russischen Musik . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Import von europäischem Kulturgut in Russland . . . . . . . . 2.3 Der Einfluss russischer Komponisten auf das Musikgeschehen . . 2.4 Erste Verbindungen zu europäischer Kultur in Strawinskys Leben 2 2 3 6 10 3 Das Ballett: Ein Zusammenspiel verschiedener Künste 3.1 Ein Überblick über die Ursprünge des Balletts . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Ballett in der Krise und erste Reformansätze . . . . . . . . . . 3.3 Musikalische Wechselwirkungen zwischen dem russischen und französischen Ballett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 19 22 26 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst 4.1 Diaghilew und seine systemaitsche Vorbereitung der Ballets Russes 4.2 Die ersten Erfolge der Ballets Russes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Reformansätze der Ballets Russes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die erfolgreiche Zusammenarbeit von Diaghilew und Strawinsky . 30 30 39 45 53 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik 5.1 Die Entstehung des so genannten Skandalballetts . . . . . . . . 5.2 Die stillen Mitwirkenden oder Die weiblichen Gönnerinnen . . 5.3 Der Skandal bei der Uraufführung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Strawinskys neuer und revolutionärer Musikstil . . . . . . . . . 62 62 73 80 88 6 1 . . . . . . . . 94 Zusammenfassung vii Inhaltsverzeichnis 7 96 Bibliographie viii Abbildungsverzeichnis Strawinsky mit Nikolai Rimsky-Korsakow und rechts außen seine Frau Katharina Strawinsky in St. Petersburg, 1921 . . . . . . . . . . 14 4.1 Diaghilew und Strawinsky in Sevilla, 1921 . . . . . . . . . . . . . . 57 5.1 5.2 5.3 Bühnenbild von Roerich für Teil 1 von Le Sacre du Printemps . . . Bühnenbild von Roerich für Teil 2 von Le Sacre du Printemps . . . Die Kostüme der Mädchen beim rituellen Tanz in Teil 1 . . . . . . 68 68 69 2.1 ix 1 Einleitung Das Ballett veränderte sich über Jahrhunderte und wandelte sich von einer traditionellen Gattung, die an Fürstenhöfen gespielt wurde zu einem Gesamtkunstwerk mit modernen Tanzelementen und zeitgenössischer Musik. Das Ballett durchlief während der Jahrhunderte seines Bestehens einige Krisen und wurde beim Publikum unbeliebt. Außerdem besaßen die Ballettmusik und deren Komponisten einen niedrigen Stellenwert in der Gesellschaft. Es gab deshalb zahlreiche Versuche, das Tanztheater zu reformieren. In dieser Arbeit liegt der Schwerpunkt auf den verändernden Einflüssen auf die Entwicklung des Balletts von russischer Seite aus. Das Wirken von Serge Diaghilew und seinen Ballets Russes wird daher beschrieben. Er versuchte mit diesem Projekt, den Europäern ein neues Bild der russischen Kunst und Musik zu vermitteln. Das Hauptziel dieser Arbeit besteht in der Analyse von Igor Strawinskys Beitrag zur Veränderung des Balletts. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei das Ballett Le Sacre du Printemps ein, weshalb die Entstehung des Werkes, der Skandal bei der Uraufführung und der neue Stil in der Ballettmusik näher behandelt werden. 1 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa Um den biographischen und musikalischen Hintergrund von Igor Strawinsky und insbesondere seinen Ballettkompositionen besser zu verstehen, sei in diesem ersten Kapitel eine kleine Einführung in das Musikgeschehen von Russland gegeben. Zusätzlich wird auch auf die Biographie des Komponisten eingegangen. 2.1 Die Ausgangssituation der russischen Musik In Russland nahm die Rolle der Musik einen gesonderten Stellenwert ein, sobald sich die Herrscher des Landes für jegliches Kulturgut zu interessieren begannen. Deshalb entwickelte sich Moskau ab dem 16. Jahrhundert zum nationalen Zentrum der Musik. Die Absicht dahinter war allerdings die ästhetische Machtrepräsentation. Zu diesem Zweck wurden Sängerkapellen gegründet, welche bei öffentlichen Zeremonien auftraten. Ausgenommen davon blieben jedoch Gottesdienste, die in der Orthodoxen Kirche lediglich von Männergesang musikalisch gestaltet werden dürfen.(vgl.: Blume, 1998, S. 681) Die Kirchenmusik blieb bis zum 17. Jahrhundert vorwiegend die einzige schriftlich festgehaltene Kunstmusik, da sich der Klerus in Russland gegen die weltliche Musik aussprach. Eine außerkirchliche Musikform war lediglich zu militärischem Nutzen vorzufinden. Hierbei verwendete man Trompeten oder das Schlagwerk bei Schlachtordnungen. Abseits der kirchlichen oder militärisch genutzten Musik gab es nur in Ansätzen professionelle Musikerinnen und Musiker, welche als so genannte Skomorochen, das waren Wandermusiker, durchs Land zogen. Erst Jahre später wurden eben jene Menschen auch als Berufsmusiker in höheren sozialen Schichten angestellt. Die Gattung der Volksmusik wurde in Russland stark gepflegt. Dieser Kunstbereich besitzt eine regionale Vielfalt aufgrund der komplexen, geographischen Situation des Landes.(vgl.: Blume, 1998, S. 643) Viele altrussische Elemente sind in dieser Musikgattung noch zu finden, welche sich daher schwer untersuchen und eingliedern lässt. Bereits im 18. Jhdt. wurde begonnen, das russische Volksmusikgut systematisch einzusammeln. Die bekannteste ist von Gottfried (in Russland Iwan) Pratsch aus Schlesien, der als Pädagoge und Komponist in späteren Lebensjahren nach 2 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa St. Petersburg zog. So wurde 1770 in St. Petersburg eine Sammlung russischer Volkslieder zu mehreren Stimmen, vertont von Iwan Pratsch herausgegeben.(vgl.: Yang, 2004, S. 31 f.) Diese diente vielen Komponisten als Anregung zu Variationen und Fantasien, zum Beispiel Beethoven, der in seinem Allegretto des op. 59 als Thème russe eine der populärsten russischen Volksmelodien aus der Sammlung von Gottfried Pratsch zitierte. Es kam um 1900 ohnedies zu einer bemerkenswerten Wechselwirkung, sobald die russische aber auch europäische Musik bis in die ländlichen Gegenden und äußersten Provinzen von Russland vordrang, denn am Land interessierte man sich zunehmend für die Kunstmusik in Form von beispielsweise Konzerten, während sich in der Stadt viele Bürger wieder für die russische Folklore begeisterten. So entstand eine Verbindung mit stetem kulturellem Austausch zwischen dem städtischen und ländlichen Raum in der Form von volkstümlichen Musikensembles. Von den russischen Komponisten bedienten sich viele an dem gesammelten Volksliedergut als Inspirationsquelle. Auch die russische Märchensammlung von Alexander Afanasjew, welche an die dreitausend Seiten umfasst, wurde beispielsweise von Rimsky-Korsakow, Strawinsky oder Prokofjew als künstlerische Anregung herangezogen. Darum schien es wenig überraschend zu sein, dass der russische Kunstvermittler Serge Diaghilew bei seinem kulturellen Vorstoß nach Westeuropa ebenfalls zuerst auf die eigene Musikkultur zurückgriff, zur Absicherung vielleicht. So inszenierte er 1907 eine Konzertreihe mit russischer Musik in Paris, bei der er Werke von Rimsky-Korsakow präsentierte. Auch bei seinen Ballets Russes wurde im Jahr 1909 eine Kompositionsabfolge von Glinka, Tschaikowsky, Mussorgsky und natürlich Rimsky-Korsakow aufgeführt, unter dem Titel Le Festin.(Dahms und Woitas, 1994, S. 81) Auf die weiteren Projekte von Diaghilew und deren Auswirkungen auf die Kunstszene wird in den Kapiteln zwei und drei näher eingegangen. 2.2 Der Import von europäischem Kulturgut in Russland Eine erste Verbindung zwischen Europa und Russland in musikalischer Hinsicht ereignete sich im Jahr 1586, als Königin Elisabeth I. von England dem Hof der Za- 3 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa ren in Russland europäische Instrumente, nämlich eine Orgel und ein Klavichord, schenkte. Ab dem 17. Jahrhundert intensivierten sich künstlerische Kontakte zu Europa unter der Regierung der Romanows in Russland. Die westliche Kultur stieß auf Rezeption und die Herrscher Russlands fanden zunehmend Interesse an ausländischer Musik. Unter der Herrschaft von Peter dem Großen (1672 – 1725) erfolgten grundlegende Veränderungen im gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Die Reformen zielten unter anderem aber auch darauf ab, Russland zu einer angesehenen Militärmacht umzuwandeln. Ein Reformansatz war der Import von europäischer Militärmusik: Ausländische Musiker oder auch Kriegsgefangene unterrichteten die Soldaten.(vgl.: Blume, 1998, S. 682 ff.) Die infolge der Reformen stattfindende Säkularisierung und die Orientierung an der westeuropäischen Kultur betrafen alle Schichten der Gesellschaft und beherrschten fortan das öffentliche Geschehen, vor allem in St. Petersburg. Somit hatten nicht nur Adelsfamilien Zugang zu westlichem Kulturgut, so wie zu jener Zeit, als Moskau die kulturelle Hauptstadt des Landes repräsentierte. Es gab regelmäßig bis zu drei Mal die Woche öffentliche Kulturveranstaltungen, wo Musik und Tanz aus Europa dargeboten wurden. Auch Maskenbälle mit europäischer Tanzmusik wurden organisiert. Diese so genannten assemblei dienten im Grunde einer Umschulung der Sitten und Gebräuche in Russland, da Zar Peter der Große eine rasche Umgestaltung des traditionellen Gesellschaftslebens beabsichtigte. Nach dessen Tod nahmen diese kulturellen Versammlungen jedoch abrupt ab. In der darauffolgenden nachpetrinischen Zeit stellten der Hof der Zaren und der Adel wieder die hauptsächlichen Kulturträger dar. Die Europäisierung der russischen Kultur schritt weiter voran, allerdings in einer gemäßigteren Form, die sich von der vorigen, beinahe aufdringlichen Vorgangsweise unter Zar Peter I. unterschied. Es erfolgte die Anstellung von Musikern aus dem Ausland, welche die einheimischen Musiker unterrichteten. Der Unterricht in Musik und Tanz wurde generell gesellschaftlich angesehen und besonders für Adelsfamilien wichtig, weshalb eben jene die Hauptkulturträger wurden.(vgl.: Blume, 1998, S. 685 f.) Unter der Herrschaft von Anna Iwanowna (1730 – 1740) kamen viele neue Musiker, auch aus dem Ausland, an den Hof, weshalb auch neue Musikinstrumente ihren Einzug in die Hofkapelle fanden. Es entwickelte sich zudem eine Konzertkultur im ganzen Land, die den Notenhandel ins Leben rief. Auf 4 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa diesem Weg gelangte die europäische Kammermusik als auch die Vokal- und Instrumentalmusik nach Russland. Einen weiteren großen Schritt in der Einführung von westlicher Musik bildeten die ersten höfischen Opernaufführungen. Dafür wurde die Opera seria ausgewählt, deren Inhalt bei den Vorführungen am Hof jedoch dem staatlichen Ansehen zu dienen hatte.(vgl.: Blume, 1998, S. 687 f.) Infolgedessen entstand die Tradition, an Feiertagen, Geburtstagen von Herrschern oder zu Thronbesteigungen eine Opera seria aufzuführen. Diese Operngattung stellte somit eine Art Machtsymbol der Monarchie dar. Anlässlich der Krönung von Zarin Elisabeth I. wurde ein Opernhaus errichtet. Dieses Opernhaus in St. Petersburg und die dort gespielten italienischen Opern gelangten zu hohem künstlerischem Ansehen, auch über die Landesgrenzen hinaus. Schon zu jener Zeit verfügte man am russischen Hof über eine erstklassige Balletttruppe. Unter Zarin Katharina der Großen (1762 – 1796) kam schließlich die französische Opéra comique an den Hof. Dafür lud sie eine französische Operntruppe ein, welche beim Publikum sehr gut ankam. Eine vermehrte Inszenierung von französischen Opern ereignete sich unter Paul I. (1796 – 1801), dem Sohn von Katharina II. Er propagierte zum Trotz seiner Mutter und dem Adel eine kulturelle als auch politische Annäherung an Frankreich, was letztendlich zu seiner Ermordung durch politische Gegner führte.(vgl.: Blume, 1998, S. 689 ff.) Die Theaterkultur stand in Russland ja unter staatlicher Kontrolle, weshalb öffentliche Theater zwar vereinzelt eröffnet wurden, doch schnell Bankrott gingen. Deren Repertoire war wenig ansprechend für das Publikum, denn nur am Hoftheater verfügte man über ausreichend Musiker, Bühnenmaterial und Instrumente, um größere Werke aufzuführen. Das Konzertgeschehen wurde vorwiegend im privaten Bereich von Musikern gefördert, die europäische Meister auf Tourneen zu sich holten. Öffentliche oder staatliche Konzerte fanden nur mit geistlichen Kantaten oder Oratorien in der Fastenzeit statt. Dieser Brauchtum geht auf die Concerts spirituels in Paris zurück, was den Einzug der westlichen und speziell der französischen Kultur in Russland noch mehr verdeutlicht. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden in den kulturellen Hochburgen St. Petersburg und Moskau Theater und Opernbühnen, die auch über die Landesgrenzen hinaus bekannt waren, beispielsweise das Marinsky-Theater. Diese 5 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa Spielstätten waren für Opern, Ballette und auch Sprechtheater vorgesehen. Es wurden auch französische und italienische Theatergruppen dorthin eingeladen.(vgl.: Blume, 1998, S. 696 f.) Abseits der staatlichen Bühnen gelangte auch eine bestimmte Privatopernbühne zu hohem Ansehen: Das Opernhaus von Mamontow, welches 1885 in Moskau eröffnet wurde, förderte vor allem heimische Komponisten wie Mussorgsky oder Rimsky-Korsakow. Denn eben jene wurden in St. Petersburg an den Staatsbühnen zum Teil abgelehnt. Das Repertoire im frühen 18. Jahrhundert belief sich auf vorwiegend westeuropäische Werke. Erst Jahre später standen auch Kompositionen von Webern auf dem Programm, wie zum Beispiel Der Freischütz. So wich der frühere Radikalismus ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich dem gemäßigten Fortschritt. Denn unter der Herrschaft der Zaren gab es schwere Strafverfolgungen auf weltliche Musik und überhaupt alles, was nicht der Religion diente. So wurden beispielsweise noch 1636 mehrere Wagen voll mit Musikinstrumenten verbrannt, aufgrund eines Dekretes des Patriarchen Joasaph. Zeitweise wurde Lese- oder Schreibkenntnis in Russland sogar mit dem Tod bestraft. Peter der Große (1672 – 1725) vollzog also maßgeblich die Einführung der westlichen Sitten und Kultur mittels seiner Reformen. Das westeuropäische Kulturund Gedankengut verbreitete sich ohne größere Widerstände, zumindest auf dem Gebiet der Musik. Denn der russischen Musik mangelte es an Eigenständigkeit, weshalb sie regelrecht auf Hilfe von außen angewiesen war, besonders von Italien her.(vgl.: Kirchmeyer, 1958, S. 50 f.) Eine Wende geschah erst ab dem Zeitpunkt, wo Russland ausreichend musiktheoretische Kenntnisse gesammelt hatte, um mit eigenen künstlerischen Werken und Ideen die eigene Nation im Ausland zu vertreten. Erst Glinka beendete den Einfluss von Europa auf die russische Musik, worauf im folgenden Abschnitt näher eingegangen wird. 2.3 Der Einfluss russischer Komponisten auf das Musikgeschehen Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kristallisierten sich unter den Künstlern die Vertreter der national-russischen Schule heraus, die im Gegensatz zu den Anhängern der Westeuropäischen Musik standen, welche sich nicht von ihren italienischen oder französischen Vorbildern lösen wollten. Die Identitätsfrage nach einer ty- 6 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa pisch russischen Musik kam demnach auf.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 80) Bis ins 19. Jahrhundert wurde die Kunstmusik in Russland fast ausschließlich von Westeuropa übernommen. Nicht nur Werke aus Italien oder Frankreich zählten zu den Favoriten, auch deutsche Komponisten galten als große Vorbilder. Es wurden zahlreiche westeuropäische Musiker ins Land geholt und so die Posten der Kapellmeister besetzt.(vgl.: Yang, 2004, S. 30) Die Situation änderte sich erst als russische Komponisten bei westeuropäischen Lehrern Unterricht nahmen. Der erste einheimische Komponist, welcher sich ausführlich mit russischer Musik befasste war Michael Glinka (1804 – 1857). Seine Oper Ein Leben für den Zaren stellte eine außergewöhnliche und historische Leistung dar. Glinka verdankte die Anregung zu seinem ersten russischen Opernwerk dem deutschen Lehrer Siegfried Dehn, bei dem er nach 1834 studierte.(vgl.: Kirchmeyer, 1974, S. 18) Außerdem stieß sie auf Anerkennung in Russland, obwohl sich Glinka selbst jedoch nicht als Vorkämpfer einer russisch geprägten Musik sah. Erst der Komponist Alexander Dargomischkij setzte bewusst eine russische Opernreform in Gang. Er verzichtete auf herkömmliche formale Konzepte und entwickelte seine Oper zu einem Sprechgesangswerk. Für die jüngere Generation russischer Komponisten galten jedoch beide Komponisten als Wegbereiter für eine russische Musik, die sich von den europäischen Strukturen zu separieren versuchte. Außerdem setzte sich Glinkas Ruslan and Ljudmilla letztendlich als Nationaloper durch und diente sogar als Modell für Komponisten der späteren Generation.(vgl.: Blume, 1998, S. 699) Auch Rimsky-Korsakow war für den Wandel in der Kunstszene Russlands maßgeblich beitragend. Er wurde 1871 zum Professor für Theorie am Petersburger Konservatorium ernannt. Dies ermöglichte eine Veränderung der musikalischen Anschauung in St. Petersburg. Das Wirken von Rimsky-Korsakow umfasste die Übernahme von alten Formen, als auch die Erfindung von neuen, verstrickten Gebilden wie die Einführung der Symphonischen Dichtung in der Oper. Obwohl er den Westlingen zugeordnet wird, weil er sich vor allem dem Einfluss Wagners öffnete, ist ihm die erste russische Symphonie, als auch die erste Symphonische Dichtung zuzuschreiben.(vgl.: Kirchmeyer, 1958, S. 59) Die Gattung der Symphonischen Dichtung ging allerdings auf Liszt zurück, den Rimsky-Korsakow sehr schätzte. Rimsky-Korsakow mangelte es allerdings an ausreichender musiktheoretischer Ausbildung, weshalb er als Autodidakt schließlich gezwungen war, ein Studium zu absolvieren.(vgl.: Kirchmeyer, 1958, S. 57) Bis seine Privatstunden zur Mu- 7 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa siktheorie ab 1873 absolviert waren, schlug er sich raffiniert mit dem Ausfragen seiner Schüler durch. Er verschaffte sich dadurch einerseits selbst Informationen und lehrte sie dieses vorhandene Wissen gleichzeitig, da er es geschickt als Neuigkeiten verpackt wiedergab. Angeblich soll Rimsky-Korsakow zu Beginn seiner Professur nicht einmal einen Sextakkord oder Quartsextakkord gekannt haben. Da Rimsky-Korsakow Mitglied der so genannten „Petersburger Fünf“(Kirchmeyer, 1974, S. 19) war, vertrat er zu Beginn seiner Anstellung am Konservatorium deren Ansichten. Diese Gruppe aus Künstlern folgte dem Leitgedanken Tschernyschewskys in sehr strikter Art und Weise. Deswegen verurteilten sie beispielsweise Bach, dessen Musik zu sehr an formale Strukturen angelehnt war. Somit entsprach sie nicht mehr dem Prinzip Das Schöne ist das Leben von Tschernyschewsky, einem Literaturtheoretiker, welcher dem russischen Realismus zuzuordnen ist und dessen Worte über ein halbes Jahrhundert die nationalrussisch eingestellte Komponisten prägte.(vgl.: Kirchmeyer, 1974, S. 18 f.) Denn nach diesem Prinzip gilt die Musik als so genannter Spiegel des Lebens, wodurch jeglicher von der Form ausgehender Gedanke ausgeschlossen wird. Das Leben sei ein ständiges Fließen und dementsprechend sollte auch der Kompositionsstil nicht auf Formwerten basieren. Dieser Musikerkreis, auch „Novatoren“(vgl.: Kirchmeyer, 1974, S. 19) genannt, setzte sich aus Mily Balakirew, Modest Mussorgsky, Alexander Borodin, César Cui und Nikolai Rimsky-Korsakow zusammen. Diese Herren bevorzugten die russische Volksmusik als Quelle und somit eine Rückbesinnung auf die eigene Kultur, um sich so gut als möglich von westlichen Kunsteinflüssen zu distanzieren. Sie lieferten zahlreiche Meisterwerke der russischen Musik, wie zum Beispiel die erste russische Symphonische Dichtung Sadko von Rimsky-Korsakow. Dessen zahlreiche Orchesterwerke gelangten bejubelt bis nach Westeuropa, wo man nun nach und nach auch in Konzerthäusern und Opern diese neue russische Musik auf den Spielplan setzte.(vgl.: Kirchmeyer, 1974, S. 20) Um 1900 wurde in Europa somit auch das russische Volkslied bekannter, welches besonders den jungen russischen Komponisten diente, um der formalen europäischen Überfremdung in russischen Werken entgegenzuwirken. Die Petersburger Fünf lehnten sich damals gegen alle Form von Stilisierung auf, da sie ihrer Ansicht von Ästhetik widersprach. Sie bevorzugten vor allem Liszt und lehnten Bach, Mozart und auch Mendelssohn ab. Einer Anekdote nach sei Liszt während eines Konzertes von Mendelssohns Musik eingeschlafen, was dem 8 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa so genannten mächtigen Häuflein sehr imponierte. Sie erklärten Liszt und seine Musik zu einem Vorbild für die Russen. Auch Schumann wurde geschätzt, außer seiner Melodik. Auch gegen sämtliche musikalische Lehren wie Kontrapunkt, Formenlehre, usw. hatten sie Einwände, da sie als überflüssig und lebensunwahr empfunden wurden - ganz nach dem vorhin erwähnten Leitmotiv, das Leben sei ein Fluss. Da anfangs keiner der Petersburger Fünf eine Musikausbildung besaß, fiel es ihnen leicht, jede Art von Lehrinstituten abzulehnen. Es galt die Ansicht, eine technische Ausbildung zerstöre den schöpferischen Gedanken eines Musikers.(vgl.: Kirchmeyer, 1958, S. 52 f.) Dies stieß immer mehr auf Zustimmung, da sich die Kunst und die Musik zu damaliger Zeit bereits entgegen den staatlich anerkannten und teilweise auch überwachten Instituten entwickelte. Eigentlich waren viele bedeutende Musiker den Lehrinstituten gegenüber negativ eingestellt, allerdings nicht gegenüber der Lehre selbst. Die Petersburger Fünf sowie auch Strawinsky, Schönberg oder Honegger waren Autodidakten. Sie entwickelten ihr Wissen zwar innerhalb der anerkannten Lehre, jedoch außerhalb des Konservatoriums. Rimsky-Korsakow riet dem jungen Strawinsky sogar von einer Ausbildung am Konservatorium ab. Deshalb nahm Strawinsky bei ihm Privatstunden. Auch Franz Liszt und Giuseppe Verdi waren den Konservatorien abgeneigt. So forderte Verdi auf den Ausbildungsstätten eine Rückbesinnung auf die strenge Lehre wie beispielsweise den Kontrapunkt: „Die Freiheit und Verstöße beim Kontrapunkt mögen in der Oper hingehen und sind da sogar manchmal schön: in Konservatorien nicht. Zurück zum Alten – es wird ein Fortschritt sein.“(Kirchmeyer, 1958, S. 54) Strawinsky beschäftigte sich intensiv mit der Lehre des Kontrapunktes und bezieht sich wiederum auf dieses Zitat, auch in seinem Buch Poetik. Nachdem sich Rimsky-Korsakow allerdings dem klassischen Musikstudium zuwandte, vollzog sich ein Bruch zwischen ihm und Balakirew. Letzterer duldete seine Anstellung am Konservatorium ohnehin nur, weil er dadurch den Einfluss der Petersburger Fünf an staatlichen Einrichtungen gefördert sah. Sobald sich Rimsky-Korsakow infolge seiner Studien jedoch immer mehr gegen die zu engen Anschauungen dieser Musikergruppierung äußerte, war die Trennung zwischen ihm und Balakirew unüberwindbar.(vgl.: Kirchmeyer, 1958, S. 58) Zudem löste sich auch der alte Musikerkreis der Fünf nach dem Tod von Mussorgsky. 9 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa In diesem Zerfall der Musikergruppe wiederspiegelte sich zugleich die allgemeine kulturelle Entwicklung in Russland, die mit der Abwendung vom Radikalismus der Petersburger Fünf einsetzte. Es entstand der Belaijew-Kreis, der sich den Ansichten des verstorbenen Mussorgsky verschrieb. Diese Gruppierung bestand aus ausgebildeten Musikern, die deshalb Rimsky-Korsakow als durchschnittlichen Komponisten bezeichneten. Denn die Mitglieder der Petersburger Fünf waren zwar musikalische Genies, aber was die Musiktheorie betraf, völlige Autodidakten. Zusätzlich gruppierten sich die so genannten Westlinge, den geistigen Anschluss an Europa suchten, und im Gegensatz dazu die Anhänger der panslawistischen Bewegung, welche eine Einheit der slawischen Völker und deren Kulturgut anstrebten. 2.4 Erste Verbindungen zu europäischer Kultur in Strawinskys Leben Igor Feodorowitsch Strawinsky erblickte im Jahre 1882 am 5. Juni nach alter Zeitrechnung beziehungsweise am 17. Juni nach dem neuen Kalender das Licht der Welt. Seine Eltern wohnten in St. Petersburg, verbrachten jedoch einen Teil des Sommers immer in Oranienbaum am Finnischen Meerbusen gegenüber der Festung Kronstadt. Dort ist Strawinsky am Tag des Hl. Igor geboren und wurde demnach benannt. Beide Elternteile stammten vom Landadel ab, wobei seine Mutter eine Kleinrussin war.(vgl.: White, o.D. S. 11) Schon als Kind nahm die Musik einen wichtigen Platz in seinem Leben ein. So erinnert sich Strawinsky, bereits mit angeblich drei Jahren den Wunsch gefasst zu haben, Musiker zu werden, als er den Gesang eines Bauernmädchens häufig zu hören bekam. Mit neun Jahren begann er bei einer Klavierlehrerin Unterricht zu nehmen. Es handelte sich um Leocasia Kaschperowa, eine Schülerin von Anton Rubinstein. Der kleine Strawinsky begann daraufhin rasch zu improvisieren.(vgl.: Jarustowski, 1966, S. 15) Er lernte auch sehr schnell das Notenlesen, wobei ihn die Opernauszüge aus der Familienbibliothek besonders interessierten, denn sein Vater war einer der gefeierten Bassbaritone seiner Zeit. Zu seinem Repertoire zählten unter anderem der Mephistoteles aus Faust von Charles Gounod als auch Boitos, sowie der Varlaam aus Boris Godunow von Modest Mussorgsky. Der junge Strawinsky kannte also die meisten russischen Opern schon bevor er sie das erste Mal im kaiserlichen Opernhaus zu hören bekam. Besonders Glinkas Das Leben für den Zaren und Ruslan und Ludmilla waren ihm sehr vertraut. Auch das Improvisieren bereitete ihm große Freude in jungen Jahren. 10 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa Dieses starke Interesse an der Musikpraxis ist möglicherweise auf seine Vereinsamung als Kind zurückzuführen.(vgl.: White, o.D. S. 11) Er hatte keine gleichaltrigen Freunde und verabscheute als eher mittelmäßiger Schüler den Schulunterricht. Erst später nahm seine Verschlossenheit ab und er knüpfte Kontakte im Haus des Schwagers seiner Mutter. Dort begegnete er freigesinnten Menschen, die über Politik und Kunst etwas fortschrittlicher dachten. Noch dazu schätzten sie auch die symphonische Musik und hier nicht nur die Symphonien von Tschaikowsky oder Rimsky-Korsakow, sondern auch Werke von deutschen Komponisten wie Brahms oder Bruckner. Strawinsky kam also schon in jungen Jahren mit europäischem Kulturgut in Kontakt und lernte vor allem zahlreiche Stücke von französischen Musikern kennen wie zum Beispiel Gounod oder Bizet. Diese Kenntnisse hat er seiner engen Freundschaft mit Iwan Pokrowsky zu verdanken. Seine Eltern sahen für Igor ein Studium der Rechte an der Universität in St. Petersburg vor. In ihren Augen sollte die Musik lediglich eine Nebenbeschäftigung bleiben, obwohl er bei seiner damaligen Klavierlehrerin außerordentliche Fortschritte machte. Einen Lehrer für die Harmonielehre bezahlten sie ihm auf seine inständigen Bitten hin. Dieser Unterricht brachte allerdings keine großen Erfolge, was eher nicht mit einer schlechten Lehrmethode zu begründen ist. Höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der junge Strawinsky musikalische Probleme lieber aus eigener Kraft und Anstrengung heraus lösen wollte, als sich auf vorgegebene Verfahrensregeln zu beziehen.(vgl.: White, o.D. S. 12) Denn in seinen Memoiren gibt er zu, dass die Schuld bei ihm selbst lag, da er sämtliche trockene Studien verabscheute. Eine Erklärung dafür lautet folgendermaßen: „Ich habe es immer vorgezogen - und auf diesem Standpunkt stehe ich noch heute -, einzig und allein durch eigene Kraft meine Ideen zu verwirklichen und jene Probleme zu lösen, die sich mir während meiner Arbeit stellen. Ich mag nicht auf fertige Rezepte zurückgreifen, die zwar die Arbeit erleichtern, die man aber erst lernen und im Gedächtnis behalten muss. So nützlich Lehre und Gedächtnisarbeit sein mögen, so erschien mir beides doch stets ermüdend und trostlos. Für diese Arbeit war ich zu faul, und dies umso mehr, als ich kein Vertrauen zu meinem Gedächtnis hatte. Wenn es darum besser bestellt gewesen wäre, hätte ich vielleicht auch mit Interesse und sogar Vergnügen gelernt.“(Strawinsky, 1958, S. 14 f.) 11 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa Damit lieferte er gleichzeitig die Erklärung für seinen einzigartigen Stil und seine daraus noch nie zuvor komponierte Musik. Der Kontrapunkt fesselte den jungen Strawinsky allerdings immer schon, weshalb er mit 18 Jahren anfing, diesen selbst zu erlernen. Lediglich mit der Hilfe eines gewöhnlichen Handbuches führte er selbstauferlegte Übungen durch. Diese prägten seine Phantasie und weckten in ihm den Wunsch zu komponieren.(vgl.: White, o.D. S. 13) Seine erste erhaltene Komposition ist das Fragment einer Tarantella für Klavier aus dem Jahr 1898. Verglichen mit anderen Komponisten wie Glazunow stellte Strawinsky einen Spätzünder dar, denn in seinem Alter wiesen andere schon eigene Sinfonien als Werke vor.(vgl.: Flamm, 2013, S. 16) Strawinsky war zudem ein großer Bewunderer von Glazunow und Rimsky-Korsakow. Über letzteren berichtete er in seinen Erinnerungen, dass er ihn besonders wegen seiner melodischen und harmonischen Eingebungen schätzte.(vgl.: White, o.D. S. 13) Bei Glazunow bewunderte er dessen Gefühl für die symphonische Form. Das handwerkliche Können schätzte er bei beiden. Diese zwei Vorbilder versuchte Strawinsky in seinen frühen Kompositionen nachzuahmen. An der Universität lernte er schließlich Wladimir Rimsky-Korsakow kennen, den jüngsten Sohn des Komponisten. Dies führte im Sommer 1902 zu einer Begegnung mit dem großen Vorbild.(vgl.: Jarustowski, 1966, S. 16) In diesem Jahr fuhr Strawinsky mit den Eltern nach Bad Wildungen zur Erholung, da sein Vater ernsthaft erkrankte. Dabei nutzte Strawinsky die Gelegenheit, seinen Freund Wladimir in Heidelberg zu besuchen, wo sich zur selben Zeit die gesamte Familie Rimsky-Korsakow aufhielt, da an dieser Universität ein zweiter Sohn studierte. Dabei ergab sich ein erstes Zusammentreffen mit Rimsky-Korsakow.(vgl.: White, o.D. S. 13 f.) In diesem Gespräch eröffnete Strawinsky seinem Vorbild den großen Wunsch und Ehrgeiz, ein Komponist zu werden. Er spielte auch einige seiner ersten Kompositionsversuche vor. Daraufhin meinte Rimsky-Korsakow, Strawinsky solle seine Harmonie- und Kontrapunktstudien noch weiter vertiefen, am besten bei einem Schüler von Rimsky-Korsakow. Außerdem riet er ihm von einem Besuch des Konservatoriums ab, denn Strawinsky war zu diesem Zeitpunkt schon 20 Jahre alt und er hätte einen zu großen Nachholbedarf im Vergleich zu den gleichaltrigen Studenten. Außerdem verfolgte Strawinsky nach wie vor seine Studien des Rechtes, beides zugleich wäre zu viel geworden. Stattdessen riet ihm Rimsky-Korsakow, seine Kompositionsarbeit regelmäßig überprüfen zu lassen, indem er Privatunterricht bei zwei seiner Schüler erhielt: Fjodor Akimenko und Wassili Kalafati.(vgl.: Flamm, 2013, S. 16) Zudem bot er dem motivierten 12 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa Strawinsky zum Trost an, er könne sich jederzeit wegen eines Ratschlags melden oder bei ihm Unterricht nehmen, sobald er die notwendigen Grundlagen erlernt hat. Strawinsky kamen darauf allerdings einige Ereignisse dazwischen, die ihn an der sofortigen und regelmäßigen Arbeit an der Musik hinderten. Sein Vater starb 1902 und sein Freundeskreis begann sich mit dem vermehrten Kontakt zur Familie Rimsky-Korsakow zu erweitern. Strawinsky umgab sich mit Malern, Gelehrten und Wissenschaftlern sowie mit Kunstliebhabern, die fortschrittliche Ansichten pflegten. Darunter befand sich auch Stepan Stepanowitsch Mitusow, ein junger Schriftsteller mit dem Strawinsky zusammen Werke von Hoffmann, Maeterlinck und Oscar Wilde las. So erhielt er Zugang zu weiterer europäischer Kunst. Strawinsky war also nicht nur auf dem Gebiet der Musik bewandert, sondern kannte auch die Literatur des Westens ein wenig. Eine Gruppe von Strawinskys Freunden gründete wenig später, nachdem Diaghilew seine Zeitschrift Mir Iskustwa herausgab, die Soireen zeitgenössischer Musik. Es waren Bekannte von Diaghilew und zudem Kunstkritiker, darunter auch wieder Iwan Prokowsky, welche die Ansicht teilten, dass die moderne Musik von der kaiserlichen Musikgesellschaft und den Belajew-Symphoniekonzerten nicht ausreichend gefördert wurde.(vgl.: White, o.D. S. 15) Deshalb standen in diesen Soireen besonders Kammermusik und französische Komponisten wie César Franck, Vincent d’Indy, Fauré und Debussy am Programm. Strawinsky wurde mit dieser Gruppe von Musikern durch Pokrowsky bekannt gemacht. In diesen Soireen zeitgenössischer Musik fanden auch erste Aufführungen von Strawinskys Kompositionen statt, zum Beispiel die beiden Lieder Klosterfrühling und Der heilige Tau.(vgl.: Jarustowski, 1966, S. 2016) An diesem florierenden Musikgeschehen durfte Strawinsky also teilhaben. Er war umgeben von Musik und vor allem vom neuen Stil Debussys begeistert. Seine revolutionierende Selbstständigkeit, die technische Frische und sein Gefühl für Form und Ordnung faszinierten den jungen Strawinsky. Trotzdem leitete ihn die Vernunft, so dass er sich von dieser Faszination für moderne Kompositionen nicht verleiten ließ, sich von der Lehre und den ästhetischen Ansichten seiner Lehrer abzuwenden.(vgl.: White, o.D. S. 15 f.) Auch wenn Rimsky-Korsakow und Liadow unter den Professoren als eher aufgeschlossen galten, zeigten sie für neue Musikformen, auch wenn sie noch so ernsthaft praktiziert wurden, keinerlei Anerkennung. 13 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa Abbildung 2.1: Strawinsky mit Nikolai Rimsky-Korsakow und rechts außen seine Frau Katharina Strawinsky in St. Petersburg, 1921 1 Strawinsky zeigte in dieser Angelegenheit Verständnis für seine Lehrer, denn sie müssten ja wegen ihrer Glaubwürdigkeit wegen an ihrer Lehre und Ästhetik festhalten. Strawinsky akzeptierte diese Tatsache, weil er dadurch sein Ziel Komponist zu werden verfolgen wollte: „Gleichgültig was immer das Ziel sei, es gibt nur einen Weg für den Anfänger: er muss vorerst eine Zucht von außen her annehmen, aber nur als Mittel, zur Freiheit seiner persönlichen Ausdrucksweise zu gelangen, indem er seine Kräfte sammelt.“(White, o.D. S. 16) Strawinsky haben die Lernjahre bei konservativen Professoren also nicht geschadet, aber spätestens nachdem er den Feuervogel komponierte, wandte er sich von ihnen und der russischen Schule ab. Denn er hatte seine eigenen Fähigkeiten entdeckt. Zwischen St. Petersburg und Westeuropa bestand glücklicherweise eine kulturelle Verbindung, weshalb er sich immer mehr künstlerische Anregungen von französischer und italienischer Seite holte. Sein erstes überliefertes Werk schrieb er aber eigentlich schon im Alter von etwa 20 Jahren und es bereitete ihm durchaus Mühe. Es handelte sich um eine Klaviersonate, die seinem Freund Nikolaus Richter gewidmet war. In seiner Verzweiflung suchte er Hilfe bei Rimsky-Korsakow, den er im Sommer 1903 auf 1 Craft, Robert (1972), Igor Strawinsky – Erinnerungen und Gespräche. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH, S. 32f. 14 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa seinem Landsitz besuchte und 14 Tage lang dort blieb. Das war der Anfang der engen Verbindung zwischen dem Lehrer und seinem Schüler, die sich über drei Jahre hinweg zog. Bei diesem ersten Aufenthalt erhielt Strawinsky die Anweisung, den ersten Teil einer Sonate zu schreiben und erlernte im Zuge dessen auch gleich die Orchestrierung. Im Herbst desselben Jahres setzte er den Unterricht fort und musste Teile des Klavierauszuges seines Lehrers bearbeiten. Anschließend wurde die Fassung des Lehrers mit der des Schülers verglichen. In weiterer Folge hatte Strawinsky klassische Musik für ein Orchester einzurichten, wie zum Beispiel Teile aus Beethovens Klaviersonaten und Schuberts Quartette und Märsche.(vgl.: White, o.D. S. 17) So erweiterte er seine Kenntnisse in Instrumentationsübungen, die gleichzeitig der Formanalyse dienten. Strawinsky sammelte auf diese Art wertvolle Erfahrungen in Bezug auf europäische Musik. Dies hatte er der Aufgeschlossenheit seines Lehrers zu verdanken hatte, der im Vergleich zu den alten Professoren des Konservatoriums die westliche Musik teilweise durchaus schätzte. Ab dem Jahr 1904 durfte Strawinsky schließlich bei Rimsky-Korsakow persönlich Unterricht nehmen, denn er bewies seine ausreichenden Musikkenntnisse mit der Komposition einer viersätzigen Klaviersonate. Zusätzlich kam er so in Kontakt mit dem Kreis der Musiker um seinen großen Meister.(vgl.: Flamm, 2013, S. 16) In den Jahren 1903 bis 1908 verbrachte Strawinsky sehr viel Zeit im Haus von Rimsky-Korsakow und durfte dann auch an den traditionellen musikalischen Abenden teilnehmen, die immer einmal in der Woche am Mittwoch stattfanden. Dabei waren bedeutende Musiker von St. Petersburg anwesend. An jenen Abenden gab Strawinsky entweder drollige Lieder zum Besten oder spielte Vierhändig mit Rimsky-Korsakow oder dem Pianisten Nikolai Richter. Dabei standen Stücke von Schubert, Borodin, Tschaikowsky aber auch Neuheiten wie Mahler, Sibelius oder Symphonien von Bruckner am Programm.(vgl.: Jarustowski, 1966, S. 17) In diesen Zusammenkünften wurde also fleißig musiziert, diskutiert und neue Werke präsentiert, was für den jungen Strawinsky eine Art neue musikalische Heimat darstellte, da sich besonders seine Grundüberzeugungen in dieser Gesellschaft prägten.(vgl.: Flamm, 2013, S. 16) Rimsky-Korsakow entwickelte sich für Strawinsky zu einem väterlichen Freund und gerade diese enge Verbindung propagierte schnelle musikalische Fortschritte beim jungen Komponisten. Allerdings hatte dies auch eine Art Abhängigkeit bezüglich des Stils und der Ästhetik zur Folge: Denn der Standard setzte sich aus volksmusikalischen Elementen zusammen, die harmonisch und rhythmisch gemäß den akademischen Tradi- 15 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa tionen bearbeitet wurden. Außerdem erzeugte man orientalisches Flair mithilfe von melismatischen Melodieverläufen und versuchte der Musik einen übersinnlichen Charakter überzustülpen, indem vage eine Harmonik abseits von Dur und Moll angewendet wurde. (Flamm, 2013: 17) Die typische Instrumentation wies Eigenheiten wie den Einsatz der Oboe oder des Englischhorns für orientalische Tonverläufe auf. Auch die Celesta und die Harfe verwendete man oft bewusst zur Unterstreichung von phantasievollen Szenen. All diese Strukturen übernahm Strawinsky in seinen Kompositionen und erlangte dadurch erste Anerkennungen für seine Werke. Im Frühjahr 1905 beendete Strawinsky seine Universitätsstudien der Rechte und verlobte sich noch im selben Jahr mit seiner Cousine Katharina Nossenko.(vgl.: Jarustowski, 1966, S. 19) Am 11. Jänner 1906 folgte die Hochzeit, bei der aus alter russischer Tradition sein Lehrer Trauzeuge war. Von da an hielt er sich abwechselnd in St. Petersburg und Ustilug auf, wo er sich ein Haus auf dem Grund seiner Frau baute. Dort komponierte er einen Großteil seiner Werke in den folgenden sechs Jahren.(vgl.: White, o.D. S. 18) Nach wie vor besuchte er regelmäßig Rimsky-Korsakow, um sich Rat und Kritik zu jedem neuen Werk zu holen. Strawinsky widmete seine Symphonie in Es-Dur, das erste Werk mit der Nummer 1 beziffert, seinem Lehrer und verdeutlichte damit die große Wertschätzung für sein Vorbild und alles von ihm Erlernte. In dieser Komposition sind besonders die Einflüsse von Tschaikowsky, Wagner und natürlich Rimsky-Korsakow selbst zu erkennen. Schon vor Rimsky-Korsakows Tod gab es Anzeichen, dass Strawinsky nach und nach die künstlerischen Ansichten seines Lehrers nicht mehr hundertprozentig teilte und in seiner Musik anwendete. Denn er interessierte sich zunehmend für symbolistische Dichtung und ließ sich von französischen Musikern inspirieren. Rimsky-Korsakow zeigte sich etwas bestürzt darüber, dass Igor sich dem Impressionismus zuwandte. Bei der Uraufführung der Romanzen nach Worten Sergej Gorodetzkis war seine Bemerkung dazu: „In den neuen Romanzen verfiel Igor allzu sehr dem Modernismus“(Jarustowski, 1966, S. 18) Vorerst wurde Strawinsky durch jene Werke bekannt, in denen er sich noch treu an die Lehren des Petersburger Stils hielt.(vgl.: Flamm, 2013, S. 17) Zum Beispiel bei seinem Scherzo fantastique op.3, welches 1909 uraufgeführt wurde. Bei diesem Konzert entdeckte ihn Diaghilew und engagierte ihn erstmals für die Ballets Russes. Strawinskys damit verbundene Erfolge mit Bühnenwerken werden in Kapitel 3 näher behandelt. 16 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa Sein erstes Bühnenwerk schrieb Strawinsky allerdings schon vorher im Jahr 1908 mit dem Titel Die Nachtigall. Er entwarf es als Oper, allerdings nicht als Musikdrama sondern eher als eine lyrische Erzählung mit Musik. Der Stoff basierte nicht auf den slawischen Mythen, wie in vielen russischen Opern und Balletten, sondern auf einem Märchen nach Hans Christian Andersen. Das Textbuch verfasste Mitusow, ein Freund von Strawinsky. Hier lässt sich ein starker Einfluss von Europa verzeichnen, auch wenn Strawinsky beim Komponieren noch stets die Mahnung von Rimsky-Korsakow beherzigte: „Eine Oper sollte vor allem ein Musikwerk sein.“(White, o.D. S. 21) Dieses Werk war allerdings das letzte im von Rimsky-Korsakow angelernten Stil. Der erste Akt von Le Rossignol, so der französische Titel, hielt sich noch an die Lehren des Meisters.(vgl.: Flamm, 2013, S. 17) Aber die Arbeit an dieser Oper wurde durch den Tod von RimskyKorsakow unterbrochen und erst ein paar Jahre später wieder aufgenommen. Deshalb verdeutlicht diese Komposition am besten die Entwicklung von Strawinsky, denn als er nach Le Sacre du Printemps den zweiten und dritten Akt verfasste, unterschied sich die Stilistik deutlich vom ersten. Die Oper spaltet sich sozusagen in zwei ungleiche Teile und präsentiert den Musikstil von Strawinsky vor und nach seinen Erfolgen mit den drei ersten Balletten für die Ballets Russes unter der organisatorischen Leitung von Serge Diaghilew. Diese gegenseitige Freundschaft zwischen Lehrer und Schüler endete 1908 unvermutet. Strawinsky berichtete Rimsky-Korsakow von seinem Vorhaben, eine Orchesterphantasie mit dem Namen Feuerwerk zu schreiben, anlässlich der Vermählung von dessen Tochter Nadja Rimsky-Korsakow mit Maximilian Steinberg.(vgl.: White, o.D. S. 22) Nach sechs Wochen schickte er die fertige Partitur an seinen Meister. Dieses eingeschriebene Paket wurde jedoch mit dem Verweis zurückgesendet, dass der Adressat bereits verstorben war. Strawinsky nahm am Begräbnis am 23. Juni in St. Petersburg teil und komponierte sogleich in tiefer Trauer ein Grablied, welches beim ersten Belajew-Konzert im Herbst desselben Jahres zum Gedenken an den großen Meister aufgeführt wurde. Das Werk selbst wurde nie veröffentlicht, denn die Handschrift verschwand im Zuge der Revolution 1917 in Russland. Strawinsky erinnerte sich nur vage an diese Komposition: „Ich kann mich nicht mehr an die Musik erinnern, wohl aber entsinne ich mich des Gedankens beim Ursprung ihrer Konzeption, nämlich, dass die Soloinstrumente des Orchesters an dem Grab des Meisters der 17 2 Erste Kontakte zwischen Russland und Europa Reihe nach vorüberziehen sollten, wobei jedes seine eigene Melodie als Kranz gegen einen tiefen Hintergrund von Tremologemurmel [. . . ] niederlegte.“(White, o.D. S. 23) In dieser Aussage kommt der große Verlust seines Vorbildes zur Geltung. Strawinsky benötigte anschließend wieder einen Gönner, der ihm behilflich war, sein feuriges Wesen in der Musik der Öffentlichkeit näher zu bringen. Eine günstige Gelegenheit ergab sich schon bald darauf bei einem Siloti-Konzert im Winter 1909, wo sein Scherzo fantastique und das Feuerwerk aufgeführt wurde. Es kam zu einem Wendepunkt in seinem Leben, denn im Publikum befand sich auch Serge Pawlowitsch Diaghilew. Er bemerkte sogleich die zukunftsweisenden Eigenschaften dieser beiden Werke und besonders das Feuerwerk beeindruckte ihn aufgrund der Tonfarbe und der dynamischen, schwungvollen Musik.(vgl.: White, o.D. S. 24) Es begann somit die Zusammenarbeit der beiden Männer. Denn Diaghilew beschäftigte sich im Winter 1909 mit Plänen zur Gründung einer neuen Ballettgesellschaft. Er zählte bereits seine Freunde, wie den Choreographen und Tänzer Fokin, so wie die Bühnenbildner Benois und Bakst zu seinen zukünftigen Mitarbeitern. In Strawinsky fand er schließlich den noch fehlenden musikalischen Mitarbeiter.(vgl.: White, o.D. S. 26) Schon bald nach dieser Aufführung beauftragte Diaghielw deswegen den jungen Komponisten als Versuch etwas zu Orchestrieren. Mit diesem Auftrag begann die Zusammenarbeit der beiden Männer und gleichzeitig die Erfolgsgeschichte der Ballets Russes, die näher in Kapitel 3 behandelt wird. 18 3 Das Ballett: Ein Zusammenspiel verschiedener Künste Da Strawinsky gerade mit seinen ersten Ballettkompositionen berühmt wurde, soll dieses Kapitel einen kurzen Überblick zur historischen Entwicklung als auch zu den Krisenzeiten dieses Genres geben. Dadurch wird das revolutionäre Wirken der Ballets Russes, welches in Kapitel drei und vier näher behandelt wird, besser verständlich. 3.1 Ein Überblick über die Ursprünge des Balletts Das Ballett gilt als ein kulturelles Produkt des Abendlandes, denn seit dem 15. Jahrhundert gab es schon Tanzeinlagen oder auch vollständige Bühnenwerke mit Tanz an italienischen Fürstenhöfen. Es diente zur Ausgestaltung dieser fürstlichen Festlichkeiten in Ländern wie Italien, Frankreich oder England. Dabei handelte es sich um kostspielige Spektakel, die Großteils bis ins 16. Jahrhundert improvisiert wurden. Erst ab dem 17. Jahrhundert kümmerte man sich um einen geordneten Ablauf der Tanzeinlagen.(vgl.: Yang, 2004, S. 7) Das Ballett und die Oper entwickelten sich dabei parallel, da sämtliche Opern dieser Zeit mit Tanzeinlagen ausgestattet wurden. In der Barockzeit waren enormer Aufwand und Prachtentfaltung sowie die Erweiterung der Realität durch einen Illusionismus präsent, was sich auch in den verschiedenen Kunstrichtungen wiederspiegelte. Im Bereich des Theaters zeichnete sich dies durch eine prachtvolle Gestaltung der Bühne und Kostüme aus. Vor allem aber verschmolzen viele Kunstrichtungen in einer Gesamtaufführung, zum Beispiel im Theater. Dort bildeten in der Hochblüte des Barock Musik, Tanz, Gesang, Rezitation und Bild eine stilistische Einheit. Zu dieser Form des Gesamtkunstwerkes, kam später Diaghilew bei seinen Ballets Russes auch wieder zurück. (vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 29) Es war die Zeit vom Übergang des Hofballetts und der Maskeraden zu den Komödien mit Ballett wie etwa jene von Molière oder die Ballettopern von Lully und später Rameau. Auch der Hang zum Handlungsballett zeichnete sich zu jener Zeit bereits ab. Nach dem Zeitalter des Barock wandte man sich von der üppigen Gestaltung der Tanzszenen wieder ab und interessierte sich wieder für einfache und natürliche 19 3 Das Ballett: Ein Zusammenspiel verschiedener Künste Elemente, wie eben zum Beispiel die Schäferidylle des Rokkoko. Es setzte zudem eine Rückbesinnung auf die Volksdichtung und -musik ein. Mit der Zeit löste sich das Ballett schließlich von der Oper ab und es entstand das dramaturgische Handlungsballett. Die Tanzaufführungen etablierten sich fortan als eigene Gattung. Als Begründer des Handlungsballettes galten Jean-Georges Noverre (1727-1819) und Gasparo Angiolini (1731-1803), die sich schon zu Lebzeiten um den Anspruch als Erfinder dieser neuen Ballettform stritten.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 53 f.) Es wird nun also eine Handlung durch Tanz und gemimte Passagen erzählt, wobei Noverre in dieser Hinsicht als der bedeutendste Künstler in Bezug auf das Handlungsballett galt, da er die Ballettästhetik begründete: In seinen Balletten dominierte die Gefühle das szenische Geschehen. Somit wurden die Protagonisten zunehmend menschlicher dargestellt. Dadurch änderten sich auch die Themen und anstelle der antiken Mythologie und ihrer Helden traten folglich aktuelle, revolutionäre Menschen in den Vordergrund des Bühnengeschehens.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 58) Noverre kam sogar als Ballettmeister an den Hof von Kaiserin Maria-Theresia, wo er unter anderem der Tochter Marie-Antoinette Ballettunterricht gab. Marie-Antoinette förderte als spätere Königin von Frankreich Gluck und Noverre, der sogar als Ballettmeister an die Opéra in Paris geholt wurde. Dies geschah im Sinne einer Erneuerung der Gattungen Oper und Ballett, die also maßgeblich von Frankreich ausging. Eine Entkoppelung des Bühnentanzes als eigenständige Gattung, der zuvor immer nur ein Teil der Oper war, führte ab dem mittleren 18. Jahrhundert zu einer Entwicklung von pantomimisch-dramatischen Strukturen. Diese sicherten dank dem so genannten narrativen Handlungsballett den Stellenwert des Tanzes als alleinige Kunstform für eine Aufführung. Wie der Name schon sagt, stehen dabei die Handlung und der Tanz im Vordergrund, weshalb der Musik keine große Bedeutung zukam. Sie wurde von drittklassigen Musikern komponiert oder überhaupt einfach nur nach den Tanzrhythmen und Schrittfolgen improvisatorisch zusammengestellt. Oft wurde auch einfach auf bekannte Musikstücke zurückgegriffen, die für das jeweilige Ballett und deren Handlung wieder verwendet wurden. Erst 1860 begann diesbezüglich in Russland eine Veränderung durch den französischen Choreographen Arthur Saint-Léon und seinen Märchenballetten wie zum Beispiel Die Zarenbraut. Er ließ bereits spezialisierte Ballettkomponisten die Musik 20 3 Das Ballett: Ein Zusammenspiel verschiedener Künste zum Tanz komponieren. Damals war es noch üblich, dass der Choreograph einen Zeitplan, die so genannte minutage, für den Komponisten erstellte. Die Musik hatte dieser Anleitung Takt für Takt zu folgen. Solche Pläne existierten teilweise auch noch für Tschaikowsky. Das war es eben, was viele Komponisten abschreckte, mit Choreographen zusammenzuarbeiten, denn die Musik hatte sich beim Ballett ausnahmslos dem Tanz anzupassen, was für schöpferische Neuheiten daher wenig Spielraum ließ.(vgl.: Flamm, 2013, S. 10) Eine andere gängige Methode zu jener Zeit stellte das Pastiche dar. Dabei griff man zur Gänze auf vorhandene Musik zurück und fügte ihr eine Folge von meist handlungslosen Tänzen hinzu, die eigens dazu choreografiert wurden. Diese Methode wurde in den späteren Ballets Russes ebenfalls angewendet, zum Beispiel bei Les Sylphides. In der Romantik war Frankreich das Land, in dem Meisterwerke des romantischen Balletts entstanden. Die mythologischen Gestalten der Antike wurden gänzlich von Geistern, Elfen, Nixen und dergleichen verdrängt. Laut dem Schriftsteller Théophil Gautier (1811-1872) regierten Fabelwesen und die Fantasie der Ballettmeister die Pariser Oper. Zudem rückten die weiblichen Tänzer in den Vordergrund, so dass die Männer nur mehr in nützlichen Nebenrollen vorkamen oder als Stütze für die Ballerina, sozusagen als „drittes Bein der Ballerina“(Liechtenhahn, 1990, S. 70) Die Vorherrschaft des Weiblichen entartete zu einer schwärmerischen Verehrung der romantischen Ballerinen, was das Ballett in den Mittelpunkt des künstlerischen Lebens rückte. Da in der Epoche der Romantik das Reisen eine große Rolle spielte, kamen erstmals Tourneen im Kunstsektor auf. die berühmten Tänzerinnen begaben sich trotz der damaligen, schlechten Reisebedingungen vor allem nach London und natürlich Russland, aufgrund des Marinsky Theaters in St. Petersburg.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 80 ff.) Es herrschte also ein reger Künstleraustausch zwischen Europa und Russland, wobei Russland hinsichtlich des Balletts einen hohen Stellenwert besaß. Aufgrund der vorherrschenden Frauenrolle im Ballett des 19. Jahrhunderts, wandten sich vermutlich viele Tänzer der Choreographie zu. Dies änderte sich erst mit dem Fokus auf den Männertanz durch den Choreographen Nijinsky im 20.Jahrhundert, der auch bei den Ballets Russes unter der Leitung von Diaghilew mitarbeitete. 21 3 Das Ballett: Ein Zusammenspiel verschiedener Künste 3.2 Das Ballett in der Krise und erste Reformansätze Das Ballett als große mitteleuropäische Gattung zerfiel Ende des 19. Jahrhunderts. Es stellte bis dahin eigentlich eine allgemeingültige Form dar, die im gesamten westeuropäischen Raum und auch in Russland ähnlich waren. Egal ob nun ein Tänzer oder eine Tänzerin in Paris, Rom oder St. Petersburg den Balletttanz erlernte oder auftrat, die Tanzschritte waren im Prinzip dieselben. Ab 1900 veränderte sich die Lage allerdings, da ein Bestreben nach einer Erneuerung aufkam. Die Auswirkung davon war der Versuch, diese alte Ballettkunst und die gleichbleibenden Formen mit nationalen Elementen zu versehen.(vgl.: Gregor, 1994, S. 312) Dabei orientierte man sich an der Konzertmusik, bei der ja auch zum Beispiel typisch französische oder deutsche Musikwerke existierten, obwohl alle Länder das gleiche Tonsystem verwendeten. Diese nationalen Weiterentwicklungen stellten eine notwendige Wende dar, denn beim Ballett hatte sich beinahe schon eine Allgemeingültigkeit auch hinsichtlich des Stoffes und der Handlung verbreitet. Eine weitere Problematik in der Tanzkunst machte sich auch bei der Premiere des Handlungsballetts Coppélia sichtbar: Bei der Aufführung im Jahr 1870 wurde die Rolle des Franz nicht von einem Mann, sondern von einer Frau namens Eugénie Force (1845-1908) getanzt. Es herrschte ein Mangel an qualifizierten Tänzern und auch Tänzerinnen. Viele talentierte Tänzerinnen verstarben unglücklicherweise jung wie beispielsweise Emma Livry, die als Hoffnung für das französische Ballett galt, an Verbrennungen bei einer Probenarbeit. Das Ballett war also einer Degeneration verfallen.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 87) Es starteten in vielen Ländern Aktionen, um dem entgegenzuwirken. Auch in Österreich gab es Versuche, das Ballett aufrecht zu erhalten, wobei hier durchaus Erfolge zu verzeichnen waren. Dem österreichischen Choreographen Joseph Hassreiter (1845-1940) gelang mit seinem Ballett Die Puppenfee ein Erfolg. Mit der Musik von Josef Bayer verbreitete sich das Werk im ganzen deutschen Sprachraum und wurde an vielen großen und kleinen Bühnen gespielt. Dennoch sah man das Ballett immer mehr als eine nicht ernstzunehmende und unseriöse Kunst an. Dazu hat vermutlich der schlechte Ruf von Tänzerinnen beigetragen, welche sich ihr mageres Einkommen mit Zuwendungen reicher Herren aufbesserten.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 92) So gab es in Paris zum Beispiel ein Foyer de la Danse, indem vornehme Männer das Recht hatten, die Tänzerinnen jederzeit bei Proben oder während der Pausen zu besuchen und etwaige Termine für 22 3 Das Ballett: Ein Zusammenspiel verschiedener Künste den Abend zu vereinbaren. Wenigstens Russland und Dänemark gelang es, die Ballettkunst zu pflegen und würdig zu erhalten. Dank deren Beitrag hielt es sich bis in das 20. Jahrhundert. An der Wende vom 19. Jahrhundert zum 20. Jahrhundert erlebte das Ballett eine immer stärker werdende Virtuosität der Tanzkunst. Somit erhielt die Musik eine weniger bedeutende Rolle. Ihr Stellenwert reduzierte sich auf eine Art Hintergrund für die Bewegungsabläufe der Tänzerinnen und Tänzer. Akustisch und rhythmisch entfernten sich Tanz und Musik immer mehr voneinander. Die Tanztechnik der Primaballerinen ragte über sämtliche Grenzen des Möglichen hinaus, während die Ballettmusik einen stereotypen Charakter annahm und je nach Bedarf mit neuen Melodien versehen wurde. Demnach war auch der gesellschaftliche Status der Komponisten von eben jener Musikgattung niedrig. Die Namen von Tänzerinnen und Tänzern befanden sich schon damals in aller Munde, doch die Musikernamen gerieten bis heute in Vergessenheit. Wahrhaft talentierte Komponisten widmeten sich zu jener Zeit eher den Symphonien, der Kammermusik oder Liedern, denn bei derartigen Musikstücken war man als Komponist nicht zu einer Zusammenarbeit mit anderen Künstlern verpflichtet.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 77) Bei einer Oper hingegen mussten schon wieder mehrere Bereiche koordiniert werden, wie eben der Tanz oder das Bühnenbild. Die alleinige Komposition von Ballettmusik als eigenständiges Werk nahm also eine komplette Sonderstellung ein. Dies überließ man den sozusagen einfachen Musikern, da eben jene Musik nur den Zweck zu erfüllen hatte, als Hintergrund für den Tanz zu dienen. Erst Tschaikowsky durchbrach dieses Schema, da er sich als angesehener Komponist der Ballettmusik widmete. Sein erstes Werk Schwanensee stand im Vergleich zu seinen Symphonien musiktechnisch gesehen auf demselben Niveau. Damit markierte dieses Stück einen Einschnitt in der Entwicklung des Balletts. Doch erst als Marius Petipa die Choreographie für Dornröschen und Der Nussknacker übernahm, wurde die von Tschaikowsky erstrebte Reform der Ballettmusik umgesetzt. Erstmals kam es zu einer konstruktiven Zusammenarbeit von einem Komponisten und einem Choreographen. Für Petipa stellte die Musik eine Inspiration für seine Bewegungen dar und war somit nicht mehr dem Tanz untergeordnet. Daher sind diese Ballette ungewohnt vielfältiger was die Charaktere und die Bedeutung der Tanzbewegungen betrifft. Umgekehrt wurde Tschaikowsky von den Forderungen des Choreographen bezüglich der Musik inspiriert 23 3 Das Ballett: Ein Zusammenspiel verschiedener Künste und fühlte sich nicht wie andere Komponisten durch die Zusammenarbeit in der musikalischen Freiheit eingeschränkt. Allerdings nahm er sich die Freiheit heraus, den Ablauf und die Handlung beeinflussen zu dürfen und somit der Musik einen wichtigen Anteil im Gesamtkunstwerk Ballett einzuräumen. Außerdem handelte es sich bei Dornröschen und Der Nussknacker um die ersten dramaturgisch durchdachten Ballette. Zuvor bestanden Tanztheateraufführungen lediglich aus Potpourris, welche von den jeweiligen Ballettmeistern aus unterschiedlichen Musikstücken zusammengestellt wurden. Ab den Werken von Tschaikowsky setzte aber auch die Musik Impulse für die Handlung. Diese neue Art der Ballettmusik zog weitreichende Veränderungen mit sich.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 78) Zu Beginn sahen viele Tänzerinnen und Tänzer die Musik als zu kompliziert und ungeeignet für den Tanz an. Erst mit dem Einlassen auf die Herausforderung, welche diese neue Musik in sich bot, entdeckte man die darin verborgenen Möglichkeiten. Es entwickelte sich ein Tanz für die Musik, also das Gegenteil vom vorigen Zustand, wo die Musik nur dem Tanz diente.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 79) So erhielt neuerdings die Musik des Tanztheaters eine hohe Qualität und bisher dem Ballett abgeneigte Komponisten wendeten sich jenem Genre plötzlich zu, wie beispielsweise Claude Debussy, Eric Satie, Sergej Prokoffief oder eben Igor Strawinsky. Letzterer erlebte gerade dank der Ballettmusik seinen internationalen Durchbruch als Künstler. Alle weiteren Entwicklungen rund um das Ballett hingen zum Großteil mit Serge Diaghilew und seinen Ballets Russes zusammen. Er scharte wichtige Künstler seiner Zeit um sich und forcierte ein konstruktives Zusammenwirken, was dem Ballett eine neue Qualität verlieh und das vorhin verlorene Publikum wieder zurückholte. Die Ballets Russes hatten weitreichenden Einfluss und Nutzen für die Ballettmusik und deren Weiterentwicklung in der Moderne. Auch in Frankreich bemühte man sich mittels Reformen, die um 1890 vorherrschende Krise im Theater zu bewältigen, vor allem in Paris. Es wurden neue Versuche gestartet, die nicht mehr nach dem bereits veralteten Muster abliefen, dass Librettisten den Komponisten einen passenden Text zu deren dramatischen Aufbau verfassten. Als wegbereitendes Beispiel galt Pelléas et Mélisande von Debussy, wo in ungewohnter Weise ein schon vorhandener Text zu einem Sprechdrama nun für eine Oper verwendet wurde. Dabei handelte es sich nicht einmal mehr um eine traditionelle Oper und auch kein Musikdrama nach der Art von Richard Wagner. Vielmehr glich die Aufführung einem Rezitativ von Sprechstimmen, das 24 3 Das Ballett: Ein Zusammenspiel verschiedener Künste mit altchristlichen Psalmodien verglichen werden kann oder gar an Monteverdis Kompositionen erinnert, der zu jener Zeit wieder neue Beachtung geschenkt wurde. Das Orchester spielte in dieser Oper eine sehr kleine Rolle. Somit entstand die so genannte Literaturoper, die zur Aufwertung des Textes führte und einem neuen Verhältnis zwischen Wort und Ton Platz machte. Infolgedessen veränderte sich auch das Bühnenbild, welches zuvor von angestellten Malern gestaltet wurde.(vgl.: Hirsbrunner, 1982, S. 141 f.) Diese nahmen auf keine Elemente der zeitgenössischen Kunst Rücksicht. Diese Situation änderte sich fortan, da Künstler engagiert wurden, die für die Bühnengestaltung teilweise sehr persönliche, in jeder Hinsicht aber moderne Objekte und Kulissen gestalteten. Dieser Vorgehensweise folgte Jahre später auch Serge Diaghilew, allerdings mit einer nochmals neuen Methode: Bei seinen Ballets Russes stellte er Maler wie Picasso, Matisse oder Miro ein, sowie viele weitere Kunstexperten, die das Bühnengeschehen einzigartig gestalteten. Auf diese Veränderungen wird näher in Kapitel drei eingegangen. Die Ballettkunst verfiel also Ende des 19. Jahrhunderts zu einer unattraktiven Aufführungspraxis, genauso wie die Oper. Um die Jahrhundertwende herrschte zudem folgende Situation in Paris: „es fehlte an volkstümlichen Balletten so wie beispielsweise in Wien oder an der Tanzfreude wie bei den Italienern.“(Gregor, 1994, S. 314) Deshalb entwickelten sich neue Kulturzentren. Am Montmartre in Paris, und auch in Montparnasse, entstanden Orte des Vergnügens und einschlägige Etablissements, so genannte Folies-Bergère. Dort hielten sich einfache Handwerker als auch gebildete Bürger auf. Am Programm standen unprofessionelle Tanzdarbietungen, welche modern und beliebt wurden. Dies wiederspiegelte das damalige Bedürfnis der Bevölkerung, die nach der industriellen Revolution eine innere und äußere Ausgeglichenheit suchte, denn die Werte und Normen der Gesellschaft befanden sich in einem regen Umbruch und standen teilweise in ungewöhnlichem Gegensatz zueinander.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 33 f.) Der bekannte Can-Can des Moulin Rouge bildete zum Beispiel das vulgäre Gegenstück zur prüden gesellschaftlichen Konvention, vollbekleidet Schwimmen zu gehen. Deshalb erschien es auch nicht als verwunderlich, dass die ersten Aufführungen der Ballets Russes so erfolgreich bei dem Pariser Publikum ankamen. Sie erfüllten mit ihren visuellen und sinnlichen Reizen, so wie den orientalischen Elementen die Sehnsüchte der Menschen. Schon in den Jahren vor den Produktionen der Ballets Russes kam der Orient in Mode und viele Wohnungen und Ballsäle wurden in diesem Sinne dekoriert. Alles Exotische setzten die Pariser mit 25 3 Das Ballett: Ein Zusammenspiel verschiedener Künste Erotik und Dekadenz gleich, weshalb die extravaganten Bühnenausstattungen von Léon Bakst bei den Aufführungen von Diaghilew sofort auf Beifall bei den Zusehern stießen. Ein weiteres erfolgreiches Beispiel war das Ballett Cléopâtre, dessen Hauptfigur zudem auch dem damaligen Typ der femme fatale entsprach, an der sich ein Großteil der Damenwelt orientierte. Die Produktionen von Diaghilew waren also besonders erfolgreich in Paris, wo er mit seinen Ideen zur Umgestaltung der Gattung Ballett auf fruchtbaren Boden stieß. Sein Verständnis von einer neuen Ballettästhetik, welche Musik, Tanz und Bildende Kunst in sich vereinte, füllte eine Art Lücke in der kulturellen Welt der Metropole in Frankreich.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 33) Diaghilew bewies so einmal sein Gespür für die gesellschaftlichen Bedürfnisse seiner Zeit. Er rettete zudem das Ballett aus einer dunklen Phase, so dass es nicht mehr in Konkurrenz zu Oper oder Schauspiel stand. Es stellte in seiner Synthese von mehreren Künsten auf der Bühne eine eigenständige Aufführungsform dar, die weiteres Entwicklungspotenzial aufwies. 3.3 Musikalische Wechselwirkungen zwischen dem russischen und französischen Ballett Zu kulturellem Austausch zwischen Russland und Frankreich in Bezug auf das Ballett kam es schon im Jahr 1675. Damals gab es unter dem Zaren Alexis Michalowitsch eine erste Aufführung des russischen Hofballettes. Zur Verbreitung dieser Kunstform trug die absolutistische Staatsform wesentlich bei, da ähnlich wie in Frankreich das Ballett durch die absolute Monarchie in Mode kam. Da Russland aber keine eigenen Quellen für die Ballettkunst besaß, wurden die Künstler und Vorbilder aus Italien, Frankreich oder Deutschland an den Hof geholt.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 45) Doch die russischen Tänzer und Tänzerinnen erwiesen sich als Perfektionisten, weshalb sich die kaiserlichen Theater von Moskau und St. Petersburg rasch zu einer ernsten Konkurrenz von westlichen Spielstätten entwickelten. In Russland entwickelte sich daraufhin eine langjährige Tradition des Hoftanzes, die 1910 in Paris bei der Uraufführung von Der Feuervogel bei den Ballets Russes auf ein 200 jähriges Bestehen zurückblicken konnte. Dabei wurden zwar zu Beginn Hilfestellungen und Anregungen aus dem Westen in der Form von importierten Tänzern und Tänzerinnen oder Choreographen angenommen, aber 26 3 Das Ballett: Ein Zusammenspiel verschiedener Künste organisatorisch stand die russische Ballettschule immer auf eigenen Füßen. Ab dem späten 19. Jahrhundert löste sie sich sogar gänzlich von Westeuropa ab. Die russische Ballettkunst war nämlich institutionell mit den kaiserlichen Opernund Schauspieltruppen über Direktion des kaiserlichen Theaters verbunden. Diese gründete schon Zarin Katharina die Große im Jahr 1766. Dabei handelte es sich um ein regelrechtes System, das vom Kaiserhof subventioniert wurde. Allerdings glich der Aufbau in seiner Hierarchie einem streng gegliederten Hofstaat, wo die Karrieren und Pensionen der ausführenden Künstler wie in einem Beamtenwesen organisiert wurden. Dieses System beachtete allerdings nicht die gesellschaftlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. Somit stellte es bis zur Revolution im Jahr 1917 eine Art Parallelgesellschaft dar, welche das Feudalsystem des 18. Jahrhunderts beibehielt. Dies wirkte sich insofern zum Beispiel auf die Rollenverteilung aus, die entsprechend der Rangposition aller Beteiligten vorgenommen wurde.(vgl.: Flamm, 2013, S. 9 f.) Demnach tanzte die Primadonna immer alleine und die Choreographie eines Ballettes wiederspiegelte im Grunde die Monarchie und deren Herrschaftsverhältnisse im zaristischen Russland. Da Zar Peter der Große (1672-1725) ja maßgeblich westliche Sitten in seinem russischen Reich eingeführt hatte, holte Zarin Elisabeth (1709-1761) schließlich den französischen Ballettmeister Landé für einen Tanzunterricht an ihren Hof. Ab 1736 wurde somit erstmals das Ballett zusammen mit der italienischen Oper bekannt. Dem Franzosen Landé folgte der Italiener Antonio Rinaldi als Ballettmeister. Trotzdem kam Landé später zurück und befasste sich hauptsächlich mit der Schulung junger Russen. Wenn Tänzer fehlten, wurden einfach halbwegs brauchbare Rekruten vom Exerzierplatz abgezogen und in den Ballettsaal befohlen.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 95) Die erste Blütezeit erlebte das russische Ballett mit den Choreographen Hilferding und Angiolini, welche das Handlungsballett in Russland einführten. Im Jahr 1738 erfolgte die Gründung der ersten russischen Ballettschule in St. Petersburg, welche erst die zweite in der Art derjenigen der Pariser Oper war, welche 1713 unter dem französischen König Louis XIV. gegründet wurde. Bas Ballett erlebte weiterhin Erfolge, als 1801 der Franzose Charles-Louis und ab diesem Zeitpunkt auch weitere französische Ballettexperten wie Perrot oder Saint-Léon ins Land kamen, welche sich um das Ballett des Zaren kümmerten und auch eigene Werke in Russland publik machten. Russland mutierte zu jener Zeit zu einem begehrten Land für viele Tänzerinnen 27 3 Das Ballett: Ein Zusammenspiel verschiedener Künste und Tänzer aus Italien oder Frankreich. Viele bekannte Ballerinen bereisten deshalb Russland, vor allem Moskau und St. Petersburg während der Romantik, wie zum Beispiel Elssler, Taglioni und Grisi, denn in Europa geriet die Gattung Ballett zunehmend in Bedrängnis verloren zu gehen, obwohl oder gerade weil sie zuvor bis aufs Äußerste praktiziert und professionalisiert wurde. Für das russische Ballett bedeutete dies daraufhin eine Vormachtstellung.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 45) Insbesondere das Marinsky-Theater in St. Petersburg erlebte einen künstlerischen Höhepunkt im 19. Jahrhundert, was dem am 11. März 1818 in Marseille geborenen Marius Petipa zu verdanken war. 1847 engagierte man ihn dort als Solist und er wurde bald darauf vom Ballettmeister und Choreograph Jules Perrot zum Assistenten für Choreographien ernannt. Es war also ein gebürtiger Franzose, der dem russischen Ballett zur Hochblüte verhalf. Bevor er nach St. Petersburg kam, war er als Tänzer in Brüssel, Bordeaux, Nantes, Paris und Madrid. Ab 1838 begann er seine eigenen Ballette aufzuführen, wobei sich erste choreographische Erfolge erst 1862 mit dem Ballett La fille du Pharaon einstellten. In jenem Jahr nahm er auch die Aufgabe des ersten Ballettmeisters am kaiserlichen Theater in St. Petersburg an.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 98) Petipa widmete sich auch Neuchoreographien wie beispielsweise von Giselle, Esmeralda, Le Corsaire oder La Sylphide. Seine bekanntesten eigenen Ballette sind Don Quixote (1869) und La Bajadère (1877). Als Choreograph wurde er allerdings durch die Ballette Der Nussknacker (1882), Dornröschen (1890) und Schwanensee (die heute meistgespielte Fassung kam posthum 1894 heraus) von Tschaikowsky berühmt, zu denen der Komponist, wie schon im vorigen Unterpunkt erwähnt, die Musik in enger Zusammenarbeit mit dem Choreographen schrieb. Für das russische Ballett stellt Petipa insofern eine Schlüsselfigur dar, weil er, zusammen mit seinem Vertrauten Enrico Cecchetti (1850-1928), den weichen, gefühlvollen französischen Stil des klassischen Tanzes mit dem virtuosen, harten der Italiener verband. Dadurch schuf er den typisch russischen Tanzstil, welcher später durch die Tänzer der Ballets Russes 1909 nach Europa gebracht wurde und nach der russischen Revolution zum Sowjetstil weiterentwickelt wurde.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 99) Petipa trug, ähnlich wie später Diaghilew oder Strawinsky, dazu bei, das Ballett vor einer Degeneration zu bewahren und ihm trotz der Konkurrenz durch neue Ideen im Tanz, den Weg in das neue Jahrhundert zu erleichtern. Petipa führte zum Beispiel eine Kodifizierung von Tanzfiguren und Bewegungsformen ein, welche eine noch professionellere und effizientere Arbeit ermöglichte. Zudem wandte er sich von der älteren zweiaktigen Ballettform 28 3 Das Ballett: Ein Zusammenspiel verschiedener Künste ab und entwickelte vielmehr ein Modell des abendfüllenden Balletts, das sich zu einem grand ballet entwickelte und meistens vier Akte zählte. Völlig neue Perspektiven eröffneten dann seine Monumentalballette wie Schwanensee oder Der Nussknacker von Tschaikowsky. Darin wurden Personen und Situationen noch vielseitiger dargestellt mittels einer vom Orchester sehr emotional ausgeführten, sinfonieähnlichen Musik. Zusätzlich wurden die Figuren leitmotivisch charakterisiert. Das russische Ballett befand sich um 1900 also weltweit gesehen an der Spitze der Tanzkunst. Dies war aber auch namhaften Komponisten zu verdanken, die sinfonische Ballettmusik schufen, welche von akademisch ausgebildeten Choreographen vorbereitet wurde. Mit 122 weiblichen und 92 männlichen Tänzern brachte das kaiserliche Ballett in einer Saison bis zu 50 Ballettaufführungen in nur einer Saison auf die Bühne. Trotzdem war auch das russische Ballett vor einer Krise nicht geschützt, denn Petipa beeinflusste das Ballett jahrelang in konservativer Art und Weise.(vgl.: Flamm, 2013, S. 11) Deshalb behielt das russische Ballett nach wie vor seine stark hierarchische und historisch, als auch traditionell gewachsene Struktur. Dadurch wurden Neuerungen in vielerlei Hinsicht blockiert, denn Komplexität der Aufführungen nahm einen Grad von Perfektion an, dass man der Handlung nicht mehr folgen konnte und sie im Grunde keinen Sinn mehr ergab. Dennoch hielt das kaiserliche Theater bis zum Ausbruch des Weltkrieges an dieser Tradition fest und beharrte auf der folgenden, immer ähnlichen Abfolge: Zu Beginn gab es mimische Szenen, denen Gruppentänze folgten und im letzten Akt wurden Nationaltänze dargeboten, je nach der Herkunft der Figuren. Währenddessen versuchten jüngere Künstler eine Befreiung des Tanztheaters von diesen starren Formen durchzuführen. An diesem Punkt trug auch Diaghilew mit der Entwicklung seiner Ballets Russes bei, deren reformerischer Ursprung zwar in Russland und seiner Tanzkunst lag, aber erst in Paris innovativ durchgesetzt wurden.(vgl.: Flamm, 2013, S. 12) Auf die reformerischen Ansätze wird näher im Kapitel drei über die Ballets Russes eingegangen. 29 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Um das künstlerische und reformerische Wirken von Serge Diaghilew in Bezug auf das Ballett besser zu verstehen, soll dieses Kapitel kurz seine biographische Vorgeschichte beleuchten. Als Kunstagent verfolgte er die Absicht sowohl die russische Musik als auch die bildende Kunst in Europa bekannt zu machen. Dieses Vorhaben und den daraus resultierenden Erfolg der Ballets Russes in Paris bereitete er Schritt für Schritt schon von Russland aus vor, was in den folgenden Unterkapiteln näher beschrieben wird. 4.1 Diaghilew und seine systemaitsche Vorbereitung der Ballets Russes Am 31. März 1872 wurde Serge Diaghilew in Nowgorod in eine sehr große Familie hineingeboren, welche ihm jedoch ein gebildetes Umfeld mit Musik bot. Diese frühe musikalische und kulturelle Bildung förderte seine spätere Beurteilungseigenschaft in künstlerischen Angelegenheiten, aber auch den Wunsch, Komponist zu werden. Diaghilew stammte also aus gut bürgerlichen Verhältnissen des provinzialen-zaristischen Russland im Bezirk Nowgorod und wurde auf das Gymnasium in St. Petersburg geschickt. Dort schloss er bereits wichtige Bekanntschaften für seine berufliche Laufbahn. Er lernte den späteren Maler Alexandre Benois kennen, den Kunstinteressenten Walter Nuwel und den Künstler Léon Rosenberg, der sich später Leonide Bakst nannte.(vgl.: Flamm, 2013, S. 13) Sein Studium führte ihn wieder nach St. Petersburg, wo er schon bald in die avantgardistischen Künstlerkreise aufgenommen wurde. Da er immer schon großes Interesse an der Kunst zeigte, versuchte er während des Jurastudiums auch Gesang und Komposition zu erlernen. Er gab den Traum Musiker zu werden aber bald auf, da selbst sein Lehrer Rimski-Korsakow ihn nicht für ausreichend begabt hielt. Dieser riet ihm davon ab, die Musik zu seinem Beruf zu machen, da es den Kompositionen von Diaghilew an Ursprünglichkeit fehlte.(vgl.: White, o.D. S. 24 f.) Sein Interesse galt daraufhin den bildenden Künsten und er studierte Malerei, besuchte Museen und Galerien. Zudem veranstaltete er Ausstellungen und schrieb Monographien über Lewitzky und Schibanow, zwei russische Maler des 18. Jahrhunderts. All diese erworbenen Kenntnisse nutzten Diaghilew in späteren Jahren bei der Organisation seiner Ausstellungen zur russischen Kunst in Paris. 30 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Ab 1895 gesellte sich Diaghilew als 23-Jähriger zu einer Gruppe von jungen Künstlern, die sich des Verfalls der russischen Kulturwelt bewusst waren. Drei Jahre später nannten sie sich offiziell Mir Iskusstva, was auf Deutsch Die Welt der Kunst bedeutete. Noch im selben Jahr rief Diaghilew eine gleichnamige Zeitschrift ins Leben, welche die fortschrittlichen Gedanken junger Künstler publik machte.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 37) Unter den Mitbegründern befanden sich auch seine späteren Bühnenbildner Alexandre Benois und Leonide Bakst. Auch viele andere der so genannten Miriskussniki arbeiteten später bei den Ballets Russes mit, zum Beispiel der Maler Alexander Golowin oder der in vielen Kunstrichtungen begabte Nikolai Roerich, der bei Le Sacre du Printemps für das Bühnenbild zuständig war. Die Intention dieser Künstlergruppierung und ihrer gleichnamigen Zeitschrift richteten sich gegen den Realismus, der sozial vorgesetzt wurde und sich zunehmend in die Kunst und die Literatur einmischte. Dem wollte man mit der Kunstauffassung L’art pour l’art, also der Kunst um der Kunst Willen, entgegenwirken und den Kulturbereich somit von einem bestimmten Zweck und auch von einer sozialkritischen Aufgabe zu befreien. Dieser Kreis von jungen Petersburger Künstlern bei Mir Iskusstva setzte sich zum Ziel, die historischen Gegebenheiten der russischen Kunstentwicklung zu hinterfragen. Gerade Alexandre Benois interessierte sich für nationale Besonderheiten in der vergangenen Kulturgeschichte.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 6) Dieser Künstlerkreis trat für die Ansicht ein, sich von allen ästhetischen Zwängen zu distanzieren und sich für das Schöne, frei von vorgegebenen Regeln einzusetzen. Also richteten sie sich auch gegen eine realistisch abbildende Kunst. Es stand, im Gegensatz zum akademischen und formalistischen System Russlands, die Individualität des Künstlers im Vordergrund. Besonders Diaghilew setzte sich dabei für einen universellen Kunstbegriff ein, der sowohl die gesamte historische Bandbreite als auch jeden einzelnen Künstler oder jede einzelne Künstlerin berücksichtigte. Dies begründete er mit folgenden Worten: „Eines der größten Verdienste unserer Tage ist es, die Individualität unter jeder Gestalt und in jeder Epoche anzuerkennen.“(White, o.D. S. 25) Inspirieren ließen sich die jungen Reformer dabei ganz besonders von der französischen Malerei, deren Werke in Russland von reichen Kunstinteressenten zahlreich gesammelt wurden. Es zeigte sich also abermals eine kulturelle Wech- 31 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst selwirkung zwischen Frankreich und Russland, was zusätzlich durch den so genannten gemeinsamen Feind, der deutschen Kunst, verstärkt wurde. Mithilfe von Ausstellungen beabsichtigte Mir Iskusstva Russland die europäische Kunst etwas näher zu bringen. Im Gegenzug dazu, versuchte diese Gruppe auch die russische Kunst in Europa zu verbreiten.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 6 f.) In Russland war zu jener Zeit die europäische Moderne noch weitgehend unbekannt. Es begaben sich lediglich einige russische Künstler nach Rom, um sich eventuell Anregungen von Raphael und ähnlichen Malern zu holen. Eine derartige Isolierung Russlands von Europa wollten Mitglieder von Mir Iskusstva durchbrechen. Besonders Diaghilew und Benois schlugen in dieser Hinsicht erfolgreiche Wege ein, zum Beispiel mit Ausstellungen, in denen Maler von verschiedensten Gruppen und Stilrichtungen Einzug fanden. Die Gruppe versuchte mittels der Herausgabe ihrer Zeitschrift ein globaleres Kunstverständnis zu verbreiten. Deren Inhalt umfasste dabei mehrere Kunstgattungen, wie Malerei, Dichtung, Architektur und vieles mehr. Dieses Fachblatt stellte der Leserschaft wichtige Elemente russischer Kunstkreise sowie wesentliche Tendenzen der internationalen Kunstszene vor.(vgl.: Yang, 2004, S. 11) Ein besonderes Merkmal dieser Publikation über die Kunst bestand darin, dass sie über sehr alte und auch sehr neue Kunst und Musik informierte, dadurch fand die Künstlergruppierung rasch Sympathisanten, wie auch den jungen Strawinsky. Es gelang der Gruppe Mir Iskusstva auch durch Ausstellungen die kunstinteressierte Gesellschaft zu erreichen und ihren neuen Kunstbegriff zu verbreiten. Ab dem Jahr 1897 konzentrierte sich speziell Diahgilew darauf, den Besuchern ein breites Angebot an jeglichen Malereien zu präsentieren. Dabei wählte er Werke aus dem gesamten europäischen Raum aus und suchte gleichzeitig nach noch unbekannten Gemälden aus der russischen Malerei. Bei seinen Recherchen begab er sich auch in die russischen Provinzen und begrenzte seine Arbeiten nicht nur auf den Großstadtraum, wie die Zentren St. Petersburg und Moskau. Außerdem bemühte er sich um eine Präsentation von Werken aus mehreren Jahrhunderten. Diaghilew verfolgte mit dem Ausstellen von west- und nordeuropäischer Kunst das Ziel, die Kunstdebatte in Russland etwas anzufachen. Diese Vorgehensweise entsprach der Mir Iskusstva-Bewegung, welche sich so gegen den Akademismus aufzulehnen versuchte.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 37) Durch sein großes Organisationstalent wurde er bald Kulturagent und veranstaltete zahlreiche Kunstausstellungen im Inland und holte später ausländische Kunstwerke nach Russland. Durch die daraus entstandenen Verbindungen zu den europäischen 32 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Kunstveranstaltern gelang es Diaghilew anschließend, die russische Kunst zu exportieren.(vgl.: White, o.D. S. 25) Es folgten Ausstellungen außerhalb Russlands in Berlin, Köln, Düsseldorf, Darmstadt und auch Venedig. (vgl.: Hirsbrunner, 1982, S. 43) Ab dem Jahr 1906 konzentrierte er sich vor allem auf Paris, das damals als Zentrum der europäischen Kultur und als Metropole der Künste galt. Dort reagierte die Gesellschaft eher mit Neugier auf alles Fremde und Exotische, denn Diaghilews Leidenschaft für die zeitgenössische Kunst stieß auf zu viele Gegenstimmen im eher konservativen St. Petersburg. Dies hatte auch mit einem Zwischenfall während seiner Anstellung als kaiserlicher Beamter am Marinsky-Theater zu tun. Diaghilew erhielt dort erstaunlicher Weise einen bedeutenden Posten, obwohl er doch als Mitglied von Mir Iskusstva mit seinen Ideen in völligem Gegensatz zu den traditionellen Vorstellungen des zaristischen Russland stand. Der Direktor des zaristischen Theaters setzte ihn trotzdem als künstlerischen Berater am Marinsky-Theater ein.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 107) Ab 1899 sollte Diaghilew dort für Sonderaufgaben am Direktorat zuständig sein und 1901 sogar bei der Produktion des Balletts Sylvia von Léo Delibes mitarbeiten. Allerdings führten Intrigen am Hof und die Arroganz von Diaghilew zum Scheitern des Projektes, was für ihn eine Entlassung aus dem Staatsdienst zur Folge hatte: In seiner Anstellung als kaiserlicher Beamter bemühte sich Diaghilew ein paar Mitglieder von Mir Iskusstva in eine Produktion vom kaiserlichen Theater einzuschleusen. Dabei sollten sie sich um Bühnenbild und Kostüme kümmern. Dieser Plan scheiterte allerdings aufgrund von Gegenstimmen der anderen Beteiligten an eben jener Aufführung. Diaghilew wurde folglich gekündigt, weil er sich weigerte, in seinen Forderungen nachzugeben. Wegen dieses Vorfalls konnte eine weitere staatliche Anstellung nie wieder für ihn möglich werden.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 38) Da er somit nicht mehr auf seine üblichen finanziellen Mittel vertrauen und auch mit keiner weiteren Unterstützung des russischen Zarenhofs rechnen konnte, verlegte er die Umsetzung seiner kulturellen Tätigkeiten mehr und mehr ins Ausland. Als im Dezember 1904 auch noch die Publikation seiner Zeitschrift Mir Iskusstva wegen einer fehlenden Finanzierung eingestellt werden musste, änderte Diaghilew seine Vorgangsweise: er belehrte Russland fortan nicht mehr mit europäischer Kunst, sondern brachte dem Westen die russische Kunst. Diaghilew konzentrierte sich daraufhin auf künstlerische Projekte in Frankreich. Er versuchte in Paris den Franzosen die russische Kunst zu zeigen. Erstaunlicherweise erhielt er dabei wieder finanzielle Unterstützung vom Zarenhof, da 33 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Russland nach der Revolution von 1905 und dem verlorenen Krieg gegen Japan engeren politischen Kontakt zu Frankreich suchte.(vgl.: Flamm, 2013, S. 14) Diaghilew verkörperte also ein wichtiges und auch nützliches Bindeglied zwischen Russland und Frankreich. Sein erstes Projekt im Ausland war eine Ausstellung zu 200 Jahre russischer Malerei und Skulptur im Pariser Salon d’automne, die ein voller Erfolg wurde. Daraufhin wandte sich Diaghilew auch musikalischen Projekten zu. Der erste Durchbruch gelang ihm bereits 1907, als er fünf Konzerte in der Pariser Opéra veranstaltete. Dabei wurden die renommiertesten russischen Musiker auf die Bühne geholt wie der russische Opernsänger Fjodor Schaljapin oder Sergej Rachmaninow. Die dargebotenen Werke reichten von Glinka bis Skrijabin. In den Opernexzerpten, Liedern, Sinfonien, Konzerten und sinfonischen Dichtungen wurde dem Publikum vor allem die exotische Seite von Russland präsentiert, was die Pariser begeisterte. Schon bei diesem Projekt legte Diaghilew Wert auf eine individuelle Programmzusammenstellung und einen abwechslungseichen Ablauf.(vgl.: Flamm, 2013, S. 14 f.) Im Jahr 1908 wagte er es schließlich, eine ganze Oper aufzuführen und wählte dabei Mussorgskys Boris Godunow. Für die Titelrolle bestimmte er Schaljapin und die märchenhafte Bühnengestaltung übernahm Golowin. Die gesamte Saison ging künstlerisch gesehen erfolgreich über die Bühne. Obwohl sich schon zuvor einige Musiker wie Debussy oder Dukas über die wichtige Rolle der Russischen Musik bewusst waren, entdeckten erst mit Boris Godunow viele Franzosen das russische Temperament in der Musik. Dieses stellte einen starken Kontrast zu den französischen Gewohnheiten dar, altbekannte Werke europäischer Künstler zu hören, und übte genau deswegen eine starke Anziehungskraft auf das Pariser Publikum aus.(vgl.: Hirsbrunner, 1982, S. 43) Aus finanzieller Sicht stellte Diaghilews Operninszenierung von 1908 allerdings eine Katastrophe dar, denn der Transport der Operntruppe und ihrer gesamten Ausrüstung von Russland nach Paris und wieder zurück war immens kostspielig. Diaghilew entschied sich deshalb bei seinen weiteren Kunstprojekten für die Gattung Ballett, deren Organisation wesentlich weniger finanziellen Aufwand erforderte. Der Zeitpunkt war denkbar günstig, denn alle bekannten Choreographen beendeten damals ihre Karriere. Das Ballett befand sich daher in einer Krise und verlangte nach einer Neuorientierung. Diaghilew nahm sich dieser Aufgabe an und löste im Nachhinein mit seinen Ballets Russes eine regelrechte Tanzrevolution aus. Diaghilew verlegte also seine bisherigen Organisationstätigkeiten von Russland 34 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst nach Paris und verfolgte dort sein Ziel der Vermittlung von russischer, einheimischer Musik und Kultur mittels der Ballets Russes. Sein Wechsel der Austragungsorte seiner Kulturprojekte lag unter anderem auch an den politischen Entwicklungen seines Heimatlandes. Seit 1904 bzw 1905 kam es immer wieder zu Massenunruhen und Streiks der revolutionären Gruppen, wie Bolschewiken und Menschewiken. Mit der Machtergreifung der Sowjets änderte sich auch die Kulturpolitik und es folgte die Verstaatlichung von sämtlichen Theatern im Land. Dieser neue sozialistische Staat bat keine Möglichkeit mehr für die Umsetzung von Diaghilews Kulturkonzept, welches einen Tourneebetrieb vorsah, der sich an der Marktwirtschaft orientierte. Dadurch erklärte sich auch die Abwanderung von vielen weiteren russischen Künstlern in den Westen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kristallisierten sich Paris und Berlin als wesentliche Zentren der russischen Emigranten heraus. Diaghilew verkörperte eigentlich mit seinem kulturellen Schaffen den künstlerischen Austausch zwischen Frankreich und Russland. In seinen Produktionen der Ballets Russes nahm er Impulse seiner Zeit auf und gab gleichzeitig neue Aspekte in der Kunst weiter.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 39 f.) Er nahm sozusagen die Rolle eines Katalysators für Projekte aus französischen und russischen Elementen ein. In seinen früheren Balletten, wie Petruschka und Le Sacre du Printemps, gab er ein Bild von Russland preis, welches besonders die exotische und fremde Seite betonte. In den Produktionen ab 1920 fügte er den Aspekt des revolutionären Russlands hinzu. Dafür stellte Diaghilew russische Künstler ein, die extra von Russland für die jeweiligen Ballette anreisten, zum Beispiel Gabo, Pevsner oder Jakulow, die so genannten Vertreter des russischen Konstruktivismus. Jene Inszenierungen erschienen als eine Art Reflexion der avantgardistischen Strömungen der Kunst im vorangegangenen 20. Jahrhundert. Ganz im Sinne der Mir Iskusstva Bewegung schaffte es die russische Kunst und besonders die Musik Schritt für Schritt nach Europa. Die Künstlergruppe beabsichtigte zudem, einen neuen und modernen russischen Stil zu entwickeln, aber über eine Rückbesinnung auf das traditionelle Kunsthandwerk und der Volksmusik in Russland. Aus dieser regen Beschäftigung mit der Vergangenheit entwickelte sich mit der Zeit jedoch ein sehr starkes Sammeln und Forschen, was die schöpferischen Aktivitäten der Gruppe sehr einschränkte. Vorwiegend konzentrierten sie sich auf Ikonen der Nowgoroder Schule oder Porträtmalereien aus dem 18. Jahrhundert. 35 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Diaghilew verschaffte der Bewegung Mir Iskussvta schließlich wieder eine neue Richtung, da er enttäuscht war über die ausschließliche Sammeltätigkeit. Die Lösung schien für ihn das Theater zu sein beziehungsweise in weiterer Folge das Ballett. Auf diese Fährte brachte ihn sein seit Gymnasialzeiten bekannter Freund Benois, der in dieser Kunstform sehr viel Potenzial zur Weiterentwicklung entdeckte und eine Liebe dafür entwickelte.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 7 f.) Für ihn verkörperte das Ballett mit seinen unterschiedlichen Elementen wie Tanz, Musik und Bühnengestaltung, welche bei der Aufführung zu einem großen Ganzen zusammenfließen, die ideale Verwirklichung der Idee eines Gesamtkunstwerkes. Auch seine eigenen Visionen und auch die seiner Kunstfreunde sah er im Ballett erfüllbar. Allerdings stellte Benois höhere Anforderungen für das Bühnendekor eines Balletts, da Musik, Tanz und Kunst ineinandergreifen sollten. Das Dekor musste seiner Meinung nach ein poetisches Ambiente schaffen, denn das Ballett basiere auf Musik und Poesie und habe nur wenig Beziehung zur materiellen Welt. Demnach erschienen Benois die bisherigen Bühnendekorationen wie zum Beispiel von Golovin bei Der Feuervogel, zu sehr adaptiert für Oper und Schauspiel. Der Dekor für ein Ballett konnte, wenn es nach ihm ging, nur von einem Künstler kreiert werden, der vom Ballett eine Ahnung hatte. Eine zusätzliche Inspirationsquelle für Benois stellten die Meininger dar. Die Aufführungen der Meininger waren zum Beispiel immer als künstlerisches Gesamtkonzept geplant, welches ein ausgeglichenes Zusammenwirken von Schauspielkunst, Dramaturgie, Regie, Bühnenbild und auch den Kostümen voraussetzte. Der Fokus lag dabei auf dem individuellen Stück und nicht mehr auf Konventionen, die von der Gattung des Werkes abhingen. Mit der Absicht, ein Stück so originalgetreu wie möglich auf die Bühne zu bringen, widersetzten sich die Meininger auch jeglichen Zensurvorschriften oder Moralvorstellungen der damaligen Zeit. Dabei war fortan der Regisseur für die angemessene Inszenierung verantwortlich und erhielt somit einen neuen Stellenwert bei der Umsetzung von Bühnenproduktionen. Einige dieser Reformansätze der Meininger wurden in ähnlicher Form bei den Aufführungen der Ballets Russes umgesetzt. Darauf wird später in diesem Kapitel noch genauer eingegangen. An den Meiningern faszinierte Benois die Funktion und Aufgabe einer Bühnenausstattung, die eine räumliche Einheit bilden mussten und das gesamte Ballettstück umschließen sollten. Einige Elemente dieser Inszenierungen wurden 36 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst von Georg II, der 1866 den Thron des Herzogtums Sachsen-Meiningen bestieg, reformiert. Die Theatertruppe dieses innovativen Hoftheaters begab sich in den Jahren von 1874 bis 1890 auf Tourneen in Europa, weshalb deren progressive Ideen auch in Frankreich bekannt wurden. Durch einige dieser Erneuerungen ließen sich Diaghilew und Benois für ihre Kunstprojekte beeinflussen. Wie schon erwähnt entdeckte Diaghilew dank Benois das Ballett als eine Kunstform, welche Möglichkeiten zur Weiterentwicklung bot. Daraus ergab sich eine ideale Zusammenarbeit der beiden Männer. Diaghilew galt als großartiges Organisationstalent, der Projekte auch wirklich auf die Beine stellte und somit Benois Ideen und Visionen optimal verwirklichen konnte. Benois besaß ein breites künstlerisches Wissen, welches dem engagierten Diaghilew zu Gute kam und ohne den die Ballets Russes wohl nie zu Stande gekommen wären.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 8) Bedauerlicher Weise fand diese fruchtbare Zusammenarbeit dieser zwei sehr unterschiedlichen Charaktere im Jahr 1924 ein Ende. Diaghilew betrachtete den Traditionalismus von Benois als hinderlich für die Entwicklungsversuche der Avantgarde. Neben Kunstvermittler und Produzent musste Diaghilew auch ein wenig Geschäftsmann sein, um seine Ballets Russes am Leben zu erhalten. Einerseits hatte er private Mäzene wie beispielsweise Coco Chanel oder Misia Sert, auf die in Kapitel vier noch näher eingegangen wird. Andererseits verfolgte er eine Aufwertung der russischen Musik, indem er die Neugier für Russland in Europa weckte, was aber unter anderem auch durch Abwertung anderer Künstler geschah. Bei Diaghilew zeigte sich dies in einer feindlichen Einstellung gegenüber den Deutschen, die auch bei den Franzosen verbreitet war. Diese deutschfeindliche Ansicht lässt sich persönlich und geschäftlich begründen, da er als Leiter der Ballets Russes sein Projekt gegen die riesige, erfolgreiche deutsche Musik behaupten musste. Besonders die Engländer hegten ab 1900 eine große Vorliebe für die Musik von Beethoven oder auch Wagner. In London füllten sich die Konzertsäle vorwiegend nur, wenn deutsche Musik am Programm stand. Dagegen hatte also Diaghilew anzukämpfen und er tat dies aus Verpflichtung gegenüber der russischen Musik, die letztendlich auch immer eine geschäftliche Angelegenheit war. In der Hoffnung, die Einnahmen der russischen Komponisten zu fördern, versuchte er die deutsche Konkurrenz zu eliminieren. Dadurch erhoffte er sich einen wirtschaftlichen Nutzen für seine Ballettproduktionen.(vgl.: Kirchmeyer, 1958, S. 141 ff.) Er verfasste Musikkritiken und Artikel, die gegen die deutsche Musik argumentierte, teilweise so heftig, dass auf einen seiner Artikel in der Daily Mail 1919 zahlreiche 37 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Protestbriefe in die Redaktion geschickt wurden. Außerdem schien Diaghilew ohnedies eine bestimmte russlandfreundliche Einstellung oder gar eine Polemik oder ein Schwarzweißsehen von seinen ihm unterworfenen Künstlern zu verlangen. In der Tat nutzten auch andere Länder wie Italien und Deutschland den patriotischen Stolz, um Geld einzutreiben. Zum Beispiel wurden Einreiseverbote für ausländische Musiker verhängt, um angeblich die einheimischen und notleidenden Komponisten zu unterstützen. In Frankreich sah Diaghilew bei seinem Vorgehen gegen die deutsche Kunst eine Art Verbündeten. Diesbezüglich spielte auch die politische Situation mit, welche Frankreich und Russland näher zusammenrücken ließ, um Deutschland so weit als möglich auszugrenzen. Das Bündnis von Poincaré und Ivolsky im Jahre 1903 anlässlich der stärkeren Krisensituation in Europa war ausschlaggebend für diese Bruderschaft gegen einen gemeinsamen Feind namens Deutschland. Insofern wirkte sich dies politisch als auch kulturell aus. Frankreich genoss jedoch bereits eine Vormachtstellung in der Kunst, zumindest was seinen Einfluss auf Sprache, Malerei und Literatur betraf.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 36 f.) So benutzte man am Hof vieler Monarchen wie auch im Ballett-Training französische Ausdrücke. Der kulturelle Austausch zwischen Frankreich und Russland befand sich also nicht im Gleichgewicht. In Frankreich kannte man die traditionellen russischen Kunstformen kaum, während in Russland die westliche Musik sehr viel Anklang fand. Genau aus diesem Grund fühlte sich Diaghilew verantwortlich, dem Westen die russische Kunst näher zu bringen, unter anderem mit den Produktionen der Ballets Russes. Abgesehen von Diaghilews Vorhaben, die deutsche Konkurrenz zu schwächen, um so seine Ballets Russes finanziell über Wasser zu halten, fungierte er in erster Linie als künstlerischer Organisator. Er war also darauf bedacht, den Bedürfnissen des Publikums gerecht zu werden, welches ständig nach Neuem verlangte. Zu Beginn reichte der exotische, fremde Aspekt einer russischen Tanztruppe an sich schon aus und sorgte für Begeisterung, zumindest beim Pariser Publikum.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 36) Diaghilew verhalf den Ballets Russes aber auch dadurch zu großem Ruhm, weil seine Stärke darin lag, dass er Werke und Aufführungen gestaltete, die zuvor noch nie dargeboten wurden und sich auch niemand hätte vorstellen können. Eine häufige Aussage von Diaghilew an seine Mitarbeiter war Etonne-moi!, was auf Deutsch so viel wie Erstaune mich! bedeutet. Damit kam auch sein Kunstverständnis zum Ausdruck: Die Kunst hatte die Funktion zu überraschen und zu verwundern.(vgl.: Kahan, 2003, S. 165). Der 38 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Erfolg von Diaghilew basierte allerdings nicht nur auf Inspirationen, sondern lag auch an seiner Beobachtung des Publikums, was sich damals zum Großteil aus der Aristokratie und den Neureichen zusammensetzte. In deren privaten Salons wurden eher altbekannte Werke der Klassik gespielt. Um dieses Publikum überraschen zu können, war es laut Diaghilew also notwendig, der Musik einen persönlicheren Charakter zu verleihen, am besten mit jungen Komponisten, wie eben Strawinsky. Auf die Zusammenarbeit von Strawinsky und Diaghilew wird später in diesem Kapitel noch näher eingegangen. 4.2 Die ersten Erfolge der Ballets Russes Das sensationelle Aufsehen, welches schon die ersten drei Ballette von Strawinsky erregten, ist einem Zusammentreffen von mehreren Faktoren zu verdanken. Abgesehen von der erfolgreichen Zusammenarbeit vieler Künstler, begegneten sich in den Produktionen der Ballets Russes die französische und die russische Ballettkultur. Zusätzlich wählte Diaghilew für seine Aufführungen den Standort Paris, die Kulturhauptstadt der Welt um 1900.(vgl.: Flamm, 2013, S. 9) Dort wartete auch ein sehr tanzinteressiertes, französisches Publikum auf die Darbietungen der russischen Ballettschule, die damals künstlerisch auf höchstem Niveau stand. Paris war damals der zentrale Schauplatz der Künste in Europa und bot Nachwuchskünstlern jede Menge Möglichkeiten. Darum fassten die Ballets Russes ausgerechnet dort Fuß, weil sie viele Talente verschiedener Kunstbereiche zu sich holen konnten, was es ihnen ermöglichte zu experimentieren und außergewöhnliche Tanzstücke zu produzieren.(vgl.: Yang, 2004, S. 9) So ergab sich zum Beispiel mit Anhängern des Impressionismus eine produktive Zusammenarbeit. Da sich nach der Hochblüte der Romantik viele Künstler mit den zu sentimental gewordenen Ausdrucksformen dieser Epoche nicht mehr auseinandersetzen wollten und keinen Spielraum mehr für neue Ideen vorfanden, suchten sie nach neuen Ausdrucksmitteln. Eben jene innovativen Künstler, welche sich also schon im späten 19. Jahrhundert von den Stilformen der Romantik distanzierten, wurden zu Beginn spöttisch Impressionisten genannt. Deren künstlerischen Werke entsprachen nicht dem damaligen Kunstverständnis und waren daher schwer einzuordnen, aber eben gewollt innovativ.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 108 f.) Genau aus diesem Grund stellten die Impressionisten für Diaghilew die idealen Mitarbeiter bei den Ballets Russes dar. Die gemeinsame Intention dahinter war, die aufkommende Krise in der Kunstwelt zu bewältigen, indem 39 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst ein Fortschritt der europäischen Musik angepeilt wurde und man mit neuen Kunstformen experimentierte. Man stützte sich auf nationale, folkloristische Kunstformen. Gleichzeitig veränderte sich das Kunstverständnis, denn der Klang gewann zunehmend an Wichtigkeit gegenüber der klassischen Harmonielehre. So wurden Kirchentonarten, Pentatonik und auch Akkordketten ohne funktionalen Zusammenhang verwendet, um ein bewusst fremdartiges, exotisches Klangbild zu kreieren. Gleichzeitig blieb man aber insofern realistisch, da man sich der musikalischen Nachahmung und Interpretation der Natur in der Kunst zuwendete. Dieser Hintergedanke einer Erneuerung der Kunstwelt entsprach auch der Absicht von Diaghilew, weshalb einige Impressionisten Werke für ihn und seine Ballets Russes schrieben, wie zum Beispiel Claude Debussy, Maurice Ravel und Gabriel Fauré. Diaghilew stützte sich bei seinem kulturellen Vormarsch in Europa auf das russische Musikrepertoire, mit dem Hintergedanken, der westlichen Welt ein aufblühendes Russland zu zeigen. Schon 1909 während der ersten Saison der Ballets Russes standen russische Komponisten auf dem Programm, vor allem Werke von Rimsky-Korsakow oder seinen Schülern.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 81) Diaghilew griff dabei auf das Repertoire vom kaiserlichen Theater zurück, aber er adaptierte die Ballette und führte sie mit einer neuen Ausstattung auf. Er behielt jedoch immer die wirtschaftliche Verpflichtung im Hinterkopf, sein privates Unternehmen auch ausreichend finanziell abzusichern. Deswegen behielt er beispielsweise eher konservative Stücke immer im Repertoire, wie beispielsweise Les Sylphides, um eine gewisse Schicht der Besucher zu behalten. Für das Pariser Publikum versuchte Diaghilew, sich schon in der ersten Saison nach dem französischen Geschmack zu richten. Daher wählte er als erstes Stück das Chopin-Pasticcio Les Sylphides, welches er in einer romantischen Tradition auf die Bühne brachte. Zweitens entschied er sich für Le Pavillon d’Armide mit der Musik von Nikolai Tscherepnin, was am Hof des Sonnenkönigs spielte. Als drittes Stück stand Cléopâtre am Programm, das mit seinem orientalischen Flair für eine Abwechslung sorgte. Zusätzlich entsprach die Hauptfigur des Balletts dem damaligen Typ der so genannten femme fatale, an der sich ein Großteil der Damenwelt orientierte. Eine Art Höhepunkt im Programm bildeten die Polowetzer Tänze aus Borodins Oper Fürst Igor. Dadurch wurde ein wilder Aspekt der Russen, als auch eine exotische Primitivität auf der Bühne ausgedrückt. Das Bühnenbild stammte von Nikolai Roerich, der sich dabei an dem Bild einer zentralasiatischen Steppe orientierte. Das Publikum war begeistert und empfand 40 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst die Vorstellungen als eine erfrischende Wiedergeburt des Balletts. In früheren Musikepochen war es nur ein Teil von Opernaufführungen, aber dank Diaghilew mutierte es zu einem künstlerischen Spektakel auf höchstem Niveau. Die Kritiker schrieben hierzu: „Früher nur der kostenlose Anhang zur Oper oder die Ausstellung hübscher Beinchen, [. . . ] wird das Ballet zu einem hochkünstlerischen Spektakel, das die Seele von der Hässlichkeit des Alltags reinigt.“(Flamm, 2013, S. 15) Im darauffolgenden Jahr musste das Pariser Publikum abermals kulturell befriedigt werden. Den Höhepunkt bildete deshalb in der Saison 1910 das Ballett Schéhérazade zur Musik von Rimsky-Korsakows gleichnamigen Orchesterwerk und mit der Choreographie von Fokin.(vgl.: Flamm, 2013, S. 16) Die virtuose Instrumentation der Ballettmusik verschmolz mit dem farbenprächtigen und orientalischen Bühnenbild von Leonide Bakst. Als zweite Neuheit und Überraschung für das französische Publikum hielt Diaghilew ein völlig neues Original-Ballett, also frisch komponiert sozusagen, bereit: Der Feuervogel von Igor Strawinsky. Damit verfiel ganz Paris letztendlich einem totalen Russland-Fieber. Dieses erste Ballett von Strawinsky begeisterte nicht nur das Publikum, sondern hatte auch revolutionäre Auswirkungen auf das Wirken und Ansehen eines Ballettkomponisten. Durch den Erfolg dieses Werkes wurde die wichtige Rolle des Musikers sichtbar, denn bis zu jenem Jahr war es im Ballettwesen eher üblich, schon bekannte Stücke für den Tanz zu adaptieren. Diaghilew akzeptierte in Zukunft deshalb nur mehr selten eine Bearbeitung für das Ballett von schon vorhandener Musik. In erster Linie bevorzugte er von ihm aufgetragene Originalpartituren von zeitgenössischen Komponisten, wie eben Strawinsky oder Tscherepnin, um nur zwei davon zu nennen.(vgl.: White, o.D. S. 33 f.) Für diese neuartigen Produktionen engagierte Diaghilew teilweise ungewöhnliche Künstler, um eine einzigartige Inszenierung zu garantieren. Diese waren unter anderem Kunstmaler, wie beispielsweise Picasso, durch den die Kostüme und Bühnenbilder ein noch nie gesehenes Niveau erreichten. Diaghilevs Größe lag in der Verwirklichung seiner Pläne, die somit nicht nur Ideen blieben. Trotz seines etwas schwierigen Charakters gelang es ihm immer wieder, Künstler aus verschiedenen Richtungen zu engagieren. Er verfügte nicht nur über Mitarbeiter aus der Gattung des Balletts sondern auch aus der Musik, 41 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst der Malerei, und der Literatur. Zusätzlich spürte er oftmals noch unbekannte, aber sehr talentierte Künstler auf, wie zum Beispiel den jungen Strawinsky. Dieser war wohl sein größter Entdeckungserfolg. Diaghilew fand immer wieder neue Mitarbeiter, die sich gerne der Gruppe der Ballets Russes anschließen wollten.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 110) Es kam zur Zusammenarbeit mit Komponisten aus vielen Ländern, besonders aber mit französischen Komponisten wie Debussy und Ravel. Richard Strauss war allerdings der einzige deutsche Komponist während des Bestehens der Ballets Russes unter der Leitung von Diaghilew. Strauss stellte 1914 seine Partitur zur Josephslegende für eine Ballettproduktion zur Verfügung. Für Diaghilew war auch das Szenario seiner Aufführungen sehr wichtig und seiner Meinung nach trug dieses, neben Musik, Bild, Choreographie und Tanz, wesentlich zu einem gelungenen Gesamtkunstwerk bei. So arbeiteten beispielsweise Jean Cocteau und Hugo von Hofmannsthal als Verfasser von Librettos mit Diaghilew zusammen. An der Ausstattung schien nicht gespart zu werden. Später kritisierte Serge Lifar, dass diese sogar zu viel Raum einnahmen und den Tanz als auch den Choreographen einengten. Der Erfolg der Ballets Russes basierte unter anderem auch auf den von Diaghilew ausgewählten Tänzerinnen und Tänzern. Diese brachte er aus Russland mit und sie wurden zum Großteil in St. Petersburg am Marinsky-Theater von Marius Petipa und Enrico Cecchetti ausgebildet. Diaghilew nahm sie von Russland in den Westen mit und viele kehrten nach dem Ausbruch der russischen Revolution nicht mehr in ihre Heimat zurück. Die berühmteste der Tanztruppe war Anna Pawlowa (1881-1931), für die der Choreograph Michail Fokin bereits 1907 in St. Petersburg den Sterbenden Schwan zur Musik von Camille Saint-Saëns choreographierte. Allerdings verließ sie 1911 die Truppe von Diaghilew, nach Verständnisschwierigkeiten mit ihm. Sie war eigentlich für die Titelrolle in Der Feuervogel vorgesehen, doch sobald sie die Musik des Werkes hörte, lehnte sie mit der Begründung ab, sie würde niemals zu einem derartigen Unsinn tanzen. Daraufhin wurde Tamara Karsawina für die Rolle des Feuervogels ausgewählt.(vgl.: White, o.D. S. 32 f.) Auch sie schaffte es als glänzende Interpretin der Werke der Ballets Russes zu Ruhm und Anerkennung beim Publikum. Sie war eine ehemalige Primaballerina des Marinsky-Theaters und überzeugte durch ihre Ausstrahlung, ihre Interpretation und ihre Technik. Vera Fokin und Ida Rubinstein trugen ebenfalls zum Erfolg der Produktionen von Diaghilew bei. Unter den männlichen Tänzern stach Wazlaw Nijinsky hervor und erfreute sich größter Beliebtheit beim westlichen Ballettpublikum. Seine weiteren Verdienste bei den 42 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Ballets Russes werden in Kapitel drei näher erläutert. Serge Diaghilew (1872-1929) ging als der Begründer der Ballets Russes in die Geschichte ein und strebte eine enge Verbindung der Künste im Gesamtkunstwerk Ballett an. Somit stand er im absoluten Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Rudolf von Laban (1879-1958). Letzterer gehörte zu den Pionieren des freien Tanzes und war der Meinung, dass der Tanz nur unabhängig von allen anderen Künsten bestehen könnte.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 102 ff.) Auch wenn Diaghilew in erster Linie als Reformer des Balletts bezeichnet wurde, so zeichnete sich seine besondere Bedeutung aber auch als Schöpfer von Ballettinszenierungen als ein Gesamtkunstwerk aus. Seine Produktionen gingen weit über die Grenzen von Tanz und Ballett hinaus. Dies war folgendermaßen zu verstehen: Zwar stellte Diaghilew die treibende Kraft bei den Projekten der Ballets Russes dar, allerdings war der Erfolg der Ballettproduktionen eigentlich einem Teamwork aller beteiligten Künstler zuzuschreiben.(vgl.: Flamm, 2013, S. 7) Das Auschlaggebende war eine multimediale Synthese von verschiedenen künstlerischen Elementen, welche auf die Bühne gebracht wurden. Demnach waren Strawinskys Ballette eigentlich auch nicht allein ihm selbst zuzuschreiben, da auch hier mehrere Personen an der Erarbeitung beteiligt waren. Strawinsky lieferte ja auch nicht nur einen musikalischen Input bei den Projekten, sondern wirkte auch hinsichtlich der bildenden Kunst oder der Literatur mit. Obwohl von Beginn an bei Diaghilew und seinen Mitarbeitern das Prinzip der Geschlossenheit von künstlerischer Konzeption und Ausführung galt, hatte die Musik zu allererst eine untergeordnete Rolle. Zwar arbeiteten Künstler, Maler, Komponisten, Ballettmeister, Schriftsteller und viele weitere Personen gemeinsam an ein und demselben Projekt, aber die gleiche Beteiligung aller Kunstformen schon beim Entstehungsprozess einer Produktion konnte in den Anfängen der Ballets Russes noch nicht garantiert werden. Das Problem stellte das, wie in Kapitel zwei schon erwähnte, negative Image der Ballettmusik dar, denn es fehlte weitgehend an originalen Kompositionen. Deshalb wurden bereits vorhandene Ballettwerke arrangiert. Erst mit dem Mitwirken von Strawinsky bei den Ballets Russes gelang die vollkommene Erneuerung des Stellenwertes von Ballettkomponisten und auch die Musik emanzipierte sich so als eigene Kunstform beim Ballett.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. V) Der junge Komponist bewies mit seinen Werken wie Der Feuervogel oder Petruschka die künstlerische Gleichwertigkeit der Musik, die auch Möglichkeiten für das Erproben von neuen Ausdrucksformen bot. Es findet sich zum Beispiel in Petruschka eine vom Tanz inspirierte 43 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Motorik und bei Le Sacre du Printemps erfolgte eine Emanzipation der Rhythmik in der Musik, worauf in Kapitel vier noch näher eingegangen wird. Die Ballette von Strawinsky beruhten auf einem neu definierten Kompositionsprinzip. Sie sprengten also nicht nur die herkömmlichen Vorstellungen von Ballettmusik, sondern trugen auch zur Entwicklung der modernen Musik bei. Ein typischer Abend der Ballets Russes bestand beispielsweise aus drei Abschnitten. Nur einer davon enthielt ein neues, möglicherweise skandalöses, Stück, wovon Diaghilew eine Reaktion seitens der Zuschauer und der Kritiken erwartete. Eine Abendvorstellung unterlag also einer Dreiteilung von jeweils maximal 50 Minuten Aufführungszeit für ein Stück. Damit richtete sich der Organisator nach den Vorlieben der westlichen Gesellschaft, die es bevorzugte, in den längeren Pausen eines Abends Kontakte mit anderen Gästen zu pflegen oder Klatsch und Tratsch auszutauschen.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 36) In Russland hingegen war es üblich, eine Aufführung in ihrer ganzen Länge, also auch mehrere Stunden, zu besuchen. Diaghilew berücksichtigte diese gesellschaftliche Angewohnheit der Europäer jedoch, einerseits aus wirtschaftlichen Gründen und andererseits, weil es ihm die Möglichkeit bot, das Repertoire seiner Truppe recht abwechslungsreich zu gestalten. Die einzige Einbuße bei dieser Art der Inszenierung war die Dramaturgie, welche bei solch kurzen Bühneneinheiten nicht spezifisch ausgebaut werden konnte. Insofern verfolgte Diaghilew schon mit den ersten Aufführungen der Ballets Russes sein Konzept aus einer Mischung von Kunst und Kommerz, das sich nach dem Schema von Angebot und Nachfrage des Marktsystems richtete. Die Handlung verband sich mit der Musik zu einem einzigen Akt, der maximal eine Stunde dauerte. Die Aufführung verschmolz zu einer einzigen, großen Gesamtstruktur. Somit wurden die Monumentalballette mit bis zu vier Akten von Marius Petipa abgelöst.(vgl.: Flamm, 2013, S. 13) Damals füllte ein einziges Ballett den ganzen Abend. Bei den Ballets Russes bestand ein Abend aus der Abfolge von kurzen Werken. Dies war im Hintergrund eine große Herausforderung für das Wechseln des Bühnenbildes, des Kostümes und der Masken, denn die einzelnen Bestandteile des jeweiligen Werkes mussten trotzdem aufeinander abgestimmt sein, so dass sich eben ein Gesamtkunstwerk ergab. Interessanterweise nahm Diaghilew die Beleuchtung der Bühne bei den Aufführungen selbst in die Hand. 44 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst 4.3 Die Reformansätze der Ballets Russes Während des Bestehens der Ballets Russes in den Jahren 1909 bis 1929 erfolgte in ganz Europa eine umfassende Theaterreform. Da viele Künstler der Truppe um Diaghilew von dieser verändernden Bewegung beeinflusst waren, ließen sich viele der Reformansätze in den Aufführungen der Ballets Russes wiederfinden. Allerdings betraf die Reform eigentlich nur das Sprechtheater und in kleinerem Ausmaß die Oper. Umso beeindruckender ist es daher, dass sich diese Veränderungen auch bei den Ballettproduktionen von Diaghilew und seinen Mitarbeitern wiederfanden.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 11) Da es in nahezu allen europäischen Ländern zu Veränderungen und zur Entwicklung neuer Stilrichtungen kam, konnte die Theaterreform um 1900 durchaus als eine europäische Bewegung betrachtet werden. Aufgrund des regen kulturellen Austausches zwischen Frankreich und Russland fanden die Reformversuche auch außerhalb Europas in Russland statt. Einer der Reformer in Russland war Stanislawski, der ebenfalls mit seinen Ideen etwas auf die Produktionen von Diaghilew abfärbte. Stanislawski gründete unter anderem das Moskauer Künstlertheater, welches sich ganz der Reformierung des Theaterwesens verschrieb. Eine wesentliche Erneuerung war die Verwendung von akustischen Signalen, die die Umwelt auf der Bühne repräsentieren sollten. Zudem stellte er den Schauspieler in den Mittelpunkt der Inszenierungen, der die Vermittlung der Gefühle eines Theatertextes mittels eines differenzierten Darstellungsstiles auszuführen hatte.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 22 f.) Es reichte also nicht mehr das äußerliche Nachahmen der Realität, denn Stanislawski teilte dem Theater eine gesellschaftliche Aufgabe zu. In Theatervorstellungen sollten der Bevölkerung die sozialen Veränderungen gezeigt werden, allerdings in ästhetischer Übertreibung. Jegliche politische Stellungnahme in den Produktionen lehnte Stanislawski jedoch ab, da seiner Meinung nach die Kunst gegenüber der Politik völlig autonom zu bleiben hatte. Eine weitere ausschlaggebende Reformierung in Russland wurde durch Meyerhold durchgeführt. Er hob den Stellenwert der Bewegung, weil für ihn die Aussagekraft von abstrakten Bewegungsabläufen viel mehr auf der Bühne bedeutete, als die Sprache. Zudem legte Meyerhold viel Wert auf die Pantomime. Er teilte auch dem Rhythmus eine neue Rolle zu, was insofern schon eine Vorstufe zur Entwicklung von Le Sacre du Printemps bei den Ballets Russes darstellte. Bei Meyerhold lagen alle Inszenierungen einem bestimmten Rhythmus unter, der 45 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst nach dem Charakter des jeweiligen Stückes definiert wurde. Dieser bestimmte auch den Sprachstil und die Bewegungsabläufe der Schauspieler. Der Rhythmus als tragende Kraft einer Inszenierung und auch als Grundlage für die Musik war ausschlaggebend bei Meyerholds Produktionen. Ähnliche Aspekte und Ansichten ließen sich auch bei Diaghilew und seinen Inszenierungen finden.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 27) Meyerhold beabsichtigte die Bewegungsabläufe nicht mehr im Einklang mit der Musik zu konzipieren, sondern geradezu kontrapunktisch dazu. Ähnliche Ideen lernte er bei Michail Fokin 1910 kennen, einem Choreographen der Ballets Russes. Fokin sah die Bewegung nicht mehr als eine Illustration der Musik, weshalb nicht jeder Akzent der Musik in Bewegungsabläufe umgesetzt werden musste. Er strebte nach einer Eigenständigkeit des Tanzes auf der Bühne gegenüber der Musik. Ihm wurde auch nachgesagt, die eine oder andere Intrige begünstigt zu haben, wie zum Beispiel im Jahr 1910. Damals verursachte Nijinsky einen Streit am Marinsky Theater, weil er sich nicht an die Kostümvorschriften hielt und in Giselle trotzdem auftrat. Somit entsagte er für immer seinen dortigen Verpflichtungen. Dadurch stand Nijinsky zur Verfügung für Diaghilew, der zusammen mit ihm einige Produktionen bei den Ballets Russes startete.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 35) Es war bekannt, dass Diaghilew seine künstlerischen Mitarbeiter oft wechselte. Dies ließ sich mit seinem großen Interesse am Geist der Zeit erklären, als auch mit seinem ständigen Suchen nach neuen Impulsen. Dabei galt er durchaus als weltoffener Mensch. Er rief zwar in den ersten Saisonen vermehrt russische Produktionen ins Leben, weil er der Welt ein neues und erfolgreiches Russland zeigen wollte, doch in den späteren Jahren der Ballets Russes arbeitete er viel öfter mit internationalen Künstlern zusammen. Dieser rege Wechsel an Mitarbeitern sollte nicht als bösartige Laune von Diaghilew abgetan werden, denn gerade dadurch gelang es ihm, viele bis dahin unbekannte Talente zu fördern, wie eben Massine, Fokin oder auch Strawinsky. Die innovativen Absichten von Diaghilew bezogen sich auf viele Ebenen des Balletts. Eine wesentliche Änderung stellte die Abschaffung der Einheitskostüme dar. Auch die Bühnendekoration wurde dem jeweiligen Sujet des Ballettes angepasst. Um dies zu erreichen, engagierte Diaghilew talentierte Künstler wie zum Beispiel Leonide Bakst oder Alexandre Benois. Diese avantgardistischen Bühnenbildner beeinflussten mit ihren Kostümentwürfen die Modewelt.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 132) Als man beispielsweise in der Damenmode das Korsett entfernte, lieferten die exotischen Bühnenbilder und Kostüme von Bakst Anregungen für 46 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst eine neue Mode, denn zum typischen Stil der Ballets Russes gehörten damals unter anderem Turbane, große Federn und Haremshosen. In Frankreich ließ sich der Modeschöpfer Paul Poiret von den Kostümen bei Schéhérazade und Cléopâtre aus den Saisonen 1909 und 1910 inspirieren. Auch in der Form des Tanzes griff Diaghilew mit Veränderungen durch. Die kanonischen Figuren und Schrittfolgen ersetzte man durch freiere Bewegungen, die auf einen Ausdruck mit der Körpersprache fokussierten. Die Rolle der männlichen Tänzer wurde aufgewertet und teilweise sogar höher gestellt als die der weiblichen Ballerinen. Dies geschah vor allem durch das Mitwirken von Nijinsky. Er verkörperte das neue Bewusstsein der Männer auf der Bühne, wodurch der Tanz in der Gruppe, auch zusammen mit den Damen, dynamischer wurde. Die Homosexualität von Diaghilew trug wahrscheinlich dazu bei, die Bedeutung der Männer beim Ballett zu heben. Seine jungen Stars wie Nijinsky oder auch Leonid Massine waren immer auch seine Liebhaber.(vgl.: Flamm, 2013, S. 12) Die Aufwertung der männlichen Tänzer war auch eine Grundforderung von Fokin, der dieses Vorhaben zum Beispiel im Pas de deux, einem Tanzduett, von Der Feuervogel umsetzte. Darin gab es keine große Demonstration der Ballerina, indem der Tänzer nur eine Art drittes Bein für seine Tanzpartnerin darstellte.(vgl.: Yang, 2004, S. 22) Er war vielmehr ihr darstellerisches Gegenüber und fortan nicht mehr eine bloße Unterstützung der Ballerina bei ihren Tanzfiguren. In Petruschka sorgte Fokin ebenfalls mit seiner Choreographie und dem Einsatz von Nijinsky für eine Aufwertung der Männer im Ballett. Dieser Tänzerpersönlichkeit gelang eine Belebung des Stoffes mit seinem einzigartigen Körperausdruck.(vgl.: Gregor, 1994, S. 323 f.) In der von Frauen dominierten Ballettdomäne traten dank Fokin wieder Männer in den Vordergrund. Im westlichen Europa beherrschten die Damen das Ballett und stellten ihre männlichen Kollegen in den Schatten. Es wurden teilweise sogar männliche Rollen von Frauen besetzt, da die Tänzer ohnehin nur die Funktion hatten, die Primaballerinen bei ihren Tanzschritten zu stützen, aber insofern keine eigene Rolle im Ballett besaßen.(vgl.: Yang, 2004, S. 9) In Russland wurden sowohl weibliche als auch männliche Tänzer gleichwertig behandelt und ausgebildet. Deshalb sorgten der russischer Solotänzer Wazlaw Nijinsky und seine männlichen Kollegen für Furore, als sie in Westeuropa inmitten der Damen bei einem Ballett auftraten. So wie die Produktionen in der ersten Saison beim Publikum ankamen, erwies 47 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst sich auch Petruschka in der Saison 1911 als Erfolg. Das revolutionierende Element bei dieser Produktion stellte das gelungene Zusammenwirken der Ballettmusik mit dem Bühnengeschehen dar. Diaghilew erkannte in dieser Komposition von Strawinsky ein plastisches Potential. Deshalb überredete er den jungen Komponisten, dieses Werk nicht, wie ursprünglich geplant, als ein Konzertstück zu gestalten, sondern als Ballettmusik zu konzipieren.(vgl.: White, o.D. S. 34 ff.) Strawinskys ursprüngliche Idee zur Verarbeitung dieser Komposition war, sie als ein Konzert auszuarbeiten. Er hatte die Vorstellung von einem Zwiegespräch zwischen Klavier und Orchester. Das Klavier verkörperte eine zum Leben erwachte Marionette in Form von Arpeggien. Das Orchester reagierte darauf mit drohenden Fanfaren. Die kurzen und abgebrochenen Episoden stellten einen Streit zwischen der Puppe und dem Orchester dar. Strawinsky entschied sich für einen Namen der Marionette, da dies dem Publikum die Erfassung der Musik erleichtern würde. Diese arme, hässliche und empfindsame Gestalt, die auch trotzig und wütend war, nannte man in Deutschland Kasperle, in Frankreich Pierrot und in Russland eben Petruschka. Somit stand der Name fest. Benois wurde für die Handlung, die Szenerie und die Kostüme von Petruschka engagiert. Die Zusammenarbeit von Strawinsky und Benois war bei dieser Produktion besonders hervorzuheben. Dies führte sogar dazu, dass in der veröffentlichten Partitur Strawinsky und Benois als die gemeinsamen Verfasser standen. Die erste Aufführung fand am 13. Juni 1911 statt, mit Nijinsky in der Titelrolle der Puppe Petruschka. Es handelte sich von Beginn an um einen beinahe vorprogrammierten Erfolg. Die Zuhörer und später auch die Kritiker nahmen die Vorstellung jubelnd an. Vor allem die tänzerische Leistung von Nijinsky ragte heraus.(vgl.: White, o.D. S. 41 ff.) Strawinsky selbst bemängelte allerdings die unkoordinierten Massenbewegungen bei der Uraufführung. Diese wurden der Improvisation der Darsteller überlassen und nicht choreographisch mit der Musik übereingestimmt. Außerdem sprengte die Bühnendekoration den Rahmen. Zum Beispiel befand sich ein richtiges Karussell auf der Bühne. Dies erwies sich im Nachhinein allerdings als eine zu gewagte Mischung aus Realismus und herkömmlichen Ballett, weshalb die späteren Ballette wieder etwas einfacher gestaltet wurden. Nach der dritten Saison der Ballets Russes war der klassische Tanz weitgehend reformiert und als angesehene Kunst rehabilitiert. Der Leiter der Ballets Russes strebte dennoch immer wieder nach neuen Veränderungen. So begann er 1912 hinter dem Rücken von Fokin, dem damaligen Chefchoreographen der Ballets 48 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Russes, den Startänzer Nijinsky auch als Choreograph für ein neues Ballett ins Auge zu fassen. Dieser schien in Frage zu kommen, die Vision eines modernen Balletts zu realisieren, welches in engem Verhältnis zu zeitgenössischen Künstlern steht.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. VI) Dies bewies er schon in der Saison 1912 mit seiner Choreographie zu L’après-midi d’un Faune, worin er bereits maßgebliche Neuerungen des modernen Tanzstils vorwegnahm: Die Hinterfragung der Bewegung durch Reduktion, die radikale Absage an klassische Prinzipien mittels deren Umkehrung, ein Bloßlegen von tiefenpsychologischen Motivationen oder Verhaltensmustern und ein Bezug zur Musik, der nicht mehr auf melodische Zusammenhänge fixiert war. In Le Sacre du Printemps wurden diese neuen Aspekte bis ins Extremste verwirklicht und damit einer der größten Theaterskandale provoziert, was angesichts des radikalen Bruchs mit bisherigen Konventionen der vergangenen Tanzgeschichte zu erwarten war. Darauf wird näher in Kapitel 4 eingegangen. Diaghilew traute dem Tänzer Nijinsky ab 1911 sogar mehr zu, als nur eine Hauptrolle im Ballett L’après-midi d’un Faune. So tanzte er zur Musik von Claude Debussy nicht nur den Faun, sondern war auch für die gesamte Choreographie zuständig. Die Handlung basierte auf einem Gedicht von Mallarmée, worin ein Faun acht Nymphen begegnete. Nijinsky erkannte instinktiv, dass er bei dieser Handlung und der neuen Art von Musik keine klassischen Bewegungen mehr einbauen konnte, sondern etwas neues erfunden werden musste. Deshalb kreierte er einen sozusagen zweidimensionalen Tanzstil, der an eine reliefartige Darstellung erinnerte.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 115 f.) Deshalb stellte dieses Ballett im Vergleich zu den vorigen Inszenierungen eine völlige Neuheit dar. Der Stil der Bewegungen brach sämtliche Regeln des klassischen Ballettes. Nijinsky ordnete eine Fortbewegung mit flach auf den Boden gesetzten Füßen an, entgegen der klassischen Drehung der Füße nach auswärts. Die Tänzerinnen und Tänzer bewegten sich dabei in den schon erwähnten zweidimensionalen Positionen von der einen Seite der Bühne zur anderen. Zusätzlich ordnete er eine durchgehende seitliche Stellung des Kopfes an, eine so genannte Profilstellung. Dadurch versuchte Nijinsky den Eindruck einer griechischen oder ägyptischen Reliefdarstellung zu kreieren, wie sie zum Beispiel auf antiken Vasen zu finden war. Hinzu kam noch, dass der Tanz sich nicht der fließenden Musik von Debussy anpasste, sondern bewusst in völligem Kontrast dazu stand. Die Tänzerinnen und Tänzer führten eckige Bewegungen aus und blieben immer wieder in bestimmten 49 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Posen stehen. Debussy selbst erklärte sich als nicht einverstanden mit dieser Art der Interpretation seiner bekannten Musik.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 52) Allerdings erreichte Nijinsky eben durch jenen Kontrast von Tanz und Musik eine einzigartige und neue Dynamik. Er verzichtete dabei auf virtuose Tanztechniken und konzentrierte sich in erster Linie auf Bewegungen, die metrisch kontrolliert werden konnten. Die Choreographie sorgte bei der Uraufführung am 29. Mai 1912 im Théâtre du Chatélet in Paris für Aufregung bei den Vorstellungsbesuchern, da die beinahe animalischen Bewegungen von Nijinsky dem Publikum fremd waren. Sie wurden als zu erotisch auf der Bühne wahrgenommen. Zusätzlich zeichnete sich das Werk durch eine neue psychologische Sensibilität aus, welche für das damalige Publikum noch ungewohnt war.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 115 f.) Dieses Ballett hatte eindeutig einen neuen impressionistischen Charakter und unterschied sich weitgehend von klassischen Ballettaufführungen. Die Musik stellte insofern eine Neuigkeit dar, weil sie als Inspirationsquelle ein Gedicht von Stéphane Mallarmé hatte. Debussy beabsichtigte mit seiner Komposition also einen stimmungsvollen Ausdruck, was sich wiederum mit der impressionistischen Form des Tanzes verbinden lies. Im Vordergrund eines impressionistischen Balletts stand eine farbenprächtige und eindrucksvolle Aufführung. Es ging vielmehr um die Vermittlung von Tanzimpressionen und eine Art bewegte Bilder, als um die klassische Umsetzung der Musik in Bewegungen, was bei impressionistischer Musik mit den vielen rhythmischen Abweichungen ohnedies schwer möglich wäre. Die ersten Takte von Debussys Musik zu L’aprèsmidi d’un Faune vermittelten zum Beispiel eine eher exotische, beinahe spirituelle Klangatmosphäre, da ein ausgehaltener Ton von einer orientalisch wirkenden Melodie umkreist wurde.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 110) Die ungewohnten Bewegungen von Nijinsky zu dieser Musik empörten nicht nur das Publikum, sondern auch Debussy selbst. Allerdings stellte der spätere Skandal rund um die Uraufführung von Le Sacre du Printemps die Unruhen über die Choreographie von L’après-midi d’un Faune in den Schatten. Darauf wird in Kapitel 4 noch näher eingegangen. Wenige Wochen vor der Uraufführung von Le Sacre du Printemps in der Saison 1913 entstand das Ballett Jeux zu einer Musik von Claude Debussy. Nijinsky war abermals für die Choreographie zuständig und hatte bei diesem Werk große Mühe bei der Erarbeitung der Bewegungen. Die Neuheit von Jeux lag in der Handlung, 50 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst denn erstmals wurde ein moderner Stoff als Grundlage für ein Ballett verwendet. Die knappe Handlung drehte sich um Tennisspieler auf einem Tennisplatz. Zwei Frauen und ein Mann, die in einer Art Dreiecksverhältnis zueinander standen, begaben sich auf die Suche nach einem verlorenen Ball. (vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 52 f.) Das Ballett wurde jedoch schon kurz nach seiner Uraufführung am 15. Mai 1913 in Paris nach nur wenigen Vorstellungen wieder vom Spielplan genommen. Nijinsky beging mit Jeux insofern eine Revolution, da zum ersten Mal im Ballett die Tänzerinnen und Tänzer in zeitgenössischen Kostümen auftraten, in diesem Fall im Tennisdress. Außerdem passte sich das Thema der Handlung der Gegenwart an und die Szenen fanden an einem realen Ort statt. Somit erneuerte Nijinsky das Ballett in der Hinsicht, dass ein derart altes Genre trotzdem Bezug zur Gegenwart besaß. Die Versetzung der Handlung in das aktuelle Leben des Publikums, ermöglichte dem Choreographen auch neue Wege bezüglich der Bewegungen. Nijinsky orientierte sich bei Jeux zum Beispiel an den Haltungen beim Tennis und nicht an den klassischen Bewegungen des Balletts. Deshalb stellte dieses Werk für Nijinsky, aber auch für den weiteren Verlauf der Ballettgeschichte, einen wichtigen Schritt zur Weiterentwicklung dar. Allerdings galt Jeux selbst eher als Versuch oder Zwischenschritt in Bezug auf die Erneuerung des Balletts, wenn man es mit dem nachfolgenden Werk Le Sacre du Printemps verglich. Zudem zeigte sich Debussy abermals unzufrieden mit dem choreographischen Ergebnis von Nijinsky.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 112) Die Empörung von Debussy konnte möglicherweise insofern verstanden werden, da sich die Instrumentation seiner Musik als hervorragend erwies. Eine große Orchesterbesetzung mit vierfach besetzten Holzbläsern, zwei Harfen und zahlreichen Streichern erschufen mit der Musik von Debussy eine Wirkung auf das Publikum, welches dank der vielen Instrumente eine ungeahnte Nuancierung des Klanges erlebte. Diese Bemühungen in der Musik sah der Komponist Debussy allerdings nicht ausreichend durch die Choreographie von Nijinsky gewürdigt. Bei Nijinsky zeigten sich daraufhin bereits erste Anzeichen einer psychischen Störung. Der Grund hierfür könnte in der Überforderung durch die choreographische Arbeit an Le Sacre du Printemps liegen, die ihm von Diaghilew mehr oder weniger aufgezwungen wurde. Eine mögliche weitere Erklärung wäre das unbewältigte homosexuelle Verhältnis zu Diaghilew. Nachgewiesen ist jedenfalls die Bestürzung Diaghilews, nachdem die Heirat von Nijinsky mit der ungari- 51 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst schen Tänzerin Romola Pulsky bekannt wurde. Es kam zum Bruch zwischen den beiden Männern und infolgedessen auch zur Entlassung von Nijinsky aus der Truppe der Ballets Russes.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 116) Im Jahr 1917 stellte man schließlich Schizophrenie bei Nijinsky fest, der bis dahin zumindest noch vier vom Stil her völlig unterschiedliche Ballette kreierte: L’après-midi d’un Faune, Jeux, Le Sacre du Printemps und Tyl Eulenspiegel, das 1916 in New York aufgeführt wurde. Allerdings wurden Nijinskys Werke von nachfolgenden Generationen so gut wie nie in der ursprünglich von ihm konzipierten Fassung wiederaufgeführt. Deshalb wurden seine choreographischen Leistungen wie auch sein revolutionäres Wirken auf die Ballettgeschichte nicht ausreichend gewürdigt, denn schon als Tänzer trug er zum Erfolg der Ballets Russes in Europa bei. Nijinsky wurde nach seiner Tanzausbildung an der bekannten kaiserlichen Ballettschule in St. Petersburg am Marinsky-Theater angestellt. Im Jahr 1909 überredete ihn Diaghilew, bei seiner neu gegründeten Truppe der Ballets Russes mitzuarbeiten. Somit gelang es Diaghilew, einen Startänzer zu engagieren, denn Nijinsky überzeugte durch seine spezielle Tanzkunst. Er brachte es zu Wege, in seinen ihm zugeteilten Rollen gänzlich aufzugehen und sich also völlig in die jeweilige Figur hineinzuversetzen. Dies verschaffte ihm allerdings auch den Ruf, keine eigene Persönlichkeit zu besitzen.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 51) Als Diaghilew ihn 1911 erstmals ermutigte, selbst als Choreograph und nicht nur als erfolgreicher Tänzer von Fokins Ballettrollen zu fungieren, nahm der Chef der Ballets Russes folgendes Risiko in Kauf: Fokin wandte sich als Chefchoreograph von der Tanztruppe ab, da sich eine künstlerische Neuorientierung im Ensemble breit machte. Ausgelöst wurde dies durch die Berufung von Nijinsky als Choreograph. Die Zusammenarbeit mit Diaghilew ermöglichte Nijinsky jedoch, endlich selbst choreographisch tätig zu werden und somit seine radikalen Ideen zur Erneuerung des Balletts durchzusetzen und der Gesellschaft zugänglich zu machen. Mit der Einstellung von Nijinsky beging Diaghilew einen waghalsigen Schritt, denn er entfernte sich vollkommen vom Bereich der Petersburger Balletttradition. In weiterer Folge engagierte er Leonide Massine, der von allen Mitarbeitern am längsten als Choreograph für die Ballets Russes arbeitete. Mit ihm erfolgte eine Fortsetzung der Weiterentwicklung in der Ballettgeschichte. Es vollzog sich eine Öffnung hinsichtlich aller Einflüsse der internationalen Kulturszene und eine Loslösung von den ästhetischen Vorstellungen des Mir Iskusstva-Kreises.(vgl.: 52 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Dahms und Woitas, 1994, S. VII) Der Pluralismus wurde zum Markenzeichen der Ballets Russes, wodurch deren Status in der internationalen Avantgarde gefestigt wurde. Die Choreographien von Massine basierten auf einer ironischen aber auch intellektuellen Verarbeitung von verschiedenen Quellen. Es fanden sich in den modernen Ballettproduktionen von Massine Elemente von Barocktanz, Flamenco oder Neoklassik zu gleichen Teilen. Die temporeichen und einer Marionette gleichenden Bewegungen stellten die Tanztruppe bei den Proben oft vor große Herausforderungen, denn es handelte sich um völlig neuartige Bewegungsformen, die die Körper der Ausführenden teilweise schmerzhaft überforderten. Auch für das Publikum waren die Tänze zuerst gewöhnungsbedürftig. 4.4 Die erfolgreiche Zusammenarbeit von Diaghilew und Strawinsky Diaghilew und Strawinsky trugen maßgeblich zur Reformierung des Balletts bei. Diese produktive Zusammenarbeit ergab sich unter anderem auch aus dem Grund, weil Diaghilew sein Ziel verfolgte, der Welt ein neues Russland zu präsentieren. Dieses Vorhaben verfolgte er vehement und mit vollem Einsatz seiner Kräfte, so sah ihn zumindest Coco Chanel, eine gute Bekannte von ihm, in ihrer Erinnerung: „Von dem Tag an, da ich ihn kennenlernte, bis zu jenem, da ich ihm die Augen schloss, habe ich Serge nie untätig gesehen.“(Morand, 2009, S. 107) Auf die weiteren Begegnungen und Zusammenhänge zwischen Coco Chanel und den Ballets Russes wird näher in Kapitel 4 eingegangen. Diaghilew verstand es zu Kommunizieren und Kontakte zu knüpfen, wodurch er Maler mit Musikern bekannt machte. Er wirkte als Bindeglied und Vermittler zwischen vielen Ländern, besonders zwischen Frankreich und Russland, wodurch er dem Okzident den Orient vermittelte. Zusätzlich nützte ihm seine Eigenschaft, talentierte Künstler zu entdecken, wie zum Beispiel den jungen Strawinsky in St. Petersburg oder Eric Satie in Arcueil.(vgl.: Morand, 2009, S. 63 f.) Diaghilew bemühte sich zudem, immer wieder nach Neuem zu suchen und somit dem französischen Publikum stets weitere Kuriositäten bei den Aufführungen der 53 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Ballets Russes zu präsentieren. Er begründete diese permanente Rastlosigkeit mit folgenden Worten: „Ich hätte Millionen mit der Wiederaufnahme von Petruschka verdienen können, von Scheherazade leben können wie andere von Le Miracle oder der Fledermaus, aber mein Vergnügen ist mir wichtiger.“(Morand, 2009, S. 63) Diaghilew war ein talentierter Akrobat in künstlerischen Angelegenheiten. Wenn er beispielsweise nur die Ballette des zaristischen Theaters von Russland nach Frankreich gebracht hätte, wäre sein Erfolg sehr gering ausgefallen. Er hätte Frankreich nur das zurückgegeben, was sich St. Petersburg in früheren Jahren geholt hatte, indem es die westeuropäische Kultur am Hof des Zaren einführte und imitierte.(vgl.: Morand, 2009, S. 111) Diaghilew ging dabei schlauer vor: Er erfand ein Russland fürs Ausland, wobei Frankreich und auch andere Staaten darauf reinfielen. Im Theater herrschte sowieso das Prinzip Trompe-l’oeil, also die optische Täuschung, daher benötigte er ohnehin falsche Perspektiven. Demnach basierte der Erfolg der Ballets Russes so wie sie auf der Bühne zu sehen waren, auf einer Konstruktion, die eigentlich auf Fiktion beruhte. Diaghilew konzentrierte sich also auf die Verwirklichung seiner Kunstideen in Form des Balletts. Er verfügte bereits über Fokin als Chefchoreograph bei den Ballets Russes, der ebenfalls revolutionär tätig sein wollte. Dessen Tanzreformen wurden in diesem Kapitel bereits erwähnt. Fokin entwarf schon in den Jahren vor dem Feuervogel einige neue russische Choreographien, die sich von den französischen und italienischen Formen, die damals gängig waren, abgrenzten.(vgl.: Kahan, 2003, S. 165) Diese revolutionären Bewegungen wurden zu einer russischen Musik getanzt, beispielsweise von Tschaikowsky oder Rimsky-Korsakow. Diese Vorstellungen kamen beim Publikum gut an, auch wenn dabei schon einige provokative Neuheiten präsentiert wurden, wie Shéhérazade zum Beispiel. Jenes Ballett galt schon als grenzwertig hinsichtlich der darin vorkommenden erotischen Komponente des Tanzes. Auch die Pariser hatten sich an diese Art der Musik seit der Saison von 1907 der Ballets Russes gewöhnt, daher empfand Diaghilew die Zeit als reif für ein allererstes, wirklich russisches Ballett. Er und seine Kollegen kamen auf die Gestalt des Feuervogels, ein Wundervogel 54 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst aus ostslawischen Märchen, der sehr beliebt war als Symbol für die reine und unantastbare Schönheit.(vgl.: Yang, 2004, S. 17 f.) Es gab allerdings kein russisches Märchen mit einem Feuervogel im Mittelpunkt der Handlung, also ist Fokins Ballettlibretto eine Vermischung aus mehreren altrussischen Märchen. Diaghilew plante also ein großes neues Ballett, da er ja stets nach weiteren Herausforderungen suchte. Für die Spielsaison 1910 wollte er eine Produktion, welche die russische Märchenwelt in vollem Glanz entfalten sollte.(vgl.: Kahan, 2003, S. 165 f.) Er begab sich auf die Suche nach einem russischen Komponisten, der ihm für sein Vorhaben als geeignet erschien. Nach der gescheiterten Zusammenarbeit mit den Komponisten Nikolai Tscherpin und Anatol Ljadow dachte Diaghilew an den jungen Strawinsky. Diaghilew entdeckte Strawinsky bereits bei einem Winterkonzert in St. Petersburg am 6. Februar 1909. Dieses Datum wurde für Strawinsky zum entscheidenden Wendepunkt für seine weitere musikalische Laufbahn. An jenem Abend standen unter dem Dirigent Alexander Silotti zwei einsätzige Orchesterwerke von Strawinsky am Programm: Sein Scherzo fantastique und das Feu d’artifice. Diaghilew befand sich im Publikum und war begeistert von dieser Musik, weshalb er, sozusagen als Probe, dem jungen Komponisten zwei kleinere Aufträge zuteilte. Strawinsky sollte die Valse brillante in Es-Dur op. 18 und die Nocturne in As-Dur op. 32 Nr. 2 instrumentieren, denn Diaghilew wünschte sich eine neue Version dieser Werke von Chopin. Diese bildeten den Anfang und das Ende des Balletts Les Sylphides, welches ein Pastiche aus neuen und zwar ausschließlich neu instrumentierten Elementen darstellte. Die Uraufführung fand am 2. Juni 1909, mit einem Bühnenbild von Alexandre Benois und der Choreographie von Michail Fokin, in Paris statt.(vgl.: Flamm, 2013, S. 18) Strawinsky erfüllte diese Aufgabe zu vollster Zufriedenheit von Diaghilew. Zudem war er zuverlässig, sorgfältig und rasch in der Arbeit ganz im Gegensatz zu beispielsweise Liadow.(vgl.: White, o.D. S. 26) Dieser kam nur langsam mit der Arbeit voran, weshalb sich Diaghilew mit ihm absprach und in gegenseitigem Einverständnis den Kompositionsauftrag für Der Feuervogel an Strawinsky übergab. Nach diesem erfolgreichen Probeauftrag erhielt Strawinsky im Dezember 1909 den Auftrag, ein ganzes Ballett zu komponieren und mit anerkannten Künstlern wie Fokin und Golovin zusammenzuarbeiten. Diaghilew ging mit Strawinsky ein Risiko ein, weil er für die Pariser Kunstszene noch unbekannt war.(vgl.: Yang, 2004, S. 14) Strawinsky hatte als junger russischer Komponist seine Heimat bis dahin nie verlassen, aber ihn faszinierte diese Möglichkeit des Aufstiegs und er 55 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst beschrieb dieses Angebot von Diaghilew mit folgenden Worten: „Obgleich ich zunächst entsetzt war, weil dieser Auftrag an eine bestimmte Frist gebunden war, und obgleich ich fürchtete, ich könnte die Zeit nicht einhalten, denn ich kannte damals meine Kräfte noch nicht, nahm ich den Vorschlag an. Dieses Anerbieten war sehr schmeichelhaft für mich. Man hatte mich unter den Musikern meiner Generation ausgewählt, und ich sollte an einem wichtigen Unternehmen mitarbeiten, zusammen mit Persönlichkeiten, die man als Meister dieses Faches zu bezeichnen gewohnt war.“(Strawinsky, 1958, S. 25) Der junge Komponist sagte zu, da er schon von den Erfolgen der Ballets Russes in den Saisonen 1907 und 1908 unter der Leitung von Diaghilew gehört hatte. Der Feuervogel war Strawinskys erste eigens komponierte Ballettmusik für die Ballets Russes und auch die erste Zusammenarbeit mit bekannten Künstlerpersönlichkeiten. Obwohl er Bedenken hatte, eine so große Partitur vollständig alleine zu komponieren, kompensierte er jene Angst durch außerordentlichen Ehrgeiz, denn lernbegierig und eifrig war Strawinsky in jeder Hinsicht. Er komponierte die Musik zu Der Feuervogel in nicht einmal sechs Monaten. Die Premiere in der Pariser Oper am 25. Juni 1910 war ein sofortiger Erfolg.(vgl.: Kahan, 2003, S. 166) Die brillante Orchestrierung der Musik und die darin wunderbar ausgearbeiteten russischen und exotischen Elemente trugen vorteilhaft zu dieser von Diaghilew gewünschten Verschmelzung von Tanz, Musik und visuellen Effekten bei. Es folgten zusätzliche Aufführungen dieses Balletts in der damaligen Pariser Saison und Diaghilew kündigte weitere Zusammenarbeiten mit seinem neu entdeckten Komponisten an. 56 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Abbildung 4.1: Diaghilew und Strawinsky in Sevilla, 1921 1 Die anderen Mitarbeiter der Ballets Russes beschrieben ihn als sehr lernbegierig und waren über sein starkes Interesse an der Malerei, dem Theater, der Architektur und der Bildhauerei erfreut.(vgl.: White, o.D. S. 26 f.) Dies beflügelte die Zusammenarbeit und bewies, dass Diaghilews Spürsinn für neue Talente sich nicht getäuscht hatte: In Strawinsky steckte ein genialer Komponist. Spätestens ab dem Zeitpunkt, als Fokin begann, die Choreographie zur Musik zu entwickeln, wurde dies allen klar. Strawinsky war fasziniert von der Zusammenarbeit mit den Ballets Russes und bezeichnete deren Tänzer als „einen ganzen Blütenstrauß junger Künstler voller Talent und Frische.“(Strawinsky, 1983, S. 47) Fokin schätzte und respektierte Strawinskys Musik, denn er hielt den Rhythmus der Musik als ebenso wichtig für die Choreographie wie die Schwerkraft für den tanzenden Körper. Noch bevor die Partitur vollendet war, realisierte Fokin bereits Stück für Stück seine Choreographie nach den Teilen der Partitur, soweit sie eben schon vorhanden waren. Er stand Strawinsky auch mit Rat und Tat zur Seite und dieser hörte auf Fokins Ideen bezüglich seiner Komposition.(vgl.: Yang, 2004, S. 21) Der Erfolg von Der Feuervogel basierte also auf der produktiven Zusammenarbeit von Fokin und Strawinsky, weshalb die Choreographie und die Musik so wunderbar ineinander griffen. Auch viele andere Künstler und Kritiker entdeckten nach und nach das noch etwas verborgene Talent des jungen Strawinsky. So auch der französische Kritiker namens Brussel. Als ihn Diaghilew einlud, sich Strawinsky einmal anzuhören, 1 Craft, Robert (1972), Igor Strawinsky – Erinnerungen und Gespräche. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH, S. 48f. 57 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst wenn er seine Partitur durchspielte, beschrieb er seinen Eindruck des jungen Musikers folgendermaßen: „Der Komponist, jung, schlank und verschlossen, mit unbestimmt sinnendem Blick, die Lippen fest geschlossen in einem energischen Antlitz, saß am Klavier. Aber im Augenblick, da er zu spielen anfing, leuchtete die überaus bescheidene und matt erhellte Wohnung von einem blendenden Glanz. Am Ende der ersten Szene war ich überwältigt: am Ende der letzten von Bewunderung hingerissen. Das Manuskript auf dem Musikpult, über und über, mit feinem Bleistift beschrieben, enthüllte ein Meisterwerk.“(White, o.D. S. 27) Diese erste Zusammenarbeit von Strawinsky und Diaghilew veränderte das Musikgeschehen und setzte eine langsame Veränderung des Balletts in Gang. Ein neues Talent wurde entdeckt und Diaghilew fand in Strawinsky den idealen Mitarbeiter, um seine Visionen eines Gesamtkunstwerks zu realisieren. Für den 28-jährigen Strawinsky stellte dieses Auftragswerk den Start in seine Komponistenkarriere dar, denn mit eben jenem Ballett fand er seinen eigenen Musikstil, trotz seiner zahlreichen russischen Vorbilder wie zum Beispiel Rimsky-Korsakow. Diaghilew zählte von Beginn an zu den Befürwortern des jungen Komponisten. Schon vor der Premiere von Der Feuervogel, die Strawinsky von einem Tag auf den anderen berühmt machte, soll er gesagt haben: „Seht ihn euch an, er ist ein Mann am Vorabend seines Ruhmes.“(Dahms und Woitas, 1994, S. 98) Strawinskys Musik zeichnete sich durch tänzerischen Charakter aus, da sie beinahe gestische Elemente und kurze Bewegungseinheiten besaß, was wiederum eine gute Voraussetzung für neue und erfrischende Ansätze im Ballett waren. Allerdings bedeutete dies für das Tanzensemble eine ungeahnte Herausforderung, denn noch nie zuvor beinhaltete eine Ballettmusik die rhythmische Komplexität, wie sie bei Strawinsky zu finden war. Das zweite Ballett Petruschka stellte ebenfalls einen Erfolg für Strawinsky dar. Darin versuchte er Elemente der futuristischen Ästhetik in seine Musik einfließen zu lassen. Es handelte sich um eine Kunstströmung, die im Jahr 1910 aufkam und vom Futuristischen Manifest von Francesco Balilla Pratella ausging. Dieser verlangte die Integrierung des alltäglichen Lebens in die Kunst. Die Musik sollte also auch die Geräusche des Alltags beinhalten. Strawinsky konstruierte deswegen eine wiederkehrende Abfolge von so genannten Geräuschflächen in seiner Musik.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 99) Er bediente sich der Collage- 58 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Technik, wobei er damit seiner Zeit weit voraus war. Der Beiname dieses Balletts, der vom Bühnenbildner Alexandre Benois gewählt wurde, war deshalb Ballett der Straße. Dies bezog sich auf die gelungenen Geräuschbilder, welche Strawinsky in die Ballettmusik von Petruschka einfließen ließ und somit dem Manifest der futuristischen Ästhetik entgegen kam. Die hervorragende Zusammenarbeit zwischen Diaghilew und Strawinsky, so wie zu Beginn, hielt allerdings nicht all die Jahre an, die Strawinsky für die Ballets Russes arbeitete. Immer wieder gab es Streit zwischen den beiden Männern und im Jahr 1928 kam es zu einem endgültigen Bruch der Arbeitspartnerschaft. Strawinsky komponierte zu jener Zeit an dem Ballett Der Kuss der Fee, für das Bronislava Nijinska die Choreographie erarbeitete. Allerdings konzentrierte sich Strawinsky zu sehr auf die Instrumentation, so dass er zu wenig auf die Choreographie achtete. Er nahm erst an den allerletzten Proben in Paris teil und zeigte sich mit vielem nicht einverstanden. Das gesamte Ballett zeichnete sich durch lyrische Melodien aus, die an Tschaikowsky angelehnt waren. Eine der hervorragendsten Passagen stellte der pas de deux, ein Tanzduett, im dritten Bild dar, welcher aus vier Nummern bestand: Einleitung, Adagio, Variation und Coda. Die Aufführung in der Pariser Oper erzielte trotzdem keinen Erfolg, denn der Rest an diesem Werk ließ, auch laut Diaghilew, sehr zu wünschen übrig. So schrieb er am 27. November 1928 an Serge Lifar, einem Tänzer und später auch Choreographen bei den Ballets Russes, direkt nach der Vorstellung: „Eben komme ich aus dem Theater und habe böse Kopfschmerzen von dem schrecklichen Zeug, das ich gesehen habe. [. . . ] Es ist schwer zu sagen, was es darstellen sollte, langweiligen, weinerlichen, schlecht gewählten Tschaikowsky, von Igor angeblich meisterhaft instrumentiert. [. . . ] es klang fad, und dem ganzen Arrangement fehlt die Vitalität. [. . . ] Bronia [Nijinska] zeigte keinen Funken von einem Einfall, keine einzige Bewegung war wirklich durchdacht.“(White, o.D. S. 162 f.) Diaghilew drückte damit seine tiefe Enttäuschung und Wut aus. Er warf Strawinsky zudem Verlogenheit und Treuelosigkeit vor, da dieser anstatt mit den Ballets Russes an eben jener Aufführung zu arbeiten, seine Aufmerksamkeit lieber einer anderen Vorstellung von Ida Rubinsteins Truppe schenkte. Dieser endgültige Streit war bitter, aber musste vermutlich so kommen. Strawinsky und Diaghilew schlugen verschiedene Wege ein, zumal sich Strawinsky auch 59 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst bewusst immer mehr von den Ballets Russes entfernte, um nicht zu sagen, befreite. Diaghilew interessierte zu jener Zeit und in jenem fortgeschrittenen Lebensalter mehr das Sammeln von seltenen Ausgaben russischer Bücher wie beispielsweise die Romane von Tolstoi. Er kümmerte sich weniger um die Zukunft der Ballets Russes, auch aus finanzieller Sicht. Strawinsky jedoch dachte sehr wohl an seine weitere, künstlerische Karriere. Er komponierte immer mehr eigenständige Werke und entwickelte sich zu einem selbstständigen Musiker. Deshalb fühlte er sich auch nicht mehr so zugehörig zur Truppe der Ballets Russes wie zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn. Diese Tatsache wirkte sich auch auf die Freundschaft zu Diaghilew aus. Dieser verfolgte nach wie vor den Modernismus, was angeblich nur mehr ein Ausdruck seiner Angst war, nicht mehr zu den Avantgardisten zu gehören.(vgl.: Strawinsky, 1983, S. 154 f.) Seine ständigen Versuche, Sensationen nachzulaufen und mehr oder weniger auch zu produzieren, so wie seine gleichzeitige Unsicherheit darüber, trugen zu einer spannungsgeladenen Atmosphäre bei oder begünstigten immer wieder einen Streit. Es geschah zudem öfter, dass Strawinsky seinem Freund Diaghilew nicht mehr in dessen Einstellung zustimmen konnte, da sie sich einfach in zwei verschiedene Richtungen entwickelt hatten. Die beiden Männer sahen einander zum letzten Mal flüchtig am Gare du Nord in Paris. Sechs Wochen später erreichte Strawinsky die Nachricht vom Tod Diaghilews in Venedig am 19. August 1929.(vgl.: White, o.D. S. 164) Allerdings trübte dieser finale Streit in keiner Hinsicht die Bedeutung der Freundschaft, die beinahe zwanzig Jahre andauerte. Strawinsky schrieb dazu folgende Zeilen in seinen Erinnerungen: „Das Jahr 1929 [. . . ] ist durch ein großes und schmerzliches Ereignis gekennzeichnet – durch den Tod von Diaghilew. [. . . ] dieser Verlust war so schmerzlich für mich, dass er noch heute die Erinnerung an alle anderen Ereignisse dieses Jahres überschattet. [. . . ] Er war der erste, der zu mir kam, er ermutigte mich bei meinen Anfängen und unterstützte mich in seiner wirksamen, fördernden Weise. Er liebte meine Musik, er hatte Vertrauen in meine Entwicklung, und darüber hinaus wandte er all seine Energie daran, meine Gaben der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. [. . . ] es machte ihm wirklich Freude, meine Werke herauszubringen, und er setzte sie auch gegen die Aufsässigen unter den Zuhörern durch, wie die Aufführung von Sacre du Printemps zeigte.“(Strawinsky, 1983, S. 153 f.) 60 4 Diaghilews Ballets Russes und der Export von russischer Kunst Strawinsky drückte mit diesen Worten seine Dankbarkeit gegenüber seinem verstorbenen Freund aus und betonte auch die große Lücke, welche dessen Ableben in der Kunstszene hinterließ. Nach Diaghilews Tod 1929 schien es für die Truppe der Ballets Russes wichtig zu sein, dass dieses Tanzunternehmen im Sinne des verstorbenen Leiters weitergeführt wurde. Da eine große Gruppe der Tanzmitglieder nach der Revolution in Russland nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren konnten, gab es einige Versuche, die Ballets Russes in ihrer ursprünglichen Form am Leben zu erhalten. Obwohl die Truppe über ein breites Repertoire an Balletten und dazu entworfener Bühnenbilder und Kostüme verfügte, kam es zu keiner erfolgreichen Wideraufnahme.(vgl.: Bremser, 1993, S. 93) Erst im April 1932 gelang im Théâtre de Monte Carlo ein erster Erfolg und es wurden die Ballets Russes de Monte Carlo unter der Leitung von Colonel Wassiliy de Basil gegründet. 61 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Mit dem Ballett Le Sacre du Printemps von Strawinsky veränderte sich die Auffassung von Tanz und Musik auf der Bühne. Dieses Werk stellte eine noch nie zuvor gesehene Ausnahme bei den Ballets Russes dar, wobei die tatsächliche Bedeutung von Strawinskys Komposition erst Jahre nach der skandallösen Uraufführung näher untersucht wurde. In diesem Kapitel werden die Entstehung und die Hintergründe näher behandelt, um den Stellenwert dieses Stückes im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Balletts besser zu verstehen. 5.1 Die Entstehung des so genannten Skandalballetts Die Idee zu Le Sacre du Printemps kam Strawinsky schon während seiner letzten Arbeiten zu Der Feuervogel. Dieser plötzliche Einfall beschäftigte ihn so sehr, dass er ihn folgendermaßen in seinen Erinnerungen beschrieb: „[. . . ] überkam mich eines Tages – völlig unerwartet, denn ich war mit ganz anderen Dingen beschäftigt – die Vision einer großen heidnischen Feier: alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen.“(Strawinsky, 1958, S. 29) Somit war das Thema von Le Sacre du Printemps festgelegt, denn Strawinsky setzte sich sofort mit Nikolai Roerich in Verbindung, um von seinem Einfall zu erzählen. Bereits im Mai oder Juni 1910 schmiedeten Roerich, Strawinsky und damals noch Fokin als Choreograph Pläne für ein Projekt mit dem ursprünglichen Namen „Das große Opfer“.(Flamm, 2013, S. 131) Die Verbindung des Inhalts mit dem Frühling bestand im Grunde nur, weil dem Komponisten die Idee dazu angeblich im Frühling kam. Die Arbeiten daran wurden jedoch zugunsten der Aufführung von Petruschka vorerst abgebrochen. Außerdem zeigte sich Diaghilew etwas entrüstet über diese Pläne, die quasi hinter seinem Rücken entstanden. Außerdem ereignete sich ein Streit zwischen ihm und Fokin, so dass letzterer als Choreograph ohnehin nicht mehr in Frage kam. 62 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Um 1910 stellte die Vorstellung eines Balletts, welches in der heidnischen Vorgeschichte spielte und schamanische Rituale darstellte, nichts allzu Außergewöhnliches dar, denn seit den Opern Snegurotschka und Die Nacht vor Weihnachten von Rimsky-Korsakow interessierte man sich für das vorchristliche Russland und die damaligen heidnischen Götter und Mythen. Strawinsky selbst wurde besonders durch den Gedichtband Jar von Sergej Gorodetzky zur musikalischen Darstellung eines Menschenopfers angeregt, mit dem er sich im Jahr 1907 beschäftigte. Der Titel dieses Werkes stammte aus dem Slawischen und war abgeleitet von einem Begriff, der mit Feuer assoziiert wurde und in etwa die Fruchtbarkeit des Bodens meinte. Dieser Begriff stellte allerdings einen deutlichen Verweis auf den heidnischen Sonnengott Jarilo dar, der auch für die Fruchtbarkeit stand und in eben jenem Gedichtband mehrmals erwähnt wurde.(vgl.: Flamm, 2013, S. 127 ff.) Strawinsky vertonte noch im selben Jahr zwei Gedichte aus diesem Sammelband. Gorodetzky erwies sich mit seiner Poesie als sehr nützlich für das Vorhaben der Ballets Russes, eine neue russische Kunst zu verbreiten. Jener Autor studierte bereits 1904 die ländlichen Sitten Russlands und wirkte so der verbreiteten symbolistischen Ästhetik mit einer reinen und ungekünstelten Poesie entgegen, die zugleich volkstümliche Strenge charakterisierte. Insofern könnte besonders das 1905 entstandene Jarilo-Gedicht eine Inspiration für Le Sacre du Printemps gewesen sein, denn es handelte von einer rituellen Versammlung auf einer Wiese, bei der das Auftreten eines alten Zauberers den Höhepunkt darstellte. Zusätzlich könnte sich Strawinsky wohl auch an der Oper Rogneda von Alexander Serow orientiert haben. Die Handlung spielte im Reich von Kiew des 10. Jahrhunderts. Im ersten Akt wurde einem heidnischen Gott ein Menschenopfer dargebracht, was dem Inhalt von Le Sacre du Printemps stark ähnelte. Auch Nikolai Roerich, der für das Bühnenbild und die Kostüme zuständig war, leistete einiges an Vorarbeit zu Le Sacre du Printemps. Von einem ihm bekannten Philosophen namens Wladimir Solowjow waren ihm Gedanken über einen spirituellen Raum um Kleinasien herum bekannt. Deshalb verfolgte er auch Studien zur sibirischen Kultur und Geographie. Roerich interessierte sich also in wissenschaftlicher Hinsicht für vorchristliche Kulturen und bewunderte deren Mystik. Dies bekräftigte seine Vorstellung von einer Ur-Steinzeitkultur, welche sich über den ganzen Globus erstrecken sollte und alle Menschen harmonisch mit deren natürlicher Umgebung verband. Diese Vision einer idyllischen Steinzeit schrieb er schon 1909 in einem Aufsatz nieder. Darin fanden sich bereits Anhaltspunkte für das spätere Le Sacre du Printemps. Roerich lag aber bei der Umsetzung seiner Ideen für die Bühnengestaltung vor allem die Authentizität und zugleich die Liebe zum Detail am Herzen. Deshalb hielt er sich bei der Konzeption der Kostüme an sein 63 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Wissen, das er sich anhand der Studien zu traditioneller Kleidung in Russland und Sibirien angeeignet hatte. Auch die nachempfundenen Riten eines Russlands im 10. Jahrhundert, noch vor der Christianisierung, entnahm er den noch bis ins 19. Jahrhundert erhaltenen jahreszeitlichen Bräuchen aus entlegenen Regionen des Landes. Diese ursprünglich heidnischen Bräuche wurden später in das Kirchenjahr integriert und umgedeutet. Man legte zum Beispiel die Sonnwendfeier mit dem Fest von Johannes dem Täufer zusammen. Die dabei gesungenen Lieder nannte man danach Iwanowskaja. Diese Bezeichnung war an Iwan, die slawische Variante des Namens Johannes, angelehnt. Schon in Petruschka basierte die Danse russe auf der Melodie solcher Gesänge. Angeblich hätte eben jener Tanz ursprünglich seinen Platz in Le Sacre du Printemps gehabt, da als weitere melodische Vorlage ein Chorowod diente, ein Reigentanz von Jugendlichen in Kreis- oder Kettenform. Zusätzliche Vorlagen und Anschauungsmaterial lieferte die Darstellung von Ritualtänzen in Die poetischen Anschauungen der Slawen zur Natur von Alexander Afanassjew. Auch die Nestorchronik dürfte für Roerich oder Strawinsky eine Inspiration gewesen sein, da sie als älteste ostslawische Chronik neben der Christianisierung von Kiew auch heidnische Bräuche schilderte. Allerdings fanden sich in all diesen Schriften keine expliziten Aufzeichnungen von einem Menschenopfer, was wohl bewies, dass es sich bei der in Le Sacre du Printemps dargestellten Opferhandlung um eine eigene Idee der Mitarbeiter handelte. Sämtliche Elemente dieses Ballettes schienen also wohl bedacht eingefügt worden zu sein, wobei die Bemühung um eine authentische Wiedergabe der Rituale oder volkstümlichen Aspekte stets an erster Stelle stand. Strawinsky konzentrierte sich bezüglich der Musik ebenfalls auf eine adäquate Lösung, da es ja keine Aufzeichnungen zum Gesang dieser Rituale aus vergangener Zeit gab. Er löste diese Anforderung mit viel Fantasie und versuchte einen prähistorischen Stil in seiner Ballettmusik zu vermitteln Er versuchte dabei gleichzeitig die eigenen ästhetischen Ideale von den Jahren 1911 bis 1913 einzubauen. Auf die Musik von Le Sacre du Printemps wird später in diesem Kapitel näher eingegangen. Für die Festlegung der Form von Le Sacre du Printemps besuchte Strawinsky Roerich, der sich zu jener Zeit in Talaschkino aufhielt, dem Landsitz von Prinzessin Tenischew, die in früheren Jahren schon Diaghilews Zeitschrift Mir Iskustwa unterstützte. Dort einigten sie sich auf folgenden Ablauf, den Roerich in einem Schreiben an Diaghilew festhielt: 64 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik „Die erste Szene sollte uns an den Fuß eines heiligen Hügels versetzen, in einer üppigen Ebene, wo slawische Stämme versammelt sind, um die Frühlingsfeierlichkeiten zu begehen. In dieser Szene erscheint eine alte Hexe, die die Zukunft voraussagt; hier gibt es Entführung und Hochzeit; Reigentänze. Dann folgt der feierlichste Augenblick. Der weise Alte wird aus dem Dorf gebracht, um seinen heiligen Kuss der neublühenden Erde aufzudrücken; und während dieser feierlichen Handlung wird die Menge von einem mystischen Schauer ergriffen. Nach diesem Aufrauschen irdischer Freude führt uns die zweite Szene in ein himmlisches Mysterium. Jungfrauen tanzen im Kreise auf dem Hügel zwischen bezauberten Felsen, ehe sie das Opfer wählen, das sie darzubringen gedenken, und das sogleich seinen letzten Tanz vor den uralten, in Bärenfell gekleideten Männern tanzen wird. Dann weihen die Graubärte das Opfer dem Gott Yarilo.“(White, o.D. S. 45) Obwohl sich Roerich und Strawinsky teilweise uneinig waren, wer von ihnen denn als erstes die Idee zu einem derartigen Ballett hatte, verlief die Zusammenarbeit ausgezeichnet. Laut dem Komponisten sei ihm die Idee zum Sacre bereits während der Arbeit am Feuervogel in den Sinn gekommen, wobei er angeblich von einem heidnischen Ritual träumte, bei dem sich ein zum Opfer bestimmtes Mädchen zu Tode tanzte.(vgl.: Flamm, 2013, S. 130 f.) Erst bei einem Interview im Jahr 1920 meinte er, es handelte sich eher um keinen szenischen Einfall, sondern um eine Art musikalisches Thema, welches in ihm eine Assoziierung zum prähistorischen Russland auslöste. Strawinsky schätzte trotzdem die Zusammenarbeit mit Roerich und dessen Fähigkeiten in Bezug auf das Bühnenbild als auch seine Kenntnisse der Frühgeschichte Russlands. So arbeiteten die beiden Männer das Libretto innerhalb von wenigen Tagen aus. Der veröffentlichten Partitur wurde allerdings keine Inhaltsangabe hinzugefügt, sondern lediglich Titel über die einzelnen Sätze geschrieben, wie zum Beispiel Frühlingstänze oder Prozession des weisen Alten. Der Choreograph, in diesem Fall Nijinsky, musste demnach anhand dieser Angaben die Dramaturgie zur Musik festlegen. Später erfolgte jedoch eine Zweiteilung des Werkes, im Einverständnis aller Mitarbeiter. Dieses Ballett war allgemein auch als Bilder des heidnischen Russland bekannt. Es bestand aus Teil 1, Die Anbetung der Erde, die dem Tag entsprach und dem Teil 2, Das Opfer, was die Nacht symbolisierte.(vgl.: White, o.D. S. 46) Jedem dieser zwei Teile stellte der Komponist ein Orchestervorspiel voran. Der Titel Le Sacre du Printemps wurde überhaupt erst kurz vor der Vollendung 65 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik der gesamten Komposition festgelegt. Die Entstehung dieses Balletts zog sich über einen großen Zeitraum hinweg, denn Entwürfe zum ersten Satz von Teil 1, die Wahrsagungen des Frühlings, lagen schon 1910 vor. Die beiden nächsten Sätze vollendete Strawinsky im Herbst desselben Jahres in Clarens in der Schweiz, wo sich sein neuer Wohnsitz, zusammen mit seiner Familie, befand. Im Frühjahr 1911 hatte er bereits den ersten Teil fertig und die Arbeit am Teil 2 ging ebenfalls zügig voran. Diaghilew beschloss trotzdem, die Erstaufführung auf die Pariser Saison von 1913 zu verschieben. Grund dafür war unter anderem die Wahl des Choreographen Nijinsky, was zu diversen Komplikationen beim Fortschritt der Planung des Balletts führte. Strawinsky verlangsamte demnach sein Arbeitstempo, mitunter auch aus Enttäuschung über den späten Uraufführungstermin.(vgl.: Flamm, 2013, S. 135) Die Orchestrierung wurde also erst am 8. März 1913 fertiggestellt und am 29. März wurden sogar noch elf Takte der Introduktion zu Teil 2 hinzugefügt. Die Partitur war dem Mitarbeiter Roerich gewidmet. Somit beendete Strawinsky die Arbeiten viel früher als bei den zwei vorigen Balletten und in genug zeitlichem Abstand zur Uraufführung, denn die Proben begannen erst am 18. Mai. In seinem Werk Le Sacre du Printemps beabsichtigte Strawinsky die Wiedergeburt der Natur nach der Winterpause darzustellen, also sozusagen den Sieg der Sonne mit ihrer Erneuerung von Licht und Wärme.(vgl.: White, o.D. S. 46 f.) Zusätzlich wurde, vor allem in Teil 2, die Wiedergeburt des menschlichen Lebens durch das Opfer des Einzelwesens ausgedrückt. Es wurde dadurch eine heilige Achtung vor den Naturgewalten der Schöpfung deutlich. Diese heidnische Darstellung des Geschehens hatte allerdings lediglich symbolische Gründe. Da die Handlung in das heidnische Russland versetzt wurde, machte dies eine derartige, wenn auch vielleicht grausame, Inszenierung notwendig. Der Handlungsstoff für dieses Ballett erschien ohnedies als etwas zu abstrakt, so dass nicht der Eindruck einer richtigen Handlung entstand, sondern es vielmehr der Abfolge von Stationen entsprach. Deswegen lautete der Untertitel auch Bilder aus dem heidnischen Russland. Es war auch außergewöhnlich, dass es außer der auserwählten Opferjungfrau und dem alten Weisen keine Einzeldarsteller gab. Es traten ansonsten nur Massen und Gruppen von Tänzerinnen und Tänzern auf.(vgl.: Scherliess, 1983, S. 65 f.) Le Sacre du Printemps unterschied sich zudem deutlich von den zwei vorhergehenden Balletten, da es weder eine Erzählung eines Märchenstoffes mit bestimmten Personen wie in Der Feuervogel war, noch 66 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik eine Szenenabfolge mit Figuren vorwies, wie in Petruschka. In diesem Skandalballett ging es dem Komponisten nur um die Darstellung eines Erlebens der Natur durch den Menschen. Strawinsky äußerte sich folgendermaßen dazu: „Ich möchte der ganzen Komposition das Gefühl der Verbundenheit des Menschen mit der Erde geben, und das versuche ich in lapidaren Rhythmen auszudrücken. Die ganze Sache muss von Anfang bis Ende im Tanz ausgedrückt werden; kein Takt pantomimische Darstellung.“(Scherliess, 1983, S. 66) Das Ballett Le Sacre du Printemps besaß in vielerlei Hinsicht eine außerordentliche Anziehungskraft, die bei vielen Zuhörern selbst nach mehrmaligem Hören bestehen blieb. Es gab zahlreiche Gründe für diese fesselnde Wirkung, welche dieses Werk aufwies. Ein wichtiges Element war jedoch die Feinheit und Raffiniertheit von Strawinsky, mit der er entscheidende Momente und Effekte in der Musik einbaute. So konnte man dieses Ballett als eine Abfolge von Aktion und Reaktion auffassen oder aber auch als einen sich kontinuierlich weiter entwickelnden Prozess. Auf den ersten Blick wirkte Le Sacre du Printemps wohl für viele Kritiker wie eine Kollage an spektakulären Ereignissen auf der Bühne, aber wie jede Musik reflektierte auch dieses Werk die Zeit oder die Epoche des Künstlers.(vgl.: Hill, 2000, S. 140) Strawinsky komponierte dieses Ballett allerdings nicht mit der Intention, einen revolutionären Meilenstein der Musik des 20. Jahrhunderts zu erschaffen. Für ihn war dieses Werk angeblich vorerst nur ein weiterer Auftrag für die Ballets Russes. Das Bühnenbild für Le Sacre du Printemps gestaltete Nikolai Roerich, der sich schon viele Jahre vor dieser Produktion für Malereien aus der Zeit vor Zar Peter dem Großen und seiner Einführung der westlichen Sitten in Russland interessierte. Derartige Kunstwerke, von einer noch nicht vom Westen beeinflussten slawischen Kultur, fand er in noch mittelalterlich erhaltenen Städten von Russland, wo in alten Türmen, Wehranlagen oder Kirchen die Spuren der vergangenen Zeit noch teilweise bestehen blieben. Diese Eindrücke verarbeitete er in seinen Bildern, die schon Jahre vor dem besagten Skandalballett die dafür typischen Elemente enthielten: unberührte Hügellandschaften, Hirten mit ihren Schalmeien, im Reigen tanzende Mädchen oder alte Männer, die sich versammelten.(vgl.: Flamm, 2013, S. 135 ff.) Gemälde wie Auf dem Grabhügel oder Die Ältesten versammeln sich, beide schon um 1898 entstanden, stellten im Grunde schon spätere Szenen von Le Sacre du Printemps dar. Besonders der charakteristische Hügel in 67 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik der Mitte des Bühnenbildes deutete auf skythische Hügelgräber hin. Abbildung 5.1: Bühnenbild von Roerich für Teil 1 von Le Sacre du Printemps1 Für den ersten Teil von Le Sacre du Printemps, den so genannten Kuss der Erde, entschied sich Roerich für eine Wiese, schwach besiedelt mit kleinen Bäumen und wo sich hinter einem See ein großer Hügel erhob. Für den zweiten Teil mit dem Beinamen Das große Opfer war eine flache Hügelkuppe als Ort des Geschehens vorgesehen. Letztendlich wurde daraus nur ein Zwischenvorhang: eine Hügelkuppe, die drei Männer in Elchfellen bestiegen, wobei der Himmel charakteristisch mit Wolkenbildern dargestellt wurde, die von ihrer Form her Tieren ähnelten. Die tatsächliche Opferhandlung fand dann nach Mitternacht statt, wobei zuerst Mädchen ein mystisches Spiel vollzogen und zwischen Steinblöcken umher liefen, die in einer Art Labyrinth aufgestellt waren. Eines der Mädchen landete zweimal in einer Sackgasse und war somit das auserwählte Opfer. Abbildung 5.2: Bühnenbild von Roerich für Teil 2 von Le Sacre du Printemps2 1 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Le_Sacre_du_printemps_by_Roerich_03. jpg (31.05.2016) 2 Nicholas Roerich (1910). The Great Sacrifice. Setting for I.F.Stravinsky’s Ballet „Sacred Spring“. Gemälde. International Centre of the Roerichs 68 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Für die Kostümentwürfe erhielt Roerich schon Anregungen von der Sammlung der Prinzessin Tenischew in Talaschkino, als Strawinsky und er sich dort trafen, um das Libretto auszuarbeiten. Die Kostüme glichen, wie schon jene der Aufführung der Polowetzer Tänze in der Saison 1909, den Figuren auf Roerichs Gemälden.(vgl.: Flamm, 2013, S. 140 f.) Oft handelte es sich um weit geschnittene Tuniken in Weiß, auf denen ein paar Elemente und Verzierungen von folkloristischen Motiven an den Säumen, am Halsausschnitt oder an den Schultern aufgedruckt waren. Dazu kombinierte er Strümpfe mit Lederschuhen, die an den Unterschenkeln mit Riemen festgehalten wurden, die gitterförmig angeordnet waren. Die Mädchen, welche den rituellen Tanz beziehungsweise das Spiel durchführten, stachen mit starken Rottönen und Haarschmuck hervor. Die Männer trugen hingegen kegelförmige Hüte und die Alten natürlich lange Bärte. Lediglich ein Horn-Spieler, die Auserwählte und der Weise trugen extra entworfene Kostüme. Abbildung 5.3: Die Kostüme der Mädchen beim rituellen Tanz in Teil 13 Alle Kostüme entsprachen dennoch einem einzigen Schema. Das Grundmuster einer T-Form wurde mit vielen Mustern wie Kreisen, Kurven oder Quadraten verziert. Dabei waren diese stets formal und wurden symmetrisch wiederholt. Dies ergab optisch zwar ein komplexes Gesamtbild, doch es entsprach dem primitiven, unordentlichen Charakter des Balletts. Zusätzlich boten die formalen Muster eine Art Ankerpunkt im Gegensatz zur sehr asymmetrischen Choreographie. Die geometrischen Muster hatten zudem eine symbolische Bedeutung, denn Feuerräder standen zum Beispiel für den Sonnengott Jarilo. Strawinsky zeigte sich erfreut über die Entwürfe von Roerich, welche er Anfang Dezember erhielt und sah darin auch eine wichtige Inspiration für den Tanz. Nijinsky begann mit der Erarbeitung der Choreographie Ende Dezember und empfand die Wirkung 3 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:RiteofSpringDancers.jpg 69 (31.05.2016) 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik von Roerichs Bildern und Entwürfen ebenfalls als beeindruckend. Zusammen mit der wirkungsvollen Musik von Strawinsky erhielt er ausreichend künstlerische Anregungen für seine Choreographie. Diaghilew beauftragte Nijinsky für die Saison 1913 mit der Choreographie von zwei Werken gleichzeitig, nämlich dem Jeux von Debussy und eben mit Le Sacre du Printemps. Nach seiner ersten Choreographie für L’Après-Midi d’un Faune konnte er diese Aufgaben noch nicht ganz alleine bewerkstelligen. Diaghilew vertraute trotzdem auf dessen Fähigkeiten, zumal es wenig Alternativen gab. Fokin zog sich bereits nach L’Après-Midi d’un Faune zurück, was ja quasi hinter seinem Rücken entstand. Strawinsky trauerte Fokin zwar nicht mehr allzu sehr nach, da er dessen künstlerisches Schaffen schon als verbraucht ansah, doch über Nijinskys Leistung zeigte er sich ebenfalls enttäuscht. Strawinsky bezeichnete Nijinsky als musikalischen Analphabet, der keine Kenntnisse über Metren oder ein Gespür für das Tempo hätte. Demnach ergab sich ein rhythmisches Chaos, besonders beim letzten Tanz der Opferjungfrau, der viele Taktwechsel enthielt. Besonders scharf kritisierte er die Annahme von Nijinsky, dass der Tanz dem Takt und dem Verlauf der Musik zugeordnet sein sollte, um diese hervorzuheben. Strawinsky tat dies aber als eine bloße rhythmische Verdoppelung der Musik ab, weshalb der Tanz dann nur eine Imitation der Musik sei. Allerdings musste bedacht werden, dass es der Choreograph bei Le Sacre du Printemps mit einer durchaus ungewöhnlichen Partitur zu tun hatte, denn zu solch einer Musik wurde bisher noch nie gearbeitet. Es war 1912, als Nijinsky erstmals mit choreographischen Leistungen auffiel. Seine zweidimensionale Darstellung von Debussys L’Après-Midi d’un Faune sorgte für eine Sensation und einen Skandal zugleich bei der damaligen Saison der Ballets Russes in Paris. Auslöser war eine Geschmacklosigkeit. Nijinsky erlaubte sich in der Rolle des Fauns eine zu unverhüllte und erotische Bewegung am Schluss des Balletts. Deshalb überkam Strawinsky keine große Freude, als er von der bevorstehenden Zusammenarbeit mit Nijinsky bei Le Sacre du Printemps erfuhr.(vgl.: White, o.D. S. 49 f.) Dieser schien zudem keine Kenntnis über Noten oder dergleichen zu haben. Strawinsky beschrieb ihn folgendermaßen: „Er konnte weder Noten lesen, noch irgendein Instrument spielen; seine Beziehung zur Musik fand ihren Ausdruck in banalen Phrasen oder in der Wiederholung dessen, was er von Freunden in seiner Umgebung aufgeschnappt hatte. Da man von ihm niemals ein per- 70 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik sönliches Urteil hörte, musste man daran zweifeln, ob er überhaupt eines hatte. Diese Verständnislücken waren so verhängnisvoll, dass seine visuellen Vorstellungen, obschon oft von großer Schönheit, nicht dafür entschädigen konnten.“(White, o.D. S. 50) Für ein derart neuartiges Werk kam für die Choreographie trotzdem nur Nijinsky in Frage, da er schon bei L’Après-Midi d’un Faune genug Mut zum Experimentieren bewies. Er arbeitete mit Strawinsky und Roerich gemeinsam an der Choreographie. Der Komponist nahm selbst nach Fertigstellung der Partitur noch metrische Korrekturen vor, aus Rücksicht auf die Tanzbewegungen. Er besprach dabei mit Nijinsky im Detail die Möglichkeiten der Umsetzung von seiner Musik im Tanz. Nijinsky erklärte dabei seine Arbeitsmethode folgendermaßen: „Im allgemeinen ist es die Musik, die mir den Tanz suggeriert, und dann lege ich meine ganze Energie darein, den Tanz in Übereinstimmung mit der Idee und dem Geist der Musik zu choreographieren, und zwar so, dass das Ballett nicht auf die Musik aufgesetzt scheint, sondern von ihr bewirkt.“(Scherliess, 1983, S. 66) Damit zeigte sich Nijinskys revolutionäres Denken hinsichtlich des Tanzes, da er nicht wie gewöhnliche Choreographen die traditionellen Bewegungen des Balletts anstrebte, sondern durchaus bemüht war, einer neuen Musik eine passende und dementsprechende Bewegung hinzuzufügen. Diese neuen Tanzformen unterschieden sich allerdings komplett vom gewohnten Wechsel der Solopartien mit den Gruppentänzen, was auch von der gesamten Tanztruppe ein radikales Umdenken bei der Erarbeitung der Choreographie verlangte.(vgl.: Scherliess, 1983, S. 66) Zudem hatten die Mitglieder der Ballets russes die besten Ballettschulen besucht und waren am Kaiserlichen Marinsky Theater angestellt gewesen. Es ist verständlich, dass sie sich schwer taten mit diesen neuen Tanzformen. Schon Serge Lifar, ein Tänzer und Choreograph bei den Ballets Russes und Vertreter des klassischen Balletts, meinte, Strawinsky habe nicht für sondern eigentlich gegen die Tänzer komponiert. Strawinsky begriff schnell die Notwendigkeit, Nijinsky zuerst die grundlegenden Elemente der Musik zu erklären, wie Notenwerte, Tempo und Rhythmus. Erst dann konnte an der Choreographie weiter gearbeitet werden. Strawinsky nervte Nijinskys Hang zu überflüssigen Einzelheiten bei den Tanzschritten. Diese waren eindeutig zu kompliziert und verlangsamten das Tempo der Musik, was 71 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Nijinsky natürlich nicht auffiel. Eine derartige choreographische Methode musste ja regelrecht im Chaos enden, wenn bei der Aufführung dann im richtigen und schnelleren Zeitmaß gespielt wurde.(vgl.: White, o.D. S. 50) Es lag ohnedies die Vermutung nahe, dass Nijinsky bei diesem Werk mehr auf das Experimentieren mit neuen Ballett-Techniken fokussierte. Er konzentrierte sich also weniger darauf, die passenden Bewegungen zur Musik zu finden. Deshalb engagierte Strawinsky Marie Rambert, eine Expertin auf dem Gebiet der Eurythmie von der Dalcroze-Schule. Die Eurythmie von Dalcroze konnte in Bezug auf die Musik von Le Sacre du Printemps in der Tat eine Hilfestellung sein, denn sie konzentrierte sich auf die Verbindung zwischen Rhythmen in der Zeit und im Raum, also zwischen Tondauer und der Geste. Dadurch ergab sich eine stärkere Interaktion mit der Ballettmusik. Doch bei Le Sacre du Printemps stellte der Rhythmus die einzige Gemeinsamkeit zwischen Musik und Tanz dar. Eigentlich dachte man, wenn Marie allen Mitwirkenden die Eurythmie nach Dalcroze beibringen würde, ließe sich Strawinskys Musik leichter interpretieren.(vgl.: Flamm, 2013, S. 142) Allerdings half auch das nichts, denn die häufigen Taktwechsel von Strawinskys Werk erschwerten die Arbeit. Deshalb konnte, auch laut Marie Rambert, durch diese Eurythmie nichts vereinfacht werden und es blieb den Tänzerinnen und Tänzern nichts übrig, als alles auswendig zu lernen. Nijinsky sah sich durch die neue Musik bestätigt, die klassischen Ballettpositionen umzukehren. So wurden die Tanzbewegungen nach innen, also en dedans, geführt und nicht wie üblich nach außen, eben en dehors.(vgl.: White, o.D. S. 50 f.) Dieser Traditionsbruch stieß auf Widerstand bei der Tanzgruppe und führte demnach zu einer angespannten Atmosphäre bei den Proben. Offensichtlich wurde Nijinsky eine Aufgabe zugeteilt, die ihn noch überforderte. Strawinsky beschrieb die Situation folgendermaßen: „Da er offensichtlich bei der Tanzgruppe an Prestige verlor, Diaghilew ihn aber kräftig stützte, wurde er anmaßend, launenhaft und schwierig. Natürlich führte dies zu einer Reihe von peinlichen Szenen, welche die Probenarbeit nicht gerade erleichterten.“(White, o.D. S. 51) Insgesamt brauchte Nijinsky drei Monate und 120 Proben für die Entwicklung seiner Choreographie, die mit 67 Rollen bei der Uraufführung in Paris präsentiert wurde. Nijinskys Grundidee basierte auf Haltungen und Gesten, die nach innen gedreht waren. Dies zeigte sich auch schon bei Petruschka erfolgreich. 72 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Seine Arbeitsmethode unterschied sich jedoch von der Vorgehensweise anderer Choreographen, da er nur von seinen eigenen Bewegungen und Fähigkeiten ausging.(vgl.: Flamm, 2013, S. 142 ff.) Er duldete keine Improvisation in der Gruppe oder ein Zusammenarbeiten und Entwickeln der Rolle noch während der Probenarbeiten, denn Nijinsky wusste genau, was er für Bewegungen haben wollte und legte deshalb jede Geste genau fest. Dadurch lässt sich die lange Zeitspanne zum Erstellen der Choreographie erklären. Zusätzlich mussten die Tänzer ihre Begabung und ihr Temperament völlig der Fantasie und den Vorstellungen von Nijinsky unterwerfen. Obwohl die Choreographie von Nijinsky vom gewohnten, akademischen Stil komplett abwich, war sie trotzdem so anspruchsvoll und kompliziert, dass sie nur von Tänzerinnen und Tänzern mit akademischer Ausbildung aufgeführt werden konnte. Allerdings führte das zu vielen Problemen bei den Proben, da Nijinsky zudem Schwierigkeiten hatte, sich klar auszudrücken, was seine Vorstellungen bei den Bewegungen betraf. Die Tänzerin Tamara Karsawina erinnerte sich folgendermaßen an die anstrengende Einstudierung des Balletts: „Nijinsky had no gift of precise thouht, still less of expressing his ideas in adequate words [. . . ] he was at a loss to explain what he wanted from me. And it was far from easy to learn the part by a mechanical process of imitating the postures as demonstrated by him.“(Dahms und Woitas, 1994, S. 54) Derartige Komplikationen, welche schon bei der Erarbeitung von Le Sacre du Printemps auftraten, ließen auf keinen großen Erfolg des Ballettes vermuten. 5.2 Die stillen Mitwirkenden oder Die weiblichen Gönnerinnen Die vielen Aufführungen und teilweise kostspieligen Inszenierungen der Ballets Russes waren oft nur dank der finanziellen Unterstützung von Kunstliebhabern möglich. Besonders drei bestimmte wohlhabende Damen, welche in diesem Unterkapitel näher beschrieben werden, trugen das eine oder andere Mal zur Entstehung eines Kunstprojektes von Diaghilew bei. Zu Beginn war die Gruppe der Ballets Russes noch abhängig von kaiserlichen 73 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Theatern in Russland. Doch Diaghilew löste seine Gruppe 1911 von dem damit verbundenen künstlerischen Zwang, auch gegenüber der Regierung. Da die Ballets Russes folglich ein privates Unternehmen darstellten, befand sich Diaghilew oft unter Druck, genügend Sponsoren zu finden, damit eine Produktion überhaupt stattfinden konnte. Die Geldgeber nutzten dabei meistens ihre gesellschaftlichen Verbindungen für weltweite Promotion aus und dienten nicht als edle Spender. Die Kunst erhielt in Frankreich als auch in Russland zwar staatliche Unterstützung, doch die Ballets Russes waren ein Tourneetheater ohne festen Sitz in einem Land. Insofern galt es für manche Tänzerinnen oder Tänzer als Risiko, sich bei dieser Truppe zu beteiligen, da sie früher oder später ihre Verträge am Marinsky-Theater in St. Petersburg lösen mussten. Diaghilew sorgte jedoch stets für eine bestmögliche Bezahlung seiner Mitarbeiter.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 35) Immerhin warb er sie von den kaiserlichen Theatern ab und versuchte mit einer verlockenden Gage den unsicheren Arbeitsplatz bei einem Tourneetheater zu kompensieren. Wegen des steigenden Erfolgs der Produktionen von Diaghilew waren russische Tänzerinnen und Tänzer sehr gefragt. Vor allem amerikanische Manager warben sie mit sehr hohen Gagen von den kaiserlichen Theatern ab. Damit ergaben sich auch für Dighailew neue Probleme: Da auch er zur westlichen Kultur übergelaufen war, wollte Russland keineswegs alle seiner Stars an Europa oder andere Länder verlieren. Für Diaghilew war es demnach eine notwendige Pflicht, permanent Kontakte zu reichen Personen zu knüpfen, um diese möglicherweise als Mäzene für seine Kulturprojekte zu gewinnen. In Paris ergaben sich dafür günstige Gelegenheiten bei den zahlreichen musikalischen Salons, welche zu den wichtigsten gesellschaftlichen Ereignissen zählten und das kulturelle und musikalische Leben beeinflussten. Diese Zusammenkünfte von Aristokraten und Künstlern wurden vorwiegend von Damen organisiert und es nahmen sowohl Blutsadelige als auch so genannte Geistesadelige teil. Gerade diese Voraussetzung ermöglichte ein fruchtbares Zusammenwirken von Aristokraten und Künstlern.(vgl.: Hirsbrunner, 1982, S. 55 f.) Bei derartigen Veranstaltungen entstanden immer wieder bahnbrechende Ideen oder Projekte und es wurden auch allerhand wichtige Kontakte geknüpft. Nicht nur Diaghilew besuchte regelmäßig solche Salons, auch Strawinsky begab sich zu diesen gesellschaftlichen Versammlungen und zählte zum Beispiel zum Bekanntenkreis der Herzogin von Rohan und der Gräfin de Noailles. Diaghilew pflegte besonders zu Misia Sert einen sehr engen Kontakt. Ursprüng- 74 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik lich hieß sie Misia Godebska und stammte aus Polen. Sie war eine musikalische und künstlerische Frau, die mit fünfzehn Jahren an Thadée Natanson verheiratet wurde. Er stand damals in der Position des Herausgebers vom Kunstmagazin La Revue blanche. Ihrem Ehemann hatte sie es zu verdanken, dass sie mit jungen Mitgliedern der Pariser Avantgarde in Kontakt kam. Darunter befanden sich zum Beispiel Debussy, Mallarmé und Valéry. Misia ließ sich jedoch scheiden, um den sehr vermögenden Alfred Edwards zu heiraten. Dieser besaß die Tageszeitung Le Matin. Als Misia dann Serge Diaghilew kennenlernte, war sie bereits zum zweiten Mal geschieden und lebte mit dem spanischen Maler José-Maria Sert zusammen. Dieser gebürtige Katalane stammte von einer wohlhabenden, aristokratischen Familie ab. Im Jahr 1899 übersiedelte er als Künstler nach Paris, wo er ein Studio im siebten Arrondissement aufbaute. Dort veranstaltete er berühmt-berüchtigte Feiern.(vgl.: Kahan, 2003, S. 167) 1908 gelang José-Maria der Durchbruch in der Pariser Kunstszene, da sein malerisches Werk endlich akzeptiert wurde. In der Zwischenzeit verschaffte sich Misia einen guten Ruf als Vermittlerin in der Kunstwelt, als die sie im Auftrag ihrer Freunde agierte. So wurde sie mit der Zeit auch Diaghilews engste Vertraute und unterstützte ihn auch immer wieder finanziell, oft auch in letzter Sekunde. Während vieler Saisonen der Ballets Russes war es Misia Sert zu verdanken, dass die eine oder andere Produktion überhaupt stattfinden konnte. Die großzügige Gönnerin brachte die gewaltigen Summen an Geld auf, welche der Chef der Balletttruppe seinen Kreditgebern schuldete. Einen besonderen Stellenwert unter den Damen, welche die Ballets Russes finanziell unterstützten, nahm Coco Chanel ein. Sie war sowohl mit Diaghilew als auch mit Strawinsky befreundet. Chanel kam schon bald in Kontakt mit russischen Landsleuten, da sie einige der Emigranten engagierte und ihnen Arbeitsplätze verschaffte. Nach den Erfolgen der Ballette von Diaghilew kamen immer mehr Russen nach Frankreich. Unter den Zuwanderern befanden sich nicht nur Tänzer und Primaballerina, sondern auch Aristokraten. Chanels Einstellung zu den Russen dürfte durchaus wohlwollend gewesen sein, denn laut ihren Worten faszinierten sie diese Männer. Mit Serge Diaghilew begann sie eine Freundschaft, die sich bis zu dessen Tode hielt. Sie lernte ihn im Jahr 1920 kennen, als sie das frisch vermählte Ehepaar José-Maria und Misia Sert auf eine Kreuzfahrt ins Mittelmeer begleitete. In Venedig stellte ihr Misia schließlich Diaghilew vor.(vgl.: Morand, 2009, S. 276) Im selben Jahr folgte eine weitere Bekanntschaft: „1920 lernte ich Strawinsky kennen. Er wohnte damals bei Pleyel, dem alten Pleyel (Klavierfabrikant), in der Rue Rochechouart. Damals 75 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik war er noch nicht der Kosmopolit, sondern in seiner ganzen Art sehr russisch, wie ein Beamter in einer Novelle von Tschechow. Ein kleiner Schnurrbart saß unter einer großen Nagetiernase. Er war jung und schüchtern. Ich gefiel ihm. Im Künstlermilieu galt eigentlich nur Picasso mein lebhaftes Interesse, aber der war nicht frei. Strawinsky machte mir den Hof.“(Morand, 2009, S. 168) Der junge Strawinsky machte auch kein Geheimnis daraus, dass er Chanel liebte. Diese für ihn so bedeutende Sache vertraute er sogar seiner Frau Katharina an. Im Herbst 1920 bot Chanel der Familie Strawinsky an, in ihrer Villa Bel Respiro in Garches bei Paris zu wohnen. Sie blieben etwa zwei Jahre. Nach einer kurzen Liaison mit Chanel begab sich Strawinsky 1921 allein, ohne seine Familie, nach Biarritz.(vgl.: Morand, 2009, S. 276) Eine Liaison zwischen Chanel und Strawinsky müsste noch im Jahr 1920 begonnen haben, wobei die tatsächliche Dauer nicht bekannt war. Das Verhältnis zwischen Chanel und Strawinsky lief Gefahr, sich zu einer ernsten Sache zu entwickeln. Misia befürchtete gar, Strawinsky könnte sich scheiden lassen, um Chanel zu heiraten. Dieser Verdacht bestätigte sich laut schriftlicher Erinnerungen, da der russische Komponist tatsächlich eines Tages wissen wollte, ob Coco Chanel ihn heiraten würde oder nicht.(vgl.: Morand, 2009, S. 169 ff.) Daraufhin wurde er vom Ehepaar Misia und José-Maria Sert von ihr ferngehalten. Chanel griff angeblich letzten Endes ein und beendete diese unangenehme Konstellation mit den Worten: „Das ist doch idiotisch, die Serts sind verrückt. Alle Welt spricht schon von dieser Geschichte. Picasso macht sich schon lustig. Igor soll wiederkommen, wir wollen doch Freunde bleiben.“(Morand, 2009, S. 170) Diese Freundschaft hielt nur noch eine gewisse Zeit, solange sich Strawinsky täglich zu Chanel begab, um ihr Musikunterricht zu geben. Als die Ballets Russes auf Tournee nach Spanien gingen und Strawinsky ihr anbot, mitzukommen, blieb Chanel jedoch in Paris unter dem Vorwand nachzukommen. Stattdessen traf sie sich mit dem Großfürst Dimitri Pawlowitsch, mit dem sie 1921 eine etwa einjährige Liebesbeziehung einging. Die Freundschaft mit Strawinsky zerbrach daraufhin. Die Freundschaft zwischen Diaghilew und Chanel hielt hingegen lange und er besuchte sie öfter nach einer Vorstellung seiner Ballette, um zu plaudern. Außerdem war er auf sie als Gönnerin angewiesen, wie zum Beispiel bei der Neuinszenierung von Le Sacre du Printemps mit der Choreographie von Léonide 76 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Massine. Diaghilew erzählte Misia von diesem Projekt bei deren Aufenthalt in Venedig im Jahr 1920. Chanel saß damals angeblich still schweigend daneben und meldete sich erst einige Wochen später bei Diaghilew, als er sich in einem Hotel in Paris niedergelassen hatte. Dort überreichte sie ihm einen Scheck über eine großzügige Summe unter der Bedingung, niemandem davon zu erzählen. Chanel soll bezüglich ihrer Finanzierung von diesem Kulturprojekt gesagt haben: „Ich habe nicht, wie behauptet wurde, Diaghilevs Ballets über Wasser gehalten. Le Sacre du Printemps hatte ich vor 1914 nie gesehen. Serge schilderte es mir als Skandal und ein großes historisches Ereignis. Ich wollte es sehen und bot ihm an, es zu subventionieren. Die 300 000 Franc, die mich das gekostet hat, bereue ich nicht.“(Morand, 2009, S. 114 f.) Chanel unterstützte die Ballets Russes auch im Jahr 1924, indem sie die Kostüme für Le Train bleu entwarf. Dabei handelte es sich um ein Ballett von Bronislawa Nijinska, der Schwester von Waslaw Nijinsky, mit einem Libretto, welches von Jean Cocteau verfasst wurde. Nijinska war die einzige weibliche Choreographin bei den Ballets Russes unter der Leitung von Diaghilew. Das Stück spielte an einem Strand der Côte d’Azur, wo sich junge Leute in ihrer Freizeit vergnügten. Deshalb trugen die Tänzerinnen und Tänzer Kostüme, die der Kleidung für Schwimmen, Tennis oder Golf nachgeahmt waren. Für die damalige Zeit empfand die Ballerina Lydia Sokolowa ihren pinkfarbenen und gestrickten Badeanzug als Kostüm fast etwas zu gewagt. Über die Perlenohrenclips, welche ihr von Coco Chanel verordnet wurden, zeigte sie sich allerdings begeistert.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 133 f.) Ironischerweise lösten eben jene Ohrringe einen Modetrend aus. Dies war in den vielen Saisonen der Ballets Russes mehrmals der Fall. Zwischen den Ballettaufführungen und den dabei verwendeten Kostümen herrschte eine ständige Wechselwirkung mit der Modewelt. Die Aufführungen spiegelten oft die neuesten Trends wieder, sogar in historischen Werken. Allerdings beeinflusste die aktuelle Mode auch umgekehrt die Kostüme der Ballets Russes. Es gab noch eine dritte Dame, ohne deren finanzielle Unterstützung Diaghilews aufwendige Ballettproduktionen oftmals nicht möglich gewesen wären: Winnaretta Singer. Sie war gebürtige Amerikanerin und die wohlhabende Erbin einer Nähmaschinenindustrie. Nach ihrer Heirat mit Edmond de Polignac wurde sie auch als Princesse de Polignac bekannt. Sie galt als eine Persönlichkeit, die gegen den Strom der damaligen Zeit schwamm und stets ihren eigenen, individuellen 77 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Weg verfolgte. So ging sie zum Beispiel eine Scheinehe mit ihrem homosexuellen Mann Edmond ein. Mit ihrer liberalen Einstellung stellte diese Verbindung allerdings eine ideale Basis für die Verwirklichung ihrer Ideen zur Verfügung.(vgl.: Kahan, 2003, S. 171) Durch diese Vermählung erhielt Winnaretta Zugang zu aristokratischen Kreisen, was ihr zahlreiche Vorteile in Bezug auf ihre künstlerischen Ideen bescherte. Diaghilew gelang es mit der Saison 1910, die Pincesse de Polignac von einer Bewunderin zu einer aktiven Unterstützerin der Truppe zu machen. Der Grund war ein junger Musiker namens Strawinsky. In ihren Memoiren beschrieb sie die sofortige Erkenntnis vom genialen Talent dieses jungen Komponisten und es war ihr vom ersten Augenblick an unmöglich, die große Bedeutung seines musikalischen Schaffens zu ignorieren. Winnaretta war nicht nur von Strawinskys Musik begeistert, sondern auch von seiner Persönlichkeit. Sie lud ihn bald nach der Premiere des Feuervogels zu sich zum Essen ein.(vgl.: Kahan, 2003, S. 165 ff.) Zum Dank darauf schickte ihr der junge Komponist Eintrittskarten zu konzertanten Aufführungen seiner Musik. Die beiden verbrachten sogar einige Zeit gemeinsam in Rom, wo Strawinsky sein Ballett Petruschka vollendete. Aufgrund dieser sich entwickelnden Freundschaft zwischen der Princesse de Polignac und dem Komponisten, erhielt die kunstinteressierte Gönnerin auch Kontakt zum Bekanntenkreis von Diaghilew, als auch der gesamten Truppe der Ballets Russes. So lernte sie auch Misia und ihren Mann José-Maria Sert kennen. Die weiblichen Gönnerinnen kannten sich also untereinander, wobei diese Bekanntschaften nicht immer auf gegenseitiger Sympathie basierten. Winnaretta hielt nicht sonderlich viel von der auffälligen Misia und verstand sich besser mit deren Mann José-Maria. Diesen beauftragte die Princesse de Polignac mit der künstlerischen Gestaltung ihres Musikraums, wo sie ihre Salons veranstaltete. Am 6. September 1903 erschien in Le Figaro sogar ein Artikel über diese gesellschaftlichen Zusammenkünfte mit dem Titel „The Salon of the Princesse Edmond de Polignac: Music of Today, Echoes of Yesteryear.“(Kahan, 2003, S. 129) Der Verfasser war Marcel Proust, der hierbei allerdings unter dem Künstlernamen Horatio schrieb, den er aus einem Stück von Shakespeare entnahm. In seinem Artikel lobte er vor allem die musikalischen Aktivitäten von Winnaretta, denn in ihren Salons fand man perfekte Musikaufführungen. Außerdem hob er die originellen Interpretationen der späteren Fauré Lieder hervor sowie die Tänze von Brahms.(vgl.: Kahan, 2003, S. 129 f.) Proust lobte zudem ihren Mann, Prince Edmond, als einen bedeutenden Musiker und erwähnte dessen progressive 78 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Kompositionstendenzen. Was ihre finanziellen Unterstützungen betraf, wurde Winnaretta mit der Zeit vorsichtiger. So wusste sie über die Krisen der Ballets Russes schon Bescheid, da es immer wieder vor einer Produktion von Diaghilew zu Intrigen und Eifersucht innerhalb der Truppe kam.(vgl.: Kahan, 2003, S. 261) Das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Mäzenen war allerdings auch nicht immer harmonisch. Winnaretta lehnte beispielsweise die Anwesenheit von Misia Sert ab und verabscheute regelrecht Coco Chanel. Dies wirkte sich auch auf die finanzielle Unterstützung aus, denn Winnaretta wollte keinesfalls als Gönnerin zusammen mit einer der beiden Damen genannt werden. Die Freundschaft zwischen Winnaretta und Strawinsky verlief dafür besser und war weitaus tiefer, als es vielleicht auf den ersten Blick zu sein schien. Auf musikalischer Ebene beeinflusste die Aufführung von Petruschka am 13. Juni 1911 das musikalische Verständnis der Princesse de Polignac für moderne Musik. Die beeindruckende Choreographie von Fokin und deren Ausführung von Nijinsky stießen auf Winnarettas Begeisterung. Sie besuchte Strawinsky schon während den letzten Fertigstellungen des Balletts in Rom. Ihr Interesse für dieses Ballett könnte unter anderem auch mit ihrem damals schon verstorbenen Ehemann Edmond de Polignac zusammenhängen, der ebenfalls Komponist war. Ein wichtiges Element von Petruschka stellte eine Achttonskala dar, abgeleitet von der Russischen Volksmusik. Jene Skala war eigentlich Strawinskys Lehrer RimskyKorsakow zugeschrieben, der diese 1867 festlegte. Seit jenem Jahr kopierten und verwendeten sie seine Schüler beziehungsweise die jungen Musiker aus dem Kreis rund um Rimsky-Korsakow.(vgl.: Kahan, 2003, S. 170) Allerdings meinte Winnaretta im Laufe der Arbeiten von Strawinsky an Petruschka und während der Treffen mit dem Komponisten, dass jene besagte Tonskala im Grunde die ihres Mannes war. Edmond de Polignac glaubte im Jahr 1879 eben jene Skala erfunden zu haben und bezeichnete sie als Achttonskala. In dieser Hinsicht betrachtete Winnaretta den jungen Strawinsky vielleicht nicht nur als begabten Komponisten, sondern auch als so genannten Fackelträger, um die musikalischen Ideen ihres Mannes zu verewigen. Dies rückte die Verbindung zwischen Strawinsky und der Princesse de Polignac in ein etwas anderes Licht: So gesehen verkörperte sie wohl doch nicht nur die selbstlose, kunstinteressierte Gönnerin, sondern vor allem auch eine starke Frau mit klaren Zielen. Sie hatte durchaus große Pläne mit dem Komponisten Strawinsky und sah in 79 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik ihm auch eine Vertrauensperson, mit der sie ihre Musikprojekte und Vorhaben besprach. Nach einer Aufführung von Ariadne auf Naxos von Richard Strauss fühlte sich Winnaretta als Patronin dieser neuen Musikrichtung, weil sie begeistert war von der Dramaturgie und dem Aufbau der Oper. Es handelte sich eigentlich um eine Komposition für ein kleineres Orchester von 36 Musikern und schien deshalb in den Augen der Princesse de Polignac als ideal für eine Aufführung in ihrem Salon. Winnaretta vertrat die Meinung, dass die Kompositionen für großes Orchester nicht mehr zeitgemäß waren und man sich nun eher kleineren Besetzungen mit gut ausgewählten Instrumenten und Musikern zuwandte.(vgl.: Kahan, 2003, S. 177 f.) Diesen neuen Stil wollte sie in ihrem Salon etablieren und beauftragte daher mehrere Musiker, Werke für kleinere Besetzungen zu komponieren. Als erstes musste sie dabei an eine Zusammenarbeit mit Strawinsky denken. Dieser repräsentierte für sie die Zukunft der modernen Musik. 5.3 Der Skandal bei der Uraufführung Die Neue Musik des 20. Jahrhunderts produzierte zahlreiche Skandale, zwar nicht aufgrund von nationalistischen, chauvinistischen oder gar politischen Einstellungen, aber sie sorgte dennoch für historische Aufstände, da das Publikum unvorbereitet war. So ereignete es sich mehrmals, dass zuvor harmlose und friedfertige Menschen, sich im Theater wegen einer Musizierform körperliche Gewalt antaten. Verständlicherweise sind die wirklich erschreckenden Vorfälle immer nur bei den Uraufführungen passiert, da die Zuseher hier eben völlig unvorbereitet mit einer komplett andersartigen Musik konfrontiert wurden. Als Ort für die erste Aufführung von Le Sacre du Printemps wurde das Théâtre des Champs-Elysées gewählt, in dessen erster Spielsaison auch die Ballets Russes auftraten. Das Theatergebäude stellte ein Projekt von Gabriel Astruc dar, dem es ein Herzensanliegen war, daraus einen modernen Raum für Tanz- und Musikaufführungen zu gestalten. Das Gebäude befand sich in der damals sehr modischen avenue Montaigne und wurde von Auguste Perret im Modern Style gestaltet.(vgl.: Kahan, 2003, S. 182 ff.) Die Innenräume waren mit Reliefs und Fresken von Antoine Bourdelle ausgestattet sowie mit Malereien von Maurice Denis, welche die Geschichte der Musik wiederspiegelten. Das neue Theater von Astruc entwickelte sich bald zu einem wichtigen Zentrum für neue Musik und Tanz in Paris. Die ersten Aufführungen von Debussys Nocturnes, die damals neue Oper Pénélope von Gabriel Fauré und natürlich die Premieren der Ballets Russes fanden alle im 80 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Théâtre des Champs-Elysées statt. Die Uraufführung am 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Elysées wurde von vielen Seiten bereits spannend erwartet. Bei jener Aufführung wurde die Rolle der Auserwählten von Marie Piltz getanzt. Das Orchester, welches die durchaus schwierige Partitur sorgfältig einstudiert hatte, stand unter der Leitung von Pierre Monteux. Allerdings drohte die erste Aufführung beinahe in einem Tumult zu scheitern, der in eine regelrechte Saalschlacht mündete. Diesmal sorgte nicht die Choreographie von Nijinsky für Aufregung, so wie bei der Uraufführung von L’après-midi d’un Faune. Die ungewohnte, kühne Musik schockierte in diesem Fall die Zuhörer. Laut dem Komponisten Arthur Honegger sei die Partitur wie eine Atombombe der Musik zu verstehen.(vgl.: Liechtenhahn, 1990, S. 116) So in etwa kann man sich die Wirkung der ihrer Zeit weit vorauseilenden Musik des Sacre vorstellen, als sie auf die Ohren des Publikums traf, welches an viel sanftere Ballettmusik gewöhnt war. Der Skandal nahm ein derartiges Ausmaß an, sodass Strawinsky, laut dem Augenzeugen Jean Cocteau, sogar durch eine Hintertür vor den empörten Zuschauern flüchten musste. Die musikliebenden Bürger von damals besaßen, wenn, dann ein rein konventionelles Musikdenken. Deshalb kann man sich die Erschütterung bei der Konfrontation mit einer revolutionären Musik wie bei der Erstaufführung von Le Sacre du Printemps so vorstellen: Die Besucherin oder der Besucher kommen in eine Vorstellung, ohne zu wissen welche Musik, noch welcher Inhalt sie erwartet, also ahnungslos. Sie oder er gehen ins Theater weil sie in diesem Fall eines der größten gesellschaftlichen Ereignisse der Pariser Spielzeit miterleben wollen: eine Vorstellung der Ballets Russes von Diaghilew mit einer völlig neuen, unbekannten Produktion. Man hatte zwar vielleicht schon etwas von diesem Strawinsky gehört, aber wie genau seine Musik anzuhören war, wusste man noch nicht so recht.(vgl.: Kirchmeyer, 1958, S. 447) Im schlimmsten Fall rechneten die Zuseher mit einer etwas extravaganten Musik, die ziemlich laut sein würde. Dann wurden sie jedoch mit einer Ballettmusik von derart brutaler Rhythmik überrascht, die zu damaliger Zeit auch physisch niederschmetternd und völlig unüblich war. Das Publikum befand sich durch diesen Schock laut Berichten in einer Art Hypnose, da es widerwillens eine Musik über sich ergehen lassen musste. Diese war außerdem eine komplette Umkehrung von allen bekannten und vergangenen Werken. Es handelte sich nicht nur um eine einzelne neue Komposition, die von einem neuen Komponisten präsentiert wurde, in diesem Fall eben Strawinsky, sondern um eine noch nie dagewesene Musikrichtung. 81 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Diese revolutionäre Musik von Strawinsky stachelte also Gegner und Anhänger im Publikumsraum an, sich in Handgreiflichkeiten auseinanderzusetzen. Zusätzlich sorgte auch die Choreographie von Nijinsky bei eben jener Aufführung für Aufregung. Er bemühte sich bei Le Sacre du Printemps um eine extreme Übereinstimmung von den Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer mit der Musik. Im Rückblick und Vergleich mit dem vorigen von ihm choreographierten Ballett L’après-midi d’un Faune, wo Nijinsky die Bewegungen in völligem Kontrast zur Musik festlegte, gab es dennoch einen Zusammenhang: Beim Stil der Bewegungen brach Nijinsky auch bei Le Sacre du Printemps sämtliche Regeln der klassischen Tanzkunst.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 53 f.) Außerdem unterschied sich die Bühnenausstattung weitgehend von den vorigen Produktionen der Ballets Russes. Bei diesem Ballett wirkte das Bühnenbild von Nikolai Roerich nicht mehr so malerisch und volkstümlich, sondern war der Handlung angepasst, die ja Bilder aus dem heidnischen Russland vermitteln sollte. Interessant ist die Tatsache, dass Strawinskys Musik von Le Sacre du Printemps im Laufe der Jahre zu einem bedeutenden Werk der modernen Musik wurde, aber die Choreographie von Nijinsky nach 1913 nie wieder aufgeführt wurde. In den späteren Aufführungen fiel die Reaktion des Publikums weit weniger heftig aus, zumindest kam es zu keinen Körperverletzungen mehr. Die Zuseher waren ein wenig darauf vorbereitet durch Zeitungen und Nacherzählungen. Dies bedeutete allerdings nicht, dass Le Sacre du Printemps bei den späteren Aufführungen Anerkennung entgegen gebracht wurde. Es fielen nur die Reaktionen im Zuschauerraum weniger skandalös aus, denn zu wuchtigen Ausschreitungen kam es bisher immer nur, wenn das Publikum zum aller ersten Mal mit einer neuen Musik konfrontiert wurde.(vgl.: Kirchmeyer, 1958, S. 448 f.) Die Zuseher wurden bei der Uraufführung von Le Sacre du Printemps aus ihrer Selbstzufriedenheit herausgerissen und gezwungen, diese neue Kunst über sich ergehen zu lassen. Die Fluchtmöglichkeiten während einer Vorstellung waren begrenzt, also äußerten sie ihr Empfinden mit der nackten Gewalt, um sich gegen diese Zwangsbeschallung zu wehren. Zwar standen Skandale bei der neuen Musik quasi an der Tagesordnung, doch nach der Zeit des ersten Weltkrieges wurden sie teilweise sogar schon inszeniert. Darin widerspiegelten sich eine organisierte Abwehr oder teilweise auch ein politischer Hass oder Fanatismus, denn das Publikum war mittlerweile schon an schockierende Musik gewöhnt und zu gelähmt für wahre Skandale. Trotzdem reagierte die Theaterindustrie auf diese Vorfälle und teilte zusätzlich zu den 82 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Eintrittskarten eine Anordnung über das Verhalten im Konzertsaal aus. Die Besucher wurden regelrecht verpflichtet, sich während der Aufführung ruhig zu verhalten. Teilweise führte dies bei Konzerten sogar zum Verbot von Applaus oder Äußerungen des Missfallens, zu denen das Publikum mit Unterschrift verpflichtet wurde, wie beispielsweise in Schönbergs Privatverein. Der Skandal wurde tatsächlich in gewissem Maß von Diaghilew gefördert, indem er die Presse informierte und regelrecht anstachelte oder indem er sehr viele Freikarten verteilte. Er war über die heftige Erstaufführung also nicht gänzlich unglücklich. Ganz anders Strawinsky, der sich folgendermaßen an jenen Abend erinnert: „Leiser Protest gegen die Musik war vom ersten Anfang der Aufführung an zu hören. Dann, als der Vorhang den Blick auf die Gruppe von x-beinigen Lolitas mit langgeflochtenen Zöpfen freigab, die auf und ab sprangen (Danse des adolescentes), brach der Sturm los. [. . . ] Der Aufruhr ging jedoch weiter, und ein paar Minuten später verließ ich den Saal in einem Wutausbruch; ich saß rechts neben dem Orchester und erinnere mich, die Tür zugeschlagen zu haben. Ich bin niemals wieder so wütend gewesen.“(Flamm, 2013, S. 167) Es ergaben sich bereits seit dem Beginn der Aufführung Probleme. Schon während der Einleitung machte sich Gelächter im Publikum breit. Schon zu jenem Zeitpunkt begab sich Strawinsky verärgert vom Zuschauerraum hinter die Bühne. Daher war man für weitere Berichte über die Situation im Zuschauerraum auf die Erinnerungen von Augenzeugen angewiesen, wie zum Beispiel Carl van Vechten, ein amerikanischer Fotograf und Autor. Laut seinen Berichten trug sich im Publikum folgendes Szenario zu: „[. . . ] war ein gewisser Teil der Zuhörer fasziniert von dem, wie sie meinten, blasphemischen Versuch, die Musik als Kunst zu zerstören, und mitgerissen von wütender Begeisterung fingen sie an, bald nachdem der Vorhang sich geöffnet hatte, zu miauen und laute Vorschläge für den Fortgang der Vorstellung zu machen. Das Orchester spielte ungehört, ausgenommen wenn es gelegentlich etwas leiser im Zuschauerraum wurde. Der junge Mann, der hinter mir in der Loge saß, stand im Verlauf des Balletts auf, um besser zu sehen. Die starke Erregung, die ihn gefangen hielt, äußerte sich darin, dass er sogleich 83 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik anfing, mit seinen Fäusten im Takt auf meinen Kopf zu schlagen. Ich selbst war so außer mir, dass ich die Schläge lange Zeit nicht spürte.“(White, o.D. S. 51) Auch Romola Pulsky, die später Nijinsky heiratete, befand sich zumindest während des ersten Teils der Aufführung im Zuschauerraum. Sie beschrieb die Situation folgendermaßen: „Die Leute pfiffen, die Darsteller und den Komponisten beleidigten, schrien und lachten. Monteux warf verzweifelte Blicke auf Diaghilew, welcher in Austruc’s Loge saß und ihm Zeichen machte, weiterzuspielen. In diesem unbeschreiblichen Lärm befahl Astruc, das Licht anzumachen; nun beschränkten sich Kampf und Streit nicht mehr auf Geräusche, sondern arteten in richtige Schlägerei aus. Eine gute gekleidete Dame in einer Orchesterloge stand auf und schlug einem jungen Mann, der in der nächsten Loge zischte, ins Gesicht. Ihr Begleiter erhob sich, und die Männer tauschten ihre Visitenkarten. Ein Duell folgte am nächsten Tag. [. . . ] Betäubt von dem Radau rannte ich hinter die Bühne. Dort war es genauso schlimm wie im Zuschauerraum. Die Tänzer zitterten, waren den Tränen nahe; sie kehrten nicht in ihre Garderoben zurück. Das zweite Tableau begann, doch es war noch immer unmöglich, die Musik zu hören.“(Flamm, 2013, S. 168) Jean Cocteau war ebenfalls Augenzeuge und erinnerte sich an die alte Comtesse de Pourtalès, die in ihrer Loge mit rotem Gesicht und schief sitzendem Diadem aufstand, ihren Fächer heftig schwang und rief, dass dies das erste Mal seit 60 Jahren sei, dass es jemand wagte, sich über sie lustig zu machen.(vgl.: White, o.D. S. 52) In dieser Hinsicht muss man die höhere Pariser Gesellschaft verstehen, denn sie glaubte tatsächlich an ein inszeniertes Veräppeln des Publikums. Es sahen sich wohl überhaupt alle gebildeten Zuseher in ihren Erwartungen völlig enttäuscht, so dass sie sich wohl nicht anders zu benehmen wussten. Allerdings lag auch schnell die Vermutung nahe, es würde sich generell um ein inszeniertes Verhalten mancher Anwesenden handeln, damit jene Aufführung eben in die Geschichte einging, denn bei der Generalprobe, wo Künstler und Teile der höheren Gesellschaft zugegen waren, fanden keine derartigen Störungen statt. Nach Jean Cocteau bestand der größte Fehler in der Choreographie von Nijinsky in seiner Parallelsetzung der Bewegungen zur Musik. Es fehlten die Gegensätze, 84 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik der Kontrapunkt sozusagen, oder auch das spielerische Element. Denn Nijinsky setzte sich zum Ziel, den Rhythmus dieser Musik in Bewegungen umzusetzen. Also bewegten sich die Tänzerinnen und Tänzer entsprechend der Tondauer und drückten auch Accelerando oder Ritardando mit genau festgelegten Gesten wie Beugen und Strecken des Knies oder Heben und Senken der Ferse aus. Manchmal geschah dies auch durch einfaches Stampfen, welches aber bewusst für die Hervorhebung von Akzenten eingesetzt wurde. Aufgrund dieser gleichen Linie von Musik und Bewegung, zeigte sich bei der Aufführung, dass ein häufig wiederholter Akkord nicht so anstrengend für die Zuhörer ist, als immer dieselbe Bewegung sehen zu müssen.(vgl.: White, o.D. S. 54 f.) Über die Choreographie von Nijinsky war selbst Strawinsky nicht begeistert, denn sie entsprach keineswegs seinen Vorstellungen. Er wünschte sich eher rhythmische Massenbewegungen, die einfach und ohne zu viele Details angelegt waren. Das hätte den großen und vielleicht erschreckenden Eindruck der Musik etwas abschwächen können. Deshalb äußerte er sich zu dieser Choreographie folgendermaßen: „Die Choreographie wirkte wie eine mühevolle Arbeit ohne Zweck und Ziel und nicht wie eine bildhafte Darstellung, die klar und natürlich den Vorschriften folgt, die sich aus der Musik ergeben. Wie weit war das von dem entfernt, was ich gewollt hatte! [. . . ] Alle überflüssigen Einzelheiten, alle Verwicklungen, die den großen Eindruck hätten abschwächen können, sollten verbannt sein; nur für den „Sakralen Tanz“, mit dem das Werk endet, war eine Solotänzerin vorgesehen. [. . . ] Ist es nicht ein Zeichen von fehlendem Geschick, wenn man das Tempo der Musik für sich selbst unbewußt verlangsamt, um komplizierte Tanzschritte entwerfen zu können, die sofort unausführbar werden, wenn das vorgeschriebene Zeitmaß gespielt wird? Viele Choreographen sündigen durch diesen Fehler, aber keiner, den ich kannte, so sehr, wie Nijinskij es tat.“(Strawinsky, 1958, S. 45) Die Situation auf der Bühne war, so wie auch im Zuschauerraum, fatal und es herrschte Chaos unter den zitternden Tänzern, die den Tränen nahe waren. Da die Ausschreitungen im Zuschauerraum schon derart eskalierten, hörten die Ausführenden auf der Bühne das Orchester nicht mehr, da ihre eigenen Tanzschritte schon ausreichend Lärm erzeugten. Deshalb schrie ihnen Nijinsky von der Seite die Schläge zu. Er befand sich stehend in seinem Arbeitskostüm auf einem Stuhl in der Kulisse, neben ihm Strawinsky, und schlug mit den Fäusten den Takt. Als die letzten Takte der Anrufung der Urväter erklangen, begann die bis 85 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik dahin unbewegliche Gestalt, nämlich Maria Piltz, immer stärker zu zittern.(vgl.: White, o.D. S. 52) Daraufhin erklangen aus dem Zuschauerraum Rufe nach einem Arzt. Der ganze Skandal beruhigte sich erst beim Tanz der Auserwählten. Der Rhythmus ließ die Tänzerin in eckigen Bewegungen agieren und dies schien eine unerwartete Wirkung auf das Publikum auszuüben. Dieser Tanz strahlte anscheinend so viel Schönheit und Kraft aus, dass die Zuseher ihre Streitereien einstellten. Dieser Skandal entartete dermaßen, dass sogar die Polizei einschreiten musste und wirkte bis ins Ausland, denn sogar die New York Times berichtete am 8. Juni 1913 darüber. Dabei gaben viele Kritiker der Musik die Schuld an den gewaltigen Reaktionen des Publikums.(vgl.: Flamm, 2013, S. 169) Allerdings musste bedacht werden, dass die Musik zum Großteil nicht hörbar war, weil sie vom Tumult der Zuseher übertönt wurde. Es ist also schwer festzulegen was genau die Pariser als derart empörend und problematisch empfanden. Am Ende der Vorstellung herrschte Erschöpfung bei allen Anwesenden. Etwa um 2 Uhr Früh begaben sich Strawinsky, Diaghilew, Nijinsky und Cocteau in eine Kutsche und fuhren durch den Bois de Boulogne. Zuerst herrschte betretenes Schweigen. Jean Cocteau beschrieb dieses Ereignis folgendermaßen: „Als wir zu den Seen kamen, begann Diaghilew, tief vermummt in einen Opossumpelz, auf Russisch zu murmeln; ich fühlte, dass Strawinsky und Nijinsky ihm zuhörten, und wie der Kutscher seine Laterne ansteckte, sah ich Tränen auf Diaghilews Gesicht. Er murmelte weiter, langsam, unermüdlich.“(White, o.D. S. 53) Auf Jean Cocteaus Nachfrage hin erklärte ihm Diaghilew, es handelte sich bei seinem Gemurmel um etwas von Puschkin. Als nach einem langen Schweigen wieder eine Aussage auf Russisch von Diaghilew folgte, reagierten Strawinsky und Nijinsky mit einer plötzlichen Bewegung. Daraufhin konnte Cocteau anscheinend einfach nicht mehr anders und erkundigte sich nach dem Grund. Strawinsky antwortete ihm: „Das ist schwer zu übersetzen, sehr schwer, zu Russisch, . . . zu Russisch. . . Es bedeutet mehr oder weniger: Willst du mit mir zu den Inseln kommen? Ja, das ist es. Es ist typisch Russisch, wissen Sie, weil wir in Petersburg immer zu den Inseln gehen, gerade so, wie wir heute 86 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Abend in den Bois de Boulogne gekommen sind. Es war auf dem Weg zu den Inseln, dass wir zuerst die Idee des Sacre hatten.“(White, o.D. S. 53) Cocteau erlebte Diaghilew nie wieder derart niedergeschlagen, als nach der Uraufführung von Le Sacre du Printemps. Das Ballett geriet schon nach fünf Vorstellungen in Paris und nur drei Aufführungen in London in Vergessenheit. Besonders die Choreographie von Nijinsky verschwand vorerst gänzlich von der Bildfläche, bis zu seiner Rekonstruktion.(vgl.: Flamm, 2013, S. 169 f.) Da durch das Einsetzen des Weltkrieges der Druck der Partitur verzögert wurde, entdeckte man erst Jahre später dieses Ballett von neuem. Anders als bei seiner skandalösen Uraufführung, wurde es bei seiner Wiederaufnahme schnell zu einem internationalen Klassiker der Moderne. Es gab allerdings auch einige Zeitzeugen, die die Uraufführung und vor allem das Werk an sich in guter Erinnerung behielten, wie zum Beispiel Winnaretta, die Princesse de Polignac. Für sie war dieses Ballett ein unvergessliches Ereignis der Saison und der Abend der Premiere am 29. Mai 1913 ging laut ihr in die Geschichte ein.(vgl.: Kahan, 2003, S. 185) Auch wenn die Dissonanzen in der so genannten heidnischen Musik von Strawinsky und die primitive Choreographie von Nijinsky einen großen Teil des Publikums schockierten, so handelte es sich laut Winnaretta dennoch um ein revolutionäres Werk, das sämtliche Konventionen des klassischen Balletts umwarf. Es wiesen aber auch Kritiker schon damals, im Nachhinein, diesem Skandalballett einen bedeutenden Stellenwert und Einfluss auf die weitere Tanzgeschichte zu, wie zum Beispiel Jaques Rivière. Er erkannte als einer der Wenigen die Genialität von Le Sacre du Printemps und schrieb: „Die große Neuartigkeit von Sacre du Printemps besteht im Fehlen aller Verzierungen. Hier ist ein absolut reines Werk. Kalt und rauh, wenn man so will, aber ohne jede Glasur [. . . ] Die Teile werden uns völlig roh vorgesetzt, ohne etwas, das es uns erleichtern würde, es zu verarbeiten [. . . ] hier [. . . ] alles neu begonnen, alles von Grund auf neu geformt, alles neu erfunden.“(Dahms und Woitas, 1994, S. VI) Wenigstens einer von Strawinskys Zeitgenossen würdigte den neuen und einzigartigen Stil in der Musik von Le Sacre du Printemps, worauf im folgenden Unterkapitel noch näher eingegangen wird. 87 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik 5.4 Strawinskys neuer und revolutionärer Musikstil Eigentlich war Strawinskys Musik genau das, was sich das Pariser Publikum wünschte. Nach den sehr komplexen Kompositionen von Debussy, erfreuten sich die Zuhörer an eher bodenständigerer Kunst, wie sie sie in der Russischen Kultur zu finden meinten.(vgl.: Hirsbrunner, 1982, S. 44) Deshalb waren Der Feuervogel und Petruschka sehr beliebt. Im Jahr 1913 wurde das vermeintlich treue Publikum vor den Kopf gestoßen und die Uraufführung von Le Sacre du Printemps löste einen Skandal aus. Die Hauptursache für diese heftige Auseinandersetzung im Publikumsraum war das von Strawinsky verwendete Klangmaterial. Er teilte den Instrumenten eine neue Aufgabe zu. Der Effekt eines Schlages in der Musik wurde bei Le Sacre du Printemps nicht mehr ausschließlich den eigentlich dafür vorgesehen Schlaginstrumenten überlassen. Auch Melodieinstrumente imitierten einen Schlag. Der Rhythmus dominierte demnach größere Abschnitte der gesamten Partitur, allerdings ohne den Einsatz von traditionellen Schlaginstrumenten.(vgl.: Dahms und Woitas, 1994, S. 99) Diese Vorgehensweise erzielte eine noch nie dagewesene Nuancierung und Klangbreite des Schlages. Allerdings nahm der Rhythmus so einen anderen Stellenwert ein. Er bildete erstmals kein zusätzliches Mittel, um Effekte in der Musik zu erreichen, sondern bildete über lange Passagen hinweg den alleinigen Inhalt der Ballettmusik. Damit widersetzte sich Strawinsky allen Werten, Vorstellungen und Normen des damaligen Musikverständnisses und provozierte somit einen der größten Skandale der Musikgeschichte. Die Hauptursache für diese heftige Auseinandersetzung im Publikumsraum war das von Strawinsky verwendete Klangmaterial. Er teilte den Instrumenten eine neue Aufgabe zu. Der Effekt eines Schlages in der Musik wurde bei Le Sacre du Printemps nicht mehr ausschließlich den eigentlich dafür vorgesehen Schlaginstrumenten überlassen. Auch Melodieinstrumente imitierten einen Schlag. Der Rhythmus dominierte so größere Abschnitte der gesamten Partitur, allerdings ohne den Einsatz von traditionellen Schlaginstrumenten. Diese Vorgehensweise erzielte eine noch nie dagewesene Nuancierung und Klangbreite des Schlages. Allerdings nahm der Rhythmus so auch einen anderen Stellenwert ein. Er bildete erstmals kein zusätzliches Mittel, um Effekte in der Musik zu erreichen, sondern war über lange Passagen hinweg der alleinige Inhalt der Ballettmusik. Damit widersetzte sich Strawinsky allen Werten, Vorstellungen und Normen des damaligen Musikverständnisses und provozierte somit einen der größten Skandale der 88 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Musikgeschichte. In einigen Skizzen zu Le Sacre du Printemps notierte Strawinsky folgenden Satz: „Musik ist immer dann präsent, wenn es einen Rhythmus gibt, so wie das Leben, wenn der Puls schlägt.“(Flamm, 2013, S. 154) Gerade in diesem Werk stellte der Rhythmus das wichtigste Element dar, dem der Komponist auch mehr Beachtung schenkte als der Harmonik oder der Form. Das gesamte Orchester erfüllte deshalb den Zweck eines einzigen großen Schlaginstrumentes, sogar die Streicher. Zwei Methoden kristallisierten sich bei der Rhythmusbehandlung des Komponisten heraus: Er variierte ein gleichbleibendes Taktmetrum durch Akzente und zerstörte es sozusagen oder er zerteilte eine Taktmetrik in kleine und unregelmäßige Einheiten. Die letztere Methode wurde sehr extrem im Danse sacrale angewendet.(vgl.: Flamm, 2013, S. 154 f.) Eine zusätzliche Komplexität erzeugte die Überlagerung von zwei rhythmischen Schichten. Es wurden also zwei motivische Figuren übereinander gelegt. Strawinsky spielte dadurch eigentlich mit den Hörerwartungen des Publikums, denn mit einer rhythmischen Unregelmäßigkeit und dem Verzicht auf bekannte oder geltende Regeln, war es dem Hörer unmöglich, den Rhythmus in gewohnter Weise zu erfassen. Dadurch konnte dessen Intensität nur körperlich wahrgenommen werden, was insofern die teilweise gewalttätigen Ausschreitungen bei der Uraufführung begünstigte. Zusätzlich ergab sich mit den unregelmäßigen und oft wechselnden Taktarten ein Problem der Notation.(vgl.: Flamm, 2013, S. 156 f.) Diese komplexen Rhythmen waren schwer erfassbar und es tauchten deshalb zahlreiche Schwierigkeiten bei den Tanzproben auf, da man im Prinzip alles auswendig lernen musste. Die Musik wies zwar einen fast mechanischen Charakter auf, aber man konnte sich trotzdem beim Einstudieren nicht an einem gleichbleibenden Rhythmus orientieren. In Der Feuervogel und in Petruschka wandte Strawinsky seine neuartige Rhythmusmethode noch zaghaft an, aber dafür konzentrierte er sich bei Le Sacre du Printemps ausschließlich auf seine rhythmischen Überlagerungen und andere Experimente mit dem Metrum. Strawinsky besaß in der Tat viel Experimentierfreude und zahlreiche Elemente in diesem Ballett entstanden während seiner Arbeit am Klavier, wo er für gewöhnlich komponierte.(vgl.: Flamm, 2013, S. 166) An dem Tanz des Feuervogels oder dem Russischen Tanz in Petruschka erkannte man bereits erste Anzeichen von Strawinskys neuem Rhythmusstil. In diesen Sätzen 89 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik forcierte er einen regelmäßigen Pulsschlag, den er mit so gut wie keinem Accelerando oder Ritardando bei einem gleichbleibenden Metrum durchgehen ließ. Bei Le Sacre du Printemps zeigte sich dann plötzlich eine Vorliebe für Synkopen und Akzentverschiebungen. Da so etwas in einer gewöhnlichen Notation nur schwer vollziehbar war, fanden sich häufige Taktwechsel in der Partitur, wie zum Beispiel im Danse sacrale. Solche Versuche, das Metrum zu erweitern, tauchten in sämtlichen Werken Strawinskys auf, die seiner so genannten Russischen Periode zugeteilt werden.(vgl.: White, o.D. S. 68 f.) Dazu zählten seine Kompositionen bis einschließlich dem Musiktheaterwerk Die Geschichte vom Soldaten, welches für eine so genannte Wanderbühne konzipiert wurde. Dabei lag das Augenmerk auf dem Durchbrechen der konventionellen Symmetrien und Viertaktphrasen. Ab 1920 widmete sich Strawinsky allerdings wieder einfacheren Metren. Ein wesentliches Vorbild für Strawinskys Rhythmik war die russische Sprache selbst. Diese besaß ihre phonologische Besonderheit im schwankenden Akzent. Im Vergleich zu europäischen Sprachen, wo die Betonung beispielsweise auf der letzten Silbe lag, war im Russischen der Akzent nicht auf eine bestimmte Silbe im Wort festgelegt. Dieses Phänomen seiner Muttersprache hatte einen wesentlichen Einfluss auf die rhythmische Arbeitsweise von Strawinsky.(vgl.: Yang, 2004, S. 39) Er ließ sich auch in harmonischer und melodischer Sicht von seinen russischen Wurzeln und dem damit verbundenen Kulturgut inspirieren. Strawinsky drückte dies mit folgenden Worten aus: „Ich habe mein ganzes Leben russisch gesprochen: mein Denken ist russisch, mein Stil ist russisch. Vielleicht wird das in meiner Musik nicht sofort sichtbar, aber es ist in ihr angelegt, es ist ihre verborgene Natur.“(Yang, 2004, S. 30) In der russischen Vokalmusik herrschte eine besondere Verbindung zur Sprache. Die russische Musik entwickelte sich zusammen mit der Spracherzeugung. Dies ließ sich mit dem Hauptmerkmal der metrischen Struktur der Volksmusik begründen: In der altrussischen Lyrik wurde die Versform durch eine fixe Anzahl an Hebungen determiniert, jedoch blieb die Zahl der Senkungen pro Zeile frei wählbar. Daher ergaben sich Unterschiede in der Zeilenlänge so wie variierende Schwerpunkte. In dieser Hinsicht war also die russische Musik mit ihren vielen Taktwechseln zu verstehen.(vgl.: Scherliess, 1983, S. 81 f.) Die russische Sprache zeichnete sich durch ihren schwankenden Akzent aus. Dies unterschied sie zum Beispiel von Französisch oder Deutsch, wo der Akzent auf einer bestimmten 90 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Silbe festgelegt war. Bei Russisch wechselte der Akzent innerhalb von ein und demselben Wort innerhalb von wenigen Jahren in der Sprachentwicklung und dieser Prozess war immer noch nicht abgeschlossen. Diese Merkmale waren auch in Strawinskys Musik wiederzufinden. Sie bildeten sozusagen das Fundament seiner Kompositionen. Diese Verwendung von volkstümlichen Vorlagen in Form von melodischen, rhythmischen und harmonischen Modellen, stellte den Wesenszug russischer Musik dar.(vgl.: Yang, 2004, S. 33 f.) Allerdings verwendete er die russischen Liedsammlungen nur als Anregung und baute sehr selten ein Lied unverkürzt in seine Werke ein. Es ging ihm nicht um eine Hommage an die russische Volksmusik, auch nicht an den russischen Nationalismus. Seine Beweggründe waren die Heimatliebe und die Inspiration durch die materiellen Eigenschaften der Volksmelodien wie etwa ihre Tonfolgen und ihre Rhythmen. Als Hauptquelle für Strawinskys Anregungen zur Verwendung von volksmusikalischen Elementen stellte sicherlich die um 1900 erschienene Sammlung von 1785 Melodien eines polnischen Priesters namens Juszkiewiczs dar. Diese Litauischen Volksweisen besaßen einen sehr alten Ursprung, weshalb sie für die Entwicklung von Le Sacre du Printemps als besonders geeignet erschienen, denn die Mitarbeiter der Ballets Russes bemühten sich bei diesem Werk um eine authentische Wiedergabe von vorchristlicher Kultur. Genau aus diesem Grund bot sich Litauen an, weil es erst im 12. Jahrhundert, also vergleichsweise spät, als letztes europäisches Land christianisiert wurde.(vgl.: Flamm, 2013, S. 150) Die heidnischen Bräuche hielten sich dort also länger, wie in anderen Regionen, zudem galt das Litauische als eine bewahrte und ihrem Ursprung nahe Sprache. Im Mittelalter vom 9. bis zum 13. Jahrhundert siedelten sich auf jenem Gebiet außerdem viele ostslawische Stämme an. Vermutlich drängte deshalb Roerich den jungen Strawinsky etwas in diese Richtung, sich von Litauen Anschauungsmaterial zu holen, um eine möglichst naturgetreue Musik und Kultur des alten Russlands auf der Bühne zu imitieren. Das russische Volksliedergut zeichnete sich durch drei typische Merkmale aus: der geringe Tonumfang, die Wiederholung einzelner Teile ohne klare Schwerpunktbildung und die häufigen metrischen Wechsel. Die Melodie wurde stets klar gegliedert, indem zwei identische Teile wiederholt wurden. Allerdings geschah dies nicht im Sinne von Frage und Antwort, also einem Vor- und einem Nachsatz, denn es blieb alles harmonisch in der Schwebe.(vgl.: Scherliess, 1983, S. 78) Man 91 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik konnte die Melodie nicht mit beispielsweise der Tonika und der Subdominante harmonisieren. Außerdem musste die metrische Gliederung nicht immer beibehalten werden, da die Melodie auch in jede beliebige andere Taktart eingearbeitet werden konnte. Bei Le Sacre du Printemps verwendete Strawinsky einfache diatonische Themen, die sich meist nur aus vier Noten zusammensetzten, und die den russischen Volksliedern ähnelten.(vgl.: White, o.D. S. 47 f.) Die Verwendung dieses Themenmaterials geschah durch ein Aufspalten, ein Neuzusammensetzen oder durch eine Veränderung von einzelnen Noten. In jeder Hinsicht sollte eine wörtliche Wiederholung oder auch nur eine Imitation vermieden werden, damit keine formalen Symmetrien entstanden. Darin lag auch im Wesentlichen der Skandal: Die Zuhörer waren an formal symmetrische Musik aus dem 18. und 19. Jahrhundert gewöhnt. Bei Strawinskys Musik von Le Sacre du Printemps wurde zwar eine begrenzte Anzahl von Tönen ständig wiederholt, aber die Figuren verschoben sich ständig, veränderten oder erneuerten sich. Gerade dann, wenn das Publikum den Eindruck hatte, die wirklich allerletzte Variationsmöglichkeit war erreicht und es müsste sich nun eine Wiederholung von einem Teil der Figuration ereignen, überraschte Strawinsky mit einem plötzlichen Abbruch der melodischen Linie. Es begann daraufhin wieder eine neue Episode. Die Rhythmik lieferte einen weiteren Anlass für jenen Skandal bei der Uraufführung. Für jeden Satz wählte der Komponist einen harten, pulsierenden Schlag, der ein mögliches Rubato vollkommen ausschloss. Die einzige Ausnahme bildete die impressionistische Einleitung von Teil 1. Zusätzlich veränderte er die rhythmischen Strukturen der volksmusikalischen Vorlagen, indem er Noten oder Vorschläge ergänzte. Es kam auch vor, dass er aus zwei Melodien eine neue kreierte, was durch eine Zerstückelung in kleinste Motive und ein anschließendes neues Zusammenfügen geschah. Strawinskys Methode, die Strukturen der Volksmusik in individuell veränderter Form anzuwenden, war in seinen Skizzen gut nachvollziehbar.(vgl.: Flamm, 2013, S. 151) Sie stellte einen bedeutenden Wendepunkt in seiner Laufbahn als Komponist dar, denn er eignete sich die Grundelemente der slawischen Volksmusik an und konzentrierte sich besonders auf die Improvisationstechniken in dieser Folklore: die Überterzung von Melodien, das Ergänzen von Nebenlinien zur Hauptmelodie oder die Verwendung von Ostinati, die aus kleinen Spielmotiven bestanden. 92 5 Le Sacre du Printemps und die Revolutionierung der Ballettmusik Mithilfe dieser Methoden erreichte er eine unglaubliche Vielfalt an musikalischen Motiven, was das Gegenteil zu Komponisten wie beispielsweise Brahms oder Schönberg darstellte, die eher möglichst melodiöse und kunstvolle Motive anstrebten und diese auch wiederholten. Strawinsky wandte sich also von den bisherigen Kompositionstechniken ab, welche sich die letzten Jahrhunderte in der Kunstmusik durchgesetzt hatten und gelangte zu einem eigenen Stil. 93 6 Zusammenfassung Das Ballett befand sich in einer reformbedürftigen Situation, da es musikalisch gesehen unattraktiv war. Die Musik wurde dem Tanz zudem untergeordnet und somit besaßen die Ballettkomponisten keinen hohen Stellenwert. Diese Situation veränderte sich erstmals durch den russischen Komponisten Peter Tschaikowsky und seiner Ballettmusik. Er wagte die Zusammenarbeit mit Choreographen und bewirkte dadurch, dass die Musik nicht mehr dem Tanz untergeordnet blieb. Die Zusammenarbeit von Tschaikowsky mit Marius Petipa führte zur erfolgreichen Inszenierung der Ballette Schwanensee und Der Nussknacker, wodurch dem Tanztheater wieder mehr Beachtung geschenkt wurde. Für das russische Ballett war Petipa insofern von Bedeutung, weil er als Choreograph den weichen, gefühlvollen französischen Stil des klassischen Tanzes mit dem virtuosen, harten der Italiener verband. Dadurch schuf er den typisch russischen Tanzstil. Er wandte sich außerdem von der älteren zweiaktigen Ballettform ab und entwickelte vielmehr ein Modell des abendfüllenden Balletts, das sich zu einem Grand Ballet entwickelte und meistens vier Akte zählte. Obwohl das russische Ballett um 1900 weltberühmt und der Tanzstil auf dem höchsten Niveau war, blieb es, vor allem durch Petipa, doch irgendwie in einer hierarchischen Struktur gefangen und an traditionelle Strukturen angelehnt, was weitere Veränderungen behinderte. An diesem Punkt setzten die Ballets Russes von Diaghilew an, die das Tanztheater quasi von alten, belasteten Strukturen befreiten: Die Zusammenarbeit zwischen Komponist und Choreograph und auch anderen Künstlern wurde weiter vertieft. Die Ballettaufführungen von Diaghilew, welche Musik, Tanz und Bildende Kunst in sich vereinten, waren besonders erfolgreich in Paris, der damaligen Kulturhauptstadt in Europa. Das Ballett veränderte sich seit den Ballets Russes zu einer eigenständigen Aufführungsform und befand sich nicht mehr auf einer untergeordneten Ebene im Vergleich zur Oper oder dem Sprechtheater. Serge Diaghilew stellte ein Bindeglied zwischen Russland und Frankreich dar, indem er Elemente aus beiden Kulturen in seine Projekte einfließen ließ. Der Erfolg von Diaghilew 94 6 Zusammenfassung lag aber auch an seiner Beobachtungsgabe, was die Vorlieben des Pariser Publikums betraf. Die westliche Gesellschaft bevorzugte zum Beispiel längere Pausen bei einer Abendvorstellung, um Kontakte mit anderen Gästen zu pflegen und um Klatsch und Tratsch auszutauschen. Eine maßgebliche Veränderung des Balletts durch Diaghilew stellte die Aufwertung der männlichen Tänzer dar, denn bis zu den Aufführungen der Ballets Russes standen die Ballerinen im Vordergrund. Das Werk Le Sacre du Printemps beeinflusste die Entwicklung des Balletts mit einem Skandal bei der Uraufführung 1913 in Paris. Auslöser für die teilweise gewalttätigen Reaktionen des Publikums während der Vorstellung waren die ungewohnte Ballettmusik und der moderne Tanzstil. Die Choreographie stammte von Vaslav Nijinsky, der die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer in völligem Kontrast zum klassischen Ballettstil festlegte. Die Musik von Strawinsky war revolutionär, da sie eine völlig neue Rhythmusbehandlung beinhaltete. Die Besonderheit lag vor allem in der neuen Funktion des Rhythmus: Dieser war das Ausdrucksmittel des ganzen Balletts. Die Bewegungsabläufe richteten sich nicht mehr nach der Melodie oder dem Gesamtklang der Musik, sondern waren allein auf das Metrum abgestimmt. Strawinsky verwendete außerdem Elemente aus der russischen Folklore, welche nach neuen Bewegungsabläufen verlangten. Der Choreograph war demnach beinahe gezwungen, einen neuen Tanzstil zu entwickeln, da die klassischen Ballettformen nicht mehr zu einer solchen Musik passten. 95 7 Bibliographie Blume, Friedrich, Hrsg. (1998). Die Musik in Geschichte und Gegenwart: allgemeine Enzyklopädie der Musik. Bd. 8. Kassel: Bärenreiter-Verlag. Bremser, Martha, Hrsg. (1993). International dictionary of ballet. Bd. 2. Detroit: St. James Press. Dahms, Sibylle und Monika Woitas, Hrsg. (1994). Diaghilews Ballets Russes – Aufbruch in die Moderne. Salzburg: Universitätsdruckerei Salzburg. Flamm, Chritoph (2013). Igor Strawinsky – Der Feuervogel, Petruschka, Le Sacre du printemps. Kassel: Bärenreiter Verlag. Gregor, Joseph (1994). Kulturgeschichte des Balletts. Wien: Gallus Verlag. Hill, Peter (2000). Stravinsky - The Rite of Spring. Cambridge: Cambridge University Press. Hirsbrunner, Theo (1982). 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