Carl- Friedrich Geyer Metaphysik Carl- Friedrich Geyer Metaphysik Odds and Ends Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://www.dnb.de› abrufbar. © Verlag Traugott Bautz GmbH 98734 Nordhausen 2016 ISBN 978-3-95948-123-6 Inhaltsverzeichnis 1. Ordinare......................................................... 7 2. Positionen.................................................... 38 3. Mikrologie................................................. 107 4. Kultur ........................................................ 146 5. Anfragen an eine spezielle Metaphysik..... 186 5.1 Religion-Theologie-Metaphysik............... 190 5.2 Freiheit .................................................... 249 5.3 Ewiges Leben?......................................... 281 6. Theodizee .................................................. 315 6.1 Theodizeeanalogie und Theodizee........... 316 6.2 Erweiterungen und Distanzierungen ....... 325 6.3 Noch einmal: Leibniz und die Folgen...... 333 6.4 „Erb-Sünde“............................................ 347 7. Welt- und Selbstverhältnisse..................... 367 1. Ordinare „Du meinst, das menschliche Denken verlief damals in anderen Bahnen? Es war damals so brillant wie heute das Denken der Kosmologen. Es war raffiniert, es war politisch schlau, es schuf Ordnung. Es schob das Grauen hinaus. Ob es andere Bahnen waren, weiß ich nicht. Sie benutzten eben, was sie hatten. Visionen, Halluzinationen. Gerade so, wie die Naturwissenschaft das benutzt, was sie hat. Und damit hat’s sich.“1 Folgte man vorbehaltlos all jenen, die in der Metaphysik etwas schlechthin und unwiderruflich Abgetanes zu sehen vorgeben, verdiente die Frage nach ihr wenig mehr als das Lachen jener Thrakerin, die für die Suche des Thales von Milet nach dem ersten Prinzip alles Seienden nur Spott übrig hatte. Nur wenig höher in der Wertschätzung rangiert trotz späterer ‚Milde‘Kants „spröde Geliebte“, nämlich die sich dem Werben des Philosophen entziehende Metaphysik, der nach dem Verlust ihrer wissenschaftlichen Reputation einzig das Refugium der praktischen Vernunft verbleiben sollte. Ganz am unteren Ende der Skala der Plausibilitätsverluste findet sich dann noch die mehr oder minder gelungene Karikatur. Noch weiter unten mag dann sogar noch der Hinweis den allfälligen Trost bereithalten, die Metaphysik sei neben der Trunksucht jener Übelstand, den die Aufklärung 1 E- L. Doctorow, City of God, deutsch von Angela Praesent, München 2003, 136. 7 Ordinare zumindest aus Deutschland vertrieben habe.2 Allerdings verraten dergleichen Invektiven, dass selbst noch die Beschwörungen eines wie immer verstandenen Endes der Metaphysik sich auf deren ureigenem Terrain bewegen. In Bezug auf das, was auf den folgenden Seiten zur Darstellung kommen soll, reicht die bloße historische Analyse allerdings nicht aus. Eine solche Weise der Analyse untersucht ja aktuelle Probleme unter der Rücksicht, ob und inwiefern sie sich bereits in der Vergangenheit wann, wo und unter welchen Bedingungen gestellt haben, während die historische Synthese, die uns im Folgenden beschäftigen soll, ihren Ausgang bei einem historisch vorgegebenen Fragekomplex nimmt, der für die meisten Zeitgenossen offensichtlich etwas endgültig Vergangenes bezeichnet. Umgekehrt und gegenläufig dazu spricht dennoch Einiges für die fortdauernde Gegenwart von Inhalten, Fragestellungen und Wertungen, die erst im Kontext der fraglich gewordenen Metaphysik, Konturen gewinnen. Man könnte unter anderem beispielsweise zeigen, dass etwas „der Fall war“, aber aus dem übergeordneten Interesse an der Frage heraus, was es bedeutet hat und wie es unter Umständen weiterwirkt. Daran schlösse sich dann unter Umständen die Frage an, welche nicht nur terminologisch-begriffsgeschichtliche Folgen damit verbunden sein können, dass es seit den Anfängen des Nachdenkens über „die Wirklichkeiten, in denen wir leben“, also der Philosophie, so etwas wie „Metaphysik“ überhaupt gegeben hat und vielleicht noch immer gibt. Eine weitere Frage wäre, wie an einem bestimmten Punkt, in einer bestimmten geschichtlichen Konstellation dieses von sich aus unabschließbaren Prozesses mit dieser Tatsache umgegangen 2 So Benedikt Erenz polemisch in der ZEIT vom 26. August 1983 („Der Rest ein Torso – Der Kulturstaat – ein Sozialfall?“). 8 Ordinare wird und welche Folgerungen weiterhin vertretbar erscheinen oder sich im Gegenteil als Irrwege erweisen. Die Frage, die sich im Folgenden stellt, gilt somit den letzten Motiven und Zielsetzungen dessen, was sich mit Begriff und Sache der Metaphysik verbindet, sowie deren fortdauernder Präsenz und Akzeptanz im „Jetzt“. Die Frage nach dem „Wann“ verbindet sich zwangsläufig mit der Frage nach dem „Warum“. Aus alledem einen endgültigen Abschied von der Metaphysik zu folgern, ist schon deshalb fraglich, weil sich das Problem selber von der Agenda sogenannter zwingender historischer Abläufe nicht streichen lässt.3 In der ersten seiner Thesen zur Geschichtsphilosophie4 gibt Walter 3 Während ich dies schreibe, legt der Berliner Merve-Verlag, bekannt für ‚linke‘ und im Umkreis der ‚Postmoderne‘ angesiedelte Publikationen, ein neues Programm auf, betitelt „spekulativer Realismus“, das sich prononciert Fragen der Wiedervergegenwärtigung metaphysischer und ontologischer Probleme annehmen möchte. Vgl. auch: P.-L. Coriando-T. Röck (Hrsg.), Perspektiven der Metaphysik im „postmetaphysischen“ Zeitalter, Berlin 2014. 4 „Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, dass er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ‚historischen Materialismus‘ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und hässlich ist und die sich ohnehin nicht darf blicken lassen.“ W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt/Main 1977, 251-261, 251. 9 Ordinare Benjamin die Probe einer solchen Betrachtungsweise und zugleich ein Beispiel für das, was mit den abstrakten Andeutungen zur Methodik und Analytik im Näheren gemeint sein könnte. Das Beipiel ist von der Frage nach der Gestalt und dem Status der Metaphyik nicht allzu weit entfernt. Auf die Gegenwart bezogen ist der Hintergrund dieser Feststellung, dass - seit die Krater des Marxismus in Gestalt des historischen Materialismus erloschen sind, einer Weltsicht also, die sich ihrerseits dem Verdacht des Kryptometaphysischen5 gegenüber sah - der Naturalismus in seinen unterschiedlichen Spielarten zum Begleiter des globalen Ökonomismus geworden ist und ebenfalls – wenngleich klandestin – nicht ohne Theologie und ohne Theodizeeesinn auskommt6. 5 Die Hegelkritik von Marx spielt allein schon durch diese Bezugnahme der Metaphysik in die Hände. Wider Willen eindeutiger ist G. Lukacs in seiner Replik auf K. Jaspers, in: G. Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Werke, Band 9, Neuwied 1962, in der er einen Metaphysiktyp beschreibt, der sich problemlos auch auf den HISTOMAT selbst übertragen lässt. Demnach handelt es sich bei der Metaphysik um „eine Philosophie über das Sein an sich“ (379), um eine „Verselbständigung der objektiven Weltbilder im wissenschaftlichen Bewusstsein (Band 10, 494). Gegenstand der Frage ist ein „An sich“, das auf subjektivistischirrationalistische Gründe zurückgreift – ganz im Gegensatz zur Objektivität, dem „wahren An-sich“ in materialistisch-ökonomischer Hinsicht -, so dass Metaphysik als die idealistische Subjektivierung der ökonomischen Kategorien von Kapitalismus und Imperialismus gelten kann, eine Beschreibung, die bei bloß „ideologischer“, also gerade nicht „wissenschaftlicher“ Drehung, selbstverständlich auch auf den historischen Materialismus selber zutrifft. Vgl. Band 10,438. 6 Vgl. dazu: C.-F. Geyer, „Eher geht eine Camel durch ein Nadelöhr…“. Theodizeemotive im globalisierten Kapitalismus, in. D. Kannemann-V. Stümke (Hrsg.), Wort und Weisheit. Festschrift für Johannes von Lüpke, Leipzig 2016, 31ff. 10 Ordinare Die Theologie, der Benjamin in seiner Metapher vom schachspielenden Zwergen die entscheidende Rolle zuerkannte, sieht sich inzwischen wohl eher zwischen bloßer Philologie und Fundamentalismus zerrieben, denn ihres verborgen-aktiven Parts hat sie sich mit dem Vezicht auf eine kritisch-spekulative Systematik offensichtlich selber begeben. Hinzu kommt, dass sie als Motivgenerator für den historischen Materialismus im Sinne Benjamins ohnehin auf ihr heilsgeschichtliches Potential beschränkt war, aus dem säkularisiert auch der historische Materialismus lebte. An die Denkfigur Benjamins erinnern kann aber nicht bedeuten, der Metaphysik, die – wie Karl Löwith7 gezeigt hat – philosophisch belastete Funktion heilsgeschichtlicher Spekulation zuzuschreiben. Auch der Bezug auf den zeitgenössischen Naturalismus bleibt eigentlich nur rein formal: Wie jede Makrotheorie, die mit dem Gestus der Grundlegung wie der Überbietung der Einzelwissenschaften auftritt, begibt sich der Naturalismus gerade mit seinen universalistischen Geltungsansprüchen jener Wissenschaftlichkeit, die er gegen die Metaphysik ins Feld führt, und erweist sich so wider Willen als deren schlechte Variante. Sofern er sich zu einem universalen Ordnungsschema aufschwingt, karikiert er zudem die Grundfunktion metaphysischer Diskurse, Ordnung in die Welt des Wissens über die Dinge zu bringen. Mit dieser Funktion ist der letzte und irreduzible Kern der Metaphysik angesprochen, mit dem sie historisch bei Aristoteles ihren Anfang genommen hat. Dies bleibt ihre Maximaldefinition selbst dann, wenn sich alle ‚metaphysischen Hinterwelten‘ aufgelöst haben. Dieser unscheinbare Kern ist – so darf man sich Benjamins Klassifizierung der Theologie ins Gedächtnis zurückrufen – 7 Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Vorausset- zungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953. 11 Ordinare „heute bekanntlich klein und hässlich“ und darf sich „ohnehin nicht blicken lassen“. An dieser Stelle greift der im Titel genannte Terminus von den „odds and ends“ Platz, eine Redewendung, die „Reste“, „Kleinigkeiten“ oder auch „Krimskrams“ bezeichnet, die als Ramsch verhökert oder als entbehrliche „Kinkerlitzchen“ zu einem Spottpreis weitergereicht werden. Manchmal sind sie aber auch gesucht, nämlich wenn hinter ihrer unscheinbaren Gestalt und Schäbigkeit ungeahnte Schätze vermutet werden. Es kann darüber hinaus auch Konstellationen geben, in denen das Verworfene zu etwas wirklich Bedeutungsvollem wird, das sich nur dem ungeübten Blick als „Kleinkram“ darbietet. Benjamins Schachmetapher lehrt, dass „Schäbigkeit“ im Sinne von Verachtet-sein möglicherweise nur Tarnung ist, ein Vexierspiel im Blick auf das, was auf „seine Stunde“ wartet. Genau in diesem Sinne konnte Adorno, dessen Anleihen bei Benjamin umstritten und kein Geheimnis sind, mutmaßen, „Metapysik möchte gewinnen allein, wenn sie sich wegwirft“, sodass die Frage „nach der Metaphysik sich zu der schärft, ob dies ganz Dünne, Abstrakte, Unbestimmte, deren letzte und bereits verlorene Verteidigungsposition sei, oder ob Metaphysik allein im Geringsten und Schäbigsten überlebt, im Stand vollendeter Unscheinbarkeit“8 Dieses Letzte und Tiefste wäre jenseits aller 8 Th. W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit (=Gesammelte Werke, Band 6, hrsg. von R. Tiedemann), Frankfurt/Main 1973, 357 und 394 (im Folgenden als ND abgekürzt). H. R. Schlette hat unter Hintansetzung der pejorativen Mutmaßungen, die sich bei dem Stichwort „Odds an ends“ einfinden, in seiner „Kleinen Metaphysik“ ähnliche Überlegungen geäußert: „‘Klein‘ ist die Metaphysik, wie ich sie skizzieren möchte, deshalb, weil sie sich von den ‚Großen Metapysiken‘ durch eine gewisse Armut und Kargkeit unterscheidet. Da nicht wenige heute Metaphysik philosophisch überhaupt 12 Ordinare historischen und systematischen Verzerrungen und Verzeichnungen vielleicht mit der ursprünglichen aristotelischen Bedeutung identisch, die von Anfang an alle späteren vorwitzigen Sinnerwartungen durchkreuzt. Aristoteles trifft diese ursprüngliche Bedeutung im Sinne einer Unterscheidungsleistung bewusst in jener seiner Schriften, der später aus historisch-philologischen Gründen der Titel „Metaphysik“ zugewachsen ist. Hier spricht er das „herrschergleiche“ Tun dessen an, der im vollen Wortsinn als „Metaphysiker“ präsentiert wird, nämlich als der, dem die Aufgabe der „Hyparchia“9 obliegt. Bereits die Aristotelesrezeption des Mittelalters hat auf diese Fundamentaloption gesetzt. So hat Thomas von Aquin im ersten Buch seiner „Summa contra Gentiles“, in dem er nach der besonderen Aufgabe des Weisen10 fragt, feststellen können: „Unter allen Bestimmungen, welche die Menschen dem Philosophen beilegen, betont Aristoteles die Aufgabe, Ordnung zu schaffen („quod sapientis est ordinare“), denn es handelt sich hier um die Betrachtung der höchsten aller Künste […], besteht doch die Aufgabe des Philosophen darin, die letzten und höchsnicht mehr für möglich halten und man auch das Wort ‚postmetaphysisch‘ in Umlauf gebracht hat und da auf der anderen Seite allenfalls noch einige ‚Altkonservative‘ selbstsicher an Großer Metaphysik festhalten, befinden wir uns mit der Kleinen Metaphysik in der unangenehmen Position zwischen allen Stühlen“ (Kleine Metaphysik, Frankfurt/Main 1990, 14f.). 9 Aristoteles, Metaphysik I,982a20-30. 10 Der „Weise“, von dem hier gesprochen wird, vereint noch, ganz im Gegensatz zu späteren Unterscheidungen, die Weisheits („sapientia“)und Wissenshaftsfunktion (“scientia“) des Philosophen, die mit dem modernen Auseinandertreten von „Weisheit“ und „Wissenschaft“ nichts gemein hat, die „Weisheit“ entweder als Marginalie abtut oder als bloße Esoterik verwirft. 13 Ordinare ten Ursachen zu betrachten („sapientis est causas altissimas considerare“)“.11 Diese Ordnungsfunktion, von der die aristotelische Metaphysik ihren Ausgang nimmt und die in der Bestimmung des bios theoretikos in der Nikomachischen Ethik ihre endgültige Fassung erhält, hat nichts mit der ‚postmodern‘ gern beschworenen Orientierungsfunktion von Philosophie gemein. Diese hat selbst noch als „Orientierung im Ganzen des Wissens und Denkens“ etwas Ephemeres und Nachgeschobenes, weil in ihr immer wieder Wertsetzungen mitschwingen, die den primär formalen Aspekt des „Ordinare“ verdunkeln. Solche Engführungen sind das „Sein“ (in einem über den aristotelischen Sprachgebrauch hinausgehenden Sinne, sei es in der mittelalterlichen Lehre von den „Transzendentalien“, sei es in der Existenzphilosophie), „Gott“ (in der „Philosophischen Theologie“ von Anselm bis Hegel), das „Absolute“ oder das „Unbefragbare“ (sei es bei Hegel, sei es in den residualen „Schwundstufen-Metaphysiken“ der Moderne). Die je historisch kontingenten Annahmen werden hier unbesehen schnell zu „letzten Gründen“ hypostasiert, Glaubensbekenntnissen vergleichbar. Die Frage nach der Möglichkeit von Metaphysik verengt sich je nach Fragehorizont und –anlass entsprechend zu der Frage nach der Möglichkeit einer „demonstratio Dei“, einem letzten Seins- oder Bewusstseinparadigma oder nach dem Nichts, dass sich freilich nur denken lässt, wenn ein Ordnungsschema Sein und Zeit so zusammenzufügen erlaubt, dass aus Unvereinbarem die Gestalt einer höheren Einheit folgt.12 Freilich beibt auch in diesem Falle die entscheidende Frage unbeantwortet: Wer ermächtigt zur „Hyparchia“? Welche Denkbewegungen oder welche Ordnungsvorstellungen können eine solche Lei11 Summa contra Gentiles, lib.1.cap. 1 n. 1 et cap.1 n.3. 12 Vgl. M. Heidegger, Was ist Metaphysik? Franfurt/Main 1969, 33-42. 14 Ordinare tungsfunktion unter den Bedingungen der späten Moderne noch beanspruchen? In der Ausübung solcher Gestaltungs- und Zuordnungsgewalt hat Aristoteles selbst die Frage nach dem Ausgriff auf die „Einzelwissenschaften“ damit beantwortet, dass er zwischen theoretischer und praktischer Philosophie unterschieden und diese Unterscheidung methodisch begründend in den Dienst einer Hierarchisierung der Lebens- und Erkenntnisformen gestellt hat. Kant sollte ihm später in der Unterscheidung zwischen „reiner“ und „praktischer Vernunft“ darin folgen und das antikseinsphilosophische Paradigma in der Hinwendung zum sogenannten bewusstseinsphilosophischen Paradigma fortschreiben. Auch hier kann deshalb trotz aller Diskontinuitäten und Traditionsbrüche durchaus von Kontinuität gesprochen werden. Aristoteles und Kant verbindet zudem eine unübersehbare Privilegierung der theoretischen Lebensform. An dieser Privilegierung hat nach Aristoteles die Praktische Philosophie als Philosophie, d.h. qua Theorie teil, nicht aber durch einen wie auch immer konstruierten unmittelbaren Praxisbezug. Gegenüber der prima philosophia, der Metaphysik, gestaltet sich die Praktische Philosophie entsprechend ganz im Sinne eines proteron-hysteron. So ist es bis in die neuzeitlichen Überlegungen zur Praxisgestalt von Theorie geblieben. Das unterirdisch Metaphysische der aristotelischen Gestalt praktischer Philosophie findet vor allem im Teleologiegedanken seinen Ausdruck, der das enzyklopädisch angeordnete Werk des Philosophen mit seinen Schriften zur Logik, Metaphysik, Rhetorik, Theologie, Politik, Ökonomie, Literatur, Ethik, Psychologie, Physik und Astronomie sowie Kosmologie und Biologie, Botanik und Zoologie strukturiert. In ihm kommt das eminent Metaphysische auch in diesen Bereichen des Wissens und Erkennens zu seinem Recht. Die Einschränkungen, die der neuzeitliche Wis- 15 Ordinare senschaftsbegriff der Philosophie gesetzt hat, signalisieren gleichsam am anderen Ende dieser Entwicklung ein Ende der Möglichkeit einer so verstandenen prima philosophia. Damit wird nicht etwa die Metaphysik-Funktion von Philosophie als ganze obsolet, wohl aber der normative Anspruch erster Philosophien auf eine die Einzelwissenschaften ermöglichende und überbietende Theorieform, beispielsweise als ‚Wissenschaftstheorie‘, welche die Dinge nach den unterschiedlichen Ursachen unterscheidet, zum Beispiel der Materialursache, der Formursache, der Wirkursache und der Zweckursache. Während letztere den Teleologiegedanken festhält, entsprechen die drei ersten Ursachen den drei Aspekten des Seins, die es beispielsweise ermöglichen, zwischen Teleologie und Entelechie zu unterscheiden. Die Metaphysik-Funktion, von der im Zusammenhang mit der Praxis der Philosophie seit Aristoteles gesprochen wird, hält umgekehrt und zusätzlich dazu eine Gestalt von Philosophie fest, die durch die Einzelwissenschaften ‚hindurchgegangen‘ ist. Sie ist, um einen Terminus von E. Levinas aufzugreifen und dennoch am aristotelischen Sprachgebrauch festzuhalten, letzte Philosophie, Resultat und Resultante. Nach Aristoteles bezieht sich die Praktische Philosophie ausschließlich auf das Werk, das ergon. Sie unterliegt der Determination durch das Handeln und vollzieht sich im Gegenstandsbereich der veränderbaren Dinge. Die theoretische Philosophie [Metaphysik] geht auf die aletheia/theoria, in Bezug auf die wir uns primär als Zuschauer, Betrachter (das meint das Wort „Theoretiker“ im ursprünglichen Sinne) verhalten. Ethik, Ökonomik und Politik sind, wenngleich an sich ‚unwahr‘ beziehungsweise eher weniger oder anders ‚wahr‘ als dasjenige, auf das sich die theoretische Lebensform bezieht. Sie sind ephemer, d.h. nicht oder doch nur in einem sehr eingeschränkten Sinn reflektierte und theoretisch legitimierte Praxis. Aristoteles bezieht sich 16 Ordinare darüber hinaus immer nur auf ein Handeln, das durch Teilhabe an Handlungsgemeinschaften ein bestimmtes Telos verwirklicht. Der Mensch kann zum Prinzip des Handelns werden, weil er an einem Telos teilhat, dessen ontologische Struktur und Kohärenz den Menschen seine Wahrheit finden lassen. Der Mensch ist deshalb in heutiger Terminologie zugleich selbst- und fremdbestimmt: Der Einzelne und abstrakt die Menschheit, das Leben [bios], sind zwar Prinzip des Handelns, der Praxis, aber das Leben selbst ist darüber hinaus eine Tätigkeit, die ihr Telos in sich trägt, das sich gemäß den Modifikationen von dynamis und energeia entfaltet und mitteilt. Selbst die Aufklärung hat nach der Destruktion des aristotelischen Praxisbegriffs durch Hobbes dieser Teleologie ihre ganze Aufmerksamkeit zugewandt. In seiner „Deutschen Metaphysik“ von 1729 spricht Wolff davon, dass die ganze Natur voll göttlicher Absichten sei und deshalb die Glücks- und Unglücksfälle unter die göttlichen Absichten zu zählen seien. Letztere bleiben dem Menschen darum auch nicht verschlossen. In den "Vernünfftigen Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge"13 meint Wolff daher, ganz im Sinne eines theistisch domestizierten Aristoteles, im Menschen, dem einzigen Geschöpf, das Gottes Vollkommenheit in seinem Werk erkennen und verherrlichen kann, den Zweck der ganzen Welt zu erkennen. Schon bei Kant ist von solcher Teleologie keine Rede mehr und G. Lichtenberg bestimmt die Aufklärung selbst als eine Praxis, die vom Bedürfnis, nicht mehr vom Telos angeleitet wird. Theoretische wie praktische Philosophie bewegen sich um eine Achse [Telos, Vernunftstruktur, Plan der Welt, eine immanente 13 Chr. Wolff, Vernünftige Gedancken von GOTT, der Welt und der Seele des Menschen/Auch allen Dingen überhaupt, Halle 1720. Anderer Theil, Frankfurt und Leipzig 1724, 241. 17 Ordinare im Sein wurzelnde Zielbestimmtheit], die diese Unterscheidung selbst wiederum fraglich macht. Besonders die neuzeitlichen Denkfiguren Praktischer Philosophie, etwa zur Theodizee, sind ja von sich aus sehr spekulative Gebilde, denen die Praxis allenfalls die Themen vorgibt. Sie werden im Folgenden als ein instruktives Beispiel der sogenannten „speziellen Metaphysik“ anzusprechen sein, weil sie rationale Theologie, Kosmologie und Psychologie, vor allem aber die Problematik des „freien Willens“, aufs Eindrucksvollste miteinander verbinden. Praktische Philosophie ist theoretische Philosophie, die das Ephemere der Praxis theoriefähig erscheinen lässt, indem sie es in normierendem Zugriff ins Allgemeine wendet. Kritisch reformuliert M. Foucault in „L'Usage des plaisirs“ diesen Zusammenhang, wenn er schreibt: „Es ist immer etwas Lächerliches im philosophischen Diskurs, wenn er von außen den anderen vorschreiben oder vorsagen will, wo ihre Wahrheit liegt, oder wenn er ihnen in naiver Positivität vorschreiben will, wie sie zu verfahren haben“14 Der gegenwärtige Sprachgebrauch unterscheidet deutlich zwischen Praktischer Philosophie als spezieller Philosophie der Praxis einerseits [die strukturellen Bedingungen menschlicher Praxis sowie die normativen Prinzipien richtigen Handelns], und einem generellen Praktisch-Werden von Philosophie , welches die Differenz zwischen Theorie und Praxis sozusagen wieder aufhebt. Bereits bei Aristoteles selbst geschieht dies, erinnert sei an die Unterscheidung zwischen veränderlichem und unveränderlichem Seienden, bei Kant in der Unterscheidung zwischen Verstandesbegriff und Vernunftidee bzw. zwischen Reich der Natur und Reich der Freiheit. In der Praktischen Philosophie behauptet keine wie immer gedachte Praxis den Primat, sondern die vorgängige Entscheidung für Philosophie als Theorie erlaubt, 14 Paris 1986, 116. 18 Ordinare von praktischer Philosophie zu sprechen. So ist Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ die Entscheidung für eine der praktischen Vernunft immanente Theorie, die genau das zu ihrem Thema macht, was traditionell Gegenstandsbereich der sogenannten ‚speziellen‘ Metaphysik war: rationale Theologie, Kosmologie und Psychologie. In seinem Aufsatz „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ von 1793 klingt schon eine Bestimmung nicht halbierter Philosophie an, die sich primär als die Reflexion einer von Vernunftprinzipien bestimmten Praxis versteht. Sie ist Philosophie, sofern sie den Gesichtspunkt der Totalität für sich beansprucht und allein die Geltungsproblematik in den Vordergrund rückt, denn obwohl sie die vernunftbestimmte Praxis begründet, ist sie ihr doch gleichwohl immanent. Hier und im späteren deutschen Idealismus ist der primäre Zweck des heute wohl nicht mehr rational anzueignenden und lebensweltlich zu durchdringenden Systemgedankens selbstverständlich eine Praxis, die von ihrem spekulativen Moment nicht zu trennen ist. Ihr Gegenstand, weil höchster Zweck des Philosophierens, ist die Selbstbestimmung des Menschen als eines sittlich-praktisch-freien Vernunftwesens. Die Philosophie wird auf diese Weise als Theoriegestalt schlechthin zu umfassender praktisch- sittlicher, politisch- ökonomischer und lebensweltlicher Orientierung ermächtigt. Dass sie dem neuzeitlichen Differenzierungsprozess innerhalb der Wissenschaften darin dann nicht mehr gerecht werden kann, ist nicht zuletzt die Folge eines reduktionistischen Praxisverständnisses: Praxis wird zur bedingungslosen Exekution einer erschütterungsresistenten Theorie, die sich nicht hypothetisch im Sinne der Wissenschaften, sondern universalistisch im Sinne der Religionen versteht, wie gerade der sogenannte historische Materialismus und die modernen Naturalismen belegen. Praktischer Universalismus wird auf diese Art und Weise zum bloßen Meta- 19 Ordinare physiksurrogat, darin Aristoteles karikierend, denn die Praktische Philosophie ist im Verhältnis zur Praxis prima philosophia, Einsicht in ein unveränderlich Vorgegebenes, im Letzten also doch und gleichsam „funktionsäquivalent“ so etwas wie „Metaphysik“. In modernen Diskussionen um den Status und die Funktion der Philosophie begegnet man häufig dem Hinweis auf das der fundamentalistischen Versuchung in der Religion vergleichbare Trügerische einer holistischen Lebensperspektive und kohärenten Weltdeutung. In ihr scheint eine Verbindung von ‚Philosophie‘ und ‚Orientierung‘ Wirklichkeit geworden zu sein, die gerade in den Zeiten des Niedergangs der eindrucksvollen Systematisierungsversuche und der sogenannten „Makrotheorien“ vielen als Desiderat vorgeschwebt haben mag. Sie verweist mit einigem Recht auch auf eine fortdauernde Aufgabenstellung der Philosophie, nämlich auf das Postulat einer Versöhnung des selbstdiagnostischen Aspekts der Vernunft mit dem ethisch- handlungsnormierenden und dem szientistisch- instrumentellen. Wo sich die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit der Philosophie bedient, handelt es sich zumeist um ein Denken, das mit dem Anfang selbst ansetzen und sich folglich selber als uranfänglich setzen möchte. Dem steht entgegen, dass uns die „Frühe der Frühe“ nicht zugänglich ist, und dass Philosophie heute sich am wenigsten von der Aufgabe dispensiert sieht, die anstrengende Arbeit einer Vergegenwärtigung der eigenen Herkunftsgeschichte auf sich zu nehmen. Das Interesse am Anfang ist gar nicht einmal so sehr das Interesse an einer Horizontverschmelzung von ‚Einst‘ und ‚Jetzt‘. Die Frage nach der Genese des Denkens, nach den mit ihr eröffneten wie den mit ihr verschlossenen Denkmöglichkeiten, verweist viel eher darauf, dass all das, was wir suchen, uns immer nur in einem Raum der Kontroversen und Widersprüche gegeben ist, denn der Eintritt in das vermeintlich sichere 20 Ordinare Reich zuverlässiger, unverbrüchlicher Orientierungen führt in eine Region, in der in Wahrheit Unsicherheit und Widersprüchlichkeit, Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit regieren. Einem verbreiteten Verständnis von Philosophie und der Erwartungshaltung vieler gegenüber der Philosophie fehlen die Einsicht in diesen hypothetisierenden Charakter des philosophischen, das heißt unter den genannten Prämissen gerade auch des „metaphysischen“ Fragens. Weniger die Einzelwissenschaften beanspruchen sichere Erkenntnisquellen zu sein; eher wird dem philosophischen Diskurs im Sinne einer Grundlagenreflexion jene Sicherheit und definite Abgeschlossenheit abverlangt, die lediglich eine auf Wissenschaftstheorie reduzierte Philosophie zu versprechen scheint, und auch das nur, wenn die modernen Revolutionen gerade im wissenschaftstheoretischen Bereich unberücksichtigt bleiben. K. R. Popper hat bekanntlich in seiner Erkenntnistheorie in Bezug auf alle Wissenschaften ohne Ausnahme grundsätzlich bestritten, zu unwiderruflichen und nicht ergänzungsbedürftigen Sätzen gelangen zu können. Das gilt nach Popper gerade für die Naturwissenschaften. So greift in wissenschaftstheoretischen Diskussionen schrittweise eine Einsicht Platz, die in der kritischen Philosophie längst selbstverständlich und unbestritten ist: Es kann keiner Wissenschaft gelingen, ihre nur vorläufigen Ergebnisse zu wahren Aussagen zu stilisieren und ihren hypothetischen Charakter in einen definitiven umzukehren. Alles menschliche Wissen ist essentiell hypothetisch – dies eigentlich ein Gemeinplatz! Die Veränderungen innerhalb des Gefüges der Einzelwissenschaften werden aber zum Teil deswegen nicht wahrgenommen, weil sich „das zermürbende Durcheinander von Rationalismus und Absurdismus, das der unvollendeten Moderne eigen ist, auf die Bewusstseinsverfas- 21 Ordinare sungen der Mehrheiten geschlagen hat“15. Sehnsüchte und Erwartungen können nicht der Maßstab für ein offenes, sich in der Weise explikativer Praxis vollziehendes Philosophieren sein. Die Skepsis gegenüber einem festgefügten, Orientierungszwecken beliebig zuzugeordneten Wissen mag sich bereits auf Sokrates und seinen Topos vom Wissen als Nicht-Wissen beziehen, der alle spätere dogmatische Philosophie Lügen straft. Aber schon die unmittelbar an Sokrates anschließende Philosophie demonstriert das Gegenteil. Ob man Platons Ideenlehre oder Aristoteles‘ Theoriebegriff betrachtet: Die Skepsis gegenüber einer theoretischen Neuerfindung der Welt weicht hier überall der theoretischen Nachkonstruktion. Der ‚Wille zum Wissen‘ und der Wille, ‚bewusst zu werden‘, beugen sich dem „herrscherlichen“ Willen der Vernunft zur Einheit, auch wenn gültig bleibt: ‚Einheit‘ ist leere Forderung, ‚Vielheit‘ dagegen unmittelbare Wirklichkeit. Das kann man bereits dem Lehrgedicht des Parmenides entnehmen. Das weitverbreitete Orientierungsbedürfnis und der unerschütterliche Wissenschaftsglaube, der gerade Fragen persönlicher und nicht unbedingt verallgemeinerungsfähiger Handlungsnormierung und Weltdeutung in den Rang von Wahrheiten mit quasimathematischer Gewissheit erhebt, spiegeln vormoderne Strukturen wider. „Die falschen Suggestionen eines vor hundertfünfzig Jahren verabschiedeten Einheitsdenkens bilden immer noch die Folie“ unserer Vorstellungswelt, „so als müssten wir uns heute, wie die erste Generation der Hegelschüler, der Übermacht der großen Meister immer noch erwehren“16. Die Faszination, die 15 P. Sloterdijk, Die unfreiwillige Komik der Religion, in: FAZ- Magazin, Nr. 395 vom 25.9. 1987, 60-74, 68. 16 J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/Main 1988, 180. 22