Druckversion Url: http://www.focus.de/schule/lernen/lernatlas/philosophie-kant/metaphysik_aid_11519.html Philosophie Wer nicht fragt, bleibt dumm Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) hat für das Philosophieren drei Forderungen erhoben. 1. Selber denken – man soll also nicht nachbeten, was andere kluge Leute gesagt haben, sondern sein Denken selber erproben. 2. Sich jederzeit in einen jeden anderen denken – d.h. Probleme auch aus anderen als der eigenen Perspektive betrachten. Deshalb erwartet man von Philosophen, dass sie einen „Blick fürs Ganze“ entwickeln. 3. Jederzeit mit sich einstimmig denken – also prüfen, ob die eigenen Denkergebnisse auch zueinander passen und nicht im Widerspruch zueinander stehen. So wird man auch angeleitet, kritisch über das eigene Denken nachzudenken. Prinzipiell kann alles zum Inhalt philosophischer Reflexion werden. Die Zugangsweisen der Philosophie kann man an den vier Fragen, mit denen Kant wichtige Inhalte des Philosophierens – und damit die vier Kerndisziplinen der Philosophie – umreißt, deutlich machen. Diese Kernfragen sollen hier noch einmal ausführlich dargestellt werden. Buchtipp Gabriele Münnix u.a.: „Horizonte praktischer Philosophie“, Klett, 21,20 EURO. Anregungen zum Philosophieren für die Klassen 9 und 10. Was können wir wissen? Wir wissen, dass unsere Sinne uns täuschen können. Trotzdem sind sie die Grundlage unseres Wissens von der Welt. Aber mit der reinen Vielfalt von Wahrnehmungserfahrungen können wir nicht viel anfangen. Wir müssen diese Wahrnehmungen ordnen, damit wir uns in der Welt zurechtfinden können – und zum Beispiel sagen können: „Dieser Pilz ist giftig“. Zudem brauchen wir allgemeine Verstandesbegriffe, um Urteile bilden und prüfen zu können: Beispielsweise fassen wir unter dem Begriff „Hund“ so Der Wasserfall RENÉ MAGRITTE unterschiedliche Tiere wie Dackel und Bernhardiner zusammen, weil wir ihnen gemeinsame Eigenschaften zubilligen. Und schließlich können wir mit Hilfe der Vernunft aus der Kombination solcher Begriffe und Urteile Schlussfolgerungen ziehen, ganz ohne dabei auf Sinnesdaten zurückgreifen zu müssen. Allgemeine Regeln oder Gesetze Wir können aber auch induktiv schließen: Wir verallgemeinern dann Erfahrungen, die wir regelmäßig machen und vermuten dahinter allgemeine Regeln oder Gesetze. Zum Beispiel sagen wir „Jeden Morgen geht die Sonne auf“ – und zwar obwohl wir wissen, dass sich in Wirklichkeit die Erde um die Sonne bewegt. Das wiederum weist darauf hin, dass wir immer nur von bestimmten Standpunkten aus wahrnehmen, denken und erkennen können. Wir haben also bestimmte Blickwinkel und Perspektiven, unsere Horizonte sind begrenzt. Kritische Erkenntnistheorie kann uns klar machen, dass wir vorsichtig sein müssen mit der vorschnellen Verallgemeinerung unserer eigenen Erkenntnisse. Für unsere Erkenntnisprozesse können wir auch Hilfsmittel verwenden. So hat Galileo Galilei mit seinem Fernrohr vier „Gestirne“ in der Nähe des Jupiter entdeckt, die abwechselnd sichtbar und unsichtbar waren. Diese Beobachtungen hätte er ohne Vorwissen nicht richtig interpretieren können: Er schloss aus seinen Aufzeichnungen, dass die Gestirne den Jupiter kreisförmig umrunden müssen, also Monde des Jupiter sind. Unser Vorwissen beeinflusst unsere Erkenntniserwartungen. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass wir selektiv wahrnehmen und weniger interessantes ausblenden können. Erkenntnisprozesse Auch wenn wir immer mehr über Gehirnprozesse wissen, ist der Prozess unseres Erkennens noch nicht eindeutig geklärt. Hier gibt es verschiedene erkenntnistheoretische Grundpositionen: Der Empirismus glaubt, dass alle Erkenntnis aus der Erfahrung stammt, der Rationalismus, dass alle Erkenntnis aus dem Denken stammt. Für einen Idealisten bestimmt das Bewusstsein das Sein: Mit den Kategorien unseres Geistes prägten und strukturierten wir die Welt so, wie sie dann für uns sei; über die Wirklichkeit an sich könnten wir nichts sagen. Für einen Materialisten (wie Karl Marx) prägt das Sein das Bewusstsein: Unser Denken sei immer nur in Abhängigkeit von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen, der „materiellen Basis“, möglich. Was sollen wir tun? Die Ethik ist die Lehre vom Handeln und den Regeln für sinnvolles Handeln. Unabhängig von Einzelfällen will sie Klarheit gewinnen über die Prinzipien, nach denen man agieren sollte. Die deskriptive Ethik beschreibt dabei lediglich Handlungen mit ihren Motiven und Folgen in verschiedenen Situationen und Kulturen. In der normativen Ethik werden Handlungen bewertet und diese Bewertungen begründet. So kommt man zu Prinzipien, die unser Handeln leiten können. Welche Mittel heiligt der Zweck? Polizisten und Demonstranten beim G-8 Es gibt zwei große Gruppen ethischer Treffen in Genua Positionen. Die Wertethiker machen eine gute Gesinnung, die Orientierung an Werten zur Pflicht. Das können Kernwerte sein wie die vier Tugenden Gerechtigkeit, Tapferkeit, Klugheit und Mäßigung (wobei man auch die Bedeutung dieser Begriffe klären muss). Aber auch formale Prinzipien wie die goldene Regel, die es in verschiedenen Formulierungen in fast allen Kulturen gibt („Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“) sind möglich. Dieses ethische „Prinzip der Reziprozität“ besagt, dass man die eigenen Ansprüche auch anderen zubilligen muss und ist daher Ausdruck der Achtung des anderen Menschen. Immer ist bei der Pflichtethik die Orientierung an einer inneren Wertüberzeugung ausschlaggebend, die Gesinnung, aus der heraus man die Handlung tut. Der philosophische Egoismus Die andere Möglichkeit ist, sich an den vermuteten Folgen einer Handlung zu orientieren und abzuschätzen, ob die Handlung mehr Nutzen als Schaden bringen wird. Hierhin gehört der philosophische Egoismus: Der Philosoph Friedrich Nietzsche meint zum Beispiel, dass alle Handlungen, auch die, die angeblich für andere geschehen, verdeckt eigensüchtig sind; immer verfolge man nur die eigenen Interessen, auch auf Kosten anderer. Aber auch der so genannte Utilitarismus, der nicht den eigenen Vorteil will, sondern das Glück der Gesamtgesellschaft zum Ziel hat und daran die Nützlichkeit einer Handlung misst, muss hier genannt werden. Allerdings muss hier das Leid weniger in Kauf genommen werden, wenn es dadurch vielen besser geht. Bei vielen Entscheidungen, vor denen wir heute stehen, sind diese ethischen Positionen bedeutsam: Dürfen wir zum Zweck der medizinischen Forschung Embryonen schädigen oder töten? Hat die Natur einen Eigenwert oder ist sie nur für unsere Zwecke da? Darf man töten, wenn dadurch anderes Leben gerettet wird? Haben Menschen generell einen Wert und eine Würde? Diese Überzeugung ist auch Grundlage der deutschen Verfassung – ein Beispiel dafür, dass ethische Reflexion auch unerlässlich für die Gesetzgebung ist. Denn diese muss sich am moralischen Empfinden und Handeln der Menschen orientieren, um vernünftige und allgemein akzeptable Regelungen zu finden, die gerechte Urteile ermöglichen. Was dürfen wir hoffen? Der griechische Philosoph Sokrates hoffte darauf, dass seine Seele nach dem Tod endlich die Wahrheit sehen könne, ohne noch länger im Körper gefangen zu sein. Daher nahm er seinen Tod in Kauf, obwohl er ihn hätte vermeiden können – und fürchtete sich nicht davor. Das, was über unsere erfahrbare Wirklichkeit Neue Ausblicke: „Durchbrechung des und unsere individuelle körperliche Existenz mittelalterlichen Weltbildes", hinausgeht, beschäftigt die Metaphysik. Holzschnitt, 1888 Dabei geht es einerseits um die Ursprünge unseres Seins, die wir nur vermuten oder erschließen können – schließlich waren wir nicht dabei. Zum Beispiel bilden wir Theorien auf Grund von Indizien oder Naturerscheinungen, die wir für gesetzmäßig halten. Andererseits geht es der Metaphysik um Zukunftsvorstellungen und um Sinn, den wir in der beobachtbaren Wirklichkeit nicht vorfinden. So können wir hoffen, dass unser Leben nicht sinnlos ist und wir vielleicht selbst zur Sinnhaftigkeit unseres Daseins beitragen können. Doch dazu brauchen wir Zielvorstellungen, die unser Leben leiten. Für Kant sind dies zum Beispiel die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit (wir könnten auch noch Frieden und Gerechtigkeit ergänzen), die wir in unserer Wirklichkeit gar nicht oder nur unvollkommen vorfinden. Kant bezeichnet diese Ideen daher als „transzendente Ideale“: Sie sind Idealvorstellungen, die unsere Erfahrungswelt übersteigen, gleichwohl aber unserem Leben und Denken Sinn geben können. Die Vorstellung vom Unbegreiflichem „Transzendentalphilosophen“ und Religionsphilosophen fragen nach Ursprung und Ziel unserer Existenz: Woher? Wohin? Wozu? Diese Fragen bewegen vor allem in Grenzsituationen, etwa bei schwerer Krankheit, dem Verlust von Angehörigen oder Freunden. Warum ist das Leid in der Welt? Antworten auf diese „letzten Fragen“ können keine definitiven, objektiv prüfbaren Aussagen sein – sie sind eine Frage des Meinens oder Glaubens. Auch viele Philosophen haben ihre Vorstellungen dazu entwickelt und versucht, dieses Meinen und Glauben mit vernünftigem Denken untermauern, Gründe und Gegengründe zu finden, weshalb eine Position sinnvoll oder sinnarm ist. Für den deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum Beispiel entwickelt sich der menschliche Geist in dialektischer Gesetzmäßigkeit auf immer höheren Stufen hin zum absoluten Geist, dem Ziel der Geschichte. Die Suche nach ersten Gründen und Prinzipien hat das „spekulative Denken“ vieler Philosophen angeregt. Aber auch die postmoderne Philosophie, die eine dogmatische Metaphysik wie die Hegels kritisiert, hat eine Vorstellung vom Unbegreiflichen, das alles Denken und Sprechen übersteigt und auf das alle unsere Begriffe immer nur verweisen können. Wir können uns diesen Unsagbaren in allen verschiedenen Sprachen aber nur auf unvollkommene Weise annähern. Denn alle unsere Namen dafür, die wir ja selbst erdacht haben, können diesen Urgrund für alles Denken und Sein nicht erfassen. Das zeigt, dass die Metaphysik bei aller Kritik eine Kerndisziplin philosophischen Denkens bleibt, auch und gerade angesichts neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse der Naturwissenschaften, die uns gerade nicht Antwort auf alle unsere Fragen geben. Was ist der Mensch? Die Lehre vom Menschen (griechisch: „anthropos“) gibt es in verschiedenen Wissenschaften. Die Medizin etwa untersucht den menschlichen Körper, die Soziologie beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Existenz und die Psychologie mit dem Seelenleben des Menschen. Die philosophische Lehre vom Menschen fragt nach seinem Wesen angesichts aller Forschungsergebnisse der einzelnen Wissenschaften. Die Frage, was der Mensch überhaupt ist, ist die Frage nach seinem Wesenskern. Der griechische Philosoph Aristoteles hat den Menschen als Sinneswesen mit Vernunft beschrieben – ersteres haben wir wohl mit den Tieren gemeinsam, letzteres scheint uns von ihnen zu unterscheiden. Die biologische Anthropologie hat festgestellt, dass Menschen Venus von Willendorf (ca. 25 000 v. im Unterschied zu Tieren abstrakte Theorien Chr.): Das Selbstbild des Menschen entwickeln und sich vom Konkreten lösen ändert sich mit der Zeit können – im Unterschied zu Tieren, die zwar zum Teil Symbole verstehen können, aber nur eine praktische Intelligenz haben. Die Erforschung der künstlichen Intelligenz hat unsere Aufmerksamkeit auf einen weiteren Unterschied gelenkt: Nicht mehr das Denken ist hier das entscheidende Unterscheidungsmerkmal – viele Denkprozesse können auch gut von Maschinen übernommen werden. Computern fehlt jedoch das Verständnis dafür, was sie tun. Und: Gefühle sind es, die Roboter wohl nicht haben können. Sie können keine Trauer und keinen Neid empfinden, keinen Hunger nach Anerkennung, keine Wut und keinen Hass, keine Liebe und auch keine Dankbarkeit. Bewusstsein von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Für Kant enthält die Frage nach dem Menschen alle drei anderen voraus gegangenen Fragen in sich: Der Mensch ist nämlich auch das Wesen, das nach Wissen strebt, dass hoffen und glauben kann, und das Gut und Böse unterscheidet und sich moralisch verhalten kann. Menschen haben ein Bewusstsein von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und können ihr Handeln für eine bessere Zukunft einsetzen. Denn Menschen können aus eigenen und anderen Erfahrungen lernen, ihr fehlerhaftes Handeln korrigieren und für die Zukunft Pläne entwickeln. Dabei können auch die Erfahrungen vergangener Generationen helfen, die wir aus Büchern und Filmen kennen und als hilfreich oder hinderlich bewerten. Weder Maschinen noch Tiere sind in der Lage, Dichtung, Literatur und Philosophie zu entwickeln und ein ästhetisches Vergnügen dabei zu empfinden – anders als bei Tieren und Maschinen ist die menschliche Kommunikation nicht immer auf praktische Zwecke bezogen. Und schließlich ist es der Mensch, der durch den Gebrauch von selbst geschaffenen Symbolen Schriftsprachen erfindet und mit ihnen neue Theorien entwickeln kann, um Modelle für die Erklärung der Welt zu finden. Diese wesentlichen Dimensionen unseres Menschseins sind auch deshalb für unser Denken wichtig, weil wir dadurch auch Aufschluss über unsere eigene Identität bekommen. Wer sind wir eigentlich, jeder von uns? Und so ist das Nachdenken über das, was den Menschen zum Menschen macht, immer auch ein Stück Selbsterkenntnis. Foto: RENÉ MAGRITTE Copyright © FOCUS Online 1996-2009