Anreise zur Philosophie

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Anreise zur Philosophieã
Philosophie ...
... heißt Liebe zur Weisheit. Was bedeutet das? Soll man weise werden oder gar schon
weise sein, wenn man als 16- oder 17-Jährige(r) philosophiert? Ist das nicht eher etwas
für die Älteren? Keineswegs.
Das Philosophieren kennt keine Altersgrenzen. Es beginnt immer da, wo sich Menschen
Klarheit über sich selbst und ihre Welt verschaffen, wenn ihnen das Selbstverständliche
frag-würdig geworden ist oder ihnen Zweifel gekommen sind, z.B. an überlieferten Werten
und Normen. Das Nachdenken über die Grundfragen der menschlichen Lebenswelt, d.h.
über Grund-Probleme der Gesellschaft, Arbeit, Politik, Moral, Sprache, Wissenschaft,
Technik und Kunst, geschieht seit weit über 2000 Jahren bis heute immer wieder.
"Grundfragen" bedeutet: Hier wird vor allem nach dem Grund gefragt oder nach dem
Fundament, auf dem - z.B. - die Moral beruht (oder beruhen sollte), mit anderen Worten:
Es werden Gründe verlangt, z.B. dafür, dass es einen Staat geben soll oder (z.B.) dafür,
dass Kunst etwas Unverzichtbares ist. Lässt sich beweisen, dass wir ohne Staat nicht leben
können, gut begründen, dass wir ohne Kunst nicht leben wollen?
Hiermit ergeht an alle interessierten Schüler/innen die Einladung zu einer (vielleicht
mehrjährigen) Reise in das Gebiet der Philosophie. Wird es eine anstrengende oder gemütliche Reise werden, eine vergnügliche oder verdrießliche, langweilige oder
interessante?
Vom Reisen überhaupt
Denken wir an die Entdeckungsreise. Sie bietet die Herausforderung des Unbekannten,
den Reiz des Neuen, vielleicht sogar Gefährlichen, auf den sich nur der Mutige einlassen
wird, derjenige, der bereit ist, neue Erfahrungen zu machen, "ausgelatschte" Wege zu
verlassen, sich in unwegsames Gelände zu begeben, ja, dabei auch Strapazen auf sich zu
nehmen, sich vielleicht gar selbst in Frage zu stellen, wenn er erst einmal gemerkt hat,
dass er nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst anders sehen kann als gewohnt.
"Verwandlung" nennt der Schriftsteller Günter Kunert das "geheime Ziel jedes wirklichen
Reisens". Bei jeder echten Reise kehrt ein anderer Mensch heim als der, der zur Reise
aufbrach. Denn wir sind innerlich reicher geworden, haben Neues entdeckt, unsere
Neugier gestillt, unseren Horizont und unser Verständnis für das ganz andere erweitert.
Und: Die Fremde hat uns selbst fremd werden lassen.
Die philosophische Reise ...
...führt uns ins Zentrum der Dinge. So merkwürdig es auch klingen mag: Viele
Menschen, vor allem Jugendliche, hungern nach Philosophie, ohne sie zu kennen. Man
sucht Orientierung in unserer verworrenen Zeit, will Klarheit über die Welt und erwartet
Auskünfte über richtiges Handeln.
ã
by R. Krause, Krefeld 2003
Zum Fach Philosophie
In welche Gegenden führen die philosophischen Reisen? Der Königsberger Philosoph
Immanuel Kant (1724-1804) nannte einmal vier entscheidende Fragen, auf die der
Reisende in Sachen Philosophie eine fundierte, d.h. gut begründete Antwort sucht.
Kants klassische Fragen
Die 1. Frage lautet: Was kann ich wissen?
Das ist die Frage desjenigen, der sich zu einer Entdeckungsreise entschlossen hat, über die
Welt (und sich selbst) das Äußerste zu erfahren. Das bedeutet auch: sich nicht mit
hergebrachten Meinungen abspeisen lassen, die gängigen Urteile kritisch prüfen und die
geistige Kraft erproben, Richtiges von Falschem zu unterscheiden. Aber auch radikal
weiterzufragen: Gibt es überhaupt wahre Erkenntnisse, oder sind alle Ergebnisse menschlichen Denkens subjektiv? Lassen sich Aberglaube, Gewissheit und Irrtum, Lüge und
Wahrheit, Wissen und (bloßes) Meinen stets sauber von einander unterscheiden? Wie
bilden wir überhaupt Erkenntnisse? Gibt es Grenzen des menschlichen Denkens? Und falls
ja, wo liegen sie?
Mancher Streit unter den Menschen auf dem Felde der Moral, der Politik oder der
Wissenschaft dürfte anders ausgehen, je nachdem, wie diese Grund(satz)fragen beantwortet werden.
Die 2. Frage heißt: Was soll ich tun?
So fragt z.B. ein Arzt, der vor der Entscheidung steht: Soll ich dem Todkranken Sterbehilfe
geben oder nicht? Was spricht eigentlich dagegen, Menschen zu klonen? Wieso muss ich
immer die Wahrheit sagen, wo doch täglich tausendfach gelogen wird? Wie finden wir
heraus, was genau „gut“ und „böse“ ist? Darf ich mich gegen extreme Ungerechtigkeit
notfalls auch einmal gewaltsam wehren oder nicht? Der Philosoph klärt moralische
Entscheidungskonflikte nicht auf der Basis eines religiösen Glaubens (darin unterscheidet
er sich z.B. vom Christen oder Moslem). Vorausgesetzt wird hier (wie in der Philosophie
überall) nur der menschliche Verstand. Gültigkeit hat stets und allein das bessere
Argument, die schlüssige Begründung. Hier - im Bereich der Ethik also - taucht auch das
allgemeine Problem auf: Gibt es Maßstäbe im Bereich der menschlichen Moral, die
allgemeinverbindlich gemacht werden können, oder ist alles Moralische subjektiv? Und,
falls alles subjektiv wäre: Entstünden dann Probleme im Zusammenleben der Menschen,
oder herrschte dann endlich einmal unbeschwerte Freiheit?
Andere Fragen kreisen z.B. um die Rolle von Glück oder Verantwortung
im
menschlichen Handeln.
Die 3. Frage lautet: Was kann ich hoffen?
Hier befinden wir uns vorwiegend im Bereich der Religionsphilosophie oder der
Metaphysik. Typische Probleme: Gibt es für die Annahme eines Weiterlebens nach dem
Tode vernünftige Gründe? Gibt es einen Sinn des Lebens? Falls ja, worin besteht er; wie
kann ich ihn finden?
Andere Fragen kreisen z.B. um das Verhältnis von Utopie und Realität oder
Zukunftsentwürfe, Fortschrittsgläubigkeit und Hoffnungslosigkeit.
Kant meinte, dass man diese drei Grund-Fragen in einer vierten Frage
zusammenfassen könne, weil sie auf diese hinausliefen oder in dieser gründen würden.
Und diese letzte, alles umfassende Frage heiße:
Was ist der Mensch?
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Zum Fach Philosophie
Worin liegt die Bestimmung des Menschen? Gehört es zum Wesen des Menschen,
moralische Konflikte zu haben, hoffen zu können, das Problem der Wahrheit erörtern zu
müssen? Ist sein Wesen schon hinreichend erkannt z.B. mit den Fakten, die Biologie und
Medizin über den Menschen zusammengestellt haben, oder gehören noch Bereiche zum
Wesen des Menschen, die diese (und andere) Wissenschaften vielleicht gar nicht erfasst
haben? Sind Tier und Mensch nur quantitativ von einander unterschieden, oder gibt es
eine qualitative Differenz, so dass der Mensch etwas ganz anderes als ein Tier ist? Ist es
tatsächlich das Denken, das das Besondere des Menschen ausmacht, wie immer wieder
behauptet wird, oder können Tiere und/oder Computer ebenfalls denken? Wer (oder was)
eigentlich ist „Ich“? Was bleibt von meinem Ich, wenn mein Gehirn mit einem
superschnellen Rechner „organisch vernetzt“ oder sogar in einen fremden Körper transplantiert wird? Wie steht es um die Möglichkeiten der Selbstbestimmung und der
Selbstverwirklichung des Menschen?
Fragen über Fragen.
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Philosophie, dass sie häufig mehr neue
Fragen aufwirft, als allseits akzeptable Antworten zu bieten. Wer also schnelle Lösungen
sucht, nach einer bequemen Weltanschauung verlangt, wird an der Philosophie wenig
Freude haben.
Expedition Philosophie
Die philosophische Reise bringt also Veränderung mit sich. Denn wer philosophiert, der
ist offen für das Neue, bereit zur Auseinandersetzung mit anderen im Dialog, auch zum
Dialog mit Platon, Descartes, Kant oder Hegel oder anderen klassischen Denk-Riesen der
europäischen Geistesgeschichte.
Ob sich die philosophische Reise lohnt oder nicht lohnt, hängt - wie bei jeder Reise nicht nur vom Weg und vom Ziel der Reise ab, sondern auch vom Reisenden selbst! Bringt
er wirklich Interesse für die Reise mit? Ist er bereit, mit anderen Teilnehmern zu
kooperieren? Hat er Spaß am Gedankenexperiment - im Unterschied zu anderen, die ihre
Denkschablonen nicht aufgeben wollen? Entwickelt er den nötigen Durchhaltewillen, wenn
es mal durch schwieriges Gelände geht? Bevor der Bergsteiger die herrliche Aussicht auf
dem Gipfel genießen kann, muss er vielleicht auch einige strapaziöse Kletterpartien hinter
sich bringen. Doch besteht der anstrengende Aufbruch ins Unbekannte, die Expedition
Philosophie nicht nur aus dem Reiz und dem Risiko des Ungewissen. Wir reisen ja nicht
allein, sondern mit Gleichgesinnten (und mit dem/der Philosophie-Lehrer/in), und im
übrigen mit einer guten Portion Selbstvertrauen. Und wir kehren immer wieder zu uns
selbst zurück. So bleiben wir uns bei aller Veränderung treu. Das scheint auch der
Philosoph Ernst Bloch zu bestätigen mit seinem Gedanken: "Wohin man auch geht, man
nimmt sich mit."
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